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Die New Yorker Fotografin Cordelia reist für einen Sommer auf eine irische Insel. Als sie bei ihrer Ankunft den pittoresken Hafen fotografiert, stößt ein Mann sie an, und die Kamera, ein Geschenk ihres Vaters, fällt und zerspringt. Der achtlose Kerl versteht Cordelias Unglück nicht. Wie sollte er auch: Niall, ein Koch, ist gerade mit gebrochenem Herzen auf seine Heimatinsel zurückgekehrt, ein kaputter Gegenstand erscheint ihm da als Lappalie. Zuerst. In der nächsten Zeit haben Cordelia und Niall mehr miteinander zu tun, als sie ahnen konnten – und sind dabei glücklicherweise umgeben von Menschen, die besser als sie selber wissen, wie man dem Leben und der Liebe wieder auf die Sprünge hilft…
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Seitenzahl: 410
Amy Ewing
Roman
Juliane Zaubitzer
Für Ali, der vom allerersten Augenblick an diese Geschichte geglaubt hat.
»Meine Damen und Herren, willkommen in Dublin. Die Ortszeit ist 8:45 Uhr. Bitte bleiben Sie noch so lange sitzen, bis die Anschnallzeichen erloschen sind.«
Cordelia rieb sich die übernächtigten Augen und spähte durch das kleine ovale Fenster, während das Flugzeug zum Gate kroch. Der Himmel über ihr war mit dünnen grauen Wolken bedeckt, die aussahen, als könnten sie jeden Augenblick aufreißen und die heiteren Strahlen der Juni-Sonne durchlassen. Aber noch war das Wetter so gedämpft und wechselhaft wie ihre Gefühlslage.
Als sie am JFK ins Flugzeug gestiegen war, hatte sie sich auf Irland gefreut, aber jetzt zog sich ihr Magen zusammen. War es vielleicht doch ein Fehler gewesen? Ihr Zuhause, ihre Freunde, alles in New York zurückzulassen? Einen ganzen Ozean zu überqueren, um den Sommer auf einer winzigen Insel mitten im Nirgendwo zu verbringen? Als sie die Entscheidung vor Wochen getroffen hatte, war es ihr wie eine einmalige Gelegenheit erschienen.
»Du brauchst eine Auszeit«, hatte ihre beste Freundin Liz eines Nachmittags erklärt, als Cordelia bei ihr auf dem Sofa saß und die Fotos durchging, die sie an diesem Tag im West Village geschossen hatte.
»Mir geht’s gut«, hatte Cordelia behauptet, obwohl jede einzelne ihrer Aufnahmen ganz falsch war – als hätte sie die Grundregeln vergessen, die Dreierregel, den negativen Raum, alles, was ein Foto interessant machte.
»Cord, wenn dein Stirnrunzeln noch tiefer wird, bleibt es für immer. Du solltest irgendwo auf eine Insel fahren«, hatte Liz gesagt. »Eine Weile raus aus New York. Am Strand leben. Bunte Cocktails schlürfen. Wann hast du dich das letzte Mal so richtig amüsiert? Oder irgendwas gemacht, das nichts mit Fotografie zu tun hatte?«
Das war nicht fair, dachte Cordelia. Liz wusste besser als irgendjemand sonst, wie schwer die letzten zwei Jahre für sie gewesen waren.
Früher war sie so selbstbewusst gewesen – Cordelia James, Straßenfotografin. Star ihrer Abschlussklasse an der School of Visual Arts, ihr Mentor der große Philip Watson. Tagelang lief sie mit ihrer Kamera durch die Straßen von New York, um den richtigen Moment einzufangen und auf ihrem beliebten Instagram-Account zu teilen. Und mit dieser Beliebtheit kam auch der finanzielle Erfolg: eine Ausstellung in einer Galerie in Chelsea, wo reiche Hausfrauen ihre Bilder kauften, die verzweifelt etwas Cooles und Trendiges für ihre Wände suchten. Und ein Vertrag für einen Bildband: New York Minute hieß er. Er verkaufte sich einigermaßen, doch der Verlag zeigte nie Interesse an einem weiteren Buch.
Und dann starb Cordelias Vater. Ihr größter Fan und Fürsprecher. Er hatte ihre Liebe zur Kunst geweckt, sie in ihrem Traum bestärkt, Fotografin zu werden, und nie verlangt, dass sie sich einen richtigen Job suchte, womit ihre Mutter ihr immer in den Ohren lag. Sein Tod kam brutal plötzlich. Einen Tag zuvor schrieb er noch, dass er Karten für das jüngste way-Revival besorgen wollte, und dann war er einfach … tot. Ein Hirnaneurysma. Mitten in seinem Shakespeare-Einführungskurs.
Monatelang brachte Cordelia es nicht über sich, eine Kamera in die Hand zu nehmen.
Als sie endlich aus dem Ozean der Trauer auftauchte und sich in die Normalität zurückkämpfte, war Philip nach Chicago gezogen, die Galerie hatte sich anderen aufstrebenden Künstlern zugewandt, und ihre Instagram-Anhängerschaft war zusammengeschrumpft. Das Schlimmste war, dass sich ihre Kamera wie etwas Fremdes anfühlte. Cordelia schaute durch ihr Objektiv, aber sie konnte nichts sehen.
Sie hatte ihre Geduld verloren. Bei der Straßenfotografie war Geduld das A und O. Geduld und gute Laune. Cordelia fehlte es in letzter Zeit an beidem. Sie fühlte sich wie ein nasser Lappen, der zu oft ausgewrungen worden war.
Also hatte sie Liz’ Rat befolgt und angefangen, sich nach Urlaubszielen umzusehen. Alles auf den Bermudas oder den Bahamas war übertrieben teuer. Sie hatte zwar ein paar Ersparnisse und eine bescheidene Erbschaft von ihrem Vater, aber keine Lust, alles für einen extravaganten Sommerurlaub zu verprassen.
Dann war ihr ein Inserat ins Auge gestochen. Gemütliches Cottage im Herzen von Irlands malerischem Inishmore, hieß es in der Anzeige. Eine schnelle Google-Suche ergab, dass es sich um die größte der drei Aran-Inseln vor Irlands Westküste handelte. Mietfrei, wenn kleine Erledigungen für eine ältere Nachbarin übernommen werden. Mindestaufenthalt 1. Juni bis 31. August.
Cordelia hatte sofort zugeschlagen.
Als das Flugzeug mit einem Ruck zum Stehen kam, begann Cordelia sich Lebenslektionen auszumalen, die sie nie gelernt hätte, wenn sie in New York geblieben wäre. Die ältere Nachbarin war in ihrer Phantasie eine weise Frau, die Cordelia unter ihre Fittiche nahm und ermutigte, so wie ihr Vater es immer getan hatte (und wozu ihre Mutter offenbar unfähig war). Tagsüber würde sie mit der Kamera die grünen Hügel Irlands durchstreifen (sie war noch nie in Irland gewesen, aber war dort nicht alles grün?), sich als Künstlerin wiederfinden, mit atemberaubenden Aufnahmen von der zerklüfteten Landschaft die Fotowelt erobern. Und abends würde sie mit der alten Frau am Kamin sitzen und kuriose irische Weisheiten aufsaugen. Sie würde verändert zurückkommen. Im Reinen mit sich und der Welt.
Das wird großartig, sagte sie sich, während sie ihren Sicherheitsgurt löste.
Sie griff unter dem Sitz nach ihrer gestreiften Leinentasche, in der sich die beiden wertvollsten Dinge in ihrem Besitz befanden. Das erste war ihr Handy, die Rettungsleine zu Freunden und Familie. Sie schaltete den Flugzeugmodus aus und wartete auf ein Netz, um Liz und ihrem Bruder schreiben zu können.
Das zweite war ihre Fujifilm X100V. Sie war klein, perfekt für Straßenfotografie und Reisen. Aber vor allem war sie das letzte Geschenk ihres Vaters, einen Monat vor seinem Tod.
