Sommertage im Quartier Latin - Lily Martin - E-Book
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Sommertage im Quartier Latin E-Book

Lily Martin

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Beschreibung

Paris im Sommer: Croissants zum Frühstück, Liebe zum Dessert. Für Liebhaber:innen von «Emily in Paris». Lola Mercier ist lange rastlos in der Welt herumgereist. Als ihre Großmutter Rose jedoch überraschend verschwindet, kehrt sie zurück in ihre Heimatstadt Paris. Mit gemischten Gefühlen begibt sie sich auf Spurensuche im Quartier Latin, dem Viertel ihrer Kindheit und Jugend. Hier begegnet sie alten Bekannten wieder – wie der betagten Opernsängerin Jacobine oder dem Verkäufer Pierre, der seine Lebkuchenherzen mit klugen Sprüchen verziert. Vor allem aber verbringt Lola viel Zeit im Café des Artisans. Es ist das Herz des Viertels, hier gibt es die besten Croissants und den leckersten Café au Lait. Mit dem Besitzer Fabien verbindet Lola eine kleine romantische Erinnerung. Aber das ist lange her, und Lola will eigentlich bald weiterziehen. Doch sie ahnt nicht, wie sehr dieser Sommer in Paris ihr Leben verändern wird … Hier schreibt Bestsellerautorin Anne Stern unter dem Namen Lily Martin: Jeder Sommer erzählt eine neue Geschichte. Jede Geschichte ein neues Glück.

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Seitenzahl: 380

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Lily Martin

Sommertage im Quartier Latin

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Paris im Sommer: Croissants zum Frühstück, Liebe zum Dessert

 

Lola Mercier ist lange rastlos in der Welt herumgereist. Als ihre Großmutter Rose jedoch überraschend verschwindet, kehrt sie zurück in ihre Heimatstadt Paris. Mit gemischten Gefühlen begibt sie sich auf Spurensuche im Quartier Latin, dem Viertel ihrer Kindheit und Jugend. Hier begegnet sie alten Bekannten wieder – wie der betagten Opernsängerin Jacobine oder dem Verkäufer Pierre, der seine Lebkuchenherzen mit klugen Sprüchen verziert. Vor allem aber verbringt Lola viel Zeit im Café des Artisans. Es ist das Herz des Viertels, hier gibt es die besten Croissants und den leckersten Café au Lait. Mit dem Besitzer Fabien verbindet Lola eine kleine romantische Erinnerung. Aber das ist lange her, und Lola will eigentlich bald weiterziehen. Doch sie ahnt nicht, wie sehr dieser Sommer in Paris ihr Leben verändern wird …

Vita

Lily Martin ist das Pseudonym der erfolgreichen Schriftstellerin Anne Stern. Während eines Auslandsstudiums in Paris verliebte sie sich in die Stadt und ihre Menschen. Noch heute träumt sie von den warmen Sommerabenden auf den Brücken des Quartier Latin mit Blick über die Seine. Mit diesem Roman entführt sie uns das erste Mal in die Stadt der Liebe. Geplant sind weitere Bände – im nächsten August in einem anderen aufregenden Pariser Stadtviertel.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, August 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Karte © Imke Trostbach

Covergestaltung FAVORITBUERO, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-01589-0

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

«Paris geht niemals zu Ende (…).

Wir sind immer dorthin zurückgekehrt, egal, wer wir waren oder wie es sich verändert hatte oder unter welchen Schwierigkeiten oder mit welcher Bequemlichkeit es zu erreichen war. Es hat sich immer gelohnt, und wir bekamen immer etwas zurück für das, was wir mitgebracht hatten.»

 

Ernest Hemingway, Paris. Ein Fest fürs Leben (1964)

Prolog

In Paris, sagt man, ist alles möglich.

Stets finden wir uns dort wieder – in Wirklichkeit oder in unseren Träumen –, auch wenn wir längst andere geworden sind. Wenn wir ganz und gar nicht mehr die sind, die wir einmal waren oder zu sein glaubten.

Paris aber bleibt doch dieselbe.

Wenn ihr mich fragt, so glaube ich, alles kann hier in der Stadt der wahren Wunder geschehen, vor allem, wenn man nicht damit rechnet. Hier erlebt man so unglaublich magische Momente wie diese seltenen Sternschnuppennächte, wenn in einer Minute Hunderte Meteoriten der Perseiden in Schwärmen hinabstürzen und hastig in der Nacht verglühen.

Aber beginnen wir am Anfang.

Es geht ja in dieser Geschichte gar nicht um mich – auch wenn ich weiß, dass die Leute behaupten, ich würde mich immer nur um mich selbst drehen. Aber das stimmt nicht! Dies hier ist nicht meine Geschichte, sondern die von Lola, Lola Mercier. Nicht nur ihre Geschichte allerdings, nein, sie gehört auch Émile, dem schüchternen Portier des Hôtel Étoile in der Rue Rollin. Und es ist die von Rose, die hoch über den Dächern der Rue Mouffetard in einer Chambre de bonne lebt wie eine Einsiedlerin, bis … ja, bis diese Geschichte beginnt. Es ist auch die von Benoît Leroux, an den die Briefe nie abgeschickt wurden, die für ihn bestimmt waren. Und die von Pierre Leco und seinen treffenden Zeilen aus bunter Zuckerschrift auf den Lebkuchenherzen, die er anbietet. Und natürlich die von Fabien Roudeaut und dem Café des Artisans. Es ist die Geschichte von Monsieur Slimani und seinem göttlichen Houmous coriandre in seinem Delikatessengeschäft Les Deux Paradis. Und die der jungen Marie Michel, die so vernarrt in die Kunst ist, dass sie alles andere darüber vergisst, sogar die wirkliche Welt …

Es ist die Geschichte von all den Menschen, die das Quartier Latin an der Place de la Contrescarpe bevölkern – ich bin eine von ihnen – und dort so tun, als sei die Zeit stehen geblieben. Die ihre Baguettes wie Kleinode herumtragen und stets, sobald sie die Boulangerie von Madame Labelle verlassen haben, die knusprige Spitze abbrechen und noch im Gehen verspeisen, weil sie am besten schmeckt. Und die beim Pastis im Bistro Chez Patrice alle durcheinanderreden und mit den Händen fuchteln, als spielten sie eine Rolle in einer Tragödie im Odéon gleich hier um die Ecke.

