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Vom Opferlamm zum Kriegsherrn: „Sohn der Steppe“, der erste Roman der Steppenwind-Saga von Wolfgang Jaedtke, jetzt als eBook bei dotbooks. Ein kalter Wind fegt im siebten Jahrhundert vor Christus über die Steppen des Ostens ... Das Schicksal des Waisenjungen scheint besiegelt: Auf Geheiß einer Priesterin soll er als Menschenopfer ertränkt werden. Im letzten Moment kann der Knabe sich retten – und fällt in die Hände der Skythen. Die gefürchteten Reiternomaden sind nicht für ihre Gnade bekannt, doch sie geben ihm einen Namen und eine neue Bestimmung: Artan steigt vom Sklaven zum geachteten Krieger auf. Als die Skythen beginnen, die sesshaften Stämme seiner alten Heimat anzugreifen, weiß Artan, dass seine Stunde gekommen ist. Aber wird die Rache für das, was ihm angetan wurde, ihm Frieden schenken? In Wolfgang Jaedtkes großer Trilogie erwachen die antiken Völker der Skythen und Sarmaten zu neuem Leben – ein fesselndes Lesevergnügen über den Zusammenprall von Patriarchat und Matriarchat voller Abenteuer, Sitten und Bräuche, die uns heute ebenso schaudern lassen wie faszinieren. Jetzt als eBook kaufen und genießen: „Sohn der Steppe“, der erste Band der Steppenwind-Saga von Wolfgang Jaedtke – ein kraftvoller historischer Roman für alle Fans der Uhtred-Serie von Bernard Cornwell. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 683
Über dieses Buch:
Ein kalter Wind fegt im 8. Jahrhundert vor Christus über die Steppen des Ostens ... Das Schicksal des Waisenjungen scheint besiegelt: Auf Geheiß einer Priesterin soll er als Menschenopfer ertränkt werden. Im letzten Moment kann der Knabe sich retten – und fällt in die Hände der Skythen. Die gefürchteten Reiternomaden sind nicht für ihre Gnade bekannt, doch sie geben ihm einen Namen und eine neue Bestimmung: Artan steigt vom Sklaven zum geachteten Krieger auf. Als die Skythen beginnen, die sesshaften Stämme seiner alten Heimat anzugreifen, weiß Artan, dass seine Stunde gekommen ist. Aber wird die Rache für das, was ihm angetan wurde, ihm Frieden schenken?
In Wolfgang Jaedtkes großer Trilogie erwachen die antiken Völker der Skythen und Sarmaten zu neuem Leben – ein fesselndes Lesevergnügen über den Zusammenprall von Patriarchat und Matriarchat voller Abenteuer, Sitten und Bräuche, die uns heute ebenso schaudern lassen wie faszinieren.
Über den Autor:
Wolfgang Jaedtke, geboren 1967 in Lüneburg, studierte Historische Musikwissenschaft und promovierte mit einer Arbeit über Beethoven. Danach arbeitete er für ein Theater, bevor er sich als Schriftsteller selbstständig machte und seitdem unter seinem eigenen Namen und einem Pseudonym historische Romane und Thriller veröffentlicht.
Bei dotbooks veröffentliche Wolfgang Jaedtke bereits den historischen Roman »Die Tränen der Vila« und die große Saga »Steppenwind« mit den Einzelbänden »Sohn der Steppe«, »Tochter der Steppe« und »Herrin der Steppe«.
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Überarbeitete eBook-Neuausgabe August 2017
Dieses Buch erschien bereits 2008 unter dem Titel »Steppenkind – Ein Skythen-Roman« im Piper Verlag.
Copyright © der Originalausgabe 2008 Piper Verlag GmbH, München
Copyright © der überarbeiteten Neuausgabe 2017 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design, München
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (ts)
ISBN 978-3-95520-701-4
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Wolfgang Jaedtke
Sohn der Steppe
Die Steppenwind-Saga – Erster Roman
dotbooks.
Und der Herr wird ein Feldzeichen aufrichten für das Volk in der Ferne und ruft es herbei vom Ende der Erde. Und siehe: Eilends und schnell kommen sie daher. Keiner unter ihnen ist müde oder schwach, keiner schlummert noch schläft; keinem geht der Gürtel auf von seinen Hüften, und keinem zerreißt ein Schuhriemen. Ihre Pfeile sind scharf und alle ihre Bogen gespannt; die Hufe ihrer Rosse sind hart wie Kieselsteine, und ihre Wagenräder sind wie ein Sturmwind. Ihr Brüllen ist wie das Brüllen junger Löwen, und sie werden daherstürmen und den Raub packen und davontragen, dass niemand retten kann. Es wird über ihnen brausen zu der Zeit wie das Brausen des Meeres, und wenn man dann das Land ansehen wird, siehe, so ist’s finster vor Angst, und das Licht scheint nicht mehr über ihm.
Jesaja 5, 26−30
Russland, um 700 vor Christus
Der Junge erwachte mitten in der Nacht. Erschrocken fuhr er von seinem Strohlager hoch und starrte in die Dunkelheit der Hütte. Zuerst sah er nichts als Schwärze und blinzelte, bis er das niedrige Gewölbe aus Binsen ausmachen konnte, in dem sich kein Fenster öffnete. Undeutlich nahm er die Gestalten seiner Eltern wahr, die er nicht Eltern nannte; unförmige Hügel am Boden vor dem erloschenen Feuer. Nichts regte sich.
Der Junge setzte sich auf. Seine Ohren rauschten. Was war geschehen – hatte er wieder geträumt? Fast in jeder Nacht träumte er denselben Traum: dass die Mädchen ihn in eine Grube steckten und sie zuschaufelten, bis nur noch sein Kopf herausragte. Stets hatte er die nasse Erde auf seiner nackten Haut gespürt, hatte in die verzerrten Gesichter der höhnenden Halbwüchsigen geblickt, hatte verzweifelt versucht, sich frei zu strampeln, doch nie einen Muskel rühren können. Die Erde hielt ihn fest.
Fast stets war er in diesem Moment aufgewacht – doch nicht heute. Er konnte sich an keinen Traum erinnern. Auch das Rauschen in seinen Ohren klang anders als sonst: Es war nicht das Rauschen des Blutes in seinem heißen Schädel; es kam von draußen, von außerhalb der Hütte. Es war auch nicht das Geheul des Windes, der Tag und Nacht vom Sonnenuntergang herwehte – es war ein Rauschen von Wasser, ein fernes Tosen und Branden wie von nahendem Unwetter.
Der Junge hatte feine Sinne, schärfere Augen und Ohren als jeder andere im Dorf. So entging ihm auch nicht das leise, gespenstische Klicken der ersten Regentropfen auf dem Dach. Dann schien es ihm, als schrie die Ziege drüben hinter den Hütten, und wie zur Antwort hallte ferner Donner von den Bergen herüber.
Warum hörte niemand sonst die Geräusche? Vielleicht sollte er sich einfach wieder hinlegen und weiterschlafen. Gewiss, er konnte den Mann und die Frau wecken, die er nicht Vater und Mutter nannte, und sie auf die unheimlichen Geräusche aufmerksam machen. Doch er war sicher, dass man es ihm nicht danken würde. Sagten nicht alle im Dorf, er höre das Gras wachsen und die Stechmücken niesen? Hatte er nicht jedes Mal, wenn er von fern das Schnauben eines Hirsches vernahm oder die kratzenden Geräusche von Ratten in ihren Erdgängen, Spott und sogar Schläge geerntet?
Dennoch: Er konnte nicht wieder einschlafen. Sein Herz hämmerte, und seine Haut fühlte sich feucht und kühl an. Unruhig stand er auf und bahnte sich seinen Weg über den eingetieften Lehmboden zur Tür, im Zickzack zwischen den unförmigen Körpern hindurch, die sein Nicht-Vater und seine Nicht-Mutter waren. Er fürchtete nicht, dass sie erwachen würden; ihre Sinne waren weitaus stumpfer als seine, und darüber hinaus hatte er schon immer die Gabe besessen, sich lautlos zu bewegen.
So trat er hinüber zum Eingang der Hütte, einem rechteckigen Lappen aus Hirschfell, und schob ihn beiseite. Kalte Nachtluft hauchte über sein Gesicht, und einzelne, schwere Regentropfen zerplatzten grell auf seiner nackten Haut. Er blinzelte, und seine scharfen Augen durchdrangen die Dunkelheit. Das Dorf lag still inmitten des unendlichen Waldes. Die kleine Lichtung mit ihren zwei Dutzend Lehmhütten duckte sich in den Schatten der mächtigen Tannen. Kein Mond strahlte über den Wipfeln; stattdessen jagten finstere Wolkenstreifen wie unheimliche Raubvögel dahin.
Etwas Helles bewegte sich am anderen Ende der Lichtung. Ein jäher Schauder fuhr dem Jungen in die Glieder, doch als er die Augen zusammenkniff und genauer hinsah, entdeckte er, dass es nur die Ziege war, die unruhig im Kreis um ihren Pflock herumlief. Wieder stieß das Tier einen Schrei aus, wie der Junge ihn schon zuvor in der Hütte gehört hatte, und es klang schrill wie das Weinen eines Säuglings.