»Hast du je darüber nachgedacht, die Fotografie für eine Weile ganz sein zu lassen?«, hatte ihr Bruder Toby vorsichtig gefragt, als sie ihm von der Reise erzählte.
Als wäre das möglich. Ohne Kamera zu fahren, wäre trotz allem als würde sie ein Bein zurücklassen – sie war ein Teil von ihr. Außerdem würde Irland ihre Liebe zum Fotografieren auffrischen.
Der Gedanke beflügelte Cordelia, als sie sich auf den Weg zur Gepäckausgabe machte. Endlich piepte ihr Telefon.
HALLO, BIST DU SCHON GELANDET???
Sie grinste über Liz’ enthusiastische Begrüßung.
Bin gerade aus dem Flugzeug gestiegen. Hole jetzt mein Gepäck.
Wette zehn Dollar, dass es regnet, schrieb Liz zurück.
Cordelia lachte. Liz war der festen Überzeugung, dass es die ganze Zeit regnen würde, während sie in Irland war. Obwohl Liz selbst Cordelia zu diesem Urlaub gedrängt hatte, konnte sie ihre Enttäuschung darüber nicht verbergen, dass Cordelia den Sommer in New York verpassen würde – die Ausflüge nach Jones Beach, die Sonnenbäder im Central Park (Cordelia wurde sowieso nie braun), die Freiluftkonzerte der SummerStage und die Sonnenuntergänge auf der Dachterrasse. Im Gegenzug hatte Cordelia Liz an all die Nachteile des Sommers in der Stadt erinnert – die drückende Luftfeuchtigkeit, den Müllgestank, die unerwarteten Tropfen aus den Klimaanlagen.
Nö, schrieb sie mit Zwinker-Smiley zurück. Aber es ist bewölkt.
Während sie auf ihren Koffer wartete, schrieb Cordelia Toby, dass sie gelandet war, dann ging sie ihre Reiseroute durch. Auf die Aran-Inseln zu gelangen, war nicht leicht; sie musste ein Taxi nach Dublin nehmen, dann einen Zug quer durchs Land nach Galway, dann einen Bus nach Rossaveel und von dort die Fähre nach Inishmore.
Das war viel für einen Tag, und das mulmige Gefühl war zurückgekehrt, seit sie aus dem Flugzeug gestiegen war. Nicht wegen der Reise, die vor ihr lag – ihr blieb noch genug Zeit, um den Zug zu erreichen. Cordelia war gerne übertrieben pünktlich, auch das hatte sie von ihrem Vater geerbt. Nein, nervös machten sie die Hoffnung und die Perspektive, die Gewissheit, dass sich in diesem Sommer alles ändern würde.
Als sie an der Heuston Station ankam, knurrte Cordelias Magen. Sie bezahlte den Taxifahrer und bedankte sich bei ihm, dann kaufte sie sich ein Sandwich und einen Kaffee und hatte gerade genug Zeit, alles hinunterzuschlingen, bevor ihr Zug zum Einsteigen bereit war. Nachdem sie ihre Tasche verstaut hatte, machte sie es sich gemütlich und ließ die irische Landschaft an sich vorbeiziehen, die genauso aussah, wie sie sich die irische Landschaft vorgestellt hatte: satte grüne Wiesen und schmale, gewundene Straßen, kleine Häuser und graue Wolkenkleckse am Himmel. Überall Schafe. Das Wetter konnte sich nicht entscheiden; Sonne und Wolken trugen ein Tauziehen aus, sodass die Welt mal in stumpfe Grün- und Brauntöne getaucht war und dann unvermittelt smaragdgrün und golden leuchtete.
Instinktiv griff Cordelia nach ihrer Kamera. Sie hatte einen Daumenabdruck ihres Vaters laminiert und dorthin geklebt, wo ihr eigener Daumen ruhte, wenn sie die Kamera vors Gesicht hielt. Als sie ihn jetzt berührte, seufzte sie.
Dann vibrierte ihr Handy mit einer Nachricht von Toby, und sie blickte lächelnd in die Gesichter ihrer Nichte und ihres Neffen. Perfektes Timing.
Miles mit seiner Brille und dem bauschigen Mini-Afro, Grace mit ihren grazilen Zügen, das Haar zu Zöpfen geflochten. Cordelia fragte sich, wie lange Grace die wohl noch tragen würde, denn ihre Nichte näherte sich mit großen Schritten dem Schreckgespenst der Pubertät.
Grace und Miles sagen, wir vermissen dich, Tante Cordie!
Sag ihnen, dass sie aufhören sollen zu wachsen, schrieb sie zurück. Grace sieht so groß aus!
Wem sagst du das, schrieb Toby. Grüße von Nikki.
Er schickte ein weiteres Bild, diesmal von ihm und seiner Frau, eine wunderschöne Schwarze mit Rastazöpfen, ihr Lächeln strahlte, aber ihr Blick wirkte leicht verzweifelt. Toby hatte darauf bestanden, regelmäßig mit Fotos zu kommunizieren, als wären drei Monate in Irland ein Jahrzehnt auf einem anderen Planeten – jetzt war Cordelia dankbar dafür.
Drei Monate in einem fremden Land. Cordelia konnte immer noch nicht richtig glauben, dass sie das wirklich tat.
Neben dem Inserat war ein Foto von Alison Murphy abgedruckt gewesen, eine hübsche Frau, ungefähr in Cordelias Alter – Ende zwanzig –, mit dichtem kastanienbraunem Haar, Sommersprossen und breitem Lächeln. Ich betreibe das Leeside Bed and Breakfast in Kilronan, hatte Alison geschrieben, nachdem Cordelia sich nach Einzelheiten erkundigt hatte. Im Sommer ist viel zu tun, sodass ich nicht oft zu Hause sein kann. Ich brauche jemanden vor Ort, falls meine Großmutter etwas benötigt. Sie geht auf die achtzig zu, und mir gefällt der Gedanke nicht, dass sie allein ist. Ihre Post wird ins Cottage geliefert, es wäre also schön, wenn du ihr die bringen könntest. Ich brauche jemanden, der das Cottage sauber hält und meiner Großmutter hilft, während ich im B&B bin. Ihr Name ist Róisín.
Róisín wurde offenbar Ro-schien ausgesprochen, wie Cordelia herausgefunden hatte.
Der Job klang allerdings ziemlich einfach. Und in ihrer Freizeit konnte sie mit ihrer Kamera die Insel erkunden. Normalerweise fotografierte Cordelia Menschen und das Leben in der Stadt, aber ein bisschen Abwechslung konnte nicht schaden. Vielleicht würde sie ihre heimliche Leidenschaft für Landschaftsfotografie entdecken.
Die Busfahrt war weniger angenehm als der Zug, mit viel Geruckel und scharfen Kurven. Sie fuhren durch einfache irische Vorstädte, auf Straßen, die zu schmal für ein so großes Fahrzeug schienen.
Als Cordelia die Fähre erreichte, hatten die Wolken das Tauziehen offiziell gewonnen. Sie stieg neben einem großen Mann mit pechschwarzem Haar und blauen Augen ein, der mit tiefer, gereizter Stimme in sein Handy sprach. Cordelia hörte die Worte: »Ich hab doch gesagt, ich mach’s, Dad, reicht das nicht?«, bevor er ein Deck höher stieg. Ihr Herz zog sich zusammen – was würde sie dafür geben, noch einmal mit ihrem Vater zu streiten oder auch nur seine Stimme am Telefon zu hören. Sie suchte sich einen Platz und starrte hinaus auf die wogenden Wellen, schiefergrau und düsterblau.
Die Fährfahrt dauerte eine Stunde, und Cordelia holte sich noch einen Kaffee aus dem kleinen Café an Bord. Der Jetlag machte sich zunehmend bemerkbar, ihre Augenlider wurden schwer, ihr Gehirn fühlte sich matschig an. Sie hoffte, dass sie heute noch von Großmutter und Hausarbeit verschont blieb. Nieselregen setzte ein und hinterließ ein hübsches Muster auf den Wellen, aber als die Fähre am Hafen von Kilronan anlegte, war nur noch ein leichter Nebel übrig.