Es ist die Geschichte vom linken Seineufer in Paris, wo die Uhren noch anders gehen. Wo Platz ist für schrullige Gewohnheiten, gescheiterte Existenzen, für die ein oder andere Amour fou, von der sich die Beteiligten nur schwerlich wieder erholen. Es ist eine Geschichte voller quirliger Markttage in der Rue Mouffetard, voller blühender kleiner Gärten mit späten Rosen, zerlesenen Büchern, winzigen Cafés und – natürlich – voller Liebe. Die Liebe im August in Paris.

Voilà, geben Sie es zu – ist das nicht eine Geschichte, die wir alle gern hören?

1

Lola balancierte das Tablett voller klirrender leerer Gläser wie eine Zirkuskünstlerin durch die herumstehenden, wippenden und tanzenden Menschen in der Bar Rouge und blies sich, da sie keine Hand frei hatte, eine widerspenstige Haarsträhne aus dem erhitzten Gesicht.

«Mademoiselle!», hörte sie schon wieder einen Gast im Rücken nach ihr rufen, und als sie sich umdrehte, sah sie einen jungen Mann mit geröteten Wangen, der ihr mit einer Geste bedeutete, ihm noch ein Bier zu bringen. Sie nickte ihm zu, obwohl sie ihm gern gesagt hätte, dass sie hier in Bordeaux waren, verflixt noch mal, der Stadt zwischen dem Médoc und den Graves, zwei weltberühmten Weinanbaugebieten, in denen Biertrinken eigentlich eine verdammte Sünde war. Doch sie unterdrückte den Impuls und quetschte sich weiter zwischen den vielen Leuten hindurch in Richtung Bar, wo sie das Tablett abstellte und sich einen Moment aufatmend gegen die spiegelnde Oberfläche des langen Tresens lehnte.

Auch hier stand eine Traube von Gästen, und alle versuchten, die Aufmerksamkeit von Robert zu erhaschen, der hinter dem Tresen mit seiner berühmten eisigen Miene in aller Seelenruhe Drinks mixte. Als er Lola sah, zwinkerte er ihr heimlich zu und fuhr dann fort, den silbernen Shaker durch die Luft zu wirbeln. Das kleine Bärtchen an seinem Kinn hatte dieselbe dunkel glänzende Farbe wie das eng anliegende Shirt, das seine Muskeln gerade richtig betonte.

Lola lächelte. Ohne Robert würde sie es keine Sekunde in diesem Laden in Bordeaux aushalten, in dem sie nun schon seit fast drei Jahren arbeitete. Robert war ihr Mitbewohner, ihr bester Freund in der Stadt – ihr einziger, wenn sie ehrlich war. Mit Robert war alles leicht, er hatte immer Zeit für sie, solange er nicht arbeitete oder sich mit einem seiner wechselnden Lover traf. Nächtelang saßen sie nach der Arbeit auf dem winzigen Balkon seiner Wohnung, in der Lola ein Zimmer gemietet hatte, und tranken Cabernet-Sauvignon, den sie aus dem Rouge hatten mitgehen lassen. Sie tratschten mit Blick über die Garonne, den mondsichelförmigen Fluss, bis die Morgensonne die Nacht vertrieb und sie beide ins Bett schickte. Während die Stadt erwachte, schliefen sie ins Tageslicht hinein, bis weit in den Mittag. Ihre Zimmer lagen Wand an Wand, und erst wenn die Sonne schon tief im Süden stand, frühstückten sie gemeinsam in der winzigen Küche. Wortkarg und mit viel schwarzem Kaffee, den Robert in der zerkratzten Bialetti kochte und der so dickflüssig war wie Teer, während Sonnenstrahlen über ihre bloßen Füße wanderten.

Das Leben hier war nicht schlecht, fand Lola. Doch manchmal fragte sie sich, wie lange sie noch so vor sich hintreiben konnte wie ein Stück Holz auf den Wellen. Und ob ein einziger Freund – liebenswürdig, aber stets zu übermüdet, um ein richtiges Gespräch zu führen – und ein Job in einer heruntergekommenen Bar wirklich ausreichten, um ein gutes Leben genannt zu werden.

In der Tasche ihrer schwarzen Schürze, die sie sich über den kurzen Rock gebunden hatte, summte es. Lola wimmelte die Gäste ab, die sie belagerten und weitere Bestellungen aufgeben wollten, und bedeutete Robert mit einer Geste, dass sie kurz verschwinden musste. Er verdrehte nur die Augen, nickte dann aber.

Die Bässe aus den Lautsprechern wummerten, und erst als Lola an der Bar abbog und die Tür der winzigen Personaltoilette hinter sich zuzog, konnte sie auch das Klingeln des Handys hören. Sie fischte es aus der Schürzentasche. Hoffentlich nicht dieser Student, mit dem sie vor Kurzem eine Nacht verbracht hatte – hieß er Philippe? Dann erst sah sie auf dem Display den Namen des Anrufers: Papa.

«Merde», murmelte sie, ließ sich auf den zugeklappten Klodeckel sinken und nahm das Gespräch an.

«Oui?», sagte sie und hielt sich mit der freien Hand das andere Ohr zu, weil die Musik aus der Bar bis hier herein schwappte.

«Lola!», hörte sie ihren Vater Émile mit seinem tiefen, leicht heiseren Bass sagen, den sie so gut kannte, und sofort meinte sie, den Duft seiner altmodischen Pfeife zu riechen. «Es ist etwas passiert.»

Sie lauschte seinen aufgeregten Worten, schüttelte ab und zu den Kopf und lachte dann ungläubig. «Was? Ich verstehe nicht … Langsam, Papa, langsam. Wohin ist Mamie verschwunden? … Du weißt es nicht? Was soll das heißen?»