Rasch ging er auf die Ziege zu. Er wollte dem Tier die Arme um den Hals legen, wie er es häufig tat, wenn er Trost suchte. So oft schon hatte sie ihn getröstet, wenn er von den anderen Kindern ausgelacht oder von seiner Mutter geschlagen worden war, und stets hatte sie ihren warmen, struppigen Kopf an seine Schulter gelegt und ihm die Arme geleckt.
Jetzt freilich war es die Ziege, die größere Angst zu haben schien als er, und dies rührte den Jungen auf eigentümliche Weise. Er trat hinzu, um ihr die Schnauze zu streicheln. Doch die Ziege entwand sich seinem Griff, scharrte mit den Hufen und warf den Kopf unruhig von einer Seite zur anderen.
»Was hast du?«, flüsterte der Junge.
Erneut vernahm er ein Rauschen, stärker als das des Windes in den Wipfeln der Tannen. Dann fiel kaltes Licht auf seine Umgebung: Der Mond war aus dem Schatten dunkler Wolken hervorgetreten, funkelnd wie das gelbe Schlitzauge eines Wolfes. Furcht ergriff den Jungen, als er zum Bach hinüberblickte, in dessen Nähe die Ziege angebunden war. Gewöhnlich war dieser Bach nicht mehr als ein träge fließendes Rinnsal, ein winziger Seitenarm des gewaltigen Stroms, der Richtung Sonnenaufgang hinter den Wäldern lag. Nun aber war der Wasserspiegel fast bis zur Böschung emporgeklettert. Das Wasser schäumte, und abgebrochene Äste trieben auf seiner Oberfläche.
Ein neuerliches Geräusch ließ den Blick des Jungen zum Wald hinüberwandern. Zweige knackten.
Und dann sah er es: Wasser kroch aus dem Unterholz hervor. Es wand sich zwischen den Baumstämmen hindurch wie ein körperloses Raubtier, das seine Klauen langsam, aber stetig nach der kleinen Lichtung ausstreckte. Der gesamte Waldboden in Richtung des Flusses war nichts als ein einziger See. Unaufhaltsam kroch das Wasser heran, schwarz und still, und der Mond grinste in seinem gläsernen Spiegel, während schwere Regentropfen ein Netz von Kratern in seine Oberfläche rissen.
Starr vor Grauen stand der Junge da − bis das kriechende Wasser eisig und jäh seine Füße berührte, sodass er erschrocken rückwärtsstolperte. Der schmale Streifen Grasland, auf dem die Ziege stand, war bereits zur Hälfte überflutet. Im ersten Moment wollte er davonstürzen, doch das verzweifelte Trampeln und Zerren des Tieres ließ ihn zögern.
Die Ziege … sie würde ertrinken!
Er versuchte, den Strick loszuwinden, mit dem sie an den Pfahl gebunden war. Doch er glitt aus; seine Füße rutschten haltlos im Schlamm. Sein Körper drehte sich, und er klatschte ins Wasser, das bereits fußhoch über der Böschung stand. Entsetzt rollte er sich herum, versuchte, sich auf den Händen hochzustemmen, prustete.
Wieder schrie die Ziege – und diesmal schrie auch der Junge, einen spitzen, gellenden Schrei der Angst, und Donner folgte wie die höhnische Antwort der Götter.
Der Schrei des Jungen weckte das gesamte Dorf. Die Vorhänge an den Eingängen der Hütten flogen auf, und Männer wie Frauen, plötzlich aus dem Schlaf gerissen, kamen ins Freie, tappten mit nackten Füßen ins Wasser und blieben bestürzt stehen. Auch Hesnod, der Sippenführer, stürzte aus seinem Haus, die Axt in der Hand. Ihm folgte seine junge Frau, splitternackt und zitternd.
Den knapp einhundert Menschen bot sich ein schreckliches Schauspiel: Am Rande der Lichtung stand der Junge, verstört und bleich wie ein Unheil verkündendes Gespenst, und zwischen seinen schlammbespritzten Beinen kroch das Wasser auf die Hütten zu.
Er selbst war zu keiner Bewegung fähig. Hilflos nahm er wahr, wie die Flut an seinen Waden und bis zum Saum seines Überwurfs emporstieg. Dann hörte er hinter sich einen nassen Aufschlag und ein Platschen von Hufen – die Ziege hatte ihren Pflock aus dem aufgeweichten Boden gezogen und galoppierte in Richtung des Waldes davon.
Eigenartigerweise löste dieses Ereignis die Menschen aus ihrer Erstarrung. Mit einem Schrei warf Hesnod seine Axt fort, stürzte sich ins Wasser und jagte der Ziege nach – sie war eines der wichtigsten Nutztiere im Dorf, und der Sippenführer, der den Ernst der Lage rascher erfasst hatte als jeder andere, wollte auf keinen Fall ihren Verlust in Kauf nehmen. Auch die übrigen Menschen setzten sich schreiend und hastend in Bewegung; Freunde und Geschwister klammerten sich angstvoll aneinander, und Familienväter versuchten, ihre Kinder zu bergen. Der Junge sah, wie jener Mann, den er nicht Vater nannte, zurück zur Hütte rannte, um seine Frau in Sicherheit zu bringen. Ihre Blicke trafen sich nicht; niemand kümmerte sich um ihn. Die Menschen jammerten, rafften ihre spärliche Habe zusammen und liefen verzweifelt hierhin und dorthin. Manche stürzten zurück in ihre Hütten, als seien sie dort vor dem Unheil sicher, und erst als hier und dort die Stützbalken einbrachen und die Binsendächer zusammenfielen, schienen sie zu begreifen, dass jedes Ausharren sinnlos war.
Das Dorf war verloren. Schon trieben Bündel und Felle auf der Wasseroberfläche, und der Regen peitschte auf die nackte Haut der Flüchtenden ein.
Der Junge war an der Uferböschung stehen geblieben, bis ihn das Wasser fast von den Füßen riss. Dann endlich erwachte er aus seiner Erstarrung und stolperte vorwärts. Panik überfiel ihn, als er bemerkte, dass er keinen Halt mehr auf dem schlammigen Grund fand. Eine mächtige Strömung hatte ihn erfasst und drohte ihn mit sich fortzureißen. Blindlings griff er nach einer treibenden Holzplanke und rammte sie in den schlammigen Boden, um sich daran emporzuziehen. Dann hielt er inne und rang nach Atem, denn der dichte Regen verdrängte förmlich die Luft. Undeutlich sah er, wie die Menschen drüben, auf der Westseite der Lichtung, in den Wald flüchteten. Unter anderen Umständen vermieden sie es, bei Nacht in den Schatten der Bäume einzutauchen, doch angesichts des gegenwärtigen Schreckens schien der Wald den seinen verloren zu haben.
Der Junge starrte ihnen nach, unfähig, die Holzplanke loszulassen, sah ihre Gestalten im Unterholz verschwinden, und das Wasser umspülte seinen Körper bis zu den Hüften. Er wollte rufen, schreien; doch er konnte nichts weiter tun, als sich an seine zerbrechliche Boje zu klammern und nach Atem zu ringen. Schon spürte er, wie die Erde nach ihm griff − die Erde, in die er sich Hunderte Male im Traum eingegraben gesehen hatte. Sie griff nach ihm mit ihren glitschigen Fingern und umspülte ihn mit ihrem Schlamm, und er wusste nicht, wie diesem übermächtigen Zauber zu begegnen war. Er würde einfach hier stehen bleiben und warten, bis das Wasser auf Höhe seines Gesichtes stieg, in Mund und Nase eindrang und ihn erstickte.
»Lass los!«
Hesnods Stimme. Der Junge fühlte sich hart am Arm gepackt und blinzelte durch einen Schleier aus Tränen und Regenwasser.
»Lass den Pfahl los!«
Ungläubig blickte er in das harte, von grimmiger Entschlossenheit gezeichnete Gesicht des Sippenführers. Hesnod stand bis zur Hüfte in den Fluten, gegen die Strömung ankämpfend und mit Schlamm bespritzt, den linken Arm um die Ziege gelegt, die sich heftig wehrte und den zottigen Kopf wand. Mit der anderen Hand versuchte er, den Jungen von seinem brüchigen Anker fortzuziehen.
»Lass los, Junge!«, schrie er ein drittes Mal, und in diesem Moment löste sich die Holzplanke aus dem unterspülten Boden. Der Junge verlor den Halt, fühlte, wie die Strömung ihn ergriff − und fand sich einen Atemzug später in den Armen des Mannes wieder, der ihn fest an seine Seite presste. Einen Moment lang wusste er die Kräfte nicht zu unterscheiden, die an seinem Körper zerrten: Hesnod zog ihn mit aller Gewalt voran, während die Flut mit machtvollen Stößen seine Glieder umherwarf. Er glitt aus; seine Beine wurden aufwärtsgerissen und traten wild ins Leere. Wasser drang ihm in Ohren und Augen, und als er prustend wieder hochkam, hörte er das panische Geschrei der Ziege.
Quer über seiner Brust jedoch lag Hesnods starker Arm, und er begriff, dass der Sippenführer ihn unbeirrt mit sich schleifte. Ein Stück Treibholz wirbelte vorbei, traf Hesnods Schulter und riss eine blutende Wunde. Doch der Mann ließ keinen Schmerzenslaut hören, als er sich weiter vorankämpfte, die schreiende Ziege im linken und den Jungen im rechten Arm.