Cordelias Herz schlug ein wenig schneller, als sie ihre Tasche holte und in der Schlange wartete, um von Bord zu gehen. Alison hatte gesagt, sie würde sie abholen. Während sie den Landungssteg hinunterging, sah Cordelia den schwarzhaarigen Mann vom Oberdeck herunterkommen, immer noch am Telefon.
Sie betrat den Betonpier und ging zum überfüllten Parkplatz. Kilronan war die größte Stadt auf der Insel, was allerdings nicht viel bedeutete. Rund um den Hafen gab es einige bunt angemalte Häuser, gelbe und rosafarbene Farbkleckse. Auf einem großen Gebäude stand mit weißen Buchstaben Aran Sweater Market.
Der Hafen war, wie gehofft, malerisch, und es herrschte geschäftiges Treiben. Siehst du, Liz?, dachte Cordelia selbstzufrieden. Es war perfekt. Vor dem Geschäft plauderten zwei alte Frauen, während ein kleiner brauner Hund im Eingang herumschnüffelte. Ein junger Mann lehnte an dem rosa Gebäude und rauchte eine Zigarette.
Ihre Fingerspitzen kribbelten vor Aufregung, und sie griff nach ihrer Kamera. Das war der Moment. Ihre Fotografie war dabei, sich zu verändern, sie konnte es fühlen.
Während sie sich den Kameragurt um den Hals legte, trat sie fünfzehn Zentimeter nach links, um die beiden Frauen ideal in Szene zu setzen. Dabei war sie so erfüllt von der Vorfreude auf das Foto, dass sie nicht auf ihre unmittelbare Umgebung achtete und mit der Person hinter sich zusammenstieß. Voller Entsetzen sah sie, wie ihr die Kamera aus den Händen glitt und auf den Beton prallte, sich einmal, zweimal überschlug und dann mit der Vorderseite nach unten liegen blieb.
»Passen Sie doch auf«, murmelte der schwarzhaarige Mann, als er sich an ihr vorbeidrängte. Er schaute sie kaum an, sein blödes Handy am Ohr.
Für einen kurzen Augenblick war Cordelia sprachlos. Dann schnappte sie nach Luft und rief: »Hey!«, aber er war schon weg, verschwunden in der Menschenmenge, die von der Fähre strömte. Cordelia hechtete vor, um ihren kostbarsten Besitz vor den Hunderten von Touristenfüßen zu schützen, und wiegte ihn sanft wie ein Vogelbaby.
Sie drehte die Kamera um. Ihr Herz geriet ins Stolpern, die Welt in ihrem Blickfeld schrumpfte, und ihr wurde schwindelig.
Die Linse war gesprungen.
Sie hielt die Kamera vors Auge, ohne sie auf etwas Bestimmtes zu richten, in der verzweifelten Hoffnung, dass sie noch funktionierte. Aber egal, wie sie die Blende einstellte, das Bild ließ sich nicht scharf stellen. Alles war konturlos, verschwommen.
Die Kamera war kaputt.
Niall O’Connor wollte überhaupt nicht hier sein.
Er hatte schon schlechte Laune, bevor die dumme Touristin ihm vor die Füße lief, um ein Foto zu machen – wahrscheinlich eine Amerikanerin, die standen immer im Weg, um irgendwelche bekloppten Fotos zu machen. Sie rammte ihn mit dem Ellbogen in die Rippen, und er murmelte ein knappes »Passen Sie doch auf«, bevor er sich wieder seinem Telefonat mit Colin widmete.
»Ja, ich komme gerade von der Fähre«, sagte er zu seinem besten Freund. »Wo bist du?«
Als Antwort hörte er ein Hupen und sah Colin, der ihm zuwinkte, sein breites, dämliches Grinsen im Gesicht. Niall seufzte. Wenigstens würde Colin den Sommer über auch hier sein. Sonst hätte er diese erzwungene Heimkehr wohl nicht verkraftet. Schon jetzt vermisste er Dublin und seinen Lieblingspub und die belebten Straßen und den morgendlichen Spaziergang durch die Grafton Street …
Seine Gedanken prallten von der Erinnerung ab, wie ein Stein, der übers Wasser hüpft, zurück ans sichere Ufer.
Er hätte schon vor einem Monat aufhören sollen, diesen Spaziergang zu machen, doch offenbar war er ein verkappter Masochist. Schön, im reifen Alter von einunddreißig Jahren noch so eine Charaktereigenschaft an sich zu entdecken. Niall hatte wochenlang alle Anrufe ignoriert, die Tage verschlafen, viel zu viel Reality-TV gesehen und viel zu viel Essen bestellt, bis Colin interveniert hatte. Wie hatte er Nialls Verhalten genannt? Zügellos? Toxisch? Geistesgestört?
Du bist ja nicht bei Verstand, hatte er gesagt. Nicht bei Sinnen, eher. Aber wie hätte er sonst reagieren sollen? Niall hatte alles verloren – seine Pläne, seine Träume, seine Zukunft, die Liebe seines Lebens –, alles auf einen Schlag. Man hatte ihn zermalmt, zerstampft und dann in kleine Häppchen zerteilt wie Fischköder. Er war überrascht, dass ihn auf der Fähre niemand über Bord geworfen hatte, um die Möwen zu füttern.
Auf dem Weg zu Colins Auto kam er an Alison Murphy vorbei. Sie hielt in der Menge nach jemandem Ausschau.
»Alison, wie geht’s?«, fragte er.
Ihre Augen weiteten sich. »Hallo, Niall«, sagte sie.
Ihm drehte sich der Magen um – sie wusste es. Alle wussten es, jeder auf dieser gottverdammten Insel kannte die Geschichte inzwischen. Danke, Dad, dachte er verbittert. Obwohl es vielleicht besser war, dass er es den Leuten nicht selbst erzählen musste. Das wäre die reinste Folter gewesen. Nicht auszudenken.
Hey, Niall, wie läuft’s denn so mit dem schicken Pub in Dublin?
Tja, da müsstest du meinen ehemaligen Geschäftspartner und meine Exverlobte fragen. Die betreiben ihn jetzt zusammen, und ich bin komplett raus. Ich habe meine gesamten Ersparnisse verloren. Sie haben es hinter meinem Rücken getrieben, monatelang. Aber danke der Nachfrage!
»Holst du einen neuen Gast ab?«, fragte er, bevor sie ihm mit banalen Durchhalteparolen kommen konnte.
»Jemand, der den ganzen Sommer bleibt«, sagte sie.
»Den ganzen Sommer?«, fragte Niall.
Alison nickte.
Wer in aller Welt blieb freiwillig den ganzen Sommer auf Inishmore? Derjenige würde sich zu Tode langweilen. Wenn Niall irgendwo anders hingehen könnte, würde er es tun. Aber sein Vater brauchte Hilfe im Pub – zumindest hatte seine Mutter das behauptet. Niall glaubte nicht, dass sein Vater ihn überhaupt zu Hause haben wollte, und wenn, dann nur, um Niall sein Versagen unter die Nase zu reiben. Größenwahnsinnig war eines von Owen O’Connors Lieblingsworten, wenn er von seinem Sohn sprach. Als hätte Niall nicht einen Pub mit gehobener irischer Küche, sondern ein Sternerestaurant eröffnen wollen.
Aber seine Mutter war schlau und hatte es ihm schmackhaft gemacht, mit eingezogenem Schwanz nach Hause zu kommen – sie hatte seinen besten Freund über den Sommer für die musikalische Unterhaltung im O’Connor’s engagiert. Der Pub war seit Generationen in Familienbesitz, und gutes Bier und Hausmannskost waren zwar sein Herz, aber die Musik seine Seele. Und Colin war ein unbekümmerter Leichtfuß, der ihr Angebot gern annahm.
