Sommerfarben in der Stadt der Liebe - Lily Martin - E-Book

Sommerfarben in der Stadt der Liebe E-Book

Lily Martin

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Beschreibung

Paris – und die Farben der Liebe! Marie lebt in Paris, der romantischsten Stadt der Welt. Aber den Glauben an die große Liebe hat die Kunststudentin längst verloren. Zu tief sitzt die Enttäuschung nach ihrer letzten zerbrochenen Beziehung. Deshalb will sie sich jetzt auf ihr Studium konzentrieren – und auf ihren Aushilfsjob im Museum. Bei einer ihrer Führungen lernt sie den jungen Lehrer Jan kennen. Vor den «Seerosen» von Claude Monet entdecken sie ihre gemeinsame Leidenschaft für Kunst. Und als Jan wenig später vorschlägt, zusammen einen Ausflug zu machen, sagt Marie spontan zu. Sie fahren in das malerische Dörfchen Giverny in der Normandie, wo Monet einst lebte und seine unsterblichen Bilder malte. Kann Marie in all der Farbenpracht und an der Seite von Jan ihre Ängste hinter sich lassen und wieder an die Liebe glauben?

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Lily Martin

Sommerfarben in der Stadt der Liebe

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Paris – und die Farben der Liebe!

 

Marie lebt in Paris, der romantischsten Stadt der Welt. Aber den Glauben an die große Liebe hat die Kunststudentin längst verloren. Zu tief sitzt die Enttäuschung nach ihrer letzten zerbrochenen Beziehung. Deshalb will sie sich jetzt auf ihr Studium konzentrieren – und auf ihren Aushilfsjob im Museum. Bei einer ihrer Führungen lernt sie den jungen Lehrer Jan kennen. Vor den «Seerosen» von Claude Monet entdecken sie ihre gemeinsame Leidenschaft für Kunst. Und als Jan wenig später vorschlägt, zusammen einen Ausflug zu machen, sagt Marie spontan zu. Sie fahren in das malerische Dörfchen Giverny in der Normandie, wo Monet einst lebte und seine unsterblichen Bilder malte. Kann Marie in all der Farbenpracht und an der Seite von Jan ihre Ängste hinter sich lassen und wieder an die Liebe glauben?

Vita

Lily Martin ist das Pseudonym der erfolgreichen Schriftstellerin Anne Stern. Während eines Auslandsstudiums in Paris verliebte sie sich in die Stadt und ihre Menschen. Noch heute träumt sie von den warmen Sommerabenden auf einer der Brücken mit Blick auf die Seine. Nach «Sommertage im Quartier Latin» entführt sie uns mit diesem Roman in ein weiteres aufregendes Pariser Stadtviertel. Ein dritter Band ist in Planung.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2024

Copyright © 2024 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Karte © Imke Trostbach

Covergestaltung FAVORITBUERO, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-01590-6

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

«Wenn der liebe Gott sich im Himmel langweilt,

dann öffnet er das Fenster und betrachtet

die Boulevards von Paris.»

 

Heinrich Heine

 

 

 

«Il n’y a qu’un bonheur dans la vie,

c’est d’aimer et d’être aimé.»

 

Es gibt nur ein Glück im Leben –

lieben und geliebt zu werden.

 

George Sand

Prolog

Paris ist die Stadt der Kunst und der Liebe, heißt es.

Nun, mein ganzes Leben habe ich hier verbracht, im Herzen von Paris, und ich weiß, dass die Stadt an jedem Tag, der beginnt, wieder neue Kunstbegeisterte und Verliebte anlockt.

An diesem Morgen legt sich das Licht sanft auf die weißen Mauern der Häuser und auf die silbrigen Dächer. Der Espresso, den Lola mir hinstellt, duftet zart und doch ein wenig herb, und ich bin neugierig, was der Tag bringen wird. Ein schlechter Tag in Paris, sagt man, ist noch immer besser als ein guter irgendwo anders. Und dem kann ich nur aus vollem Herzen zustimmen.

Die Kunst blüht hier wie eine schöne Blume in einem gut bewässerten, sonnigen Garten. Sicher denken Sie an den prächtigen Louvre, wo jeden Tag ganze Scharen auf der Suche nach diesem einen berühmten Lächeln sind, n’est-ce pas? Dort kann man sich zwischen den weltbekannten Gemälden und Plastiken regelrecht verlieren, wenn man nicht aufpasst. Oder denken Sie nur an das Musée Rodin mit den herrlichen Skulpturen des Namensgebers im Garten – und den noch schöneren von Camille Claudel. Wer einmal ihre Arbeit La Valse gesehen hat, weiß, wie herrlich und schrecklich zugleich der Tanz der Liebe ist.

Mein Lieblingsmuseum ist aber wohl das Musée d’Orsay, das direkt am Ufer der Seine liegt. Es ist ein alter Bahnhof, und meine Begeisterung galt schon immer den vielen Bahnhöfen von Paris, von denen aus man das ganze Gewirr, den Lärm und den Staub der Stadt hinter sich lassen kann – nur um dann voller Sehnsucht zurückzukehren und sich schon auf dem Bahnsteig zwischen liegen gelassenen Zeitungen und gurrenden Tauben im Sonnenlicht zu schwören, dass man Paris nie wieder verlassen wird. Wozu auch? In den Bildern der Impressionisten – Paul Cézanne, Alfred Sisley, Berthe Morisot, Claude Monet – kann man sich ja aus Paris fortträumen, wenn es denn sein muss. Oder hineinträumen in ihre verschwenderischen, fruchtbaren Gärten, unter blühende Apfelbäume und in Mohnfelder in flirrender Sommerhitze, wo schöne Damen mit Sonnenschirmen lustwandeln.

Die Studentin Marie Michel, die hier jeden Tag im Café Lola sitzt und über ihren Büchern schwitzt, hat auch so ein Faible für die Impressionisten wie ich, und sie hat mir erzählt, dass sie jeden Sonntag ins Musée d’Orsay geht. Dabei arbeitet sie doch unter der Woche in der Orangerie neben dem Louvre, und man könnte meinen, das sei für eine junge Frau genug trockene Museumsluft. Aber dieses Mädchen ist anders als andere, die ich kenne. Ein bisschen fürchte ich, dass sie die Welt der Kunst zu sehr liebt und die wirkliche Welt darüber vergisst.

Aber, mes chers amis, es kann ja nicht jede so einen Lebenshunger haben wie ich. Wenn ich mich entscheiden müsste zwischen der Kunst und der Liebe, ich wüsste, was ich wählen würde. Aber glücklicherweise muss ich das nicht.