Ungläubig hörte sie weiter zu.

«Und seit wann?», fragte sie schließlich.

«Seit letzter Woche», sagte ihr Vater. «Bei dir ist deine Großmutter nicht zufällig aufgetaucht, oder?»

«Nein.» Lola knabberte an ihrer Lippe, wie immer, wenn sie nachdachte. «Wo kann sie nur sein?»

«Ich dachte …» Ihr Vater stockte und setzte neu an. «Es wäre vielleicht gut, wenn du herkommen könntest, poussin. Nach Paris, meine ich.»

Lola spürte einen Stich in der Brust. Es hatte mit diesem Kosenamen zu tun – Hühnchen –, den ihr Vater einfach nicht ablegte, selbst jetzt nicht, obwohl sie letzten Monat dreißig geworden war. Und überhaupt, sie, nach Paris? Jetzt? Wann war sie zuletzt in der Stadt ihrer Kindheit gewesen? An irgendeinem Weihnachtsfest wahrscheinlich, doch nicht im letzten Jahr – das hatte sie mit Robert und einer großen Flasche Tequila begangen.

Unwillen stieg in ihr auf. Sie hatte wenig Lust auf Paris, wenig Lust, das Hühnchen zu sein.

«Lola?», hörte sie Émile fragen. «Bist du noch dran?»

«Écoute, Papa», sagte sie schnell, «ich muss jetzt weiterarbeiten, hier brennt die Luft. Ich melde mich später, ja? Ich verspreche es.»

Ehe er etwas erwidern konnte, drückte sie den Button und ließ das Telefon wieder in ihre Schürzentasche gleiten. Einen Moment betrachtete sie ihre kräftigen bloßen Beine, die unter dem kurzen Rock hervorsahen. Sie holte tief Luft und wappnete sich für die dröhnende Musik und den überfüllten Laden, bevor sie wieder in die schummrige Bar eintauchte.

«Lola!?», hörte sie da auch schon Robert rufen.

Achselzuckend drängte sie zur Theke und knipste ihr Lächeln an. Durstig bleibende Gäste waren die schlimmste Sünde im Rouge, beinahe so unverzeihlich wie eine Kellnerin, die zur Stoßzeit auf der Toilette mit ihrem Vater telefonierte oder anstelle der Etiketten auf den Rotweinflaschen das Gesicht ihrer Großmutter Rose vor sich sah. Nein, eine verschwundene Mamie war nicht das, woran man während einer Samstagnachtschicht denken konnte. Das war etwas für die frühen Morgenstunden, wenn der letzte Gast aus der Bar getorkelt war und die bunten Lichter über der Bar gelöscht wurden, während die Morgendämmerung grauweiß über die Dächer von Bordeaux herankroch. Und genau auf diesen Moment, von dem sie wusste, dass er in wenigen Stunden käme, verschob Lola ihre Grübelei daher nun.

Sie griff nach dem Tablett, das wieder voller aufgefüllter Gläser dastand, und machte sich auf zu ihrer nächsten Runde durch die schwitzende Menge. Paris schien ihr so weit weg wie ein ferner Planet.

2

Fabien liebte den Morgen im Quartier Latin. Obwohl er oft bis spät in die Nacht hinein arbeitete, fiel es ihm nicht schwer, früh aufzustehen. Jedenfalls nicht jetzt in diesen ersten Tagen im August, wenn Paris in einer Art Dornröschenschlaf lag. Alle, die es sich leisten konnten, waren vor der Hitze in den Mauern der Stadt in den Urlaub geflohen, die breiten Boulevards und schattigen Parkwege waren bis auf ein paar orientierungslos herumlaufende Touristen wie ausgestorben. Doch die meisten Bewohner der Rue Mouffetard, jedenfalls die hier am oberen Ende an der Place de la Contrescarpe, gehörten nicht zu den Glücklichen, die genug Geld für wochenlange Ferien an der Côte d’Azur besaßen. Sie blieben den ganzen Sommer in der Stadt.

Fabien empfand das nicht als schweres Los. Der Duft nach Kaffee und der gestrigen Hitze auf den Pflastersteinen nahm ihn ganz gefangen, als er das Fenster seiner Wohnung über dem Platz aufstieß und drei Stockwerke hinabsah. Das Weiß der Häuser schimmerte in der Morgensonne noch heller als sonst. Ein paar schmutzige Tauben stolzierten am Brunnen vorbei, ein Reinigungsfahrzeug ratterte vorüber. Und das Bächlein, das jeden Tag aufs Neue die morgendlichen Straßen von Paris sauber wusch, gurgelte aus dem Gitter unter dem Bürgersteig, der bouche de lavage, hervor, floss emsig die Bordsteinkante entlang und riss Papierfetzen und Zigarettenkippen mit sich die Straße hinab.

«Bonjour, Fabien!», rief Madame Morel über den Platz zu ihm hinauf. Sie hatte bereits die Blumenkübel vor Fleurs de Morel zurechtgeschoben und nahm nun einen Armvoll Flieder heraus, der seine besten Tage hinter sich hatte, um die Zweige mit den schlaffen blasslila Blüten in ihren Laden zu tragen.

«Bonjour, Liliane», rief Fabien hinunter. «Ça va?»

Die stämmige Floristin winkte ihm müde zu und strich sich eine kurze silberbraune Haarsträhne hinters Ohr. Dann machte sie eine Geste, die wohl so etwas heißen sollte wie Es muss ja, und verschwand in dem kleinen Blumengeschäft mit der taubenblau gestrichenen Fassade.

Liliane Morel war eine gute Freundin von Fabiens Mutter Jeanne gewesen, bevor diese entschieden hatte, dass sie nach der Scheidung von seinem Vater nichts mehr in Paris hielt, und in das Dorf ihrer Kindheit gezogen war: Le Conquet, ein Kaff in der Bretagne. Malerisch, aber eben nicht Paris, fand Fabien, doch er kannte seine Mutter gut genug, um zu wissen, dass seine Meinung in dieser Frage nichts zur Sache tat. Immerhin hatte Jeanne ihm ihre kleine Wohnung überlassen, in der sie seit der Trennung gelebt hatte. 7 Rue Mouffetard, zwei Zimmer und eine Küche zu einem bezahlbaren Preis, was keinesfalls selbstverständlich war in der Innenstadt dieser Metropole mit den wahnwitzigsten Mieten Europas.