»Ich brauche jemanden, der auf Granny aufpasst«, erklärte Alison. »Während ich im Leeside bin.«
O Gott. Niall beneidete die arme Sau nicht, wer auch immer sie war. Er liebte Róisín von ganzem Herzen, aber Alisons Großmutter war eine alte Kratzbürste, die sich von niemandem etwas gefallen ließ. Er konnte sich nicht vorstellen, wer bereit wäre, sich einen ganzen Sommer lang um sie zu mern. Alison musste die Sache ziemlich beschönigt haben. Oder sie hatte schlichtweg gelogen. Er wettete, dass sie Róisín kein Wort davon erzählt hatte – Róisín würde toben, wenn sie erfuhr, dass Alison ein Kindermädchen für sie engagiert hatte.
Bei dem Gedanken musste Niall fast lächeln. Er würde später bei Róisín vorbeischauen, um zu hören, was sie von dem Arrangement hielt. Garantiert hatte sie eine dezidierte Meinung dazu.
Nur eine Handvoll Schritte später versank er in einer von Colin Doyles berühmten ungestümen Umarmungen. Colin war ein schlaksiger Kerl, aber er tat alles mit so viel Enthusiasmus, dass es sich anfühlte, als würde er doppelt so viel Raum einnehmen. Niall spürte, wie er sich zum ersten Mal seit viel zu langer Zeit entspannte. Seit Wochen war da eine Stahlfeder in seiner Brust, die sich immer fester zusammenzog und ihn davor bewahrte, in Stücke zu brechen.
»Schön, dich zu sehen«, sagte er schroff.
Colin ließ ihn los und klopfte ihm auf die Schulter. »Du siehst beschissen aus. Komm, wir bringen dich nach Hause, dann kannst du auspacken.« Er warf einen Blick auf Nialls Reisetasche. »Ist das alles, was du dabei hast?«
Niall zuckte die Schultern. Die Wahrheit war, dass das alles war, was er aus seiner und Deirdres Wohnung vor fünf Wochen mitgenommen hatte, nachdem er sie und Patrick beim Vögeln auf dem makellosen Boden der frisch renovierten Küche in seinem vermeintlichen Traum-Pub erwischt hatte. Er war schnurstracks in ihre Wohnung gegangen, hatte alles, was ihm unter die Finger kam, in eine Tasche geworfen und war gegangen. Die erste Woche wohnte er in einem Hotel, dann bot ein Freund, der nicht in der Stadt war, Niall großzügigerweise an, in seiner Wohnung zu wohnen. Aber das war bei, und ihn quälte der Gedanke, sich eine neue Wohnung suchen zu müssen, allein, ohne Perspektive. Sogar Dublin selbst schien sich gegen ihn gewendet zu haben – in der Stadt, die er einst geliebt hatte, lauerte nun hinter jeder Ecke Deirdres Geist. Er war nach Dublin gezogen, sobald er achtzehn und mit der Schule fertig war. Es war seine Wahlheimat, sein Zufluchtsort, wo er ganz er selbst sein und seine Träume leben konnte. Er hatte in mehr Küchen gearbeitet, als er zählen konnte, so viel gelernt wie möglich, gespart und sich durchgeschlagen, während er insgeheim die Hoffnung hegte, eines Tages seinen eigenen Laden zu betreiben.
All die Jahre harter Arbeit sollten sich endlich auszahlen. Bis zu dem Tag, an dem er Deirdre dabei erwischte, wie sie es mit Patrick trieb.
Bei der Erinnerung daran schnürte sich ihm die Kehle zu, und die Stahlfeder zog sich noch stärker zusammen. Colin drängte ihn nicht weiter, sondern deutete auf den alten grünen VW von Nialls Mutter, den Colin sich geliehen hatte, um Niall abzuholen.
»Gott, dieses Auto gibt mir das Gefühl, wieder zwölf zu sein«, stöhnte Niall und warf seine Tasche auf den Rücksitz. Der VW roch noch immer nach geöltem Leder und Pfefferminz. Niall hatte plötzlich ein Bild von sich als Junge vor Augen, wie seine Mutter ihm sonntags nach der Kirche auf der Heimfahrt lachend eins ihrer Bonbons anbot.
»Wie in alten Zeiten, oder?«, meinte Colin fröhlich und sprang auf den Fahrersitz. »Wann haben wir das letzte Mal zusammen in derselben Stadt gewohnt?«
»Bitte bezeichne Kilronan nicht als Stadt«, sagte Niall, während Colin den Gang einlegte.
»Wirst du den ganzen Sommer so ein Sonnenschein sein?«
»Ja.« Niall verschränkte die Arme vor der Brust und starrte aus dem Fenster.
»Prächtig«, murmelte Colin. Sie ließen den geschäftigen Hafen hinter sich und fuhren ins Hinterland von Inishmore. Das Auto tuckerte die Cottage Road entlang. Niedrige Steinmauern unterbrachen die sattgrüne Landschaft, und Touristen mit Kameras um den Hals spähten durch den Regen und erinnerten Niall an die Frau am Hafen. Die Einheimischen gingen ihren Geschäften nach oder plauderten am Straßenrand miteinander.
»Alison Murphy hat das Cottage den ganzen Sommer über an jemanden vermietet«, erzählte Niall beiläufig. »Damit derjenige auf Róisín aufpassen kann.«
»Ha! Na dann viel Glück«, sagte Colin. »Garantiert so ein australischer Hippie. Alison will wahrscheinlich nur jemanden in der Nähe haben, falls Róisín vom Wagen fällt.«
»Macht sie immer noch ihre Kutschfahrten?«
»Glaubst du, irgendein Mensch oder Fabelwesen auf dieser Insel könnte sie davon abhalten?«
Nialls Mundwinkel zuckten. Róisín Callahan liebte Fabelwesen – Meerjungfrauen und Todesfeen und Púcas. Er erinnerte sich daran, wie sie die Kinder an Pátrún immer das Gruseln lehrte – Nialls Vater bat sie jedes Jahr, den Dullahan nicht zu erwähnen, und jedes Jahr erzählte sie aufs Neue die Sage vom kopflosen Reiter auf seinem schwarzen Pferd, dessen Ankunft den Tod bedeutete, wenn er in einem Dorf haltmachte.
All die Jahre später machte Róisín immer noch, was sie wollte. Auf dieser Insel änderte sich nie etwas.
Sie fuhren an dem fröhlichen gelben Bauernhaus vorbei, in dem Niall seine Jugend verbracht hatte, und natürlich stand seine Mutter in der offenen Tür und winkte ihnen zu, als sie vorbeifuhren.
»Ich hab ihr gesagt, wir kommen vorbei, wenn du ausgepackt hast«, sagte Colin und winkte zurück. »Dein Vater ist mit Pocket im Pub.«
Niall wusste die Vorwarnung zu schätzen. Er war noch nicht ganz bereit, seinem Vater gegenüberzutreten, konnte es allerdings kaum erwarten, den Familienhund wiederzusehen. Sein letzter Besuch war vorletztes Weihnachten gewesen.
»Wie ist das Haus?«, fragte er.
»Gar nicht mal übel. Der alte Fagan hat es ziemlich gut in Schuss gehalten. Es ist nicht das Ritz, aber es reicht. Die Küche wird dir gefallen«, fügte Colin hinzu. »Viel Arbeitsfläche.«
Er zwinkerte, und Nialls Mundwinkel zuckten erneut. Er liebte gut ausgestattete Küchen.
»Meine Güte, war das etwa ein Lächeln? Ein waschechtes Lächeln von Niall O’Connor? Hätte nicht gedacht, dass ich das innerhalb des nächsten Monats zu Gesicht bekommen würde.«
»Haha. Bist ein richtiger Komiker, Colin. Vielleicht solltest du den Beruf wechseln.«
»Glaubst du, dein Dad würde mir erlauben, einen Stand-up-Comedy-Abend zu machen?«
Colin lachte schallend, und auch Niall musste grinsen, als er sich Owen O’Connors Gesicht vorstellte, wenn Stand-up-Comedy im selben Atemzug mit seinem geliebten Pub genannt wurde.