Ah, da kommt gerade Patrice Laferrière, um sein Bistro Chez Patrice aufzuschließen. Das E auf dem alten Schild fehlt seit Jahren, aber Patrice ist kein Ästhet, die Kunst nicht sein Metier. Die Liebe hingegen … Nun, diese alten Geschichten behalte ich vorerst für mich.

Lieber erzähle ich Ihnen eine neue Geschichte. Der Sommer steht im Zenit, und die Luft flirrt nur so vor Hitze. Nehmen Sie Platz …

1

Die Blätter der kleinen Bäume rund um den Springbrunnen raschelten verspielt im Augustwind, der sich sanft auf Maries Wangen legte. Die helle Vormittagssonne tauchte die Place de la Contrescarpe in streifiges Licht. Es schimmerte durch Maries geschlossene Lider und wärmte ihren gesamten Körper. Ihre Wimpern flatterten, und ihr Kopf wurde schwer …

«Ça va, Marie?», fragte eine Stimme.

Marie fuhr hoch. Sie hatte doch nur einen Moment den Kopf auf die verschränkten Arme gelegt und die Augen geschlossen. Nicht mehr als eine Sekunde hatte sie sich ausruhen wollen! Doch offenbar war sie, wie so oft beim Schreiben ihrer Abschlussarbeit, eingenickt, und ihre Stirn war dabei auf die Tischplatte gesunken.

Mühsam hob sie den Kopf und sah direkt in Lolas grüne Augen, die sie halb mitleidig, halb amüsiert von oben herab musterten. Der dunkle, kinnlange Bob der Cafébetreiberin saß heute wieder perfekt, und Marie fuhr sich unwillkürlich durch die eigene zerzauste blonde Mähne. Eine Strähne hatte sich hinter ihrem linken Brillenglas verfangen, Marie fischte sie hervor und strich sie sich hinters Ohr, das, wie sie wusste, eine Spur abstand. Hatte sie sich heute Morgen nach dem Aufwachen eigentlich gekämmt? Irgendwie konnte sie sich nicht recht daran erinnern.

«Soll ich dir noch einen Kaffee bringen?», fragte Lola mitfühlend und fegte ein Krümelchen von der Tischplatte.

Marie nickte und schob sich die verrutschte Brille wieder hoch. Verlegen setzte sie sich aufrecht auf dem Bistrostuhl hin und streckte sich unauffällig.

Die Terrasse des Cafés war an diesem Vormittag, wie eigentlich jeden Tag, voller Gäste. Die Stimmen schwirrten umher und mischten sich mit dem Klappern der Porzellantassen und dem Vogelgezwitscher, das aus den grünen Judasbäumen rings um den Brunnen in der Mitte des neu gepflasterten Platzes klang. Einige Blicke streiften Marie, als sie sich dehnte, und eine ältere Dame mit grellrot bemalten Lippen lächelte ihr vom Nebentisch aufmunternd und vielleicht auch eine Spur spöttisch zu.

«Bonjour, Madame Simenon», murmelte Marie und lächelte pflichtschuldig zurück. Die ältere Dame trank hier jeden Morgen einen Café und später, am Nachmittag, ein paar Gläser Portwein drüben im Bistro. Sie war liebenswürdig, aber man musste sich vor ihrer unersättlichen Neugier in Acht nehmen.

Marie rieb sich die Augen. Sie hatte sicher einen Abdruck auf der Wange, dachte sie zerknirscht.

Angestrengt starrte sie wieder auf den Bildschirm ihres uralten MacBooks. Der Computer hatte sich automatisch ausgeschaltet, er schien ebenso wie seine Besitzerin ein Nickerchen zu halten. Sie wischte mit den Fingern über das zerkratzte Mousepad, und sofort flackerte der Bildschirm gehorsam, aber wenig enthusiastisch auf und enthüllte denselben Blick, der Marie zuvor so müde gemacht hatte.

Ein angefangener Text über Monets Seerosen-Bilder flirrte auf dem Monitor. Es handelte sich um eins der zentralen Kapitel ihrer Thèse, der Doktorarbeit. In diesem Abschnitt wollte Marie elegant und pointiert zugleich alle ihre Erkenntnisse zu den Seerosen und Monets Arbeitsweise auf den Punkt bringen. Im September, nach den Semesterferien, würde sie Auszüge daraus bei einem Vortrag an der Sorbonne präsentieren müssen – allein der Gedanke daran ließ sie zusammenfahren.

Seit Wochen, nein, Monaten knabberte Marie nun schon an diesem Text herum, löschte Zeilen, fügte einige Wörter hinzu und ließ sie schließlich wieder verschwinden, weil sie ihr hölzern und nichtssagend vorkamen. Es ging immer einen Schritt vor und drei zurück, schien es ihr. Sisyphos war nichts gegen sie! Dabei liebte sie die Seerosen abgöttisch und hätte stundenlang von ihnen erzählen können – von ihrer Entstehung in Monets Garten in Giverny, von ihren Farben, ihrem Wuchs und der Entwicklung dieses Motivs, das Monets Werk durchzog. Doch sobald sie das alles in geschriebene Wörter verwandeln sollte, streikte ihr Gehirn, und ihre Finger waren wie gelähmt.

Wieder erschien Lola neben ihrem Tisch, diesmal mit einer dampfenden Espressotasse auf einem kleinen runden Tablett und daneben, unaufgefordert, ein Tellerchen mit hellgrünen Macarons – Pistazie! Maries Lieblingssorte.

Dem Himmel sei Dank für Lola und Fabien und ihr Café an der Place de la Contrescarpe, dachte Marie und nahm die Köstlichkeiten demütig in Empfang.

Sofort stieg ihr der Duft des starken Kaffees in die Nase, und sie versenkte ihre Oberlippe in das Tässchen. Der Dampf ließ ihre Brillengläser beschlagen, sodass der Laptop für einen Augenblick hinter einem gnädigen Schleier verschwand, ehe der schreckliche Text erneut auftauchte und der nervtötende Cursor wieder ungeduldig blinkte. So, als wolle er sie antreiben, sich endlich um ihn zu kümmern, das Dokument gefälligst mit neuen Buchstaben zu füttern und dieses verflixte Kapitel zu beenden.

«Gestern Abend ist es wohl spät geworden?», fragte Lola und räumte die zwei leeren Espressotassen ab, die Marie in der vergangenen Stunde ausgetrunken hatte.

«Ich fürchte schon …», sagte Marie leise.

«Ihr jungen Leute», erwiderte Lola lachend, «ihr habt nichts als Partys im Kopf.»

Marie lächelte und dachte im Stillen, wie falsch die Cafébetreiberin doch lag. Die junge Frau war höchstens drei oder vier Jahre älter als Marie. Aber seit sie mit Fabien, dem Cafébesitzer, zusammen war und mit ihm schräg gegenüber vom Café wohnte, führte sie wahrscheinlich das Leben der meisten Menschen, die eine feste Beziehung hatten: vorhersehbar, geradlinig und irgendwie – erwachsen.