Dann wurde die Strömung schwächer. Kiefernnadeln knisterten. Schließlich fühlte der Junge, wie er losgelassen wurde und auf festen Boden sank. Es kam so plötzlich, dass er mit dem Gesicht im Gestrüpp landete, außerstande, sich auf den Händen abzustützen.
Wieder fühlte er sich von Hesnod gepackt, diesmal am Kragen seines Überwurfs, und grob auf die Beine gezogen.
»Komm!«, befahl der Sippenführer, ergriff die Ziege bei den Hörnern und begann, sich mit bloßen Händen durchs Unterholz zu schlagen.
Erst Stunden später, als der Himmel über dem fernen Gebirge sich rötete, stießen sie zu den Übrigen, die sich mehrere Meilen weit in den Wald zurückgezogen und die Kuppe eines kleinen Hügels erklommen hatten.
Dem Jungen saß der Schreck noch in den Gliedern, doch während der schweigsamen Wanderung hatte er ein beruhigendes, angenehmes Gefühl verspürt: Es war das erste Mal, dass ein erwachsener Mann ihn berührt hatte, noch dazu Hesnod, den er auf seine stille und scheue Art stets bewundert hatte. Der Sippenführer war der Einzige, der ihm nie Spott oder böse Worte gab. So war der Junge ihm willig gefolgt, und für kurze Zeit hatte er seine Angst beinahe vergessen.
Hesnod sprach kein Wort, als sie den Hügel erreicht hatten; stattdessen drängte er den Jungen hinüber zu dessen Familie, die an einem entwurzelten Baum kauerte. Die Ziege führte er zu einer Tanne, um sie festzubinden. Jemal, der Schamane, trat zu ihm, und die beiden Männer wechselten leise Worte.
»Kereks Frau ist ertrunken«, raunte Jemal dem Sippenführer zu. »Und zwei von Ulbigs Kindern.«
Hesnod nickte und senkte den Blick.
»Kein Haus steht mehr«, erwiderte er. »Selbst wenn das Wasser sich zurückzieht …«
Er verstummte und ließ sich auf einen bemoosten Stein sinken.
Unterdessen sank der namenlose Junge ins nasse Gras und lehnte sich aufatmend an den Baumstamm in seinem Rücken. Den Regen, der immer noch in Strömen niederrauschte, empfand er kaum mehr. Stattdessen blickte er in die zu Boden gewandten Gesichter jener beiden Menschen, die er nicht seine Eltern nannte. Sie sahen ihn nicht an. Sie hockten einfach neben ihm, die nassen Haare ins Gesicht hängend, und wischten sich nicht einmal das Wasser aus den Augen.
Scheu betrachtete der Junge seinen Vater, der ihm zunächst saß, von der Seite. Der frühzeitig ergraute Mann, der selten ein Wort sprach, saß mit untergeschlagenen Beinen da, die knotigen Finger in die Felljacke gekrallt, deren Enden er fest um die Brust gezogen hatte. Unwillkürlich fragte sich der Junge, ob auch der Vater diesen merkwürdig angenehmen Geruch verströmte, der von Hesnod ausging – ein Männergeruch, stark und würzig wie Baumrinde −, und stellte fest, dass er es nicht wusste, denn sein Vater war ihm noch niemals so nahe gewesen. Er kannte ihn eigentlich nur als einen stillen, ernsten Mann, der mit den anderen auf die Jagd zog und, wenn er heimkam, das Wild zerlegte. Obwohl sie fast nie miteinander gesprochen hatten, schien es doch offensichtlich, dass beide eine quälende Einsamkeit teilten.
Das mochte auch für seine Mutter gelten, doch ihr gegenüber war der Junge zu keiner Regung fähig. Sie hatte seinetwegen entsetzliche Schmerzen und die Verachtung der anderen erdulden müssen, und er wusste, dass sie insgeheim ihm die Schuld dafür gab. Sichtbarster Ausdruck dieser Tatsache war, dass sie ihm keinen Namen gegeben hatte; wenn sie ihn rief, dann mit »Junge«. Er kannte sie hauptsächlich als eine Frau, die ihm Anweisungen erteilte − etwa zum Sammeln von Beeren, zum Häuten der Kaninchen oder zum Gerben der Felle – und die schimpfte, wenn er sich ungeschickt anstellte. Solange der Junge denken konnte, war sie krank gewesen. Im Dorf sagte man, ein böser Geist habe von ihr Besitz ergriffen. Seit seiner Kindheit war sie innerhalb weniger Jahre förmlich in sich zusammengesunken; ihr Buckel hatte sich derart emporgeschoben, dass ihr das Kinn auf der Brust klebte, und selten stand sie sicher auf den Beinen, die bei der geringsten Belastung nachgaben.
Neben der Mutter, den Kopf an ihre knochige Schulter gelehnt, saß der ältere Bruder des Jungen. Er hatte einen Namen; man rief ihn Minnod. Er war ein tüchtiger Jäger von 17 Jahren, bereits in die Riten eingeweiht und zog stets mit dem Vater zusammen fort, wenn man auf Wildfang ausging. Mit seinem jüngeren Bruder verkehrte er kaum; stattdessen schloss er sich gern Hesnods Söhnen an, die im gleichen Alter waren wie er.
Um sie herum lagerten, still wie Pilze am Boden, die übrigen Mitglieder der Sippe. Den Mittelpunkt der Gruppe formte eine gerettete Zeltplane, die über einem Baumstumpf aufgespannt worden war und von mehreren Frauen festgehalten wurde. Unter dieser Plane saß die Große Mutter, Heta mit Namen, eine massige Matrone von 60 Jahren mit gewaltigen Brüsten und Schenkeln, ein Gebirge aus fruchtbarem Fleisch − die weiseste Frau im Dorf und leibliche Mutter von vierzehn Kindern. Neben ihr stand Atéra, ihre engste Vertraute, und strich der alten Frau die nassen Haare aus der Stirn. Die Große Mutter saß reglos und ließ es geschehen, ohne den Blick der beflissenen Dienerin zuzuwenden. Sie schien in die Ferne zu blicken, hinweg über die Frauen und Männer, die im strömenden Regen kauerten. Niemand regte sich außer Atéra, die der Herrin ein Hirschfell unter die Beine schob, um sie zu wärmen. Und niemand ließ einen Laut vernehmen außer den Säuglingen, deren Schreie im Geprassel des Wolkenbruchs untergingen.
Stunden gingen dahin. Finster und kalt verstrich die Nacht; grau und diesig zog der Morgen herauf, und noch immer regnete es. Die Menschen saßen auf ihrem Hügel, versuchten, einander notdürftig zu wärmen, und blickten stumm in die Lagune hinunter, in die sich ihr kleines Stück Heimat verwandelt hatte. Wohin man auch sah, ragten die Bäume aus stehendem Wasser hervor wie Schilfhalme aus einem Teich.
Als es am Nachmittag endlich aufklarte und der Regen nachließ, raffte Hesnod sich auf und begab sich zusammen mit Jemal, dem Schamanen, zur Dorfherrin. Lange berieten sie mit gedämpften Stimmen, und am Ende verlangte Heta offenbar, sich mit eigenen Augen von der Lage zu überzeugen. Atéra und Jemal, die sie als Einzige berühren durften, halfen ihr hoch; Hesnod reichte ihr den zauberkräftigen Fichtenstab, und man führte sie auf den höchsten Punkt des Hügels, der die weiteste Aussicht bot. Hier stand sie lange, die alte Frau, eine Ehrfurcht gebietende Erscheinung trotz ihrer gekrümmten Haltung, und ließ ihre weitsichtigen Augen über das Land gleiten. Man drehte sie in alle Himmelsrichtungen, und nicht ein einziger Muskel in ihrem Greisengesicht zuckte, während sie in sich ging und den Willen der Götter erforschte.
Wieder wurde es Abend, ohne dass das Wasser am Fuß des Hügels zurückgegangen wäre. Hesnod sprach leise mit Jemal und drängte auf rasches Handeln, denn die Menschen, durchnässt und frierend, hatten ihre kärglichen Vorräte aufgezehrt.
»Kaum einer hat mehr gerettet, als er am Leib trug«, hörte der Junge aus einiger Entfernung Hesnods Stimme. Der Sippenführer hatte sich auf seine Axt gestützt und starrte über das endlose Waldland, das am Horizont in Dunst verschwamm.
»Wir haben fast nichts zu essen.«
Am Ende beschlossen Hesnod und Jemal, einige Männer auszuwählen und die Umgebung des Hügels nach ertrunkenen Waldtieren abzusuchen. Verschiedene Jäger wurden berufen, unter ihnen auch Minnod, der Bruder des namenlosen Jungen.
Unterdessen sank die Nacht herab, und der Regen nahm wieder zu. Erneut kauerten sich die Menschen eng zusammen und versuchten, die Kälte mit Decken aus Blättern und Farnkraut abzuhalten. Über den gesamten Hügel verteilt sah man unförmige Knäuel aneinandergeschmiegter Leiber, glitschig wie ein Wurf neugeborener Ferkel im Schlamm. Auch der namenlose Junge verspürte plötzlich ein nie gekanntes Bedürfnis, sich seinem Vater zu nähern – doch als er sich ihm zuwandte, roch er nur nasses Laub und kalte, keinerlei Leben ausstrahlende Haut. Vorsichtig neigte er sich weiter hinüber, erwartete Abwehr, eine Bewegung, ein Wort. Doch der Vater rührte sich nicht. Der Junge wagte einen Blick auf sein zu Boden gerichtetes Gesicht – und erschrak, als er sah, dass die trüben Augen ins Leere starrten. Das Kinn des Mannes war ihm auf die Brust gesunken, und zwischen seinen halb geöffneten Lippen ging kein Atem. Aus der Nähe nahm der Junge einen leichten Uringeruch wahr. Dann sah er, wie ein Käfer zwischen den blauen Lippen hervorgekrochen kam und über den zerzausten Bart krabbelte wie über nasses Laub.
