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Als Sohn der Musen habe ich mich ihrem Wirken angeschlossen: Künste erproben und einüben, Tatsachen der Geschichte erkennen und ihre Wahrheiten verbreiten. Darin enthalten ist epische Dichtung und Drama. Kultur (auch Tanz und Musik) entwickelt unsere Bedürfnisse.
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Seitenzahl: 301
Veröffentlichungsjahr: 2025
Kay Petersen
Sohn der Musen
Eine Biografie
Engelsdorfer Verlag Leipzig
2025
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.
Angaben nach GPSR:
www.engelsdorfer-verlag.de
Engelsdorfer Verlag Inh. Tino Hemmann
Schongauerstraße 25
04328 Leipzig
E-Mail: [email protected]
Copyright (2025) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte beim Autor
Titelbild: Eustache Le Sueur: Die Musen Klio, Euterpe und Thalia. Paris, Louvre (gemeinfrei)
Hergestellt in Leipzig, Germany (EU)
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH, Rudolstadt
Über Begegnungen mit nicht alltäglichen Menschen, über ernsthafte Gegenstände und spannende Ereignisse schreibe ich.
Neun Musen wirkten einst in der Antike, griechische Göttinnen. Nach Hesiod vertraten sie Geschichte und Sternenkunde. Bekannter sind sie als Schützerinnen der Künste, der Musik, dem Tanz, der Epischen und Liebesdichtung, Tragödie und Komödie. Sie besaßen sowohl „Tatsachenwissen“ als auch „göttliches Wissen“ (1), inspirierten Künstler und berieten Staatsmänner. Musik, Tanz, Dichtung, Drama, historische Inhalte, Astrophysik beschäftigten auch mich zunehmend im Laufe des Lebens. Die Musen waren „Wissensquellen“ für die griechischen Dichter, „göttliche Garanten für die Wahrheit ihrer Geschichte.“ Nach Platon ist unser Wissen göttlicher Herkunft. Er gesteht hinsichtlich der Tatsachen nur „den Auserwählten“ unter den Menschen zu, dass sie die Wahrheit erreichen (2).
Eine kritische Lebensbeschreibung mit dem geschichtlichen Hintergrund der Zeit – sozial, kulturell und geistig – soll eine Biographie enthalten. Kultur, Soziales und Vorzüge bestimmen also das bessere Leben. Unsere Klassiker und ihren Bezug zur Antike möchte ich hervorheben. Intellektuell wirksam waren aber hunderte Jahre Sozialisten mit großen Illusionen vom Kollektiv.
Biographie kann auf Grundlagen des Miteinanders nicht verzichten. Sie ist eine Verführung für einen Autor, besser zu erscheinen als man ist (nach Helmut Schmidt). Also werde ich versuchen, so ehrlich wie möglich und wie nötig zu sein.
Erfahrungen, Erlebnisse und Verhältnisse sind Prosa und Poesie des Lebens. Ich bin für Vielheit und Ganzheit.
Die Musen der Künste geben uns Höhenflüge. Sie heben heraus aus dem Alltag, berühren unsere Sinne in Musik, Tanz und Dichtung. Sie stehen uns offen, Kultur entwickelt unsere Bedürfnisse. Ihre Bereiche stellen einen Rahmen dar, in dem es sich gut leben und verwirklichen lässt. Vieles habe ich ausgelotet. Dramen (Tragödien und Komödien) muss man nicht ständig erfinden (Schauspieler kommen schon lange nur über Krimis zu Ruhm und Ansehen). Sie wiederholen sich, weil Menschen unbewusst oder bewusst Leid erfahren oder die Folgen ihres Handelns nicht bedenken.
In epischer Dichtung (das ist Erzählung) habe ich Geschichte verbreitet, sie entlarvt die Rollenspieler der Macht.
Eine Muse befasst sich mit Tatsachen der Geschichte, oft waren es Eroberungen. Zu den Fakten gehört mehr denn je Ausbeutung der Natur – Kahlschläge, Überfischung, Tagebau, Vernichtung von Regenwald. Probleme lösen wir nicht nachhaltig, sondern nur kurzfristig. Maßlosigkeit im Wachstum müssen wir erkennen. Sternenkunde ist immer noch aktuell, dient vielleicht der friedlichen Eroberung des Weltraums. Wir werden garantiert keine neuen Planeten zur Besiedlung finden.
Einblicke erhält der Leser in Gedanken der Aufklärung, in die Blütezeit und Krisenzeit des Bildungsbürgertums. Sie hat unser Leben verändert. Viele Einblicke gibt es natürlich in die eigene Lebenszeit. Vor allem aber müssen wir unseren Planeten bewahren vor verschärften Folgen des Klimawandels.