Das Haus, das sie gemietet hatten, gehörte früher einem alten Freund von Colins Vater, der nach Doolin gezogen war, um näher bei seiner Tochter und ihren Kindern zu sein. Es lag versteckt zwischen dem Haus seiner Eltern im Süden und Róisíns Haus hoch oben auf dem Hügel im Norden. Das Haus war weiß und robust, zweistöckig mit roter Tür und Schieferdach. Es war Jahre her, seit Niall und Colin wohnt hatten – damals, als Colin am Trinity Musik studierte und Niall in einem Pub namens Crooked Antler jobbte. Irgendwann hatte dann jeder seine eigene Wohnung. Colin spielte oft in Pubs in anderen Städten, und schließlich war Niall bei Deirdre eingezogen. Es fühlte sich ein bisschen wie in alten Zeiten an, wieder mit seinem besten Freund unter einem Dach zu wohnen, obwohl das Haus mehr Komfort versprach als ihre winzige Wohnung damals in Ranelagh. Colin parkte das Auto, und Niall nahm seine Tasche vom Rücksitz.
»Home sweet home«, sagte Colin und öffnete die Tür mit einladender Geste auf den großen Hauptraum, den schmalen Flur, der zur Küche führte und die Treppe in den ersten Stock. Alles wirkte schlicht, aber hübsch eingerichtet.
»Ich habe das bessere Zimmer genommen«, scherzte Colin. Als Niall die Treppe hochging, stellte er fest, dass beide Schlafzimmer identisch waren, mit je zwei Fenstern und einem Messingbett. Er ließ seine Tasche aufs Bett fallen und öffnete die schmale, knarrende Schranktür. Es roch nach Mottenkugeln, und die Erinnerung an Deirdre traf ihn wie ein Schlag in die Magengrube, mit überraschender Wucht. Das eine Mal in ihrer dreijährigen Beziehung, als er sie aus der Stadt mit auf die Insel genommen hatte, hängte sie in seinem alten Zimmer ihre Kleider auf und rümpfte die Nase.
»Besitzt deine Mutter Aktien in Mottenkugeln?«, hatte sie gewitzelt. »Ich werde die ganze Reise über wie meine Oma riechen!«
Niall biss die Zähne zusammen, und die Stahlfeder in seiner Brust wurde wieder enger, als er die Schranktür zuschlug. Er ließ seine Tasche unausgepackt auf dem Bett liegen und ging runter in die Küche. Die Geräte waren alt, aber gut in Schuss, die Arbeitsfläche größer als erwartet. In der Mitte befand sich eine kleine Insel mit Teakholzplatte, daneben ein paar hohe Hocker, darüber hingen Kupfertöpfe und -pfannen. Neben dem Gasherd stand ein Messerblock – Niall nahm eines der Messer heraus und untersuchte es. Es musste geschärft werden.
»Schon ausgepackt?«, fragte Colin, der in der Tür stand.
Niall schüttelte den Kopf. »Mach ich später. Sollte wahrscheinlich sowieso alles waschen.« Irgendwie hatte er immer noch Deirdres Duft in der Nase, als säße sie auf seiner Schulter oder steckte in seiner Hosentasche. Er strich sich mit der Hand über die zwei Tage alten Stoppeln. Selbst hier, so weit weg von Dublin wie möglich, ohne das verdammte Land zu verlassen, konnte er ihr Jasminparfüm noch riechen.
»Wir sollten zu meiner Mutter«, sagte er, obwohl er sich allein bei dem Gedanken, irgendwohin zu gehen, irgendetwas zu tun, irgendjemanden zu besuchen, müde fühlte.
Colin legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Vorher gehst du duschen«, sagte er. »Du siehst furchtbar aus, Nie. Du willst doch nicht, dass deine Mutter dich so sieht.«
Nachdem er geduscht, sich rasiert und ein Hemd von Colin geliehen hatte, fuhr Niall sie zu dem alten Bauernhaus am Ende der Straße.
Sie hätten auch zu Fuß gehen können, aber der Regen hatte wieder zugenommen.
»Ich hoffe, Fiona macht einen Braten«, sagte Colin und rieb sich die Hände. »Ich bin am Verhungern.«
»Es ist Sonntag«, erinnerte Niall ihn. »Sonntags macht sie immer einen Braten.«
Colin grinste. »Ich weiß. Was denkst du, warum ich mich in der Grundschule mit dir angefreundet habe? Wegen deiner schillernden Persönlichkeit?«
Niall knuffte ihn in die Schulter.
Seine Mutter kam eifrig winkend aus der Haustür geeilt, als er parkte, und Nialls Herz schmolz. Fiona O’Connor hatte große blaue Augen, wie ihr Sohn, aber wilde braune Locken, die mit keinem Haarband zu bändigen waren. Sie trug eine geblümte Schürze über ihrer grauen Hose und einen roten Aran-Strickpullover.
»Ist das nicht ein herrlicher Tag?«, sagte sie grinsend, als Niall aus dem Auto stieg, und schlang die Arme um ihn. »Mein süßer Junge.«
»Hi, Mom.« Er atmete den Duft von Sodabrot und Rosmarin ein. »Was gibt’s zu essen?«
»Nun, das Brot ist im Ofen, und ich bereite den Braten fürs Abendessen zu. Aber es ist auch noch ein bisschen Lammeintopf da, falls du hungrig bist. Das Wasser ist aufgesetzt, und ich habe Marmelade und Scones da, wenn ihr möchtet.« Sie blickte zum Himmel. »Róisín wollte Karotten und ein oder zwei Kohlköpfe vorbeibringen, aber ich hoffe, sie lässt das bei diesem Wetter bleiben.« Sie lächelte, als Colin sie zur Begrüßung umarmte. »Colin Doyle, du siehst blass aus. Ich wärme dir einen Teller Eintopf auf.«
»Das wäre phantastisch, Fiona«, sagte Colin und zwinkerte Niall zu.
Sobald er das Haus betrat, wurde Niall von tausend Erinnerungen heimgesucht – das Klavier, auf dem seine Mutter morgens spielte, die Noten bei irgendeinem Kirchenlied aufgeschlagen. Noch immer waren die Striche an der Tür sehen, mit denen Fiona markiert hatte, wie groß er in welchem Alter war. Eine gefaltete Zeitung auf dem Sessel am Fenster erinnerte Niall an die Samstage, an denen er seinen Vater anbettelte, sie wegzulegen, um mit ihm im Garten Fußball zu spielen.
Aber das Beste waren die Gerüche. Geschmortes Fleisch und selbstgebackenes Brot, frische Kräuter, Bratkartoffeln und Knoblauch und der schwache, süßliche Teeduft – alles vermischte sich und erinnerte ihn an die vielen Abende am einfachen Tisch im Esszimmer. Wie er zugesehen hatte, wenn sein Vater ein ganzes Huhn zubereitete. Wie er gelernt hatte, Zwiebeln zu schneiden. Wie er lachend Brotteig geknetet hatte, feinen Mehlstaub im Haar.
Niall schluckte schwer. In dieser Küche hatte er zum ersten Mal mit seinen eigenen Rezepten experimentiert – in der geheiligten Küche des Pubs hätte sein Vater das nie erlaubt. Fiona war sein Versuchskaninchen, wenn er ein neuerfundenes Rezept ausprobierte, nachdem er Zutaten und Gerichte aus der ganzen Welt recherchiert hatte –, wie etwa Col Cannon mit welkem Grünkohl und mexikanischer Crema oder mit Gochujang-Soße glasiertes irisches Lachsfilet. Nachdem sie nach Dublin gezogen waren, hatte Colin die Rolle des Versuchskaninchens übernommen.
Und dann kam Deirdre. Sie war es, die seinem Traum echtes Leben einhauchte. Sein eigenes Lokal in Dublin, in dem er seine einzigartigen Rezepte servieren und aus dem übermächtigen Schatten seines Vaters treten konnte.