Schaudernd fuhr der Junge zurück. Er hasste Käfer, und sein Grauen darüber war fast größer als über die Tatsache, dass sein Vater tot war. Er war gestorben, irgendwann im Laufe des Tages, ohne ein Wort zu sagen oder sich zu rühren. Wahrscheinlich, dachte der Junge mit plötzlicher Gewissheit, war er erfroren – erfroren, weil er und seine Frau die einzigen Menschen auf dem Hügel waren, die sich nicht gegenseitig gewärmt hatten. Gestorben vor Kälte … Der Gedanke spielte in etwas Bildliches hinüber, das sein jugendlicher Geist noch nicht benennen konnte.
Sein Blick glitt hinüber zur Mutter: Sie lebte, daran bestand kein Zweifel; ihre schlaffe Brust hob und senkte sich regelmäßig, und ihr Atem pfiff hörbar. Ob sie den Tod ihres Mannes überhaupt bemerkt hatte, wusste der Junge nicht – und er würde nicht derjenige sein, der sie darauf aufmerksam machte. Womöglich würde sie ihm die Schuld geben. Schließlich war »alles« seine Schuld; daran hatte er sich gewöhnt.
So sank er zurück an den Baumstamm, schloss die Augen und versuchte, die widersprüchlichen Empfindungen zu bewältigen, die in ihm aufstiegen. Für Stunden verdrängten sie sowohl seinen Hunger als auch seine Müdigkeit.
Drei volle Tage blieben die Dorfbewohner auf dem Hügel. In dieser Zeit starben vier Säuglinge und ein sehr alter Mann, denn die Ausbeute der Jäger blieb dürftig. Hesnod und seine Männer hatten ein paar ertrunkene Tiere aufgelesen, vor allem Marder und Hasen, doch das Fleisch war gedunsen und zäh, und obwohl einige der Dorfbewohner ihre Flintsteine gerettet hatten, gelang es keinem, auf dem nassen Gras Feuer zu schlagen. So teilte man die Beute notdürftig unter den Familien auf, nagte an dem faden Fleisch und versuchte, die Kinder mit den weichen Innereien zu füttern. Inzwischen hallte ein vielstimmiges Geschrei pausenlos über den Hügel, denn vor allem die Säuglinge litten unter Hunger und Kälte. Kaum schlief einer von ihnen ein, so erwachte der nächste und setzte die verzweifelte Klage fort.
Auch die Mutter des namenlosen Jungen hatte man genötigt, ein wenig Fleisch zu essen: Eine ältere Frau musste sie füttern, denn sie hockte noch immer im Gras und starrte ins Leere. Am Ende kaute sie teilnahmslos, ohne zu schlucken. Dass ihr Ehemann gestorben war, schien sie immer noch nicht wahrzunehmen, und auch die anderen Männer bemerkten es erst, als er nicht auf die Hasenkeule reagierte, die sie ihm hinhielten. Man ließ den Toten an seinem Baumstumpf sitzen, denn vorläufig gab es keine Möglichkeit, ihn zu begraben. Minnod stand eine Zeit lang bei der Leiche und weinte still, dann setzte er sich wieder neben seine Mutter.
Der namenlose Junge hatte daraufhin den Baumstamm verlassen – nicht, weil der tote Körper ihn schreckte, sondern weil auch er dem Erfrieren nahe war und dringend einen wärmenden Leib benötigte. Man hatte ihm zwar etwas Marderfleisch gegeben, doch niemand wollte sich darüber hinaus seiner annehmen. Die Familien blieben weitgehend unter sich, und der Junge spürte Unbehagen bei dem Gedanken, sich der Mutter zu nähern. In seiner Not kroch er hinüber zu der Ziege, die an einen Baum angebunden war und unter dem Nadeldach döste − und hier fand er, was er suchte. Das Tier reckte den Kopf und leckte flüchtig seine nassen Finger; dann rollte es sich wieder zusammen und barg die Schnauze zwischen den Hufen. Der Junge schmiegte sich an den Körper des Tieres und fühlte sein raues, festes Fell, das warm und leidlich trocken war. Es dauerte nicht lange, bis die Erschöpfung ihn überwältigte und er eingeschlafen war.
Irgendwann in den kältesten Stunden kurz vor Sonnenaufgang wurde er aus dem Schlaf gerissen und erschrak, als er ein rundes Gesicht mit kalten braunen Augen auf sich herabblicken sah. Erst glaubte er noch zu träumen; dann jedoch erkannte er Atéra, die engste Vertraute der Großen Mutter, und hinter ihr Gralja, einen der Jäger. Erschrocken kroch er ein Stück rückwärts und klammerte sich an den Körper der Ziege, die Augen auf Atéra geheftet. Vor keinem Menschen in seinem Stamm empfand er größere Angst als vor dieser strengen, hochgewachsenen Frau, die nie eine Gelegenheit ausließ, um ihn zu schelten und zu demütigen. Er wusste, dass Atéra ihn hasste, und glaubte auch den Grund zu kennen – da es jedoch niemanden gab, dem er sich anvertrauen konnte, hatte er nie darüber gesprochen. Stattdessen mied er sie, wo immer er konnte.
»Was haben wir denn da?«, fragte Atéra, und ihr ungewohnt sanfter Ton ängstigte den Jungen mehr als die bösen Worte, die er sonst von ihr gewohnt war. »Ein Liebespaar?«
Es schien, dass sie lächelte – ein Blitzen weißer Zähne hinter spöttisch verzogenen Lippen.
Der Junge erstarrte, außerstande, den Blick von ihr zu wenden.
»Scher dich weg!«, zischte Atéra, nun mit ihrer gewöhnlichen Stimme, und den Jungen durchfuhr der schneidende Befehl wie ein Schlag. Zitternd löste er sich von der Ziege und drückte sich noch tiefer in den Schatten des Baumes.
Nun trat Gralja hinzu und band das Tier los, das sich gehorsam in Bewegung setzte und ihm zum Rand des Hügels folgte. Atéra stand noch immer unbeweglich neben dem Baum, und der Junge hatte das Gefühl, als nagelte der starre Blick ihrer Augen ihn rücklings an den Stamm. Erst als die Ziege ein Meckern vernehmen ließ, blickte er hinüber. Gralja hatte sich niedergekniet, das Tier bei den Hörnern gepackt und seinen Kopf weit zurückgebogen. Mit der anderen Hand zückte er sein Messer und schnitt ihm die Kehle durch.
Der Junge zuckte zusammen. Er hatte geahnt, dass die hungernden Menschen beschließen würden, die Ziege zu schlachten, doch der Anblick bannte ihn mit plötzlichem Schrecken. Gralja hielt das Tier noch immer bei den Hörnern und drückte einen Ellbogen in seine Flanke, damit es nicht fortlief. Die Ziege war auf bestürzende Weise friedlich. Als das Messer durch ihre Kehle fuhr, wand sie sich kurz. Dann aber erschlaffte ihr Körper; ihre Vorderbeine knickten ein, und aus dem zurückgebogenen Hals floss ein dunkler Blutstrom und tränkte ihr sandfarbenes Fell. Nur ihre Augen bewegten sich: Sie rollten hin und her, als versuchten sie, einen Grund für das Unbegreifliche auszumachen, das ihr widerfuhr. Es dauerte einige schreckliche Augenblicke, bis ihre Pupillen erstarrten. Dann lockerte Gralja seinen Griff und schüttelte den Kopf des Tieres, um die letzten Blutstropfen hervorzuzwingen – die Bewegung erinnerte den Jungen auf merkwürdige Weise daran, wie die Männer nach dem Wasserlassen ihren balboi schüttelten.
Als Gralja das Tier auf die Seite drehte, um es auszuweiden, wandte er sich ab – und fing den Blick Atéras auf, die noch immer neben ihm stand. Ein seltsames Lächeln lag auf ihrem Gesicht, und er spürte deutlich, dass sie seinen Schmerz und seine Verzweiflung auskostete. Wahrscheinlich wusste sie nur zu gut, dass mit dem Tod der Ziege das einzige Wesen dahinging, das dem Jungen jemals freundlich begegnet war. Erst als es ihm gelang, seine Tränen zu schlucken und trotzig an ihr vorbei ins Leere zu starren, wandte Atéra sich ab und ging zum Zelt der Großen Mutter zurück.
Am nächsten Morgen verzehrte man die Ziege, und da der Hunger der erschöpften Menschen groß war, verschwanden selbst Knorpel und Innereien in kürzester Zeit. Nur den Kopf ließ man übrig, der seltsam fremd und verloren neben einem Baumstumpf lag und blind in den diesigen Himmel starrte. Der namenlose Junge aß nichts, obwohl er ebenso hungrig war wie alle anderen. Es war ihm einfach nicht möglich, das Fleisch jenes Tieres zu essen, das ihn noch in der vorigen Nacht mit seinem Leib gewärmt hatte. Niemandem fiel dies auf – außer Atéra, die ihm, mit vollem Mund kauend, einen gehässigen Blick zuwarf.