I. Kindheit und Jugend im Norden (SH)
In einer Kleinstadt
Geburt und Trauma
Haus mit Garten und Au
Einschulung und seltsame Spiele
Das weitere Umfeld
Die nahen Verwandten
Erste Heimlichkeiten
Gespanne und Motorfahrzeuge
Traurige Ereignisse
Der Jahrmarkt
Auf dem Lande
Bei den Strucks
Aktivitäten und Abenteuer
Geschick und Missgeschick
Der Wendel-Hof
Tierliebe
Unsere Mutter und ihre Kost
Freizeitspiele und Badefreuden
Ausbildung in der Dorfschule
Der Schlussakkord
In der Landeshauptstadt
Die Gerhardschule
Der Turnverein
Leben in einer Etagenwohnung
Ferien bei der Großmutter
Weihnachtsfeier und elektrische Eisenbahn
Strandleben und Freizeitspiele
Disharmonie und Demütigungen
Bildungsweg und väterliche Antipädagogik
Jugendlektüre und Kultur
Kleingärtnerei und Autoreparaturen
Die Tanzschule
Hausbau und Studenten
Oberstufe am Staatlichen Gymnasium
Bei den Karnevalisten
Mein Bruder und die jüngeren Geschwister
II. Berliner Luft und Lebensraum (1969 – 78)
Übersiedlung und Lehrvertrag
Arbeitswelt
Freizeit-Aktivitäten
Lehrzeit und erste Liebe
Die Zeit der APO
Beginn einer WG und die Muse der Musik
Künstler
Beverly Bonnet
Politische Diskussionen und Demos
Drogenerfahrungen
Die Reise nach Afrika
Bankgehilfe, FOS, Schule für Erwachsenbildung
Amsterdam und ein Lebenskünstler
Abschluss auf dem II. Bildungsweg
Neues Leben in der WG
Studium der Physik und Liebe auf den ersten Blick
Reisen mit Daniela
Mein älterer Bruder
Klärung von Fragen der Erziehung
Die Hochburg der Schwulen
Wechsel zum Studium des Lehramts
Rückblick
III. Ausbildungsjahre in Rheinland-Pfalz
Studium in Mainz (1978 - 83)
Physik und Sport
Der Charakter der Gattung
- Ihre technische, pragmatische und moralische Anlage
Germanistik im Grundstudium
- Gottfried Kellers "Leute von Seldwyla"
Inhalte im Hauptstudium
- Krisenzeit des Bürgertums
- Blütezeit des Bürgertums
- Folgerungen unserer Klassiker
Erfahrungen und Inszenierungen (-)
Klavierspiel und Teak-Wan-Do
- Chorgesang und Kultur in der Landeshauptstadt
Freundinnen und Freunde in Mainz
- Hausbesetzungen
Ulrike M. und die Rheinfahrt
Eine Liebes-Geschichte hat Folgen
Therapie und wenig Erotik
- Lebenslauf und Erziehung sowie Selbsterziehung
Wohngemeinschaft in Bodenheim
Der Olympismus
- Inszenierung der OS von 1936 und 1972
Die Weltersbach-WG
Ein epischer Nachruf
Rückblick
Qualifizierung und Beruf(-); Leben im Raum Koblenz
- Vorbereitungsdienst auf das Lehramt (1984-85)
Besuche im Kinderschloss Ockstadt
Urlaube mit meinem Sohn Jan
- Als Sozialpädagoge bei der AWO (1986 - 87)
- Fortbildung zum Umweltberater (1988-89)
- Deutschlehrgänge für Aussiedler (1989 - 93)
Lisa aus Omsk
Sportliche Aktivitäten (I) und ein Trip nach Holland
- Vertretung an Grundschulen (1991 - 94)
Von der Mosel an den Rhein
Neue Freunde in Koblenz und im Westerwald
Umweltaktivitäten
Georg und die Bibel
- Lehrkraft an Privatschulen (APT/TÜV-Akademie)
- Hausaufgabenhilfe und Fördermaßnahme beim IB
Weitere Ausbildung am Klavier
Sonja und Kreta
- Lehrkraft an der VHS und am BFW (1998- 01)
- Als Lehrer im Öffentlichen Dienst
- Nachhilfe, Studienkreis, Vertretungen (2002 - 06)
Sportliche Aktivitäten (II)
Olga und die Fahrt auf der Wolga (1999)
Trauung in Weißenturm und familiäre Zeit
Rückblick auf 28 Jahre
IV. Entwicklungen im Norden (2007– 2024)
Lehrer an der Toni-Jensen-Gesamtschule (2007 - 13)
Versuche großer Liebe
Betreuung und Handwerk
Erbschaftsstreit mit Folgen
Schulsport und ein sportliches Ereignis
Organisation, Schulfeste und Schulpolitik
Hochzeit meines Sohnes
Von einem weisen Leben
Ballade vom Klimawandel (2013)
Entwicklung zum Schriftsteller
Geschichte und ihr Bezug zum eigenen Leben
Das „pralle Leben“ ?
Anhang I:
Exkurs zum Gebrauch und zur Verbreitung einer Droge (LSD) in den sechziger und siebziger Jahren
Anhang II: Klassik und Klassizismus
- Die Kunst der Griechen und der heidnische Geist der Antike
- Griechische Götterwelt, christliche Religion und Aufklärung
Anhang III: Zu den planetarischen Grenzen
Anmerkungen
Es fängt mit dem Schrei an, dem allseits bekannten, dann kommt’s auf den Brei an und auf die Verwandten.1
Ich fange also mit dem sozialen Hintergrund an. Es wurde überliefert: Mitte des 20. Jh. im Januar fand auf einem Hof in der Gemeinde Bargum (Kreis Husum) eine Hausgeburt statt.
Ich erinnere mich nicht einmal an die ersten Jahre.
Folgenlos blieb wahrscheinlich nicht ein Unfall, der Sturz über eine ungesicherte Treppe. Mein Vater schiente einen Beinbruch, die Eltern brachten mich auf einem Motorrad ins Krankenhaus. Mit anderthalb Jahren vollzogen sie eine Trennung von sechs Wochen Dauer. Furcht vor Geschrei nach Besuchen ließ den Oberarzt gleich die Notbremse ziehen. Die Götter in Weiß hatten gesprochen und sie fügten sich der Regelung. Dass sie Anteil nahmen durch ein Guckloch, habe ich natürlich nicht gemerkt, dass ich ihnen „immer leid getan hätte“ auch nicht, als sie ein ständig weinendes Kind beobachten konnten, das hätte ja zum Umdenken führen können. Aber als Erwachsene stammten sie aus der Zeit der Autoritäten und ließen sich das eigene Kind entziehen. Das soll nicht nach Selbstmitleid klingen, abwesende Eltern erzeugen aber ein gestörtes Vertrauen, ein Trauma.
Mein Vater war übrigens der Sohn eines Diplom-Kaufmanns und Erbhofbauern und meine Mutter eine Gastwirts-Tochter, die im III. Reich Handweben lernen sollte.