Doch wie sollte Marie dann erst ihr Leben nennen? Es bestand nicht etwa aus einer Aneinanderreihung von wilden Partys, wie Lola mutmaßte, sondern glich eher dem Alltag einer Seniorin in einer Maison de retraite. Marie war jeden Abend zu Hause, aß Schokolade und trank Limonade, ganz allein. Alkohol mochte sie nicht besonders, Partys noch viel weniger. Ganz im Gegensatz zu ihrer Mitbewohnerin Thanh, die jede Nacht durch die angesagten Clubs von Paris zog. Marie hingegen kauerte sich abends in ihrem Lieblingssessel zusammen und zog die Füße unter den Körper, während draußen vor dem winzigen Fenster ihres WG-Zimmers die Dämmerung herankroch und endlich die Sterne am dunklen Abendhimmel erschienen. Am liebsten vergrub sie sich in ihre dicken Bildbände, die sie stapelweise bei den Bouquinistes an der Seine kaufte, alte gebrauchte Schinken, vollgestopft mit den berühmtesten Kunstwerken der Menschheit. Und während sie Seite um Seite umblätterte und den Duft des mürben Papiers einsog, spürte sie förmlich, wie die Bilder sie verzauberten. Meist gesellte sich dann noch ihre Katze dazu – ja, auch dieses Klischee gab es in Maries Leben. Die Katze war schneeweiß und hieß Ludwig Kirchner, benannt nach dem deutschen Expressionisten, dessen Bilder Marie bewunderte.

«Nein, Lola, ich war den ganzen Abend zu Hause», gab sie zu. «Eigentlich wollte ich noch mit Thanh zu der Geburtstagsfeier eines Kommilitonen ins Chez Patrice.» Sie deutete auf das Bistro an der Ecke des kleinen Platzes. «Aber dann konnte ich mich nicht aufraffen, und sie ist ohne mich hingegangen.»

«Ich habe so eine Ahnung, weshalb du dich lieber verkriechst», sagte Lola und strich Marie flüchtig über den Arm. Sie senkte die Stimme. «Aber irgendwann muss damit mal Schluss sein, oder?»

«Es ist doch längst Schluss», sagte Marie trotzig. «Daran hat Antoine ja keinen Zweifel gelassen.»

«Nein, ich meine hier, bei dir», sagte Lola und tippte Marie zart aufs Top, wo unter dem schwarzen Baumwollstoff ihr Herz schlug.

«Du weißt ganz genau, dass das nicht so einfach geht.» Marie räusperte sich. «Wenn es einen Knopf zum Abstellen gäbe, würde ich ihn drücken.»

«Da hast du auch wieder recht», sagte Lola und lächelte entschuldigend. «Und ich bin ja auch die Letzte, die sich damit auskennt – mit der Liebe, meine ich.»

«Immerhin hast du sie gefunden», sagte Marie und sah zum Eingang des Cafés. Durch die offen stehende Tür erblickte sie Fabien, der an der Kaffeemaschine hantierte.

«Oder sie mich», sagte Lola und grinste. «Denn ich habe mich bei dieser ganzen Unternehmung in den Jahren zuvor ziemlich dumm angestellt. Nichts und niemand hat mir gepasst.»

«Dumm?», fragte Marie zweifelnd. «Was ist dumm daran, auf die wahre Liebe zu warten?»

Lola öffnete den Mund, um etwas zu erwidern, doch sie kam nicht so weit.

«Mademoiselle!», rief Madame Simenon mit ihrer dunklen, rauchigen Stimme am Nebentisch und schnipste mit den Fingern.

Lola zog eine Grimasse, die nur Marie sehen konnte, und eilte in ihrer Servierschürze zu der alten Dame.

Marie war wieder allein mit den leeren weißen Seiten ihrer Datei, die einfach nicht weiterwachsen wollte. Probehalber schrieb sie ein paar Wörter hin. Monets pastoser Farbauftrag wird in seinem Meisterwerk, den Nymphéas, besonders … Sie hielt inne, die Finger schwebten unschlüssig über der Tastatur. Besonders was? Wieder und wieder las sie den halben Satz, knabberte ein wenig an ihrem Daumennagel herum, runzelte die Stirn. Die Brille rutschte ihr von der Nase, und sie schob sie hoch. Dann löschte sie die wenigen Worte und wandte beinahe angewidert den Blick von ihrem Text ab.

Jeder Wikipedia-Artikel war gehaltvoller als ihre Arbeit, dachte sie bekümmert. Es würde ihr nie gelingen, etwas Sinnvolles zuwege zu bringen, das andere Menschen, Menschen vom Fach, interessieren könnte.

Klassisches Impostor-Syndrom, hörte sie Antoines Stimme in ihrem Kopf sagen. Und am liebsten hätte sie ihn angeschrien, dass er endlich aufhören solle, sie zu diagnostizieren und zu kritisieren. Aber leider hatte er in diesem einen Punkt vollkommen recht gehabt. Und was sollte es auch bringen, jemanden anzuschreien, der seit einem halben Jahr nur noch in der eigenen Erinnerung existierte? Antoine arbeitete längst als Kurator für das MoMa in New York. Ein Job, um den Marie jeden anderen beneidet hätte, in Antoines Fall aber fand sie es geradezu unverschämt.

Es war Zeit, das alles endlich hinter sich zu lassen, dachte Marie verzweifelt. Wobei sie nicht einmal genau hätte sagen können, was das überhaupt war – die kreisenden Gedanken um ihren Ex-Freund oder die Doktorarbeit. Eigentlich war es auch egal, denn die Notwendigkeit, endlich einen Schlussstrich zu ziehen, traf auf beides zu.

Fakt war, dass sie mit allem hinterherhinkte. Die anderen Studierenden, die vor Jahren gemeinsam mit Marie begonnen hatten, an der kunsthistorischen Fakultät der Sorbonne zu promovieren, waren längst fertig geworden. Sie hatten ihre Arbeiten abgegeben, verteidigt und sich überall auf der Welt um die raren Jobs beworben, die Kunsthistorikern offenstanden. Einer nach dem anderen war verschwunden. Nur Marie hing noch immer hier im Quartier Latin fest, weil sie es einfach nicht schaffte, ihre Arbeit über Monet fertig zu schreiben. Ihre Betreuerin hatte sie wohlweislich seit Monaten nicht aufgesucht, doch spätestens im September würde sie Chloé Flamant bei dem Vortrag gegenübertreten müssen.