Am Mittag des vierten Tages versiegten endlich die letzten Regentropfen. Der Himmel klarte auf, und die Menschen auf dem Hügel stellten erstaunt fest, dass das Wasser sich zurückgezogen hatte.
Kurze Zeit darauf verkündete Atéra den Beschluss der Großen Mutter, dass sie den Zufluchtsort verlassen und zurück zu ihrer Waldlichtung ziehen würden. Die Männer standen eine Zeit lang beisammen und erörterten diesen Befehl mit respektvoll gesenkten Stimmen. Am Ende schien auch Hesnod, der zunächst einen neuen Lagerplatz in größerer Entfernung vom Fluss geplant hatte, die Weisheit der alten Frau anzuerkennen: Es war undenkbar, anderswohin zu gehen, denn der umgebende Wald war zu dicht, um Platz für neue Hütten zu roden. So rafften sich die Menschen am Abend des Tages auf, sammelten die letzten Vorräte ein und schulterten ihre Habseligkeiten für den Rückweg.
Ihre Heimatlichtung sah aus wie zuvor: Zwar stand das Wasser immer noch bis zur Böschung des kleinen Bächleins, doch rauschte es nicht mehr reißend dahin, sondern floss gemächlich. Gewiss war der Boden verschlammt; die Gemüsepflanzungen waren zerstört, und die Überschwemmung hatte ganze Grassoden fortgerissen − doch stellte man rasch fest, dass dem Wiederaufbau nichts im Wege stand. Unter der ausgewaschenen Krume lag fester Lehmboden, und zudem war die gesamte Lichtung von Treibholz und abgeknickten Ästen übersät, die sich für den Hüttenbau eigneten.
Nach einer unbehaglichen Nacht auf nacktem Boden ging man an die Arbeit. Erneut hatte Hesnod Männer ausgesandt, die nach Jagdwild suchen sollten – und als sie zurückkehrten, war die Freude groß, denn sie brachten nicht nur geschlagenes Holz mit, sondern auch eines der zahmen Schweine, die zu den wenigen Tieren des Dorfes gehört hatten. Es war fortgelaufen und ertrunken, aber die Jäger hatten es unweit der Lichtung im Gebüsch gefunden. Eilig schichtete man Buschwerk zum Trocknen in der Sonne, und bald gelang es Jemal, mit dem Feuerstein Flammen zu schlagen, sodass die frierenden Dorfbewohner endlich ihre Felljacken trocknen konnten. Gralja zerlegte inzwischen das Schwein, und so gab es am Nachmittag geröstetes Fleisch für jedermann.
Die Zelte und Hütten waren rasch wieder aufgerichtet, denn an Holz und weichem Lehm für den Bewurf herrschte Überfluss. Mangels Stroh deckte man die Rohbauten einstweilen mit Grassoden oder Borke, und nach einigen Tagen hatte praktisch jede Familie ihren Wohnsitz wieder an derselben Stelle wie vor der Überschwemmung.
Einzig der namenlose Junge hatte, da niemand ihm half, nur ein kleines Rundzelt aus geflochtenen Zweigen zustande gebracht. Für ihn war das Leben nun noch schwerer als zuvor, denn man ließ ihn mit seiner Mutter allein, die seit dem Unglück kein Wort mehr gesprochen hatte und teilnahmslos in einer Ecke der neuen Behausung kauerte. Minnod, sein älterer Bruder, kam nur gelegentlich vorbei und erteilte knappe Befehle, ohne jedoch selbst Hand anzulegen. Immerhin brachte er oft etwas Essbares mit, Obst und Wildfrüchte zumeist, seltener Fleisch oder Fisch.
»Du musst sie füttern«, sagte er mit unbewegtem Gesicht und deutete auf seine Mutter. »Zerstoß die Beeren und gib ihr den Saft. Das Fleisch musst du ihr vorkauen.«
Der Junge versuchte es, doch es gelang nur mühsam, denn er spürte eine täglich wachsende Furcht, sich der Mutter zu nähern. Ihr starrer Blick ließ ihn zurückweichen, mehr noch, als ihre barschen Worte in früheren Tagen es vermocht hatten. Am Ende erbarmte sich eine Nachbarin, die Mutter zu füttern und zu pflegen – wobei sich herausstellte, dass sie zwar lebte, aber ihren Geist eingebüßt hatte. Sie konnte mühsam kauen und fahrig die Hände bewegen, war jedoch unfähig, zu sprechen und aufzustehen. Auf dem Rückweg zum Dorf war es noch möglich gewesen, sie am Arm zu führen; nun dagegen saß sie tagein, tagaus in ihrer Ecke und vermochte nicht einmal mehr die Ausscheidungen ihres Körpers zu halten. Der namenlose Junge litt furchtbar unter dieser Veränderung. Fast wünschte er, sie würde ihn wieder ohrfeigen oder schelten wie in früheren Tagen.
Obwohl sich der Junge so einsam fühlte wie nie zuvor, entging ihm nicht, dass sowohl Hesnod als auch der Schamane sorgenvolle Blicke zu seiner Hütte herüberwarfen. Der Eingang zur Hütte der Großen Mutter war oft verhängt, und von drinnen hörte man gedämpfte Stimmen: Vielleicht beratschlagten die weisen Frauen nicht nur, wie die Götter zur Vermeidung einer weiteren Überschwemmung besänftigt werden konnten, sondern auch, was mit jener Familie am Rande der Lichtung geschehen sollte, die ihren Ernährer verloren hatte. Den namenlosen Jungen und seine Mutter hatte man geduldet, solange der Vater da gewesen war, um für sie zu sorgen. Nun war der vorzeitig gealterte Mann gestorben, und seine Frau schien von einem lähmenden Übel befallen, gegen das niemand ein Heilmittel kannte.
Zwei Wochen nach der Überschwemmung rief die Große Mutter ihre engsten Vertrauten zu sich, und das Feuer in ihrer Hütte brannte die ganze Nacht – ein Zeichen, dass die weise Frau Erleuchtung und Rat suchte. Der namenlose Junge beobachtete es mit ungutem Gefühl, und jedes Mal, wenn er Wasser vom Bach holte oder aus anderen Gründen hinausmusste, blickte er über die Lichtung hinüber zu der Hütte. Aus ihrer Spitze zog gelblicher Rauch: Offenbar verbrannte man Kräuter, die dazu dienten, den Geist zu erweitern und die Ratschlüsse der Götter zu empfangen. Eine Weile stand der Junge reglos da und kämpfte mit einer dunklen Ahnung neuerlichen Unheils. Schließlich aber, da nichts geschah, wandte er sich ab und kroch zurück in seine Behausung. Seine Mutter brauchte etwas zu essen. Er würde Schwarzwurzeln zerstampfen, mit Wasser vermischen und zwischen ihre stummen Lippen schieben – auch wenn es ihm davor graute.
Was sich tatsächlich in der Hütte der Großen Mutter zutrug, ahnte der Junge nicht.
Die weisen Frauen saßen im Kreis und starrten in die Glut, während der mit Zauberkräutern gewürzte Rauch senkrecht emporstieg und sich durch eine Öffnung in der Decke nach draußen wand. Heta, die Große Mutter, thronte auf einem Lager aus Reisig, das mit ledernen Matten zu einer Art Sessel aufgepolstert war. Sie wirkte leidend und geschwächt, denn in den kalten Tagen auf dem Hügel hatte sie sich einen hartnäckigen Husten zugezogen, der in regelmäßigen Abständen ihre mächtige Brust schüttelte. Zu ihren Füßen saßen ihre erwachsenen Töchter, und ihnen gegenüber hatte sich Jemal niedergelassen, der Schamane, dem es als einzigem Mann erlaubt war, die Hütte zu betreten.
An Hetas Seite stand Atéra, die eben noch ihrer Herrin das fiebrige Gesicht abgetupft hatte, und blickte mit kühlen Augen über die Köpfe der anderen hinweg. Ein unbeteiligter Beobachter hätte den Eindruck gewonnen, dass sie es war – nicht die greise Heta –, die den Vorsitz bei dieser Versammlung führte. Es war ein offenes Geheimnis, dass Atéra einst den Platz der Großen Mutter einnehmen würde, auch wenn Heta sie noch nicht öffentlich als ihre Nachfolgerin benannt hatte. Eine Große Mutter nämlich musste mindestens sieben lebende Kinder zur Welt gebracht haben; Atéra hatte bislang nur drei. Allerdings mühte sie sich nach Kräften, das althergebrachte Gesetz zu erfüllen, denn ihr leicht geblähter Bauch verriet, dass sie guter Hoffnung war. Einstweilen galt sie als Hetas vertrauteste Beraterin und Verkünderin ihrer Beschlüsse. Ihre Stellung als zweitmächtigste Frau im Stamm war unangefochten; ihre scharfe Zunge wurde gefürchtet, und manche tuschelten gar, dass die allzu beflissene Fürsorge, die sie ihrer Herrin angedeihen ließ, womöglich etwas Berechnendes hatte.