Von einer Kleinstadt (Bredstedt), in der dies passierte, zogen wir in eine andere (Wilster bei Itzehoe) zu den Großeltern. Ihr Haus mit Garten hat eine Rosenlaube und einen Stall für Hühner zu beiden Seiten von Mauern. Ein kreisförmiges Blumen-Beet in der Mitte ist von einem Gehweg und Rasen umgeben. Am hinteren Rand befindet sich ein hölzerner hoher Zaun auf flacher Mauer mit dem Blick auf eine Au, die breit und träge dahin fließt. Stichlinge bewegen sich bei leichter Strömung ruckartig voran. In eine Regentonne am Haus warf ich oft kleine Steine: Sie schlüpften mit einem seltsamen Laut ins Wasser, sanken dann gleichmäßig schnell zu Boden. An Laubfröschen in der Tonne erkenne ich später den Brustbeinschlag von Schwimmern.
Das Haus beherbergt unten einen Gastraum mit Ausschank. Vom Flur stiegen wir in den Dachraum, wo die Schlafräume für Eltern-Paare und Kinder lagen. Über den Flur im vorderen Teil betraten auch Gäste auf einer immer gebohnerten Diele den größeren Raum. Wir Kinder durften sie möglichst nicht stören, hielten uns aber manchmal dort auf. Es roch dort morgens unangenehm nach kalter Tabakasche und abgestandenem Alkohol. Im Keller, zu dem eine schmale Treppe führte, nahmen wir Mahlzeiten ein, blickten durch halb hohe Fenster auf den Garten. Hinter dem Gästeraum lag noch ein kleines Zimmer, ausgestattet mit einem Schrank für ein Grammophon. La Paloma oder Gesang von Hans Albers erschallte hier manchmal. Sehr gern und wiederholt hörte ich Mozarts „Eine kleine Nachtmusik“, damit fing die Liebe zur klassischen Musik an.
Im Sommer hielten mein zwei Jahre älterer Bruder und ich uns viel im Garten auf. Mit Gläsern aus Wundertüten brannten wir braune Flecken und Löcher in Papier. Insekten summten um uns herum, Frösche und Lurche krochen manchmal durch das Gras oder sonnten sich an einer Hauswand.
Auch die kleine Stadt war zu erkunden, doch weit kam ich nicht. Die Hauptstraße schien endlos, machte müde. Das Ziel verlor sich und ich ließ mich schließlich müde auf der Schwelle eines Hauses nieder, Erholung suchend. Irritierte Nachbarn sprachen mich an und mit Bewohnern wurde geklärt, wohin ich gehörte.
Mit sechs Jahren begann die Grundschulzeit hinter dem Stadtpark. Eine große Schultüte im Arm zeigt mich auf einem Foto in kurzer Lederhose mit Trägern neben meiner Mutter. „Onkel Rudi“, mein Vater, so genannt, weil er wenig präsent war, fehlte in den ersten Jahren. Spiele auf dem Schulhof blieben mir seltsam fremd. Mädchen fassten sich an Händen, wirbelten im Kreis herum, sie hüpften auch in Vierecken und schoben einen Gegenstand weiter. Als stiller Gesellschafter schaute ich nur zu. Geburtstage feierten wir immer unter der Regie meiner Mutter: Topfschlagen mit verbundenen Augen, verschnürte Gegenstände mit einem Besteck öffnen gehörte dazu, Kuchen und Kakao.
Vertrauter als die Schule im ersten Halbjahr war das weitere Umfeld: Halb hoch verschloss ein eisernes Tor mit Flügeln den Weg für Fuhrwerke in den Stadtpark. Eine Tür daneben gab den Weg frei für Fußgänger. In der Mitte des Parks thronte ein Denkmal auf einem Sockel und hinter Büschen und Bäumen konnten wir Versteck spielen. In der Herbstzeit luden kleine holzige Äpfel zu Wurfgeschossen ein, die wir auf Stöcke spießten. Nicht minder einladend grenzte an den Park eine Bonbonfabrik. Es gab ein hoch gelegenes Fenster, das eine Frau auf Zuruf öffnete. Legte man einige Groschen in einen großen Auffüll-Löffel, reichte sie uns eine Anzahl klebriger Bonbons. Schräg gegenüber dem Wohnhaus lag ein Eiskeller. Getränke in Fässern kühlte eine riesige Menge Eis, das am Boden hoch geschichtet lag. Der Raum mit Gewölbe weckte Unbehagen wegen der Kälte und wegen der Vorstellung, hinter der schweren Tür eingesperrt zu werden. Der Mann der Fässer blieb aber freundlich. Er machte außerhalb immer den Scherz, dass wir heute Abend ohne Strümpfe ins Bett kämen, wohl wegen der Kälte in seinem Eisfeld. Wir lachten dann nur und teilten mit, dass wir sowieso ohne Strümpfe ins Bett gingen.
Auf das gegenüber liegende Ufer der Au führte eine Fußgänger-Brücke zu einem größeren Platz, an den eine Schmiede grenzte. Hier beschlägt man Pferde, erneuert eiserne Radreifen, sodass ein Hämmern auf Ambosse und Eisen immer zu hören war. Manchmal warf uns ein Arbeiter von dort Ringe aus Carbid zu, die schoben wir in Pfützen, weil sie darin heiß wurden.
Auf unserer Seite der Au befand sich auch eine Schreinerei. Von der Brücke aus konnten wir durch Glas-Fenster in die Werkstatt blicken. Meistens war ein Tischler damit beschäftigt, Bretter zu hobeln oder mit einer Kreissäge zu arbeiten. Bei Betreten des Möbelhauses von vorn knirschte der Boden Ehrfurcht gebietend. Eine Ausstellung von Schränken und Kommoden verteilte sich auf den ganzen Raum.
Unsere Oma rief uns immer um fünf Uhr ins Haus, wenn andere Kinder noch spielen durften. Wir sollten früh schlafen gehen. Ein Ritual unserer Mutti blieb in schöner Erinnerung: Sie kuschelte uns nach dem Vorlesen in das Kissen ein, indem sie es dicht um den Kopf legte. Beim Einschlafen ahmten wir Flugzeuge nach. Danach fiel ich häufig ins Bodenlose, wachte aber beim Fallen wieder auf. War das jetzt der Übergang in den Tiefschlaf oder die Folge des Aufenthalts im Krankenhaus?