Auf der anderen Seite des Platzes erspähte Fabien nun das Schild am Bistro von Patrice Laferrière, das seit Jahren schief hing. Ein Buchstabe war vor langer Zeit abgefallen, sodass die kleine Kneipe nun «Chez Patric» hieß. Und wenn sich ab und an Touristen in den Laden verirrten und es wagten, den Namen vor dem jähzornigen Besitzer falsch auszusprechen, womöglich noch mit einem amerikanischen Akzent, fürchtete Fabien manchmal um deren Leben. Die naheliegende Lösung aber, nämlich den fehlenden letzten Buchstaben einfach zu ersetzen, kam Patrice offenbar nicht in den Sinn. Er und sein Sturkopf waren im Viertel legendär.

Um diese Zeit waren die Holzläden vor den Fenstern des Bistros noch geschlossen, der Alte öffnete erst zur Mittagszeit. Den Morgen überließ er großzügig Fabien und seinem Café des Artisans an der Stirnseite des Platzes. Wie der Name aus früheren Jahren vermuten ließ, kam auch heute noch der ein oder andere Handwerker und Bauarbeiter, um nach der ersten frühen Morgenschicht ein Croissant und einen doppelten Espresso zu bestellen. Nicht zum ersten Mal dachte Fabien, dass es dennoch vielleicht an der Zeit wäre, den Namen des Cafés zu ändern. Zwar hing er einerseits an den alten Dingen, andererseits könnte ein wenig Frische nicht schaden. Doch bisher war ihm nichts Passendes eingefallen.

Fabien sah, dass unten schon ein paar seiner rot-weißen, geflochtenen Korbstühle besetzt waren. Seine Mitarbeiterin Magali, die dichten dunklen Locken zerzaust, die Brille schief auf der Nase, watschelte mit ihrem hochschwangeren Bauch zwischen den Tischchen herum und hatte es bereits geschafft, sich das Kleid, das sich über einer beeindruckenden Kugel spannte, mit Ei zu bekleckern, wie Fabien von hier oben aus meinte erkennen zu können. Mochte sie auch noch so oft beteuern, sie könne ewig weiterarbeiten – jeder sah, dass es eine Frage von Tagen war, bis Fabien sie zu ihrem eigenen Schutz nach Hause schicken musste.

Er seufzte und stieß sich vom Fenster ab. Schnell suchte er nach einer Hose und fischte ein Hemd aus dem offen stehenden Schrank. Er leistete sich den Luxus, seine Hemden in die Reinigung bei Madame Mansouri in der Rue Monge zu geben, und hatte auf diese Weise stets frisch gebügelte Exemplare griffbereit. Geübt schloss er die Knöpfe, krempelte sich die Ärmel bis zu den Ellenbogen auf und fuhr sich durch die hellbraunen Haare.

Im Vorbeigehen warf er einen flüchtigen Blick in den Spiegel an der Schranktür. Hellblaue Augen sahen ihm entgegen. Dreitagebart, schwache Augenringe, aber sonst ganz passabel, fand er.

Fabien ging in die Küche, um einen Schluck Wasser zu trinken, bevor er ins Café eilen und Magali beistehen würde. Nicht zum ersten Mal erwischte er sich dabei, dass er ein wenig betrübt darüber war, sie vor ein paar Jahren nicht selbst verführt und für sich gewonnen zu haben. Sie war zwar eigentlich nicht ganz sein Typ, ein bisschen zu überdreht, aber doch ein sehr nettes, äußerst hübsches Mädchen mit ihrem kurzen Lockenschopf und den schwarzen Augen hinter den runden Brillengläsern. Er wusste, dass er eine Chance gehabt hätte – sie hatten sich stets gut verstanden und sogar ein wenig geflirtet. Im Viertel hatte die Gerüchteküche ihretwegen schon gekocht – das Quartier Latin war schlimmer als jeder Pausenhof.

Doch statt seine Chance zu nutzen, hatte sich Fabien an seinen Grundsatz gehalten und darauf verzichtet, etwas mit einer Angestellten anzufangen. Und so hatte er zusehen müssen, wie die hübsche Magali sich stattdessen in einen schlaksigen Yogalehrer namens Franc verliebte, der Abend für Abend in seinen Hanfsandalen um das Café herumschlich und traurige Hundeaugen machte. Magali hatte ihn schließlich erhört – und war im Handumdrehen schwanger geworden.

Das hatte er nun von seiner Grundehrlichkeit und seinen verflixten Prinzipien, dachte Fabien und schnaubte, während er im Brotkasten nach einem Eckchen Baguette suchte – ohne Erfolg. Andere Männer nahmen sich einfach, was ihnen gefiel, sie zögerten und zauderten nicht, sondern griffen zu. Die Magalis dieser Welt waren rar, das wusste er, und dem Glücklichen gehörte die Welt! Aber eben nicht ihm, Fabien Roudeaut, dem Zweifler und ewig Einsamen, der Tag für Tag in sein Café ging, sich dort abarbeitete und abends todmüde aufs Sofa fiel, mit etwas Glück noch ein paar Seiten las und dann mit dem Weinglas in der Hand einnickte. Allein, nur begleitet vom Rascheln der Vorhänge im geöffneten Fenster und dem Gurren der Tauben auf dem Dach des Hauses.

Nein, er war nicht gerade ein Meister auf dem Gebiet, Frauen für sich zu gewinnen – und schon gar nicht, sie zu halten. Seine letzte Freundin, Claire, war ihm abhandengekommen, als sie ein Jobangebot in Singapur angenommen hatte. Ob er nicht mitkommen wolle, hatte sie immerhin noch gefragt, doch als er sagte, er könne sein Café nicht im Stich lassen, hatte in ihren Augen neben Spott auch Erleichterung gestanden. Er hatte es genau gesehen!