Atéra war eine eindrucksvolle Erscheinung: Hochgewachsen, üppig und von einer ebenso kräftigen wie reizvollen Statur. Ihr rundes Gesicht mit den braunen Augen und ihr wallendes, teerfarbenes Lockenhaar machten sie zur schönsten Frau im Dorf − und ihre herrische Art trug ein Übriges dazu bei, dass die Männer ihr zu Füßen lagen. Dementsprechend groß war das allgemeine Erstaunen gewesen, als sie einen viel älteren Mann geheiratet hatte, der bucklig und von schwachem Geist war. Sie behandelte ihn wie einen Diener und scheuchte ihn mit Haushaltsarbeiten umher, denn zur Jagd ausziehen konnte er nicht – was freilich auch nicht nötig war, denn als Vertraute der Dorfherrin hatte Atéra Anspruch auf Versorgung durch die Stammesgemeinschaft. Jeder wusste, dass sie ihren erbarmungswürdigen Hausgenossen verachtete, und dass sie sich je von ihm berühren ließ, konnte sich niemand so recht vorstellen. Dass sie dennoch ständig schwanger war, gab einigen Anlass zu Gerüchten, auch wenn niemand es wagte, diese laut zu äußern.
Jemal, auf der anderen Seite des Feuers, war ein hagerer Mann vorgerückten Alters, kahlköpfig bis auf einen Kranz schlohweißer Haare am Hinterkopf. Nach Atéra galt er als nächster Vertrauter der Großen Mutter. Er sprach selten, dann aber leise und bedächtig, und seine tiefbraunen Augen verrieten ebenso viel Sanftmut wie Ernst.
»Ich habe die Innereien der erlegten Tiere befragt«, sagte Jemal soeben und wandte sich mit ehrfürchtig niedergeschlagenen Augen Heta zu. »Doch die Geister sprechen nicht zu mir. Ich vermag nicht zu sagen, ob der Fluss uns immer noch zürnt.«
Die Große Mutter ließ das Kinn auf die Brust sinken.
»Auch ich habe keine Zeichen empfangen«, sagte sie mit ihrer krächzenden Stimme.
Der Schamane nickte. Er wusste, dass die Dorfherrin seine Sorgen teilte. Es war die bislang schwerste, aber keineswegs die erste Überschwemmung gewesen, die das kleine Dorf getroffen hatte. Der gewaltige Strom, der sich einige Hundert Schritte Richtung Sonnenaufgang durch den Wald schlängelte, war schon immer eine Bedrohung gewesen.
»Hesnod hätte es lieber gesehen, wenn wir uns in größerer Entfernung vom Fluss niedergelassen hätten«, fuhr Jemal fort. »Doch mir scheint …«
»Vielleicht hat er recht«, meldete sich Atéra zu Wort, kühl und forsch wie stets. »Es gibt andere Dörfer unseres Volks in Richtung der Abendsonne.«
»Das ist wahr, doch ist keiner von uns jemals dort gewesen«, sagte Jemal, der Atéras Meinung kannte und sich gewappnet hatte. »Es gibt keine festen Wege in dieser Richtung, und selbst fahrende Händler kommen nur selten von dort. Unser Stamm ist seit Menschengedenken hier zu Hause. Soweit sich selbst die Ältesten unter uns erinnern, haben wir in diesen Ufermarschen gelebt und in diesen Wäldern gejagt. Unsere Ahnen haben diese Lichtung in Besitz genommen und Hütten auf ihr erbaut; unsere Ziegen und Schweine finden hier gutes Gras, und Wurzeln und Feldsalat gedeihen. Ringsumher jedoch dehnt sich der Wald, soweit wir wissen, unabsehbar in alle Richtungen. Keiner ist jemals weiter als einen Tagesmarsch gewandert, und der große Strom kann nicht überquert werden.«
»Ich hörte«, wandte Atéra ein, »dass Boslav, der letzten Winter starb, in seiner Jugend am Fluss hinab Richtung Mittagssonne gegangen ist − weiter als jeder andere vor ihm. Er hat berichtet, dass der Wald sich dort lichtet und offenes Grasland bis zu den Ufern vordringt.«
»Selbst wenn das wahr ist«, beharrte Jemal, »dürften wir auf keinen Fall in jene Richtung ziehen. Ich habe viele Geschichten über das Mittagssonnenland gehört, und sie sprechen von fruchtlosen Wüsten, von gehörnten Riesen und menschenfressenden Schlangen. Außerdem berichtete mir ein Händler von den Pferdemenschen, die diese Ebenen durchstreifen sollen – Halbwesen, deren Leiber Hirschen ähneln, deren Oberkörper und Köpfe aber Menschen gleichen …«
Einige der Anwesenden schauderten sichtlich.
»… nein, wir sollten an diesem Ort bleiben und versuchen, den Zorn des Flusses zu besänftigen.«
Atéra wollte zu einer Erwiderung ansetzen, doch in diesem Moment rang die Große Mutter mit einem Hustenanfall. Als sie sich wieder beruhigt hatte, wandte sie sich erneut an Jemal.
»Haben die Zeichen dir etwas über … den Jungen gesagt?«
Jemal verneinte stumm. Ein langes Schweigen trat ein; dann blickte die alte Frau hinüber zu ihrer bevorzugten Beraterin.
»Atéra − was meinst du?«
Falls Atéra bereits auf ihren Einsatz gewartet hatte, ließ sie es sich nicht anmerken. Stattdessen verharrte sie stocksteif, ohne den Blick ihrer Herrin zu erwidern.
»Ich weiß nur, was unsere Brüder und Schwestern erzählen«, begann sie schließlich. »Sie sagen, der Junge habe laut geschrien, und als sie aus ihren Hütten kamen, stand er mitten auf dem Dorfplatz. Das Wasser kroch hinter ihm heran und griff nach seinen Füßen. – Du weißt, verehrte Mutter, was es mit dem Jungen auf sich hat. Ich habe dir meine Meinung bereits früher anvertraut.«
Jemal warf ihr einen erstaunten Seitenblick zu. Offenbar bezog sich Atéra auf ein Gespräch, dem er nicht beigewohnt hatte.
»Verehrte Schwester«, wandte er sich an Atéra, »willst du auch mir verraten, was die Geister dir offenbart haben?«
Atéra wartete einen Wink ihrer Herrin ab; dann begann sie erneut zu sprechen.
»Von unseren Ahnen wissen wir, dass bei der Zeugung eines Kindes Erd- und Wassergeister zusammenwirken. Die Ersteren geben das Fleisch, die anderen die Säfte des Körpers hinzu. Überwiegt der Einfluss der Erdgeister, so entsteht ein männliches Kind; überwiegt derjenige der Wassergeister, so wird ein Mädchen geboren.«
Alle Anwesenden nickten zustimmend; diese Zusammenhänge galten als wohlbekannt.
»Der Junge jedoch, der keinen Namen hat«, fuhr Atéra fort, »muss das Kind eines Himmelsgeistes sein − jenes unbekannten Fremden, der einst in den Körper seiner Mutter eindrang.«
»Ich habe noch nie gehört, dass Himmelsgeister Leben zeugen«, wandte Jemal ein. »Sie sind körperlos und weilen in großen Höhen, in den Wolken und auf Bergen …«
»Und doch können sie von einem Menschen Besitz ergreifen«, sagte Atéra bestimmt. »Alles an diesem Kind deutet auf den Einfluss eines Luftwesens: seine bleiche Haut, sein helles Haar, seine schmächtige Gestalt, die auf einen Mangel an Fleisch und Säften schließen lässt. Nun wissen wir aber, dass die Geister der Erde und des Wassers seit alters her einen erbitterten Streit gegen die Mächte des Himmels führen. Daher ist es nicht verwunderlich, wenn ein Kind der Lüfte in unserem Stamm ihren Zorn erregt.«
Die Umsitzenden schwiegen eine Weile, um diese Erklärung zu bedenken.
Jemal, der Schamane, forschte in seinem Gedächtnis. Er war einer der wenigen im Dorf, die sich noch an die Geburt des seltsamen Kindes erinnerten. Der Junge war nicht der leibliche Sohn seines Vaters, sondern eines Unbekannten, der vor Jahren ins Dorf gekommen war, um Pelze zu tauschen, und der in einem unbeobachteten Moment seine Mutter vergewaltigt hatte – vielleicht aus Enttäuschung über die Kümmerlichkeit seiner Ausbeute.
Ein derartiges Ereignis war in der kleinen Dorfgemeinschaft noch nie vorgekommen. Man hatte die junge Frau in der Nähe der Flussböschung gefunden, zerschunden und wimmernd, und lange Zeit war es unmöglich gewesen, ihr ein verständliches Wort abzuringen und das Vorgefallene zu erschließen. Einige Zeit blieb sie in der Obhut der Großen Mutter, deren Töchter sie pflegten und ihre Wunden versorgten. Zunächst schien es, dass sie sich erholte, und man ließ sie zu ihrer Familie zurückkehren. Als sich jedoch zeigte, dass sie ein Kind von dem Fremden erwartete, schien ein Ungeist von ihr Besitz zu ergreifen: Sie wurde reizbar und schwach, mied ihren Ehemann, vernachlässigte ihre Arbeit und verfiel in Momente der Starre, in denen sie wie betäubt die Hände um den Bauch krallte. Sie begann, unmäßig zu essen, bis sie sich erbrechen musste; dann wieder verweigerte sie jegliche Nahrung. Eines Tages fand ihr Ehemann sie in einer Ecke der Hütte kauernd, wo sie mit tränenüberströmtem Gesicht versuchte, ein Holzscheit in ihre Scheide einzuführen.