Die „Oma Wilster“ zog immer eine Schürze zum Kochen an. Durch das Fenster zum Garten reichte sie uns im Sommer heiße, gepellte Kartoffeln, die sehr gut schmeckten. Ironisch hieß es bei anderen Wohltaten: „Weil ihr so frech wart, gibt es was zum Naschen.“ Allerdings musste man immer alles essen, was auf den Tisch kam, auch Schwarzwurzeln, die mir übel aufstießen.
Unaufgeregt schreckte sie uns vom Anfassen aufgehängter Wäsche im Vorraum der Schlafzimmer unter Dachziegeln ab. Dort hielt ich mich manchmal gern auf, denn im Lichtkegel des kleinen Dach-Fensters schwirrten eine Menge Staubteilchen, über die ich staunte. Zum Alltags-Geschehen ist noch mein Großvater zu nennen. Leider sprach er so undeutlich Platt (Niederdeutsch), dass ich ihn oft zu wenig verstand, was er nicht einsehen konnte. Das führte dazu, dass wir uns nicht mehr mochten, dass unser Gespräch verstummte. Im Grunde war das bitter für ihn, denn er machte zu Weihnachten die besten Geschenke, für die ich mich aber zu wenig erkenntlich zeigte. Meistens stand er in der Gaststube und zapfte Bier oder schenkte Korn aus.
Es gab noch einen Halbbruder Hubert von Seiten meiner Mutter und eine Tante, die wenig präsent waren. Sie versuchte mich wiederholt mit einem umgedrehten, leeren Frühstücksei zu betrügen, ein verbreiteter Scherz damals. Über die Enttäuschung hat sie sich köstlich amüsiert. Wahrscheinlich war sie früher genauso hereingelegt worden. Merkwürdig fand ich ihre Tochter Silke, der wir immer ihre Füße kitzeln sollten. Das haben wir nur einmal getan. Tante Bertas erster Mann fiel früh im Zweiten Weltkrieg – sie hat später einen Geschäftsmann geheiratet. Zunächst eröffnete dieser in der Hauptstraße des Ortes einen Konfekt-Laden: Dort besorgten wir uns immer Karamell-Bonbons oder Pfefferminz-Tafeln, die sehr süß schmeckten.
Der Halbbruder, Hubert Meiforth, war einmal ein hohes Tier bei der Hitlerjugend, ein HJ-Führer in Schleswig-Holstein und Niedersachsen. Mein Halb-Onkel also lächelte mich oft ironisch an, sprach laut, scharf und akzentuiert, ein schneidiges Auftreten, das die Zöglinge der Nazis sich aneigneten. – Die Enttäuschung über Hitler soll groß gewesen sein, erzählte mir viel später meine Mutter. – In der Einfahrt zum Garten vor dem Tor stellte er sich eines Tages an einen Baum, fasste ein Huhn am Hals und schlug den Kopf des Tieres von rechts und links dagegen. Das tat man wohl so. Angenehmer fand ich meine Tante, seine Frau Sigrid, die eine klangvolle, warme Stimme besaß, streng anliegendes Haar trug und gut aussah.
Bei einem Besuch in ihrem Reetdach-Haus an der Stör bei Wewelsfleth musste ich erfahren, wie der Onkel abendlich Jugendliche durch Ohrfeigen abstrafte, weil sie dies oder jenes nicht erledigt hatten. Ein Betroffener zeigte sich aber stolz und ließ sich die Strafe nicht anmerken. Er hat einen ziemlich starken Eindruck auf mich gemacht, belehrte mich aber auch, wie man eine Gabel richtig hält.
Das Reetdach-Haus des Onkels, auch als Kunst-Maler bekannt, wurde eines Tages durch Brand zerstört. Entweder war es ein Kurzschluss an der Zuleitung des Stroms oder ein Blitz, der das Haus traf. Jedenfalls brannte es in kurzer Zeit ab: Die meisten Ölbilder konnte er nicht retten. Er sei gegen solches Ereignis auch nicht versichert gewesen, teilte meine Mutter mir mit.
Spannend blieb unsere Umgebung: In der Au gab es nicht nur kleine Fische, sondern im Uferbereich auch Ratten. Wir mochten sie nicht, deshalb wurden die Tiere vom Ufer gegenüber mit Steinwürfen bedacht, wenn sie unter hölzerner Verschalung ins Freie schwammen. Dennoch trafen wir keine von ihnen im Wasser, worüber ich im Nachhinein froh war.
Am Ufer der Au lagen im Sommer Holzboote vertäut und auf der Gegenseite an Pflöcken befestigt, teilweise mit einem Dach am Bug. Im Winter zog man sie an Land und legte sie umgedreht ab. Unter einem solchen Kahn fand das erste heimliche Rauchen statt, versteckt vor äußeren Blicken. Damit der Geruch uns nicht verriet, schlug ich vor, nach dem gemeinsamen Rauchen der Zigarette, Schnee in den Mund zu nehmen und ihn zu reinigen. Ein Streichholz hat sie entzündet, jeder zog schließlich ein paar Male am Filter, der Rauch schmeckte merkwürdig fade. Durchfall bekamen wir nicht, wie Erwachsene zum Abschrecken meinten, aber der Genuss blieb ohne Reiz.
Weiße Hochzeitskutschen traten gelegentlich in Erscheinung, von einem Schimmel gezogen. Bierkutschen wurden dagegen von zwei Kaltblütlern, starken Pferden, befördert. Vor dem Eiskeller standen manchmal die beeindruckend kräftigen Tiere oder vor dem Gasthaus in Wartestellung mit Gespann und geladenen Bierfässern aus Metall.