Sie hatte so fest an ihn geglaubt, dass er endlich auch an sich selbst glaubte. Und genau dann, als er kurz davor war, es tatsächlich zu schaffen, hatte sie diesen Traum mit einer gewaltigen Nadel zerstochen, sodass alle Farbe und Freude aus seinem Leben gewichen war. Sie und Patrick hatten ihn aus seinem eigenen verdammten Restaurant gedrängt – nicht, dass er hätte bleiben wollen. Aber es war seine Speisekarte, die die beiden servieren würden. Eigentlich sollte er sich gerade auf das Soft Opening vorbereiten und nicht auf Inishmore Bier an bekloppte Touristen ausschenken. Es war einen Monat her, seit er zuletzt gekocht hatte. Jetzt lebte er von Takeaway und Traurigkeit.
Aber als er sich jetzt an den Tisch setzte und seine Mutter ihm einen Teller Eintopf und eine Scheibe frisches Brot vorsetzte, merkte Niall, dass er Hunger hatte. Das Lammfleisch war zart, die Soße gehaltvoll und würzig, die Karotten hatten den perfekten Biss. Er schaufelte sich das Essen in den Mund wie ein Sterbender seine letzte Mahlzeit; die Stimme seiner Mutter umhüllte ihn, während sie erzählte, wie es Cian Byrne ergangen war, nachdem er das Seaview-Restaurant übernommen hatte, und wie Aoife O’Shea zurechtkam, seit ihr Mann im letzten Herbst gestorben war. Und dann klirrte plötzlich Nialls Löffel auf den Teller, und er ließ den Kopf in die Hände sinken und begann zu weinen.
Zum ersten Mal seit einer Ewigkeit war sein Magen voll, und die Stahlfeder um seinen Brustkorb löste sich ein wenig. Er spürte, wie seine Mutter die Arme um ihn legte, hörte ihr besänftigendes Schhh in seinem Ohr, und es war ihm egal, dass Colin dabei war. Er fühlte sich ausgelaugt, kaputt.
»So ist es gut«, murmelte seine Mutter und streichelte ihm den Rücken. »Lass es raus. Guter Junge. Lass alles raus. Du bist jetzt zu Hause. Es wird alles gut. Du wirst sehen.«
Niall wünschte, er könnte ihr glauben. Doch er hatte überhaupt nicht das Gefühl, dass alles gut werden würde. Etwas in ihm war zerbrochen, und er konnte sich nicht vorstellen, wie er die Scherben jemals wieder zusammensetzen sollte.
Cordelia stand unter Schock.
Sie hörte kaum, was Alison während der Fahrt ins Hinterland zu ihr sagte. Es hatte sie ihre ganze Willenskraft gekostet, sich am Hafen einigermaßen normal vorzustellen. Jetzt schnürte sich ihr die Kehle zu. Ihre Kamera war kaputt, und es gab weit und breit keinen Laden, der sie reparieren könnte.
»Alles in Ordnung?«
Cordelia zuckte zusammen und merkte, dass sie angehalten hatten. Auf die Windschutzscheibe prasselte der Regen – die Sicht auf das winzige Reetdachhäuschen aus grauem Stein war verschwommen.
»Tut mir leid«, sagte sie mit belegter Stimme.
Alisons fröhliches Gesicht verzog sich sorgenvoll. »Es muss dir nicht leidtun«, sagte sie. »Du hattest einen langen Tag. Ist es … Bist du erschöpft von der Reise?«
Cordelia hielt die Kamera hoch. »Sie ist kaputt.« Ihre Stimme brach. »Irgend so ein Idiot von der Fähre hat mich angerempelt, und ich hab sie fallen lassen und jetzt …« Sie schluckte schwer. »Mein Vater hat mir diese Kamera gegeben, bevor er starb.«
Und das brachte das Fass zum Überlaufen – die lange Reise, die Erschöpfung, die Entfernung von zu Hause, der Verlust ihres wertvollsten Besitzes, all das brach über sie herein. Sie schluchzte in ihre Hände, und Alison saß ganz ruhig neben ihr und tätschelte ihr die Schulter. Schließlich holte Cordelia tief Luft.
»Tut mir wirklich leid«, sagte sie mit einem Schluckauf. Sie wischte sich die Nase an der Rückseite ihres Ärmels ab. »So habe ich mir unsere erste Begegnung nicht vorgestellt.«
»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Das ist eine furchtbare Sache, nach so einem langen Tag.« Alisons Augen waren voller Mitgefühl. »Es würde uns allen guttun, uns von Zeit zu Zeit auszuweinen, und du hast allen Grund dazu. Aber wie meine Großmutter immer sagt: Nach dem Regen kommt Sonnenschein. Lass uns reingehen. Was du jetzt brauchst, ist eine heiße Dusche. Ich mache dir eine Tasse Tee, und dann kümmern wir uns um deine Kamera.« Sie lächelte. »Wir sind nicht völlig von der Außenwelt abgeschnitten, weißt du.«
»Danke«, schniefte Cordelia. »Entschuldige, wolltest du mich jetzt deiner Großmutter vorstellen oder …«
»Oh nein, schon gut«, sagte Alison schnell. Sie blickte den Hügel hinauf, wo sich ein großes Steinhaus düster von den Wolken abhob. »Kein Grund zur Eile.«
Sie schnappte sich Cordelias Tasche aus dem Kofferraum, und zusammen eilten sie ins Haus, schüttelten den Regen von ihren Mänteln und hängten sie an die Haken neben der Tür.
Das Haus war genauso winzig, wie es auf den Bildern im Internet ausgesehen hatte – der vordere Teil bestand aus einem zusammengepferchten Wohn- und Essbereich, vor der Wand ein verblichenes blaues Sofa, eine Lampe mit Schmetterlingen auf einem Stapel alter Bücher, ein abgestoßener Holztisch mit drei Stühlen und ein Webteppich, ein kleiner Kamin mit Sessel und vor den Fenstern weiße Spitzengardinen. Alison zeigte Cordelia ihr Zimmer und ging dann in die Küche, um den Tee aufzusetzen. Ein Fenster über dem Bett blickte auf einen Garten und eine grüne Wiese, umgeben von niedrigen Steinmauern.
Sie konnte die Stimme ihres Vaters hören. »Es ist, als hättest du den Geheimen Garten betreten, Cordie. Ärgere dich nicht über verschüttete Milch – geh raus und genieße den Tag.« Doch wie sollte das gehen? Wer war sie überhaupt ohne Kamera?
Sie nahm ihr Handy und schrieb Liz, was passiert war. Sie wagte nicht, es Toby zu erzählen – sie wusste nicht, was sie mehr fürchtete: dass er so tat, als wäre es ein Zeichen oder dass er etwas Banales sagte wie: Du trägst Dad in deinem Herzen, nicht in einer Kamera.
Bevor sie ihr Handy weglegen konnte, vibrierte es. Sie warf einen Blick auf das Display, und ihr Magen zog sich zusammen. Sie hatte völlig vergessen, sich bei ihrer Mutter zu melden.
Toby sagt, du bist gut angekommen.
Uff. Ein typischer Louise-James-Satz.
Tut mir leid, Mom, ich hab’s noch nicht geschafft, mich zu melden, schrieb Cordelia zurück. Seufzend fügte hinzu: Wie geht’s Gary? Wie ist der Urlaub?
Es war ihr eigentlich egal, wie es dem Freund ihrer Mutter ging, aber Toby lag ihr ständig in den Ohren, dass sie nett sein sollte. Sie gab sich Mühe. Es gelang nicht immer, aber sie gab sich Mühe.