Ihren Freund Antoine wiederum hatte Marie Hals über Kopf verlassen, nachdem sie ihn eines Abends mit einer Assistentin von der Uni erwischt hatte, die ihm inzwischen, wie man hörte, sogar nach New York gefolgt war. Seitdem war Ludwig Kirchner das einzige männliche Wesen, mit dem Marie eine innige Beziehung führte. Aber immerhin war er schön flauschig und wusste, wann er die Klappe halten musste.

Sie nippte noch einmal am Kaffee, der mittlerweile fast kalt war, und verzog das Gesicht. Sie brauchte das Koffein zum Überleben, aber sie hätte den bitteren Espresso gern durch etwas Milch gemildert. Das nächste Mal würde sie eine Noisette bestellen.

Schnell biss sie in eines der süßen Macarons und spürte, wie die knusprige Kruste zerbrach und zwischen ihren Zähnen knirschte. Der Zucker und das nussige Aroma schienen von der Zunge direkt in ihr Gehirn zu fließen, und nachdem sie noch zwei weitere Stückchen verschlungen hatte, fühlte Marie sich wieder ausreichend gewappnet, um einen erneuten Blick in die Datei zu werfen.

Sie holte tief Luft und wollte gerade loslegen, als Fabien aus dem Café trat. Er strich sich das hellbraune Haar aus der Stirn und hob die Hand.

«Salut, Marie», rief er ihr zu, während er ein Körbchen mit knusprigen Croissants an ihr vorbeitrug. Der buttrige Duft zog hinter ihm her. Zwischen den eng beieinanderstehenden Tischchen wäre er beinahe mit Lola zusammengestoßen, die gerade mit einem vollen Tablett zurück ins Café wollte. Beide lachten, und Fabien sah sich verstohlen um und gab seiner Freundin einen schnellen Kuss. Mit rosigen Wangen eilte Lola weiter, zwinkerte Marie zu und verschwand durch die Tür, über der das neue Schild hing: Café Lola.

Unverschämt, dachte Marie wieder still bei sich, musste aber lächeln. Diesen beiden gönnte sie ihr Glück von Herzen.

Als Fabien wieder vorbeihastete, rief sie ihm hinterher: «Bringst du mir auch ein Croissant, bitte? Und ein Schälchen von deiner berühmten Erdbeerkonfitüre?»

Er kam zu ihr. «Gern», sagte er und stellte kurz sein Tablett auf ihrem Tisch ab.

«Viel los heute, was?», fragte sie.

Er lachte sein sympathisches Lachen.

«Wie immer», sagte er. «Zum Glück! Aber gerade könnte ich etwas mehr Zeit gebrauchen.» Er nickte in Richtung Café. «Lola und ich haben alle Hände voll zu tun mit den Vorbereitungen für das Ereignis des Sommers.»

«Aaah», sagte Marie, «die Hochzeitsfeier.»

Fabien schmunzelte. «Du kommst doch?»

«Natürlich», sagte sie, obwohl sich ihr beim Gedanken an roséfarbenen Zuckerguss, Treueschwüre und verliebte Menschen etwas im Magen umdrehte. «Um nichts in der Welt verpasse ich Lilianes und Nadims großen Tag.»

Er nickte und wollte schon weiter, da zog er erstaunt die Augenbrauen hoch. «Aber sag mal, ist heute nicht Mittwoch?»

«Ja, wieso?», fragte Marie.

«Musst du nicht mittwochs im Museum arbeiten?», fragte Fabien erstaunt.

Marie starrte ihn an. Dann schlug sie sich mit der Hand auf den Mund und sprang so schnell auf, dass sie ihren Stuhl umstieß. Mit einem Knall fiel er aufs Pflaster, und ringsum verstummten wie auf Kommando alle Gespräche. Selbst die Vögel schienen einen Moment ihre Schnäbel zu halten, ehe sie ringsum weiterzwitscherten.

«Merde!», flüsterte Marie, die spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht schoss, während Fabien den Stuhl seelenruhig wieder aufstellte. «Meine Führung bei den Seerosen! Ich muss sofort in die Orangerie.» Panisch kramte sie in ihrer Jeanstasche nach Geld.

«Lass gut sein», sagte Fabien halb lachend, halb kopfschüttelnd und knuffte sie freundlich gegen die Schulter. «Hau lieber sofort ab.»

Marie nickte dankbar, knallte ihr MacBook zu und ließ es in ihre blaue Tasche gleiten. Dann rannte sie zu ihrem fliederfarbenen Fahrrad, das sie direkt unter einem Schild abgestellt hatte, auf dem ein durchgestrichenes Fahrrad in einem roten Kreis abgebildet war. Die Place de la Contrescarpe und die Marktstraße Rue Mouffetard waren in den letzten Jahren ein echter Touristenmagnet geworden, und die Stadtverwaltung hatte entschieden, dass hier kein Platz mehr für Räder und Roller war. Doch für solche Details hatte Marie gerade kein Auge. Ihr Fahrrad gehörte zu ihr wie Ludwig Kirchner, wie süßes Gebäck und ihre selbstverordnete Einsamkeit nach dem Desaster mit Antoine.

Schlingernd fädelte sie sich in den Pariser Verkehr ein, trat ordentlich in die Pedale und versuchte, das Hupkonzert zu überhören. Sie musste über die Seine in den nördlichen Teil der Stadt, wo eine Schulklasse darauf wartete, dass Marie ihr alle Geheimnisse von Monets Nymphéas nahebrachte. Führungen im Museum zu geben, war ihr Brotjob. Denn wenn man nach dem Masterabschluss noch mehr als fünf Jahre damit verbrachte, seine Dissertation nicht zu schreiben, hatten selbst die liebevollsten Eltern irgendwann genug und drehten den Geldhahn zu. In Maries Fall war dieser Geldhahn allerdings nie aufgedreht worden. Ihre Eltern stammten aus einfachen Verhältnissen, lebten in einer Kleinstadt im Norden Frankreichs und hatten nie ganz verstanden, was ihre Tochter da eigentlich trieb und warum sie nicht endlich einen ordentlichen Beruf lernte.

«Bilder von Blumen?», hatte ihre Mutter einmal verständnislos gefragt und durch das schmutzige Fenster ihrer Wohnung in den kleinen struppigen Garten gezeigt. «Blumen haben wir doch auch hier.» Dann hatte sie mit den für sie typischen müden Bewegungen einen Brief mit einer noch nicht bezahlten Stromrechnung darin aufgerissen, und das Gespräch war beendet gewesen.

Von irgendetwas musste Marie also leben. Eins der begehrten Doktoratsstipendien bekamen nur die Besten, zu denen Marie leider nicht zählte. Sie gehörte eher zu den Bedürftigsten, doch für diese waren nur wenige Förderprogramme vorgesehen, und sie hatte auch nie ganz verstanden, wie man an so etwas überhaupt herankam. Die Kunst war eben brotlos, und die Luft um sie herum war dünn geworden.