Echte Autos kurvten nur wenige in den fünfziger Jahren herum, so z.B. der Messerschmidt-Roller auf drei Rädern, in dem man hintereinander saß, geschützt nach oben mit der durchsichtigen Haube, eine aus der ehemaligen Kabine des Flugzeugs gefertigte Überdachung. Die Isetta von BMW bot auch Platz für zwei Personen nebeneinander, öffnete sich nach vorn und ließ das Steuer mit seiner Säule ausschwenken. Lächerlich fand ich den Loyd, ein Mobil als vierrädriges Fahrzeug: Aus Pappe schien die Karosserie zu bestehen. „Wer den Tod nicht scheut, fährt Loyd“, hieß es damals über dieses Gefährt. Ein Dreiradwagen, den mein Onkel von der Vaterseite fuhr, nannte sich "Hanseat". In Italien sind sie geblieben, die Dreiräder, bei uns konnten sie sich nicht halten. Am häufigsten verkehrte in den fünfziger Jahren der Käfer von VW mit seiner Nase zur Beleuchtung des Nummernschilds. Mein Onkel Hubert besaß dagegen einen Sportwagen, Marke Borgward, Isabella hieß er, ein vielbeachtetes Fahrzeug, mit dem er Italien-Urlaube verbrachte und sich Rückenschmerzen zuzog.
Schräg gegenüber dem Vorplatz am Wohnsitz lag eine Metzgerei. Der Sohn des Hauses missfiel mir, manchmal kam man sich trotzdem näher. Das nackte Baden zur heißen Sommerzeit in kleinen, mit Wasser gefüllten Metallwannen im fremden Garten sorgte für eine kühle Erfrischung. Er stieg auch nackt zu mir in die Wanne, was mir unangenehm war. Das Aus ergab sich durch sein widerliches Verhalten: Unsere Gemeinsamkeit endete eines Tages mit einer Verfolgung seinerseits bis zu unserer Haustür. Es gelang mir bei der Flucht ins Haus die Tür noch rechtzeitig auf zu reißen. Er spuckte mit vollem Mund auf die Diele des Hauses. Nach diesem Schreck schenkte mir meine Tante Trost, aber das Ereignis wirkte wie ein Trauma nach, solche unflätigen Menschen konnte ich nur meiden. Später hat sich mein Bruder noch einmal mit ihm geschlagen, aber „ohne ihn zu besiegen“, wie er meinte.
Ein fast tödlicher Unfall widerfuhr dem Nachbarssohn Thomas Tönnsen von der anderen Seite rechts von der Brücke. Er spielte an der Au, fiel ins Wasser, konnte aber nicht schwimmen. Mein Bruder Thies war dabei und rief einen Mann vom nahe gelegenen Schlachthof zu Hilfe. Der Retter tauchte lange nach ihm, konnte ihn aber erst spät unter Wasser fassen und herausziehen. Schock und der Sauerstoffmangel setzten ihm derart zu, dass er zum Stotterer wurde. Wir verloren dann zunehmend den Kontakt, denn er spielte nur noch selten im Freien und konnte leider nicht mehr fließend sprechen.
Unerwartet ereignete sich auch der erste Sterbefall in der eigenen Familie. Es war unsere Großmutter, die wegen Gallen-Steinen in die Klinik musste und operiert werden sollte. Die Gallenblase ist geplatzt, was dann tödlich endete. Sie blieb längere Zeit im Krankenhaus. Wir haben sie nicht besuchen dürfen und sie starb schon mit 58 Jahren (1956). Tante Berta kam danach zu mir, weinte, war sehr niedergeschlagen und ließ es mich wissen. Meine Mutter hat noch lange unter dem frühen Tod ihrer Mutter gelitten.
Zu den Besonderheiten in einer Kleinstadt gehörte auch der Jahrmarkt, anderswo Kirmes genannt. Man baute ihn auf dem Vorplatz der Kirche im Stadtzentrum auf, das von Häusern umgeben ist. Ein kleines Ketten-Karussell gab es und ein solches mit verschiedenen kreisenden Fahrzeugen. Viel interessanter waren die Wagen auf vier Rädern für zwei Personen, die von einem Gummipuffer umgeben auf einer großen Fläche fuhren. Sie bewegten sich mit elektrischem Antrieb, denn ein Schleif-Kontakt an einem Metallgitter über dem Gefährt stellte den Stromkreis her, dort funkte und knisterte es oft. Die Räder liefen auf Metallplatten, über die das Fahrzeug geerdet wurde. Wir durften zunächst nur als Beifahrer Platz nehmen.
Zuckerwatte-Erzeuger gab es und ein Mann aus Asien brannte Mandeln in einer riesigen Metallschale, immer mit einem Lächeln im Gesicht, er zog mich besonders an. Aufdringliche Losverkäufer mit ihrer öden Aufforderung, Lose zu nehmen, mochte ich gar nicht; fast alle stellten sich als Nieten heraus. Auch die Stofftiere, die man gewinnen konnte, gefielen mir nicht: Zu groß, zu wertlos und hässlich, hellblau oder rosa, als wenn es jemals solche Bären gegeben hätte! Wir bekamen nicht viel Geld auf den Jahrmarkt mit, kauften uns etwas Zuckerwatte, einen Streifen Kokosnuss und manchmal gebrannte Mandeln.
Eine Karussell-Fahrt in einer Feuerwehr, auf einem Motorrad oder in einem Hubschrauber ließ etwas Freiheit zum Hantieren und Hupen am Steuer; das war noch das Beste, aber man merkte schnell, dass die Fahrt im Kreis nicht zu beeinflussen war. Als wir etwas älter wurden, durften wir auch mit den durch die Gummipuffer geschützten Fahrzeugen herum kurven, das machte weit mehr Spaß. Die heftigen Zusammen-Stöße von fremder Seite blieben zwar unangenehm, aber man konnte auch selbst mal jemanden rammen, was Spaß machte. Trotz der Reize des Jahrmarkts empfand ich die typische Musik und das Begleit-Personal als zweifelhafte Welt.