Es war offensichtlich, dass Irmin, etwas Fremdes und Dämonisches, in die junge Frau eingedrungen war. Die Träume der Großen Mutter deuteten auf Gefahr, und so hatte man die Schwangere in ein eigenes, von den übrigen Hütten abgesondertes Zelt gebracht, wo sie von einer Amme beaufsichtigt und versorgt wurde. Obwohl Jemal häufig bei ihr saß und den Geist, der in sie eingedrungen war, durch Anrufungen zu beschwichtigen suchte, schritt ihre Gemütsverwirrung fort: Sie verfiel in Zuckungen, redete irre, kreischte wie ein verwundetes Tier.
Monate gingen dahin; es wurde Winter, und eines Tages − das Dorf lag in tiefem Schnee − kam es zur Geburt. Selbst Jemal musste das Zelt der Besessenen verlassen, und nur die alte Amme blieb darinnen, um dem Irminskind zur Welt zu helfen. Irgendwann verstummten die Schreie der Gebärenden, und nach Momenten gespannter Stille machten sie einem anderen Geräusch Platz: der Stimme eines Säuglings, der nach Nahrung und bergenden Brüsten schrie. Zur vorläufigen Erleichterung für alle war es eindeutig ein Menschenkind, kein Halbwesen mit Klumpfüßen oder behaartem Gesicht.
Man ließ das Kind in der Obhut der Amme. Dieser war es verboten, den Jungen zu stillen; stattdessen wurde er mit Ziegenmilch gefüttert. Drei Tage lang schrie der Neugeborene mit erstaunlich kräftiger Stimme nach seiner Mutter. Am Abend des dritten Tages erlahmte seine Stimme und ging in ein halblautes Wimmern über; am Morgen des vierten Tages verstummte sie. Dies nahm Heta als Zeichen, dass der Wille des bösen Geistes gebrochen war, und so wurde der Junge nach einer besonderen Reinigungszeremonie in die Hütte seiner Familie gegeben.
Seit jenem Tag hatte Jemal den Jungen scharf beobachtet und sein Heranwachsen mitverfolgt − und war zu dem Schluss gekommen, dass er zwar ein scheues und seltsames Kind, zugleich aber mit ungewöhnlichen Gaben ausgestattet und gewiss kein Dämon war.
»Ich weiß wohl«, unterbrach Jemal schließlich das Schweigen, »dass viele im Dorf glauben, die Überschwemmung habe etwas mit dem Jungen zu tun. Sie hat ihn als Ersten ergriffen, und niemand hat versucht, ihn zu retten, nicht einmal sein Vater. Hesnod aber …«
»Hesnod hat einen Fehler begangen«, schnitt ihm Atéra das Wort ab. »Der Fluss hat das Leben des Jungen gefordert! Die Mächte der Erde dulden nicht, dass ein Himmelswesen auf Erden wandelt, und sie zürnen unserem Stamm, weil wir ihn aufgenommen haben. Niemand kann wissen, ob unser Dorf zukünftig verschont bleiben wird, wenn wir dem Fluss nicht geben, was er verlangt.«
Jemal regte sich unbehaglich; diese Folgerung hatte er befürchtet.
»Verehrte Mutter«, wandte er sich an Heta. »Du selbst hast nach der Geburt des Jungen die Geister befragt, und sie sagten dir, dass der Irmin besänftigt sei. Ich habe den Jungen zwölf Jahre lang beobachtet und keinerlei Anzeichen von Bosheit an ihm bemerkt.«
»Böse Geister wirken im Verborgenen«, gab Atéra zu bedenken. »Genügt dir das Schicksal seiner Eltern nicht als Beweis? Sein Vater ist vorzeitig gestorben, und seine Mutter hat den Verstand verloren. Selbst sein älterer Bruder meidet ihn. Ihr braucht euch nur anzusehen, wie er umherschleicht – stets mit gebeugten Schultern und gesenkten Augen, wie einer, der Unheil im Sinn hat.«
Die Frauen tuschelten zustimmend.
Jemal wollte widersprechen, doch für einen Augenblick fand er nicht die richtigen Worte. Dass der Junge ein Fremdling war, konnte niemandem verborgen bleiben: Alle anderen in seinem Alter waren kräftige, breitschultrige Burschen mit runden Gesichtern und schwarzem Haar; er dagegen war hager, schmal und blasshäutig. Am ungewöhnlichsten war vielleicht das feine, rötliche Haar, das ihm in wirren Locken auf die schmalen Schultern fiel. Die gleichaltrigen Jungen würdigten ihn gewöhnlich keines Blickes; die Mädchen dagegen hänselten und schlugen ihn sogar, denn sie wussten, dass er sich nicht wehrte. Insbesondere die Töchter des Jägers Balrod hatten entdeckt, dass der namenlose Junge eine seltsame Furcht vor allem hatte, was am Boden krabbelte oder sich im Schlamm bewegte − eine Furcht, so schien es, vor der Erde selbst, die unnatürlich und darum umso entwürdigender war. Tatsächlich ängstigten ihn Würmer, Maden und Käfer so sehr, dass er Schweißausbrüche bekam und bewegungslos erstarrte. Die Mädchen machten sich einen regelrechten Spaß daraus, ihn mit Schlamm zu bewerfen oder ihm Spinnen ins Haar zu setzen. Einzig Jemal ahnte etwas von den Geisteskräften, die sich hinter dem verschlossenen Gesicht des Jungen verbargen.
»Ich habe den Jungen lange beobachtet«, ergriff er schließlich wieder das Wort. »Er besitzt ungewöhnliche Gaben und scharfe Sinne. Schon als Säugling schrie er, wenn ein Gewitter nahte, lange bevor selbst wir Ältesten das Wetter in den Knochen spürten. Und wenn er mitten in der Arbeit erstarrt und den Blick auf einen Baum oder ein Gebüsch heftet, dann haben die Männer oft festgestellt, dass ein Wildschwein sich nähert oder ein Wiesel im Unterholz raschelt.«
Die Umsitzenden lauschten schweigend.
»Auch versteht er mit Worten und Zahlen umzugehen«, fuhr Jemal fort. »Ich habe ihn oft belauscht, wenn er sich allein glaubte und zu sich selber sprach. Bereits mit fünf Jahren nannte er alle Dinge und Lebewesen des Waldes bei ihren richtigen Namen. Er kann zählen, ohne die Finger zu Hilfe zu nehmen. Einmal sah ich, wie er allein im Gras hockte und Hanfschnüre zu Knoten band, so schwierig und verschlungen, wie ich es noch nie gesehen hatte. Ein andermal habe ich bemerkt, dass er den Nachthimmel betrachtete und sich niederließ, um mit einem Stock seltsame Zeichen in den Boden zu kratzen. Ich glaube, er versuchte, die Sterne zu zählen …«
Atéra schnaubte. Jemal brach ab − und als er in die Runde blickte, begriff er, dass seine Worte den Abscheu der Zuhörer eher vermehrt hatten. Einem Schamanen mochte man zugestehen, dass er die Sterne beobachtete, das Wetter vorhersah oder zählen konnte; diese Fähigkeiten galten als Gaben höherer Mächte und begründeten seine Stellung. Dass jedoch ein kleiner Junge mit den Geistern verkehrte, ohne von der Gemeinschaft dazu ermächtigt zu sein, musste den Menschen unheimlich und bedrohlich erscheinen.
»Das ist nur ein weiterer Beweis seiner Besessenheit«, sagte Atéra und sprach damit aus, was die Mehrzahl der Anwesenden dachte. »Diese Gaben sind niemandem von Nutzen. Welchen Sinn hat es, wenn ein Junge die Tiere belauscht, aber nicht jagen kann? Wenn er den Himmel betrachtet, aber das Wetter nicht voraussagt? Wenn er mit einem Stock im Boden kratzt, statt anständige Arbeit zu tun? Da er seine Fähigkeiten nicht zum Nutzen des Stammes gebraucht, bin ich überzeugt, dass sie Gaben eines Geistes sind, der uns nicht wohlgesinnt ist. Wenn wir dulden, dass der Junge weiterhin in unserem Dorf lebt, wird großes Unheil über uns kommen.«
Erneut tuschelten einige der Frauen zustimmend.
»Ich sage: Der Fluss hat ihn gefordert; der Fluss soll ihn haben«, schloss Atéra.
Eine gespannte Stille trat ein. Jemal seufzte schwer, denn er begriff, was diese Worte bedeuteten. Nur selten waren Atéras Ratschläge abgewiesen worden − und wenn geschah, was zweifellos in ihrer Absicht lag, würde er als Schamane mit der Durchführung der heiligen Handlung betraut werden.
Seine Gedanken wurden unterbrochen, denn nun regte sich Heta auf ihrem Lager. Die alte Frau erhob sich mühsam, und alle blickten gespannt zu ihr auf.
»Ich werde die Geister um einen Traum bitten«, verkündete die Große Mutter. »Dann will ich entscheiden. Doch nun lasst mich allein; ich bin müde.«
Ihre Stimme klang rau, und ihre Beine zitterten. Sofort erhoben sich alle Umsitzenden, um die Hütte zu verlassen. Lediglich Atéra blieb zurück, um ihre Herrin zu stützen und zu ihrem Schlaflager zu führen.