Seit Louise vor sechs Monaten angefangen hatte mit Gary auszugehen, war sie geradezu eine Fanatikerin in Sachen Liebesleben. Ständig nörgelte sie an Cordelia herum, weil sie keines hatte. Als hinge Glück ausschließlich davon ab, ob man mit jemandem liiert war. Irgendwie hatte Cordelia auch angenommen, dass ihr Vater die große Liebe ihrer Mutter gewesen war, und wenn man die Liebe seines Lebens verloren hatte, ging man doch nicht einfach zur Tagesordnung über und fing an, mit einem Exmarineoffizier auszugehen, den man online kennengelernt hatte.
Oh, es ist wundervoll!, schrieb ihre Mutter zurück und schickte dann ein Foto, das die beiden auf einem Boot zeigte. Sie verbrachten eine Woche in Garys Haus auf den Florida Keys. Ihre Mutter hatte einen leichten Sonnenbrand auf der Nase und trug einen großen Schlapphut. Gary trug ein Hawaii-Hemd und eine Ray-Ban und hatte den Arm lässig um die Schultern ihrer Mutter gelegt.
Ihr seht toll aus!, schrieb Cordelia zurück – das Ausrufezeichen fügte sie nachträglich hinzu. Siehste, Toby, dachte sie bei sich. Ich kann auch nett sein.
Ihre Mutter schickte ein rotes Herz-Emoji und eine Katze mit Kussmund und einen Regenbogen. Cordelia verdrehte die Augen – Gary hatte ihr Emojis beigebracht, und jetzt konnte sie nicht mehr ohne. Nikki fand es niedlich. Toby fand es lustig. Cordelia fand es seltsam.
Das Bad grenzte ans Schlafzimmer, und Cordelia schlüpfte aus ihrer Kleidung, stellte das Wasser an und stieg dankbar in die niedrige Porzellanwanne zwischen den schmalen Wänden. Wäre sie in New York, würde sie ihre Kamera zu Leslie Greer in der 58sten Straße bringen, wo sie ihre gesamte Ausrüstung herhatte. Wenn jemand sie reparieren konnte, dann Leslie.
Der anfängliche Schock verflüchtigte sich unter dem herrlich heißen Wasserstrahl – natürlich konnte man die Kamera reparieren. Es waren nur die Linse und der Fokus. Sicher konnte Leslie das beheben, sobald Cordelia wieder in der Stadt war.
Das Problem war nur, dass das noch Monate hin war. Cordelia hatte eine Vereinbarung mit Alison – die konnte sie nicht einfach wegen einer gesprungenen Linse aufkündigen. Andererseits würde sie keine drei Monate ohne Kamera überleben. Die Fotografie war wie ein zweiter Blutkreislauf, der direkt zu ihrem Herzen führte. Eine Woche ohne Kamera war machbar, vielleicht. Aber nicht ein ganzer Sommer.
Sie seufzte. Sie wollte eigentlich kein Geld dafür ausgeben, zumal sie mit dem Erbe ihres Vater schon diese Reise bezahlt hatte. Aber es sah so aus, als hätte sie keine Wahl.
Sie drehte den Wasserhahn zu, wickelte sich in ein Handtuch, wischte den Dampf vom Spiegel über dem Waschbecken und betrachtete sich. Unter ihren Augen lagen tiefe Schatten, ihr Haar hing in einem Strang über die Schulter. Die verstreuten Sommersprossen auf der linken Wange hoben sich deutlich von der blassen Haut ab. Ihre Andromeda, wie ihr Vater sie genannt hatte, weil sie ein Muster bildeten, das dem Sternbild ähnelte, verlief vom linken Auge bis zum Kiefer, mit vereinzelten Sprenkeln auf der Wange.
Sie atmete tief ein. Zeit, den ersten Eindruck bei ihrer neuen Vermieterin zu revidieren. Während sie sich eine Jogginghose und ein übergroßes T-Shirt anzog, erfüllte der Geruch von gebratenem Speck den Raum, und Cordelias Magen knurrte. Sie folgte ihrer Nase in die Küche.
Die war genauso gemütlich wie der Rest des Hauses, mit einem Fenster, das die gleiche Aussicht wie das Schlafzimmer bot, einer winzigen Spüle und einem Herd, einem brummenden kleinen Kühlschrank und mintgrünen Schränken an den Wänden, deren Farbe an einigen Stellen abblätterte.
»Schlechte Nachrichten verlangen nach einer Mahlzeit«, sagte Alison und deutete auf den Speck, der in einer Pfanne auf dem Herd brutzelte. »Noch so ein Spruch von meiner Großmutter.«
»Ich freue mich schon darauf, sie kennenzulernen«, sagte Cordelia höflich.
Alison kicherte. »Ich warne dich lieber vor, sie ist ein Original. Lass dich nicht abschrecken, wenn sie anfangs ein bisschen … seltsam ist.«
»Oh«, sagte Cordelia. »Okay.«
Auf der Arbeitsplatte neben dem Speck brodelte ein Wasserkocher, und Alison hatte Eier in eine große durchsichtige Schüssel geschlagen und war dabei, sie zu verquirlen.
»Hat die Dusche geholfen? Du hast wieder ein bisschen Farbe bekommen.«
»Hat sie«, sagte Cordelia. »Vielen Dank, das alles tut mir sehr leid. Ich …«
Alison winkte mit dem Schneebesen ab. »Wie gesagt, du musst dich nicht entschuldigen. Ich habe meinen Vater und meine Mutter verloren, als ich klein war. Manchmal weine ich deshalb immer noch. Ich verstehe dich vollkommen.«
Cordelia war überrascht, dass Alison so offen zu ihr war, und verspürte sogleich Dankbarkeit. Hier war eine verwandte Seele – noch ein Kind aus dem Club der toten Eltern. »Das wäre doch nicht nötig gewesen«, sagte sie und deutete auf den Herd.
»Kein Problem. Ich habe den Kühlschrank ein bisschen aufgefüllt, aber in der Stadt gibt es auch einen Laden. Im Schuppen stehen Fahrräder, die du benutzen kannst. Wie wär’s mit einem Omelett? Ich kann nur Frühstück – etwas anderes übe ich im Leeside nicht.«
Cordelia spürte so viele Gefühle auf einmal – hungrig, traurig, emotional überfordert und erschöpft –, dass sie nur nicken konnte. In der Ecke stand ein kleiner Tisch mit zwei Hockern, und sie ließ sich auf einem davon nieder. Der Wasserkocher begann zu dampfen, und Alison schaltete ihn aus, stellte eine weitere Pfanne für das Omelett auf den Herd, schnitt ein paar Pilze hinein und schenkte jedem eine großzügige Tasse Tee ein. Der Duft von schwarzem Tee erfüllte den Raum und mischte sich angenehm mit dem von Pilzen und Speck.
Und dann sprudelte die ganze Geschichte aus Cordelia heraus, warum sie überhaupt den ganzen Sommer über auf die Insel hatte kommen wollen, die dumpfe Verzweiflung, die sie in New York empfunden hatte, das Gefühl, dass sie seit dem Tod ihres Vaters aufgeschmissen war, eine Versagerin.
»Okay«, sagte Alison, als sie fertig war. »Verstehe. Ich habe mich schon gefragt, warum eine New Yorkerin an meinem Angebot interessiert ist. Klingt für mich, als bräuchtest du mal eine Atempause. Und dafür bist du hier genau richtig.«
Sie gab die Pilze und etwas Ziegenkäse zu den Eiern, klappte das Omelett in der Mitte zusammen und ließ es auf einen Teller gleiten, bestreute es mit Schnittlauch und legte zwei Scheiben Speck daneben.
»Iss«, sagte sie. »Danach wirst du dich besser fühlen. Und jetzt lass mal sehen, was wir mit der Kamera machen können.«
»In New York habe ich jemanden, der sie reparieren kann«, sagte Cordelia. »Aber ich glaube, für meine Zeit hier kaufe ich eine neue.«
Als sie nach der Gabel griff, holte Alison ihr Handy hervor. Beim ersten Bissen seufzte Cordelia genüsslich und verlor sich in den köstlichen Aromen. Sie hatte das Omelett schon zur Hälfte aufgegessen, bevor Alison Fotofachgeschäft in die Suchleiste eingeben konnte.