Nach der Kleinstadt Wilster folgte eine erlebnisreiche Phase auf dem Lande und in der Schule von Ostenfeld bei Rendsburg. Unser Wohnhaus teilten wir bald mit einer anderen Familie: Der Mann war Sattler und die Frau half bei der Feldarbeit der Strucks, musste im Frühjahr von einer Maschine aus Pflanzen setzen. Mein Vater besuchte ihn manchmal, spielte mit ihm Schach und erzählte meist stolz, dass er gewonnen habe. Allerdings hat er uns nie das Schach-Spielen beigebracht.
Während sich ein Wochentag in Sichtweite des Bauernhofes, am Wohnhaus selbst oder im näheren Umfeld abspielte, verlief er anders als ein Sonntag. Es gab einmal die Woche Fleisch und meine Eltern leisteten sich Bohnenkaffee. Der Sonntag wurde bei uns aber kein Tag der Kirche, wir blieben weltlich. In weißen Hemden durfte man sich an diesem Tag nicht schmutzig machen, das hatte keinen religiösen Grund. Aber es gelang meistens nicht, wenn wir auf dem oft aufgeweichten Gelände des Bauern-Hofes uns fortbewegten, unsere Mutter war dann immer enttäuscht. Die Schuhe sahen verschmutzt aus und das Hemd wurde auch nicht selten befleckt. Das passte allerdings zum Landleben.
Der Hof gehörte Frau Struck. Ihr Sohn Jan, ein Verwalter und eine Magd, so hießen die weiblichen Hilfskräfte damals noch, traten in Erscheinung. Unsere Eltern molken hier abends noch per Hand schlecht gepflegte Kühe, um sich damit die Miete zu ersparen. Ich hielt mich abends während des Melkens oft im Kuhstall auf, wenn sich eine wohlig-warme Atmosphäre bei frischem Futter oder Heu bei den Kühen durch zufriedenes Muhen äußerte. Eines Tages ging die geliebte neue Pudelmütze dort verloren; der Verlust machte mich traurig. Dann fand die Magd sie wieder ohne Pudel, leider ziemlich durchnässt und übel riechend. Ich dachte, dass sie durch einen Kuh-Magen gewandert und deswegen des Dankes nicht mehr würdig wäre. Ich sollte mich jedoch bedanken gehen, ordnete mein Vater an. Die junge Frau reagierte mit einem Lachen und war sehr freundlich.
Ein nicht ungefährliches Ereignis stellte das Einsammeln von Findlingen dar, die verteilt auf den Feldern lagen und durch Jahre des Frostes nach oben wanderten, das war die Erklärung für ihr Erscheinen. Wir stehen auf einer breiten Bohle zusammen mit den gesammelten Felsen, von einem Pferd gezogen, während der Verwalter, Herr Lütje, das Tier zügelt. Gelegentlich beschleunigte er übermütig das Tempo, das machte einen Riesenspaß. Dabei konnte aber nicht ausbleiben, dass Findlinge wieder herunter rutschten. Solche Aktivitäten kamen aber selten vor, sonst herrschte meistens der Alltag vor mit dem Entmisten der Kuhställe und der Fütterung der Tiere.
Spannend war es, sich Katapulte mit Weckringen als Schleuder herzustellen. Aus stärkeren Haselruten fertigten wir auch Bögen. Dazu gehörten Pfeile, die mein Bruder vorn mit Blei beschwerte. Die Schleudern zu erproben mit allen möglichen Geschossen und mit den Pfeilen möglichst weit oder auf Ziele zu schießen, wird daher unsere Lieblings-Beschäftigung. Taschenmesser erhalten wir auch, sie sind geeignet zur Herstellung von Flöten aus dem Holz von Holunder-Bäumen. Wenn wir das Mark entfernt haben, Löcher hinein bohren und das Mundstück mit einem Luftspalt versehen, erhält man eine Flöte, die sogar Töne hergibt. Unsere Mutter hat uns beraten.
Ansonsten kurvte ich auf einem eisernen Dreirad mit Hartgummi-Bereifung herum, das schon seit Wilster existierte. Der Antrieb über die Pedalarme ging direkt auf das kleine Vorderrad, das aber auf unebenem Boden kein gutes Fortkommen erlaubte. Mein Onkel Wolfgang, der spätere Auswanderer nach Kanada, stellte es als Autoschlosser selbst her. Obwohl das Dreirad zu klein wurde und die Knie an das Lenkrad stießen, fuhr ich weiter damit. Das Hartgummi der Bereifung rieb auch an der Gabel, einen erheblichen Teil des Metalls hat sie dabei abgenutzt, ich dachte Eisen wäre stabiler als Gummi.
Als einen Vorzug des Landlebens in der Nähe von Ostenfeld erscheinen uns die Felder mit den Steckrüben, die wir mit Hilfe der Taschen-Messer verzehren können. Auf Heuböden entstehen geheime Höhlen. Entweder macht mein Bruder mit dem Wendel-Sohn Hans-Wilhelm gemeinsame Sache und ich mit Karl-Heinz auf dem zweiten Nachbarhof oder umgekehrt. Wenn wir von den geheimen Verstecken abends erzählen, erfahren unsere Gegenspieler auch Orte von Höhlen, die es gar nicht gibt. Ein kleines Wagnis gingen wir ein, wenn die breiten Rohre durch ein Heugebläse, „Heupuster“, von unten nach oben durchklettert werden sollten. Durch seinen leichten Schrägstand und die Metallrippen wird der Aufstieg erleichtert, oben setzte man sich auf die Kante und sprang gefahrlos ins Heu.
Von einer benachbarten Kiesgrube, an der ich mich manchmal aufhielt, hieß es, dass in ihr schon Leute vom Kies verschüttet worden seien. Deshalb verbreitete die Grube ein bedrohliches Gefühl. Ich war vorsichtig, erkletterte sie nur an mit Gras bewachsenen Stellen. In dem dazu gehörigen Fichtenwäldchen entstand bei Wind immer ein eigenartiges Raunen in den Zweigen der Kronen, das an ferne Zeiten erinnerte. Der Wald sprach zu mir, verriet aber keine Geheimnisse.