«Oui, naturellement, das Café!», hatte sie gemurmelt und ihre wenigen Kleider, die bei ihm im Schrank hingen, in eine sehr kleine Tasche gepfeffert. «Das ist und bleibt eben deine einzige große Liebe, Fabi.»

Dann war sie gegangen, und Fabien hatte schon ein paar Tage später nicht gewusst, worüber er sich mehr wunderte – über ihre letzte Behauptung (die nicht der Wahrheit entsprach) oder aber über die Tatsache, dass er sie nicht einmal wirklich vermisste.

Er knallte den Brotkasten zu und beschloss, im Café zu frühstücken, obwohl das eigentlich auch gegen seine Prinzipien verstieß. Doch er wusste, dass Magali heute, wie jeden Morgen, ganz früh eine Ladung Croissants in der Petite Boulangerie bei Mademoiselle Labelle abgeholt hatte. Beim Gedanken an die knusprigen, buttrigen Hörnchen lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Besonders gut waren die Croissants halb warm und mit Erdbeerkonfitüre bestrichen, und er hatte noch zwei Gläser vom Frühsommer in der Küche im Café stehen, die er im Juni eingekocht hatte.

Als Fabien nach seinen Schlüsseln griff, hatte er einen großen Café au Lait vor Augen, den er in der Morgensonne trinken würde, bevor ringsum die Rue Mouffetard vollends erwachte und ein neuer Tag im August in Paris begann.

3

Draußen vor dem Zugfenster raste die Landschaft vorüber, von der Geschwindigkeit zusammengeschnürt zu einem schmalen Paket aus Feldern, Weinreben, Bachläufen und den Farben der Ebene – Braun, Grün und Gelb. Wie schon oft fand Lola es erstaunlich, dass der TGV nur zwei Stunden brauchte, um die Strecke von der südlichen Atlantikküste nach Paris zurückzulegen. Für sie lagen zwischen diesen beiden Orten Welten.

Sie lehnte sich in das Polster ihres Sitzes im oberen Deck des Zuges zurück und schloss die Augen. Noch etwas beschäftigte, ja, beunruhigte sie – das Wissen, dass der TGV nicht ein einziges Mal zwischendurch halten würden. Es war eine Direktverbindung. Keine Chance für eine Umkehr, einen Notausstieg oder wenigstens eine kleine Pause mit Gnadenfrist, in der man aussteigen und sich etwas Schokolade oder Karamell kaufen konnte, bevor der Zug weiterfuhr. Es war, als stiege man in eine Rakete, die einen unerbittlich bis zum Mond beförderte.

Ja, wenn Paris doch im unerforschten Weltall läge!, dachte Lola und knabberte an ihrer Unterlippe. Aber leider war es für sie das glatte Gegenteil. Sie kannte die Stadt in- und auswendig, ganz besonders das Quartier Latin südlich der Seine – rive gauche, wie die Pariser sagten. Diese linke Seite war ihr so vertraut wie ihr eigenes Spiegelbild. Sie kannte jeden Pflasterstein dort, jedes Tabac-Lädchen und jede der geschwungenen Brücken über die Seine, diesen breiten, majestätischen Fluss, aus dem die schönsten Geschichten der Stadt gemacht waren. Doch für Lola lagen unter all dieser Schönheit ihre eigenen Erfahrungen und all die Gesichter aus ihrer Vergangenheit. Und auch wenn die Stadt eine riesige Metropole war mit gewaltigen Auswüchsen an den Rändern, den Banlieues, wo ganze Trabantenstädte entstanden waren, um die Massen zu beherbergen, die in Paris leben wollten. Aber für Lola war es ein Dorf. Ein Dorf, für das sie sehr zwiespältige Gefühle hegte.

Gewiss, sie liebte die Stadt trotz allem, hatte sie tief in ihrem Herzen nie losgelassen. Doch sobald sie erwachsen geworden war, hatte sie Paris den Rücken zukehren müssen. Direkt nach ihrem Baccalauréat, das sie mit Ach und Krach geschafft hatte, war sie gegangen. Hatte sich treiben lassen, hatte ein Studium abgebrochen – Archäologie –, hatte Jobs angenommen und wieder sausen lassen, hatte Männer kennengelernt und wieder verlassen, war rastlos gewesen. Sie fragte sich, ob es allen Menschen so ging, wenn sie erwachsen wurden – dass sie aus den Straßen der Kindheit fliehen mussten? Dass sie lieber nicht zurückblicken wollten?

Beinahe überall war Lola schon gewesen, sie hatte in Hängematten auf Bali geschlafen, den Hotelpool in einem Beach Resort auf Sansibar gereinigt, in unzähligen Bars in Marseille und Nizza und schließlich in Bordeaux gekellnert. Lola war stolz darauf, dass sie weit gereist war, dass sie sich auskannte. Doch in manch stiller Stunde, wenn sie allein war und das Tosen um sie herum sich legte, wenn das letzte Glas gespült und der letzte Aschenbecher geleert waren, wenn Robert mit einem Date unterwegs war und sie in der kleinen Wohnung allein zurückblieb – dann gab es da neuerdings ein kleines, nervtötendes Stimmchen. Es stellte Fragen, unbequeme Fragen, die Lola nicht beantworten konnte. Ob sie wirklich glücklich sei, fragte die Stimme. Ob sie es sich so vorgestellt habe. Ob die lockende Weite der Welt nicht nur eine Ausrede sei, um der Enge in ihr selbst zu entkommen. Und ob sie nicht bemerkt habe, dass sie, egal, wohin sie gehe, doch immer eines mit sich nahm. Nämlich sich selbst – Lola Mercier.