Aber immerhin war jetzt Sommer, dachte sie, während sie sich durch den immer dichteren Verkehr in Richtung der Brücke Pont Neuf strampelte. Die Mittagssonne lag gleißend auf dem Wasser. Weiße Bateaux Mouches mit orangefarbener Bestuhlung zogen über den Fluss, an Bord unzählige winkende und unentwegt fotografierende Menschen, die über der Reling hingen. An den Brüstungen der alten Brücke küssten sich verliebte Paare und hantierten mit Selfiesticks, dahinter erhob sich majestätisch und elegant Notre-Dame.

Wenn schon unglücklich, herzgebrochen und arm, fand Marie, dann wenigstens im Sommer in Paris.

2

Etwas außer Atem erreichte Marie die Place de la Concorde. Sie sprang mitten in der Fahrt ab und wich gerade noch einem Touristenbus mit offenem Verdeck aus, der sie um Haaresbreite verfehlte und leicht schlingernd weiterfuhr. Sie fluchte stumm und schob ihr Fahrrad das letzte Stück des Weges entlang der niemals endenden Baustellen und durch das Tor in die Tuileriengärten.

Da sie keinen Parkwächter in der Nähe entdecken konnte, stellte sie sich mit einem Fuß auf die Pedale und rollte im Stehen ein paar Meter über den breiten Kiesweg. Vor ihr erhob sich L’O, die lang gestreckte Orangerie mit ihren hohen Fenstern, die das ganze Gebäude beherrschten. Das Museum lag leicht erhöht am Rand des Parks, die hellen Steinfassaden schimmerten hinter den Blättern der mächtigen Platanen. Zur Zeit von Napoleon III. hatte man in dem Gebäude kälteempfindliche Südpflanzen wie Zitronenbäume und Orchideen gezogen. Heute beherrschten die Panorama-Bilder Monets die beiden ovalen Innenräume im Erdgeschoss.

Marie schleppte ihr Rad die Treppen hoch, parkte es verbotenerweise am Seiteneingang, schloss es an und blickte sich um. Wie immer flanierten viele Paris-Besucher durch den ehemaligen Schlosspark, der sich schier endlos an den Ufern der Seine entlangzog. Das Museum bildete den Abschluss, und von der sich anschließenden Place de la Concorde klang wie immer ohne Pause das vertraute Konzert aus Autohupen und dem Jaulen und Knattern der Scooter herüber. Zur Zeit der Französischen Revolution hatte dort die Guillotine gestanden. Auf der anderen Seite des Parks, als Pendant zur Orangerie, lag die Galerie Jeu de Paume, die vor allem Fotografie und Videoinstallationen beherbergte. Beide Gebäude waren durch das achteckige Bassin in der Mitte des Hauptwegs voneinander getrennt, um dessen steinernen Rand herum unzählige Passanten in Liegestühlen saßen. Einige hielten die Füße ins kühlende Nass, andere beugten sich mit ihren Kindern hinüber und ließen Schiffchen darauf schwimmen. Ein glacier verkaufte an seinem Kiosk Eiscreme zu horrenden Preisen an die Touristen, und Marie hatte auf einmal auch Sehnsucht nach einer Portion Caramel au beurre salé.

Doch sie hatte einen Job zu erledigen.

Seufzend betrat Marie die Orangerie durch die Personaltür und zeigte dem Portier ihren Mitarbeiterausweis. Die langen Schlangen der Wartenden ließ sie draußen in der Sonne zwischen den Absperrbändern zurück. Sie eilte durch einen Gang und eine Seitentür und stand kurz darauf im hellen Foyer mit der gläsernen Decke. Vor dem Eingang zu den Seerosen wimmelte es vor Besuchern, die ihre Taschen durchleuchten ließen, damit sie in die unterirdische Sammlung oder in den Museumsshop hinabsteigen konnten. Manche suchten nach ihren Tickets oder warteten auf ihre Begleitung.

Ein Blick auf ihre Armbanduhr sagte Marie, dass sie noch ganze drei Minuten hatte, ehe sie die angekündigte Schulklasse in Empfang nehmen musste.

Im Eingangsbereich stand heute Corinne, die dienstälteste Museumswärterin, und bewachte die Tür zu den Seerosen. Wie immer in beigefarbener Bluse und Krawatte, dunkler Jacke sowie mit dem Museumsausweis am Band um den Hals. Als sie Marie sah, nickte Corinne ihr leicht überheblich zu, als wolle sie sagen: Keine Sorge, die Sphinx hält die Stellung. Bei jeder Bewegung tanzten ihre wirren silberfarbenen Locken.

Marie lächelte ihr zu und beeilte sich, an den Wartenden vorbei zur Toilette zu kommen. Von der schnellen Fahrt durch die halbe Stadt fühlte sie sich erhitzt, sie wollte sich frisch machen und etwas trinken. Sie stieß die Tür auf, lief durch den dunklen, betonierten Raum zum Waschbecken und hielt den Mund unter den kalten Wasserstrahl. Weil sie dabei zu hastig war, spritzte das Wasser in einer Fontäne über ihr Gesicht, lief ihr den Hals herab, tropfte über ihre Brust und durchnässte in Sekundenschnelle die Jeans an den Oberschenkeln.

«Putain!», fluchte sie und wischte an ihrer Hose herum. Sie nahm ihre Brille ab und versuchte, die Tropfen darauf abzuschütteln. Ihrem schwarzen Top sah man die Nässe nicht an, aber das helle Jeansblau ihrer Hose hatte sich dunkel verfärbt. Verzweifelt trat sie an einen dieser tosenden elektrischen Handtrockner, die sie mit ihren klaffenden Mäulern höhnisch auszulachen schienen.

In zwei Minuten begann ihre Führung mit fünfundzwanzig Schülern aus Aachen!

Panisch wischte Marie weiter mit bloßen Händen an ihrer Hose herum, erwog sogar kurz, sie auszuziehen und den Handtrockner den Rest erledigen zu lassen. Doch dann entschied sie, dass es noch schlimmer wäre, dabei von hereinkommenden Besucherinnen erwischt zu werden. Also schlich sie sich, nass, wie sie war, wieder hoch ins Erdgeschoss und versuchte, so unauffällig und würdevoll wie möglich durch das Foyer auf die Gruppe zuzuschreiten, die inzwischen auf sie wartete. Was leider, wie sie sofort merkte, misslang.

Corinne betrachtete sie mit hochgezogenen Augenbrauen von ihrem Posten aus und schüttelte ratlos die schimmernde Lockenfrisur. Weitere Augenpaare richteten sich auf Marie, und sie vermied es, den Museumsbesuchern ins Gesicht zu sehen. Sie wollte auch gar nicht wissen, was für Mienen die jungen Deutschen angesichts ihrer derangierten Fremdenführerin machen würden.