Weiter entfernt von unserem Hause lag ein Moor. Unheimlich erschien der Anblick in der Abend-Dämmerung, wenn die Sonnenstrahlen schon orange oder rote Farben annahmen. Das Moor trug Farne und andere bräunlich-grüne Pflanzen. In der Dämmerung überzog ein Hauch von Geheimnis und Untergang die Stätte und ich hielt mich fern, um nicht mitten in der Natur zu versinken.
Unser Vater war ein Mann der körperlichen Aktivität, wenn er nicht an seiner Doktorarbeit schrieb. Handwerkliches Geschick sollten wir daher früh unter Beweis stellen, z.B. die eigene Lederhose reparieren, wenn die Nähte geplatzt oder gerissen waren. Das war eine mühsame Anstrengung, musste man doch in beide Richtungen mit Zähigkeit die Nadel durch die vorhandenen Lederlöcher stechen, damit die Naht hielt.
Ebenso erwartete er, dass wir die Schläuche in den Reifen der gebrauchten Fahrräder, die wir bekamen, flicken konnten. Den Mantel zu entfernen und wieder auf die Felge zu ziehen, brachte er uns mit einer bestimmten Technik ohne sonstige Hilfsmittel bei. Es war in der Regel der schwierigste Teil. Das Flicken geschah noch mit Gummiteilen, geschnitten aus alten Schläuchen und durch Aufkleben mit Gummilösung. Wenn die Flicken nicht hielten, fing man wieder von vorn an. Dann war noch der Mantel nach spitzen Gegenständen zu untersuchen. Wenn man das vergaß, wiederholte sich die ganze Arbeit, weil wieder ein neues Loch entstand.
Geschicklichkeit erlernen war das eine, Missgeschicke im Leben vermeiden die andere Seite. Von der Zeit des Landlebens sind mir nur zwei in Erinnerung geblieben, mehr Dramatisches ist wohl auch nicht passiert. Das eine Mal war es das Einbrechen ins Eis in einem kleinen Teich, das wohl jedem im Leben einmal passiert ist. Das zweite Mal fiel mir auf einem Lagerplatz von Findlingen ein schwerer, angehobener Stein, den ich losließ, auf den Mittelfinger der Hand zurück, eine Quetschung, die es in sich hatte. Auch in diesem Falle suchte ich fluchtartig Schutz und Hilfe zu Hause. Um den Nagel blutete es und er schmerzte höllisch. Mit der Zeit wurde er blau und löste sich ganz ab. Als Erinnerung fürs Leben wuchs er in runderer Form wieder nach.
Der näher gelegene Hof, wo die Eltern arbeiteten, blieb zu öde. Wir waren auch nicht jederzeit willkommen, lernten daher die Nachbarkinder des anderen Hofes immer mehr kennen und trafen uns fortan mit ihnen. Zu dem mit 100 ha doppelt so großen Besitz führte eine breite Kastanienallee. Sie warf im Herbst große Mengen von Kastanien ab. Wir haben daraus zusammen mit Eicheln und Streichhölzern verschiedene Tiere hergestellt.
An dem großen Hofplatz lagen und – liegen um 2010 noch – Stallungen für Schweine und Rinder. In die Ställe bahnten sich zwitschernde Schwalben in geschicktem Flug ihren Weg und versorgten ihre Jungen in Nestern, die unter der Decke an der Wand klebten.
Vor dem Wohnhaus an der Allee befand sich ein Gehege. Herr Wendel hielt hier verschiedene Rassen von vielfarbigen, exotischen Zwerghühnern, Enten, Gänsen sowie Fasanen und einen Pfau. Die Zwerghühner legten entsprechend ihrer Größe sehr kleine Eier und die Fasane sowie der Pfau schritten vornehm durch das Gehege. Alles auf dem Hof schien mir mit mehr Liebe eingerichtet. 25-30 Milchkühe wurden hier gepflegt, bekamen viel frisches Stroh und waren daher frei von Kot, was mein Vater zu schätzen wusste, wenn er sie auch nicht melken durfte. Schrecklich fand ich allerdings auf dem Hofplatz neben dem großen Silo das Frettchen, eine Iltis-Art, das in einem Draht-Käfig hauste, tote Hühner zu fressen bekam, die bald blutig aussahen.
Als im Herbst die Kartoffelernte anstand, feuerte Herr Wendel uns an, beim Einsammeln der Feldfrüchte zu helfen: "Wer wird Kartoffel-König", lautete seine Losung. Für eine Mark pro Stunde lief man den ausgeworfenen Früchten hinterher und beförderte sie in geflochtene eiserne Körbe. Das war eine mühsame Angelegenheit und die Ermüdung zeigte sich schnell. Heute würde man von Kinderarbeit sprechen, zumindest riet uns unser Vater schnell davon ab, wegen des geringen Lohnes. Leider hörten wir auf mit dem Kartoffel-Sammeln, was auch nicht günstig war, denn beim Vater konnte man sich gar nichts verdienen. Noch als Jugendliche durften wir kein Taschengeld – "Pinke" hieß das geheime Wort – erhalten, unsere Mutter steckte uns erst eine Mark pro Woche zu, später waren es drei.
Unheimlich kam es uns vor, wenn zeitweise die Maul- und Klauenseuche ausbrach, zu solchen Zeiten durften wir die Ställe nicht betreten. Dann schlichen wir leicht verängstigt draußen herum und fühlten uns abgeschnitten von der Welt.
Einmal konnte ein Jungtier bei einer Geburt nur halb aus dem Leib der Mutter gezogen werden, ein eigenartiger und abstoßender Anblick. Der Kuh, die wiederkäuend auf dem Boden im Stroh lag, sah man ihre Schmerzen nicht an, nur eine Teilnahmslosigkeit. Das Ereignis des eigenen Schlachtens von Schweinen auf dem Hof hinterließ auch keine angenehmen Eindrücke: Wenn das Tier mit einem Bolzen auf dem Kopf getötet wurde, standen wir abseits, ebenso bei einem Stich in den Hals, wenn es ausbluten sollte. Unappetitlich fand ich auch, wenn Fleisch durch einen Wolf gedreht und eine graue Masse in Würste verarbeitet wurde.