Diesem Stimmchen zu entkommen, das in den vergangenen Monaten auf unerklärliche Weise immer lauter geworden war, stellte zunehmend ein Problem dar. Lola war erfinderisch, wenn es darum ging, unbequemen Wahrheiten zu entgehen, doch diesen Fragen konnte selbst sie sich nicht entziehen. Und der Merlot, den sie so liebte, half ihr dabei auch nicht mehr so zuverlässig wie einst. So trank sie manchmal ein Glas mehr, als ihr guttat – Lola hatte noch nie viel vertragen –, was es aber den Grübeleien merkwürdigerweise noch leichter zu machen schien, sich durch ihre Gehirnwindungen zu fressen und sie aufzuwühlen. Also ließ sie das Trinken lieber wieder. Es führte zu nichts und war überdies schlecht für die Haut. Und die Haut einer Frau – das war einer der wenigen Ratschläge, die Lolas Mutter Margot ihr hatte mitgeben können – war ihr wichtigstes Kapital.

«Zusammen mit ihren Augen, mon poussin», hatte Maman gesagt und Lola aus ihren ebenfalls grünen Augen angesehen. «Und da hast du wirklich Glück gehabt, es hätte auch anders kommen können.» Unter halb geschlossenen Lidern, zwischen ihren dichten Wimpern hindurch, hatte sie schelmisch zu Lolas Vater Émile hinübergesehen, dessen graue Äuglein mit den schweren Lidern Lola stets an eine traurige Dogge erinnerten. Woraufhin dieser spielerisch ein Kissen nach seiner Frau warf und damit alle zum Lachen brachte. Und Lola hatte bewundernd ihre schöne Maman angesehen und den schweren Duft ihrer Handcreme eingeatmet. «Aber das Wichtigste», hatte Margot am Ende immer gesagt und ihrer Tochter zuerst zärtlich an die Stirn und dann ans Herz getippt, «sitzt hier und hier.»

Ein halbes Jahr später war sie bei einem Unfall gestorben. Es hatte keinen Abschied gegeben. Lola war neun Jahre alt gewesen.

Lola öffnete die Augen. Sie dachte oft an Maman, auch heute noch. Nach all den Jahren war der Schmerz noch da, aber nicht mehr so scharf und schrill wie einst, sondern eher still, beinahe besänftigt. Wie eine Katze, die ihre Krallen eingezogen hatte und auf einem Kissen döste. Doch immer wenn Lola sich Paris näherte, schien es, als setzte sich das schlafende Tier langsam auf und blickte sie warnend mit seinen geschlitzten Pupillen an. Lola zog die Nase kraus und sah aus dem Fenster. Warum in aller Welt tat sie sich das an? Warum saß sie jetzt hier auf dem Polstersessel eines TGV und erwartete gleich die Ankunft an der Gare Montparnasse? Diese verflixte Impulsivität, die sie immer wieder dazu brachte, sekundenschnell Entscheidungen zu treffen, könnte sich, wenn es nach Lola ginge, endlich einmal auswachsen wie ein kindlicher Tick.

Und alles wegen Mamie, dachte sie und ächzte leise. Ihre Großmutter Rose, die Mutter ihrer Mutter, war immer ein wenig seltsam gewesen, schrullig, wie viele alte Damen, die den größten Teil ihres Lebens allein verbracht hatten. Lola war sie stets ein wenig unheimlich gewesen – Rose war eine gepflegte, beinahe zu gepflegte Dame, die ihre winzige Dachwohnung in der Rue Mouffetard hoch über dem Platz mit dem Springbrunnen mit so viel Grandezza bewohnte, als sei es einer der Stadtpaläste am Parc Monceau. Geld hatte sie, soweit Lola wusste, nie viel besessen, dafür aber, wie zum Ausgleich, jede Menge Hochmut. Und stets umwehte sie eine pikante Mischung aus dem Zitronenaroma ihrer Seife und einer Aura aus Traurigkeit.

Diese Traurigkeit war es, überlegte Lola, während sie mit halbem Ohr auf die körperlose Lautsprecherstimme des Zuges lauschte – Mesdames et Messieurs, on arrivera à Paris Montparnasse dans quelques minutes –, die ihre Großmutter stets ein wenig distanziert hatte wirken lassen. So, als umschließe sie eine Mauer, die niemand, nicht einmal ihre Enkelin, überwinden konnte. Als Kind hatte Lola geglaubt, das hinge mit der Trauer um den plötzlichen Tod ihre Tochter Margot, Lolas Mutter, zusammen. Eine Trauer, die für einige Jahre ja auch jede ihrer eigenen Poren durchdrungen und das Leben im Quartier Latin durchflochten hatte wie ein schwarzer Faden im bunten Gewebe. Doch je älter Lola wurde, desto mehr verstand sie, dass Mamies Melancholie bereits vor dem Unfall ihrer Tochter Teil ihres Charakters gewesen war. Ein ebenso selbstverständlicher Teil von ihr wie der roséfarbene Nagellack auf ihren Fußnägeln, der Duft nach ihrem Dior-Parfum und der Riesenpudel Charles, der schon in dritter Generation zu ihren Füßen schlief und den Namen seiner Vorgänger mit Stolz trug. Der amtierende Charles musste auch schon ziemlich in die Jahre gekommen sein. Hatte ihr Vater nicht neulich, bei einem ihrer seltenen Telefonate, erwähnt, dass das Tier nicht mehr gut fraß? Wo aber war der altersschwache Pudel nun, da Mamie offenbar verschwunden war?

Lola wurde klar, dass sie fast nichts über die Umstände wusste. Weder hatte sie ihren Vater gefragt, ob er die Polizei eingeschaltet hatte, noch, was er von ihrem Besuch eigentlich erwartete. Seine Bitte, nach Hause zu kommen, hatte trotz Lolas innerer Gegenwehr ihre Wirkung getan. Zwar hatte sie die Schicht im Rouge gestern Abend pflichtschuldig zu Ende gebracht, doch sie war trotz ihres Vorsatzes mit den Gedanken nicht bei der Sache gewesen, sodass sie mehrfach Bestellungen vertauscht hatte und über ihre eigenen Füße gestolpert war. Schließlich war sie nach Hause gegangen, hatte kurzerhand viel zu viele Kleider in eine Tasche gepackt und auf Robert gewartet. Als er im Morgengrauen nach Hause gekommen war, hatte sie ihm von Émiles Anruf erzählt. Und bevor sie auch nur fragen konnte, was er davon halte, wenn sie für ein paar Tage nach Paris fuhr, hatte er schon eine der Aushilfen angerufen. Er hatte Cathy aus dem Schlaf geklingelt und ihr das Versprechen abgenommen, bis auf Weiteres für Lola einzuspringen. Und erst da war Lola klar geworden, was das eigentlich bedeutete: Sie würde ihr altes Viertel wiedersehen und all die Menschen dort, die ihr vertraut und fremd zugleich waren.