«Bonjour», sagte sie, als sie ihre Gruppe erreicht hatte, und hörte, wie kläglich ihre belegte Stimme klang.

Sie räusperte sich.

«Mein Name ist Marie Michel», fuhr sie fort und suchte nach einer erwachsenen Person inmitten der vielen jungen Gesichter. «Ich bin Ihre Guide du musée für heute.» Man hatte um eine französische Führung gebeten, da die Klasse angeblich Französisch sprach. Weil Marie aber aus Erfahrung wusste, dass Schüler aus Deutschland in der Regel trotzdem wenig verstanden, sobald sie auf eine Muttersprachlerin trafen, bemühte sie sich um eine langsame, deutliche Aussprache.

Endlich erkannte sie die Lehrerin. Sie trug ein Leinenkleid, das an den Hüften stark zerknittert war, und eine bunte Holzperlenkette um den Hals.

Marie atmete tief durch und bemühte sich, ihre Schüchternheit in den Griff zu bekommen, die sie immer bei neuen Gruppen überfiel. Also eigentlich jeden Tag in der Orangerie.

«Haben Sie die Führung gebucht?», fragte sie.

Die Frau schüttelte unsicher den Kopf und schien etwas nervös, weshalb sie Marie sofort sympathisch war. «Ich warte noch auf … ma collègue», sagte sie in gebrochenem Französisch. «Elle est … noch nicht da.»

«Ah, oui», sagte Marie, «wir haben aber leider nur eine halbe Stunde bei den Seerosen, dann kommen schon andere Gruppen und wir müssen weiter ins Untergeschoss.» Sie überlegte. «Ich schlage vor, wir gehen schon einmal hinein, und ich fange an. Ihre Kollegin kann ja nachkommen. Ich sage der Dame an der Tür Bescheid, dass sie sie hinterherschickt, d’accord?»

Die Lehrerin nickte und folgte Marie zusammen mit den Teenagern. Einige kicherten unterdrückt.

Bestimmt amüsierten sie sich über ihre durchnässte Hose, dachte Marie. Sie hielt den Kopf bemüht hoch und kämpfte wieder gegen das Rotwerden an. Fremdenführerin in Paris zu sein und gleichzeitig so schüchtern wie sie, war immer wieder eine Herausforderung, doch Marie wollte nicht aufgeben – sie brauchte das Geld, und sie liebte diesen Ort wie niemand sonst.

Corinne hatte den Wortwechsel zwischen ihr und der deutschen Lehrerin verfolgt und signalisierte Marie, dass sie verstanden hatte – sie würde die Kollegin später nachschicken.

Sobald sie den ersten ovalen Raum betraten, ebbte das Stimmengewirr aus dem Foyer ab, und es wurde ruhiger. Und wie immer, wenn Marie die Nymphéas sah, spürte sie, wie der Stress kurz von ihr abfiel und sie stattdessen eine große Ehrfurcht ergriff. Schon allein für diesen Anblick lohnte sich alles – sie war sofort gefangen von den wunderschönen tiefblauen Farben der vier großflächigen Gemälde, die rundum in den Wölbungen hingen. Marie war, als tauchte sie in Monets Garten ein, als stünde sie wirklich am See und blickte in das tiefe Wasser mit den verwunschenen, hängenden Weidenzweigen, die ins Blaugrün hinein ragten, und den blühenden Seerosen. Jedes Mal versank sie in den Farben, im lichten Violett, dem Grünblau des Sees, und meinte beinahe, den Duft der Wasserpflanzen zu riechen, deren Blüten den Raum durchflochten.

Die Schülergruppe schien Maries Begeisterung nicht einhellig zu teilen. Die meisten Jugendlichen tuschelten und lachten, kauten Kaugummi und flüsterten sich auf Deutsch Bemerkungen zu, ohne sich besonders beeindruckt von den Kunstwerken zu zeigen. Doch einige schien der Zauber des Raums ebenfalls ergriffen zu haben, sah Marie. Andächtig standen sie vor der überwältigenden Farbenpracht, ließen ihre Augen langsam von Bild zu Bild wandern. Ein Mädchen betrachtete mit hingerissenem Ausdruck eines der Gemälde und kaute auf den Haarspitzen ihres Pferdeschwanzes, als habe es sich und die Welt vollkommen vergessen. Die junge Frau trug eine Brille wie Marie, und obwohl ihr Haar in vielen Schattierungen von Pink leuchtete und nicht so hell war wie das von Marie, fühlte sie sich der Fremden plötzlich verbunden. Sie sah sich selbst, wie sie, noch ein pummeliger Teenager aus der Kleinstadt und mit Zahnspange, zum ersten Mal hier gewesen war. Das lag vielleicht fünfzehn Jahre zurück, damals war sie ebenfalls im Rahmen einer der seltenen Klassenreisen in die große, ferne Stadt Paris gefahren. Sie hatte sich auf die ovale Bank in der Mitte des Raums sinken lassen und durch ihre dicken Brillengläser ungläubig die Schönheit um sich herum betrachtet. Die Hänseleien der anderen hatte sie ausgeblendet, darin war sie bereits seit ihrer Kindheit Profi. Und sie hatte in diesem Moment beschlossen, dass sie nach dem Bac wiederkommen würde. Ohne ihre dämlichen Schulkameraden diesmal, und dann für immer. Und obwohl es nicht gerade Maries Spezialität war, sich ihre Träume zu erfüllen, hatte sie in diesem einen Punkt recht behalten. Die Bilder der Impressionisten waren ihr Lebensmittelpunkt geworden, im Studium und in der Promotion. Zwar quälte sie sich derzeit schrecklich mit dem Verfassen ihrer Thèse, aber niemals mit den Bildern selbst, aus denen sie durstig trank und von denen sie doch nie genug bekam.

«Mademoiselle?», fragte eine Stimme mit schwerem deutschem Akzent.

Marie fuhr zusammen. Sie hatte kurz vergessen, weshalb sie hier war. Die Lehrerin mit der Holzperlenkette stand wieder vor ihr.

«Wollen Sie nicht anfangen?», fragte sie.

«Natürlich!» Marie nickte hastig und rief die Schüler zusammen, die widerstrebend näher kamen. Nur das Mädchen mit den pinkfarbenen Haaren rührte sich nicht, sie stand weiterhin stocksteif vor einem der Bilder, als hätte sich ihr Blick an den hellrosa Blütenblättern einer halb geöffneten Nymphéa festgesaugt. Das sanfte Oberlicht beschien ihre Frisur und ließ die Farben darin aufleuchten, ein tiefes Pink vor dem Blau und Grün der Leinwand.