»Wir können solche Sachen in Doolin bestellen. Allerdings dauert das ein paar Tage. Was für eine Kamera ist es?«
»Eine Fujifilm X100V«, sagte Cordelia mit vollem Mund.
Alison suchte nach der Kamera und erbleichte, als sie den Preis sah. »Das ist ja eine tolle Ausrüstung, die du da mitgebracht hast«, sagte sie.
Cordelia genoss die wohltuende Wirkung der Hausmannskost auf leeren Magen ebenso wie die Gastfreundschaft und brachte schließlich ein Lächeln zustande.
»Gute Kameras sind teuer«, sagte sie. »Selbst wenn sie klein sind.«
Alison runzelte die Stirn. »Es sieht so aus, als müsstest du sie in Dublin bestellen. Das dauert mindestens eine Woche.«
Eine Woche? Cordelias Magen zog sich zusammen. Aber hatte sie nicht vorhin noch gedacht, sie würde eine Woche ohne Kamera auskommen? Es könnte sich als etwas Gutes erweisen. Außerdem konnte sie es Toby unter die Nase reiben.
Ihr Telefon vibrierte und Cordelia sah, dass Liz in klassischer Liz-Manier geantwortet hatte.
O MEIN GOTT, CORD, WER IST DIESES ARSCHLOCH, DAS DICH ANGEREMPELT HAT, ICH WERDE IHN FINDEN UND BIS ANS ENDE DER WELT VERFOLGEN, OH BABES, ES TUT MIR SO LEID. Und dann, fast wie ein Nachsatz: Bist du okay?
Mir geht es gut, schrieb Cordelia zurück. Bin über den ersten Schock hinweg. Alison hilft mir, in Dublin eine neue Kamera zu bestellen. Ich bringe Dads zu Leslie, wenn ich zurück bin.
JUHU! Liz war ein Fan von Großbuchstaben. Omg, ich bin so stolz auf dich. Wie ist das Cottage? Wie ist die Oma? Regnet es schon?
Cordelia lachte. »Meine beste Freundin«, erklärte sie Alison. »Sie hält mich für verrückt, weil ich herkommen wollte. Sie ist sich sicher, dass es den ganzen Sommer über regnen wird.«
Alison grinste und gestikulierte zum Fenster, wo der Regen nun gegen die Scheiben peitschte. »Da liegt sie sicher nicht ganz falsch. Aber es gibt auch sonnige Tage, keine Sorge.« Sie holte eine dicke Mappe hervor und legte sie auf den Tisch. »Da ist alles Wissenswerte über die Insel drin – was man machen kann, Sehenswürdigkeiten, so was. Das Wi-Fi-Passwort steht auch hier drin. Außerdem ist da ein Stadtplan und der Haustürschlüssel. Wie schon besprochen: Es wäre schön, wenn du das Haus in Ordnung hältst und die Post zu Róisín bringst. Sie bekommt auch ein paar Sachen geliefert, Dünger und Tierfutter, die kannst du in den Schuppen stellen. Und klopf einfach ein- oder zweimal am Tag an die Tür, damit sie weiß, dass du da bist.«
»Ich muss also nicht mit ihr spazieren gehen oder so?«
Alison lachte. »Du kannst es gern versuchen«, sagte sie.
Cordelia öffnete den Mund, um etwas zu sagen, musste aber stattdessen ausgiebig gähnen.
»Du musst dich ausruhen«, sagte Alison. »Es war ein langer Tag. Aber wenn du möchtest, lade ich dich morgen zum Abendessen ins O’Connor’s ein. Da gehen die Einheimischen hin. Es liegt in Fußnähe, und man hat da immer viel Craic.«
»Entschuldigung, hast du Crack gesagt?« Cordelia fragte sich, ob sie in eine Art Breaking Bad-Szenario gestolpert war.
»Craic ist irisch und bedeutet Spaß«, erklärte Alison lächelnd.
»Oh. Klingt perfekt.« Cordelia erwiderte das Lächeln.
»Ich habe dir den Namen des Ladens in Dublin aufgeschrieben. Lass die Kamera ins B&B schicken, dann kommt sie direkt zu mir.«
Nachdem Alison gegangen war, schnappte sich Cordelia eine weitere Scheibe Speck und schenkte sich Tee nach, bevor sie ins Bett kroch und über FaceTime Liz anrief.
Sie ging nach dem zweiten Klingeln ran.
»Oh, Cord«, sagte Liz. »Bist du sicher, dass es dir gut geht?«
Liz hatte hellbraune Haut und glattes mahagonibraunes Haar, das auf der einen Seite rasiert, auf der anderen in einem scharfen Winkel auf Kinnlänge geschnitten war. Sie trug wie gewohnt ihren knallroten Lippenstift, und der Nasenring glitzerte im gedämpften Licht ihrer Wohnung. Beim Anblick ihres Gesichts zog sich Cordelias Herz zusammen.
»Jetzt ja.« Cordelia seufzte. »Nicht der beste Moment, um einen Tausender für eine neue Ausrüstung auszugeben, aber ich kann nicht ohne Kamera, Liz.«
»Ich weiß, Babes«, sagte Liz mitfühlend. »Was für ein beschissener Start. Hast du wenigstens schon ein paar heiße irische Jungs kennengelernt?«
Cordelia kniff die Augen zusammen. »Tut mir leid, mir war nicht bewusst, dass ich aus Versehen die Nummer von Louise James gewählt habe.«
»Okay, okay, das habe ich verdient. Wie ist es? Es regnet, stimmt’s?«
»Es regnet, und das Haus ist total süß.« Sie wechselte die Kameraperspektive, damit Liz das Schlafzimmer sehen konnte.
»O mein Gott, Cord. Es sieht aus wie das Haus von Schneewittchen.«
»Ich weiß.«
»Oh shit.« Liz runzelte die Stirn. »Ich muss los, ich treffe mich mit Meena zum Lunch. Schlaf dich aus. Morgen geht’s dir bestimmt besser.«
»Ja«, sagte Cordelia. »Vielleicht. Grüß Meena von mir.«
Liz zögerte, aber bevor Cordelia sich zu viele Gedanken darüber machen konnte, lächelte sie strahlend. »Mach ich«, sagte sie. »Hab dich lieb.«
»Ich dich auch.«
Sie legte auf und starrte aus dem Fenster in die Dämmerung. Ein Telefonat mit Liz und schon hatte sie Heimweh. Sie trank ihren Tee aus, während sie die neue Kamera bestellte. Als Lieferadresse gab sie das Leeside an, wie Alison es vorgeschlagen hatte.
Es war erst neunzehn Uhr, aber das war Cordelia egal. Sie legte die kaputte Kamera auf den Nachttisch und berührte den Daumenabdruck ihres Vaters. »Ich hab dich lieb, Dad«, murmelte sie. Dann schlüpfte sie unter die Decke, machte eine Folge Drei Fragezeichen auf dem Handy an und war innerhalb von fünf Minuten in einen tiefen, traumlosen Schlaf gesunken.
Am nächsten Morgen schreckte sie früh aus dem Schlaf.
Das Sonnenlicht strömte durchs Fenster herein, und für eine verwirrende Sekunde hatte sie vergessen, wo sie war. Dann entdeckte Cordelia ihre Kamera mit dem gesprungenen Objektiv auf dem Nachttisch, und ihr Herz zog sich zusammen.
Steh auf, geh raus und genieße den Tag. Nichts, was ein flotter Spaziergang nicht beheben könnte, das war Christopher James’ Motto. Sie checkte ihr Handy – ein paar neue Nachrichten und Fotos von Toby: Grace, herausgeputzt, auf dem Weg ins Turnlager, und Miles, stolz, mit einem rausgefallenen Milchzahn in der Hand. Und von ihrer Mutter ein Link zu einem Artikel mit der Überschrift »Fünf Tipps für den Urlaubsflirt«. Cordelia hatte keine Lust, darauf zu reagieren.