Aber es war ja nur für ein paar Tage, sagte sie sich zum wiederholten Male und wunderte sich im selben Moment darüber, dass sie diesen Gedanken immer wieder herunterbetete wie ein Mantra. So, als sei es eine Versicherung, die sie bei sich selbst abgeschlossen hatte.

Vor den Fenstern zeigten sich jetzt bereits die ersten Hochhaussiedlungen, graue Betonhaufen in baumlosen Straßen, die den Beginn der Banlieues ankündigten. Lola rutschte auf ihrem Sitz hin und her und betrachtete die Mitreisenden, wie es ihr schien, zum ersten Mal: ein mittelaltes Pärchen ihr gegenüber, von denen beide mit gespitzten Zeigefingern auf ihren Telefonen herumwischten, und eine sehr elegant gekleidete junge Frau in dunklem Blazer, Designerjeans und mit Pumps, deren Höhe Lola schon beim Ansehen schwindeln ließ.

Ja, sie näherten sich unverkennbar Paris. Und neben dem nagenden Unmut, dass sie das Schicksal zu diesem unfreiwilligen Trip gezwungen hatte, und der Müdigkeit wegen der kaum vorhandenen Nacht, spürte Lola, wie nervös sie war, weil sie ihre Heimatstadt wiedersehen würde. Fast so, als wartete dort eine Prüfung auf sie.

4

Der Zug hielt. Lola sprang aufs Gleis, stellte ihre Tasche ab, blickte sich einen Augenblick lang um – gurrende Tauben, Graffiti im Sonnenlicht, ein Gewirr hastender Menschen, Tabakgeruch – und hatte in diesem Moment schon vergessen, was sie eigentlich je dort unten am Atlantik in Bordeaux zu suchen gehabt hatte. Drei Jahre in der südlichen Stadt, in der Palmen wuchsen und die Sommer brütend heiß waren. Drei Jahre im Rouge. Drei Jahre in dem winzigen Appartement mit ihrem lieben, aber aus Überzeugung ziellosen Mitbewohner, der nun wahrscheinlich in diesem Augenblick allein seinen morgendlichen Höllenkaffee trank. Ob er sie überhaupt vermisste?

Suchend blickte sie sich um – doch von ihrem Vater war keine Spur. Als sie ihn heute früh, schon auf dem Weg zum Bahnhof, angerufen hatte, war nur Ninette ans Telefon gegangen. Sie hatte Lola begeistert versichert, wie sehr sie sich freuen würden, sie zu sehen – sie beide! Lola sah sie geradezu vor sich, dieses ungleiche Paar in der Wohnung in der Rue Monge: ihr behäbiger Vater, bei dem das Alter inzwischen merkliche Spuren hinterlassen hatte, und die quirlige, immer plappernde Ninette mit den wilden blond gefärbten Locken und dem Duft nach Minestrone, die sie andauernd kochte.

Bei ihren kurzen Besuchen in Paris hatte Lola, auf dem alten Sofa in der Rue Monge sitzend, stets den Blick ihres Vaters gespürt und seine Sorge. Hatte die Angst in seiner Stimme gehört, wenn er sie fragte, ob sie denn auch wirklich genug Geld habe, ob sie ausreichend schlafe und esse. Ob sie glücklich sei. Sie konnte alle Fragen zu seiner Zufriedenheit beantworten, nur die letzte nicht. Auf diese letzte Frage folgte stets nur ein unangenehmes Schweigen, und mit den Jahren hörte Émile auf, sie zu stellen.

Schnell griff Lola wieder nach ihrer Tasche und hob sie auf einen dieser Gepäckwagen, deren Räder stets eierten. Sie bugsierte das quietschende Wägelchen im Slalom durch die vielen Menschenleiber in der Bahnhofshalle aus Glas und Beton. Der Duft frischer Buttercroissants zog in ihre Nase. Ein paar Bauarbeiter werkelten in einem abgesperrten Bereich zwischen flatternden Plastikbändern vorne beim Eingang zur Métro. Einer der Männer sah auf, als sie vorbeiging, und seine Lippen formten bei Lolas Anblick das unweigerliche Oh, là, là.

Sie lächelte und eilte weiter, wobei sie sich für einen Moment in der spiegelnden Scheibe eines Obstladens sah – eine kräftige, mittelgroße Frau um die dreißig, in einem blau-weiß gepunkteten, knielangen Seidenkleid, darüber der offene Trenchcoat, den sie nur trug, weil er nicht mehr in die Tasche gepasst hatte. Die kastanienbraunen, leicht lockigen Haare fielen ihr nach der Fahrt strähnig in die Stirn, direkt über dem Kinn hatte Lola sie abgeschnitten. Seit dem großen Kinoerfolg von Amélie trug jede zweite Französin so einen French Bob. Das war schon viele Jahre her, und der Trend hielt hartnäckig an. Doch Lola hatte die Haare schon vorher, schon als Kind, auf diese Art getragen und würde ganz sicher nicht damit brechen, nur um sich von der Heldin in einem alten Kinofilm abzuheben. Mit einer eigensinnigen Geste strich sie sich die Spitzen hinters Ohr.

Um sie herum redeten die Leute wild durcheinander, viele sprachen das typische Französisch der Hauptstadt, mit scharfen Konsonanten und starken Nasalen. Es klang ganz anders als im Süden, wo die Menschen die Vokale verschluckten und doppelt so schnell redeten wie im Norden. Hier in Paris zelebrierte man die Sprache, und Lola fühlte sich sofort wieder heimisch.