«Écoutez, s’il vous plaît», sagte Marie und räusperte sich. «Sie befinden sich hier in der Orangerie im Jardin des Tuileries, die insgesamt acht großflächige Seerosen-Bilder des Malers Claude Monet beherbergt.» Sie stockte kurz, als einer der Jungen eine Kaugummiblase lautstark platzen ließ, fing sich aber wieder. «Jedes der Gemälde ist einzigartig, Monet hat sie um die Jahrhundertwende in seinem Garten in Giverny gemalt. Er spielt darin mit Farben, Formen und dem Licht, was den Gemälden eine mystische Lebendigkeit und Mehrdimensionalität verleiht – wir sehen darin auch die Spiegelungen von Dingen, die nicht im See sind.»

Maries Jeans klebte noch immer an ihren Oberschenkeln, sie wischte wieder unauffällig darüber und sah sich unsicher um. Viele ihrer jungen Zuhörer gähnten oder plauderten mit dem Nachbarn, ein paar hatten sogar Kopfhörer eingeschmuggelt und hörten während des Vortrags heimlich Musik. Zwei Mädchen posierten mit ihren Handys vor den Bildern und machten Selfies. Doch in der ersten Reihe, dicht bei Marie, standen auch ein paar von den Fleißigen, Wissbegierigen, die es in jeder Schülergruppe gab. Marie versuchte, sich auf sie zu konzentrieren und die anderen nicht zu beachten.

«Es war das Ziel der Impressionisten», fuhr sie fort, «den flüchtigen Augenblick einzufangen. Deshalb hat jemand einmal diesen Raum hier die Sixtinische Kapelle des Impressionismus genannt.»

Marie sah in verständnislose Gesichter. Natürlich, dachte sie, die jungen Leute wussten nicht, was und wo die Sixtinische Kapelle war. Sie selbst hatte es in ihrem Alter auch nicht gewusst. Nein, Maries Welt war die triste Kleinstadt mit einer der höchsten Arbeitslosenzahlen Frankreichs gewesen, und Urlaub im Ausland hatten ihre Eltern auch nie mit ihr gemacht. Kunst war etwas Fernes, Unwirkliches und irgendwie Anstößiges gewesen, Zeitverschwendung für Menschen wie Marie und ihre Familie.

Ihr wurde heiß, weil sie spürte, wie ihr die Führung entglitt. Um die Schulklasse herum tummelten sich jetzt weitere Besucher der Orangerie, die sich unterhielten, umherschlenderten, staunten und mit ihren Smartphones fotografierten. Es wurde immer voller. Wieder kam jemand durch das Halbrund des Eingangs. Ein Mann mit blondem, kurz geschnittenem Haar, in Jeans und blauem Polohemd. Über der Schulter trug er eine altmodische abgewetzte Ledertasche mit einem Riemen. Er sah sich suchend um, entdeckte dann die Teenagergruppe und steuerte direkt auf Marie zu.

«Entschuldigen Sie die Verspätung», sagte er leicht außer Atem, aber in mühelosem Französisch mit kaum wahrnehmbarem Akzent. «Ich musste noch ein Problem im Hostel klären.»

Marie sah ihn verständnislos an. Ihr fielen seine Augen auf. Tiefblau waren die, beinahe unnatürlich blau. Oder waren es die Seerosenfarben ringsum, die den Effekt verstärkten?

«Verstehen Sie mich?», fragte der Mann, als Marie nicht antwortete. Sein Blick wanderte an ihr herunter und blieb an ihrer noch immer feuchten Jeans hängen.

Etwas funkelte in seinen Augen, schien es Marie. Sie spürte, wie sie wieder rot anlief.

«Ah, Jan!» Die Lehrerin stellte sich zu ihnen und begann auf Deutsch auf den Mann einzureden.

Marie verstand nichts mehr. Nur, dass die angeblich weibliche collègue, auf die sie geglaubt hatte zu warten, offenbar ein Sprechfehler war, denn diese Person war absolut männlich.

«Soll ich weitermachen?», fragte sie die beiden irgendwann auf Französisch.

«Bitte», sagte der Mann, und auf seinem Gesicht erschien ein Lächeln. «Oder nein, einen Moment noch.» Beiläufig klopfte er zwei seiner Schützlinge auf die Kopfhörer. Einem Dritten bedeutete er, den Kaugummi loszuwerden, was dieser mit Augenrollen tat, er wickelte es in ein Stück Papier.

Marie hoffte inständig, dass sie es später nicht auf einem Seerosenblatt finden würde.

«Jetzt», sagte der Lehrer und sah sie mit seinen blauen Augen aufmunternd an. «Wir sind bereit.»

Verlegen strich sie sich eine Haarsträhne hinters Ohr. Dann fuhr sie fort, über den Impressionismus und Monets Farben zu sprechen, die Jugendlichen schienen nun etwas aufmerksamer zuzuhören. Ihr Vortrag wurde flüssiger. Dennoch ertappte sie sich immer wieder dabei, dass sie den jungen Lehrer ansah und nachforschte, ob er ihren Worten folgte. Und jedes Mal wirkte es so, als ob er ihrem Vortrag tatsächlich interessiert lauschte. Hier und da nickte er sogar, wenn er etwas interessant fand. Manchmal runzelte er aber auch die Stirn, als sei er mit etwas nicht ganz einverstanden, doch dann schob Marie es darauf, dass er einen französischen Ausdruck nicht verstanden hatte. Als sie am Ende angekommen war, wurde ihr bewusst, dass sie die Führung fast ausschließlich für ihn gehalten hatte.

«Wir beenden den Aufenthalt hier oben», schloss sie, «ich werde Sie jetzt hinunter in die Sammlung führen und dort weitermachen.»

Sie schickte sich an, der Gruppe vorauszugehen, doch der Lehrer, den seine Kollegin vorhin Jan genannt hatte, trat zu ihr, und Marie blieb stehen. Während die ältere Lehrerin und die Schüler in Richtung Foyer gingen, verließen Marie und er als Letzte den Seerosen-Raum.

«Haben Sie noch eine Frage, Monsieur?», fragte sie ihn höflich. Er hatte wirklich einen intensiven Blick, dem man sich schwer entziehen konnte. Doch wie schon zuvor während Maries Ausführungen waren seine Brauen jetzt nachdenklich zusammengezogen.