Am folgenden Morgen, noch vor dem ersten Sonnenstrahl, fuhr der namenlose Junge aus einem seiner Angstträume hoch: Er hatte geträumt, dass er bis zum Hals in schlammige Erde eingegraben war, und dass Balrods älteste Tochter über ihm stand, die Schenkel spreizte und sich auf seinem Gesicht niederließ.
Schaudernd setzte er sich auf, blinzelte in das fast erloschene Feuer und hinüber zum unförmigen Schatten seiner Mutter, die an der gegenüberliegenden Hüttenwand hockte. Eine merkwürdige Erregung hatte ihn ergriffen, die er sich nicht zu deuten wusste. Es dauerte geraume Zeit, bis draußen eine Drossel schrie und mit rauer Stimme den Morgen begrüßte. Die ersten Sonnenstrahlen krochen über den Horizont und fielen durch Spalten im Türbehang herein wie glühende Spinnweben.
Dann näherten sich Schritte.
Die Tür der Hütte wurde mit einem Ruck aufgerissen. Erschrocken fuhr der Junge hoch und kauerte sich an der Lehmwand zusammen. In der Tür stand Gralja, einer der Jäger, und neben ihm Jemal, der Schamane, der ein seltsames Gewand aus zusammengenähten Tierfellen trug. Keiner von beiden sprach ein Wort. Der Junge fühlte Angst in sich aufsteigen, ohne den Grund benennen zu können. Er saß reglos an der Wand, stumm wie seine unerwarteten Besucher.
Dann regte sich Gralja. Er trat an das Strohlager, packte den Jungen beim Arm und zog ihn auf die Füße. Sofort spürte der Junge, wie sich sein Körper in jäher Abwehr versteifte. Er wehrte sich, ohne zu wissen, warum, denn der feste, mitleidlose Griff ängstigte ihn zutiefst. Einen Moment lang rangen sie stumm miteinander, doch Gralja behielt die Oberhand und zog ihn zum Ausgang.
Als sie ins Freie traten, erschlafften die Glieder des Jungen. Er hatte begriffen, dass jede Gegenwehr sinnlos war. Die beiden Männer nahmen ihn in die Mitte und führten ihn quer über die Lichtung zur Hütte der Großen Mutter. Zitternd stand er zwischen ihnen, außerstande, einen klaren Gedanken zu fassen oder gar nach der Bedeutung des Geschehens zu fragen. Er fror, denn das Gras unter seinen nackten Füßen war klamm, und die Zunge klebte ihm am Gaumen.
Der Vorhang am Eingang der Hütte wurde beiseitegeschoben, und eine hohe Gestalt erschien in der Öffnung, dunkel vor dem glimmenden Herdfeuer im Innern. Es war nicht die Große Mutter. Es war Atéra.
Ihre Blicke trafen sich – die des Jungen scheu und furchtsam; Atéras Blick wie stets eine Mischung aus Drohung und Spott. Auch sie trug ein zeremonielles Gewand, ein Kleid aus gesponnenem Stoff, das über und über mit Eichenblättern besetzt war. In der rechten Hand hielt sie einen langen Stab – und der Junge erkannte, dass es der zauberkräftige Fichtenstab der Großen Mutter war, den gewöhnlich niemand außer ihr führen durfte. Im Innern der Hütte hob ein leiser, getragener Gesang vieler Stimmen an. Offenbar hatten sich die weisen Frauen versammelt, um eines jener Lieder anzustimmen, die zur Eröffnung einer heiligen Handlung gehörten. Irgendjemand schlug in langsamem Rhythmus eine Trommel. Was hatte das zu bedeuten?
Trotz seiner Angst streifte den Jungen plötzlich ein erregender Gedanke: Was, wenn endlich seine Einweihung in die Dorfgemeinschaft angeordnet worden war? Er wusste, dass alle jungen Männer geheimen Riten unterzogen wurden, über die sie nicht sprechen durften, wie es erst vor zwei Jahren bei seinem Bruder der Fall gewesen war. Doch hatte er sich zu sehr an sein Dasein als Außenseiter gewöhnt und nie damit gerechnet, eines Tages selbst an der Reihe zu sein. Würde er nun aus der Hütte seiner Mutter ausziehen? Würden die Gleichaltrigen ihn als vollwertiges Mitglied der Dorfgemeinschaft willkommen heißen, vielleicht sogar Freundschaft mit ihm schließen?
Atéra stieß das Ende des Stabs in die Erde und blickte zu Jemal hinüber, als gäbe sie ihm ein wortloses Zeichen. Die Männer wandten sich um. Erneut packte Gralja den Jungen am Arm und drehte ihn Richtung Sonnenaufgang: Dorthin, wo ein schmaler, selten begangener Pfad in den Wald führte. Dann setzten sie sich in Bewegung – und an dem Rascheln hinter seinem Rücken erkannte der Junge, dass Atéra ihnen folgte.
Dem Jungen klopfte das Herz in der Kehle, als die Männer ihn in den Wald führten. Sie gingen der Sonne entgegen, wo der Große Strom lag – in jene Richtung also, die die Jäger nur selten einschlugen, denn das Gelände war sumpfig und gefährlich. Jemal übernahm die Führung, während Gralja, den Jungen am Arm, ein wenig zurückfiel. Der Schamane ging einige Schritte voraus und prüfte den Boden. Schweigend bahnten sie sich ihren Weg, bis in der Ferne eine kleine Anhöhe zu erkennen war, auf der eine einzelne, schief in den Himmel ragende Tanne stand.
Als sie die Anhöhe erklommen hatten, blieben die Männer stehen. Der Junge, der den Blick bisher gesenkt gehalten hatte, sah erstaunt auf − und der Anblick, der sich ihm bot, war so überwältigend, dass er seine Angst vergaß. Wenige Schritte vor seinen Füßen fiel der Boden nahezu senkrecht ab, und darunter rauschte der gewaltige Strom: eine riesige Wasserfläche, die rostrot in der Morgensonne glänzte, und deren jenseitiges Ufer so weit entfernt schien, dass es nur als dunkler Streifen am Horizont zu erkennen war. Ein mächtiges Tosen erfüllte die aufklarende Luft.
Jemal, der Schamane, stand im Schatten der Tanne an der Böschung, das Gesicht dem Wasser zugewandt. Er hatte die Arme ausgebreitet, und plötzlich erklang seine raue Altmännerstimme über dem Rauschen des Stroms: Er rief die Geister, mit geheimen Worten in einer fremden Sprache.
Atéra näherte sich. Einen Moment lang blickte sie den Jungen aus ihren blanken, braunen Augen an, und er versuchte, schwankend zwischen Furcht und Hoffnung, etwas anderes als den gewöhnlichen Ausdruck der Verachtung darin zu lesen. Gleichzeitig spürte er, dass Gralja hinter ihn trat.
Der Gesang des Schamanen verstummte.
Dann eine Bewegung: Graljas Hände tauchten im Blickfeld des Jungen auf. Er hielt ein Hanfseil umklammert, fest zwischen beiden Fäusten gespannt. Rasch warf er es um den Hals des Jungen und zog es zu.
Plötzliches Verstehen barst im Kopf des namenlosen Jungen, gefolgt von Schrecken, dann von scharfem Schmerz, als das Seil in sein Fleisch schnitt und ihm die Luftröhre zuzog. Über ihm hing Graljas stummes Gesicht, die Kiefer vor Anstrengung zusammengepresst – der Mann war ein erfahrener Jäger und konnte, wie es hieß, mit bloßen Händen einen Hirsch zu Boden ringen. Stets wurde er gerufen, wenn es Dinge zu erledigen galt, die Kraft und Unerschrockenheit erforderten. Atéra legte nicht selber Hand an; auch Jemal nicht. Der Schamane hatte lediglich zu den Flussgeistern gebetet, damit sie das Opfer annahmen, das ihnen dargebracht wurde.
Verzweifelt wand sich der Junge unter Graljas Griff, krallte die Nägel in den Arm des Mannes und spürte Blut. Seine nackten Füße stießen nach hinten, und seiner zugeschnürten Kehle entrang sich ein krächzender Schrei, mit dem die letzte Luft aus seinen Lungen entwich. Für Augenblicke wurde die Welt schwarz.
Dann kehrte sein Bewusstsein zurück, der Druck an seinem Hals verschwand, und er würgte. Sein Blick klärte sich. Er sah schwankenden Boden unter seinen Füßen, seine eigene hervorgequollene Zunge und einen Speichelfaden, der von ihr herabtroff.
Gralja war einen Schritt zurückgetreten, das erschlaffte Hanfseil in den Händen, und atmete schwer vor Anstrengung.
»Mach es dir doch nicht so schwer, Junge!«
Atéra, die das Geschehen aus einigen Schritten Entfernung beobachtet hatte, gab ein ungeduldiges Zeichen. Gralja nickte und trat erneut heran. Diesmal erschlaffte der Körper des Jungen, unfähig zu weiterer Gegenwehr. Hilflos sank er auf die Knie. Gralja hob zum zweiten Mal das Seil, doch diesmal schlang er es nicht um den Hals des Jungen, sondern um dessen Hände.