Einige Ereignisse auf dem Wendel-Hof blieben mir in besonderer Erinnerung. Einmal jährlich fand ein Turnier im Ringreiten statt. Dabei führte ein Erwachsener noch ein dickes Pony zum Ring und man musste mit einem eisernen Stab an einem Griff, Lanze genannt, diesen beim Reiten im Loch treffen und abziehen. Der schwankende Ponyrücken machte das Treffen nicht so einfach. Als Preis gewann ich einen Kanarienvogel mit einem Bauer, habe den kleinen Vogel aber nur einige Tage in dem winzigen Käfig ausharren lassen. Schon bald empfand ich so viel Mitleid, dass ich ihn dem Landwirt wieder zurück brachte, damit er in einem größeren Käfig und unter anderen Tieren leben konnte. Kanarienvögel züchten verschaffte Herrn Wendel noch als Reitstallbesitzer und im hohen Alter Freude, ihren Verkauf behielt er bei.
Bestimmte Tiere begeisterten mich mehr, es waren die auf freier Wildbahn: Im Hochsommer stiegen jenseits des Weidezaunes aus Eichenpfählen der Strucks vor unserer Haustür Lerchen über einer großen Wiese auf. Erhebend war immer wieder ihr Gesang in hohen Lüften und dort hoch vor Lust zwitschernd. In der Höhe, im blauen Himmel, gegen die Sonne kaum zu erkennen, hielten sie sich lange auf, bis sie wieder ins Gras abstiegen.
Überraschend traten in der freien Natur meist die rundlichen Rebhühner2 in Erscheinung, wenn man sie nicht vorzeitig schon entdeckte. Sie scharten sich in Gruppen auf einer Wiese oder hielten sich an Waldrändern auf. Bei Gefahr hoben sie allesamt nach einem schrillen Schrei ab, machten sich mit schnellen Flügelschlägen davon, setzten aber bald wieder zur Landung an.
Im Gegensatz zu dem beim Ringreiten gewonnenen Tier hätte ich gern einen jungen Hund behalten, der uns einmal zulief. Er war vielleicht ein streunendes Tier, gehörte uns aber eben nicht. Deshalb blieb auch das Anfreunden problematisch, er bekam etwas aus der mütterlichen Küche zu fressen, Kartoffeln und Gemüse. Am Ende hielten wir aber die Trennung für besser, damit er zu seinem wahren Besitzer zurück kehrte. Das war ein echter innerer Kampf: Ich musste das Tier wegschicken, wollte es aber doch behalten und so blieb es eine Weile beim Verjagen und wieder Zurückrufen, was den jungen Hund verwirrte.
Ein Haustier bekam ich nicht, es kam von selbst: Eine Maus im Schlafzimmer, die gelegentlich durch den Raum huschte oder an einem Ort verweilte, fast unbemerkt. Vom eigenen Bett aus konnte ich das niedliche Tier unter dem meiner Eltern manchmal beobachten, wie es sich possierlich putzte; ein Mauseloch am Rand des Zimmers bildete den Zugang zu ihrer Höhle.
Zur Zeit meiner Entdeckung sendete der Rundfunk ein Lied, das zu dem Ereignis passte und das wir auch in der Schule lernten. Natürlich fehlte dabei der Jäger nicht: "Zur Stube hinaus, ins Mausloch hinein, das Mäuslein ist schneller, die Katz kann nicht rein." Ich habe meinen Vater darauf hingewiesen, dass wir eine Maus im Schlafzimmer hätten; das störte ihn aber nicht. Ja, Söhne von Landwirten haben ein anderes Verhältnis zur Natur.
Unsere Mutti entschied sich für die Lebensaufgabe der Hausfrau und Mutter ihrer Kinder. Mit den Jahren entwickelten wir uns zu einer kinderreichen Familie. Die erste Schwester mit dem Namen Sönne kam noch in Rendsburg zur Welt. Im Februar des Jahres 1958 lag viel Schnee, sodass sie auf dem letzten Stück von der Bahnstation mit einem Pferde-Schlitten abgeholt werden musste. Die ersten Nächte brachten viel Geschrei mit sich. Das wollte ich gern abstellen, aber unsere Großmutter, die einhütete, duldete meine Klagen nicht. Sie ließ ihre Kinder nachts immer noch schreien, damit sie in Zukunft Ruhe hätte. Andere Zeiten andere Sitten. In Kiel folgten zwei weitere Geschwister, Sigrid und Nils.
Eigentlich wollte sie "Dolmetscherin" werden, ließ sie uns wissen, weil sie Sprachen gut konnte. Berufswahl ist Klangwahl, Namenwahl lernte ich später und misstraute den gut klingenden Namen; ihr Mittlere-Reife-Zeugnis wies nur gute Noten aus und ein "sehr gut" im Sport. Ihr Bruder Hubert, der wie erwähnt ein hohes Tier in der NS-Zeit war, verordnete ihrem Leben, das Handweben. In Ostenfeld hat sie mit einem Webstuhl noch einen Läufer in bunten Farben hergestellt.
Das Leben kam in der Arbeitswelt anders: Sie melkte auf dem Lande, holte sich Entzündungen der Haut (Ekzeme) an den Händen durch die Kuheuter und musste sich mit Salben behandeln. Irgendwann vertrug ihre Haut das Melken gar nicht mehr und sie hörte ganz auf.
Viel Zeit verbrachte sie auch damit, die erwähnte Doktorarbeit mit einer mechanischen Schreibmaschine zu tippen, häufig nach dem Diktat meines Vaters. Dabei wurde viel radiert und mit viel Ungeduld gearbeitet.