«Um ehrlich zu sein, ja», sagte er. «Sie behaupteten, Camille Doncieux und Monet hätten in Giverny, wo die Seerosen entstanden, eine schwierige Beziehung geführt. Das verstehe ich nicht – sie waren doch verheiratet. Also, sie war jahrelang an seiner Seite, er sorgte für sie und –»

«Das heißt doch nichts!», unterbrach ihn Marie und wunderte sich im selben Moment darüber, wie scharf ihr Ton war. Etwas leiser fuhr sie fort: «Sie musste jahrelang darauf warten, dass er sie heiratete, seine Familie machte ihr das Leben zur Hölle. Camille Doncieux lebte voller Entbehrungen an Monets Seite. Und dann, als sie schon im Sterben lag, saß Alice Hoschedé an ihrem Bett, mit der Monet vermutlich längst eine Affäre hatte.»

«Soweit ich weiß, ist das nicht korrekt», sagte der junge Lehrer, und etwas an seinem Gesichtsausdruck störte Marie.

Typisch Lehrer!, ging es ihr durch den Kopf, diese Leute meinen immer, alles besser zu wissen. Es war Marie in ihrem Leben schon öfter passiert, dass ihr mit Geringschätzung begegnet wurde, man spürte wohl ihre Herkunft, und Lehrer hatten in dieser Sache die Nase weit vorn gehabt. Das wusste sie aus ihrer Schulzeit und erst recht, seitdem sie regelmäßig für Schulklassen Führungen anbot.

Dieser Jan musterte sie mit halb zusammengekniffenen Augen, er wirkte nachdenklich. «Alice Hoschedé und Monet heirateten doch erst lange nach Camilles Tod, oder etwa nicht?»

«Das ist richtig», sagte Marie, «aber …»

Er unterbrach sie. «Also stimmt meine Theorie, nicht Ihre», sagte er. «Monet hat sich nichts zuschulden kommen lassen.» Er wirkte selbstzufrieden. Marie hingegen wurde immer ungeduldiger. Es konnte doch nicht sein, dass dieser Typ ihr einfach so ihr Wissen absprach?

«Aber was bedeutet das schon?», fragte sie schroff. «Ich bin sicher, dass zwischen ihm und Alice schon lange etwas lief. Ich meine, der spätere Verlauf der Geschichte macht das doch nicht ungeschehen. Oder glauben Sie, Betrug verjährt einfach so?»

Wieder war ihr Ton unerwartet scharf. Marie hörte es selbst, konnte es aber nicht ändern. Sie standen im Foyer und starrten sich an.

Jan hatte erstaunt die Augenbrauen hochgezogen.

«Pardon, Mademoiselle», sagte er übertrieben höflich und lachte unsicher, «ich wusste ja nicht, dass Sie die Frage derart persönlich nehmen würden. Nichts für ungut.»

Ohne eine Entgegnung abzuwarten, folgte er seiner Klasse und der Kollegin.

Marie sah ihm mit offenem Mund nach. Persönlich? Sie seufzte. Ja, vermutlich hatte er recht, seine Kritik war ihr tatsächlich nahegegangen. Eine Erinnerung durchzuckte sie. Antoine, der mit Unschuldsgesicht in seiner Wohnung vor ihr stand, ein Handtuch notdürftig um die Hüften geschlungen, im Bett hinter ihm die Assistentin in den zerwühlten Laken …

Marie schloss fest die Augen und öffnete sie wieder. Genervt sah sie dem deutschen Lehrer nach. Hatte sie zu heftig reagiert? Nun hielt er sie wahrscheinlich für eine völlig überdrehte Kunsttante. Was sie, bei Lichte betrachtet, ja auch war.

Hilflos blickte sie zu Corinne, die neben dem Eingang stand, und grinste.

«Oh, là, là, ma fille», murmelte sie und schnalzte vielsagend. Es war auch keine weitere Bemerkung nötig, Marie wusste genau, was Corinne dachte.

Sie hob den Kopf und eilte hinter ihren Schäfchen her, um die deutschen Schüler und ihren besserwisserischen Lehrer aufs Neue zu erhellen.

3

Erschöpft rührte Jan seinen Kaffee im Plastikbecher um, den er sich an der Maschine im Speisesaal des Hostels gezapft hatte. Die nachgemachten Thonetstühle waren unbequem, und in der Luft hing der Dunst von zu lange getragenen Turnschuhen und Deo-Zerstäubern. Doch es war nett, dachte Jan, zu wissen, dass der Himmel, den er über sich durch das große Glasdach sah, der Himmel von Paris war. Dafür nahm er die Gesellschaft seiner fünfundzwanzig Schülerinnen und Schüler gern in Kauf. Zumal sie endlich abgezogen waren, mit etwas Taschengeld und guten Ermahnungen im Gepäck, um sich in die abendlichen Straßen der großen Stadt zu stürzen. Alle wollten unbedingt auf die Champs-Élysées oder ins Moulin Rouge, und Jan hoffte, dass seine Schützlinge die nachdrückliche Ansage, spätestens um zehn wieder im Hostel zu sein, trotz ihres Erlebnishungers ernst nehmen würden.

Er streckte die langen Beine aus und schlürfte seinen Kaffee. Was würde er nun mit dem Rest des Abends anfangen? Er war frei – seine Kollegin Karen hatte sich mit einem Buch in ihr Zimmer zurückgezogen und wollte früh schlafen gehen, und Jan hatte den Abenddienst mit eingeschaltetem Telefon übernommen. Karen und er waren ein gutes Reiseteam. Schon zum zweiten Mal unternahmen sie eine Schülerfahrt nach Paris zusammen. Das Gymnasium in Aachen, an dem sie arbeiteten, hatte einen französischen Schwerpunkt und bot seit Langem Paris-Fahrten an. Jan wiederum kannte die Metropole von früher, weil er hier ein paar Semester studiert und seinen Master gemacht hatte, ehe er fürs Referendariat wieder zurück nach Deutschland gegangen war. Karen, die die Fächer Biologie und Chemie unterrichtete, sprach kaum Französisch, war aber als Begleitperson verlässlich und unkompliziert.

Die Sache hatte nur einen Haken. Paris löste eine Reihe widerstreitender Gefühle in ihm aus. Solange ihn die Routine in Aachen gefangen hielt, dachte er nicht viel darüber nach, ob er zufrieden mit seinem Leben war. Aber nun, da er im August, kurz nach Ende der deutschen Sommerferien, mit einer neuen Schülergruppe nach Paris gekommen war, spürte er plötzlich wieder diese Rastlosigkeit und ein unvermitteltes Fernweh. Wenn er durch die sonnengewärmten Boulevards lief, entlang der blühenden Parks mit den Wasserspielen der vielen Springbrunnen, wenn alle um ihn herum Französisch sprachen und er das quirlige Treiben dieser bunten Metropole wieder deutlich spürte, dann zerrte ein Stimmchen an ihm. Warum bist du damals nicht geblieben?, fragte es säuerlich. Wieso kannst du nicht hier leben, an diesem aufregenden, wunderbaren Ort, der dich nie loslässt?