Sie ließ den Gepäckwagen stehen und griff nach ihrer Tasche. Vor der Bahnhofshalle erspähte sie endlich Ninette, die auf einem Mäuerchen zwischen wartenden Taxis, Reisenden und kläffenden Hunden saß, als sei sie dort verwurzelt. Unablässig hupende Autos fuhren auf dem Boulevard vorüber, ein nimmer endendes Konzert der Großstadt.

Das Kleid um Ninettes breite Hüften spannte, und die Rosen auf dem Stoff wurden hellrot in die Breite gezogen. Niemals hatte die Freundin ihres Vaters einen Anspruch auf die Mutterrolle erhoben, doch als Lola jetzt von hinten auf sie zuging und den vertrauten runden Nacken sah, das weiche Profil von Ninettes Kinn, da wusste sie plötzlich, dass niemand dieser Rolle je näher gekommen war als sie.

Vorsichtig legte sie ihr eine Hand auf die rundliche Schulter unter den verzerrten Stoffrosen, woraufhin Ninette sich umdrehte, aufsprang und Lola in die Arme nahm. Sie roch nach Brathähnchen und Knoblauch, und Lola holte tief Luft und ließ sich kurz den Rücken tätscheln.

«Wie schön, dass du da bist, ma petite», sagte Ninette, die einen unerschöpflichen Schatz an Kosenamen für alle Menschen in ihrer Umgebung hatte, und die meisten für Lola. «Dein Vater wird sich so freuen, dich zu sehen. Er ist in letzter Zeit manchmal etwas …» Sie sprach nicht weiter, machte nur eine unbestimmte Geste in der Luft, sodass Lola nur raten konnte, was ihr Vater war. Dann musterte Ninette sie plötzlich genauer und kniff die Augen zusammen.

«Wie schmal du bist, Engelchen», sagte sie und schnalzte missbilligend mit der Zunge. «Damit ist nun Schluss! Ich päppele dich schon auf, wirst sehen.»

Lola unterdrückte ein Lächeln. Sie und schmal? Nun, Ninette hatte andere Maßstäbe als sie und verwöhnte alle um sich herum, die sich nicht schnell genug entzogen – und am liebsten mästete sie die Tochter ihres Lebensgefährten. Lola ahnte, dass der Brathähnchenduft ein Hinweis darauf war, dass die Vorbereitungen dafür bereits in vollem Gange waren. Ninette brauchte immer ein Projekt, etwas oder jemanden, um den sie sich kümmern konnte – streunende Katzen, die sie im Hof auflas und zu Hause durchfütterte, die Rosen auf dem winzigen Balkon der gemeinsamen Wohnung mit Lolas Vater, die sie liebevoll wässerte und beschnitt, oder hungrige Nachbarskinder. Das wichtigste und größte Projekt ihrer zweiten Lebenshälfte aber war Émile, der sich in den Jahren mit ihr einen rundlichen, gemütlichen Bauch angefuttert hatte. Doch Lola hatte ihren Vater nie zufriedener gesehen.

Was nur, dachte sie in einem kindischen Moment des Erschreckens, würde Ninette ohne ihn tun, wenn er einmal nicht mehr da wäre?

Und was würde sie selbst tun?

Sie verbot sich den Gedanken rasch, es gab dafür ja auch keinen Grund. Sicher saß ihr Vater zu Hause auf dem Balkon, rauchte zufrieden und endlich einmal ungestört sein Pfeifchen und sorgte sich höchstens um seine Schwiegermutter Rose. Ja, natürlich alterte auch er, aber das war der Lauf der Welt. Trotzdem flüsterte ein vorwurfsvolles Stimmchen in Lolas Kopf, angestachelt von Ninettes unausgesprochener Bemerkung zu Émiles Zustand, dass es wirklich höchste Zeit war, einmal wieder nach Hause zu kommen und nach dem Rechten zu sehen.

Sie warf ihre Tasche in den Kofferraum von Ninettes kleinem blauem Citroën, der wie immer im Halteverbot stand, und gesellte sich zu einem beeindruckenden Sammelsurium aus leeren Flaschen, offenen Kekspackungen und zerdrückten Kaffeebechern auf dem Beifahrersitz. Ninette quetschte ihre Rundungen auf der Fahrerseite hinein und startete den Wagen. Mit bemerkenswerter Nonchalance fädelte sie sich in den chaotischen Verkehr ein und brauste durch die vollgestopften Straßen. Es ging durch die Rue de Rennes, die Rue Vaugirard – Lola sah links das Grün des Jardin du Luxembourg leuchten und darin den majestätisch daliegenden Palast – und dann weiter hinein ins Gewirr der Sträßchen des Quartier Latin rund um die Sorbonne. Ein-, zweimal winkte ihr das Panthéon mit seiner schönen Kuppel zwischen den Häusern zu, wenn sie eine Kreuzung passierten.

Bald darauf hielten sie in der Rue Monge vor dem Haus, das Lola so gut kannte. Seit ihrem letzten Besuch war die weiße Farbe an deutlich mehr Stellen der Fassade abgeplatzt, als häutete sich das alte Haus mit den Jahren immer schneller.

«Viens, canard, mein Entchen», sagte Ninette und würgte den Motor ab. «Es gibt gleich Café und eine Tarte au citron, ja? Und abends geschmortes Hühnchen, dann können wir uns unterhalten. Auch über Rose.»

Lola nickte und schulterte die schwere Tasche, als sie aus dem Wagen stiegen. Im Gebäude hob sie scheu die Hand zum Gruß, als sie das Gesicht der alten Concierge, Madame Monnier, an der Scheibe ihrer Loge im Eingang sah. Dann stieg sie hinter Ninette her in den dritten Stock, wo sie in die Wohnung traten.

Ihre ganze Jugend hatte Lola in diesem Haus verbracht. Seit dem Tod der Mutter bewohnten ihr Vater und sie zwei Zimmer, von denen eines ihr allein gehörte, während Émile auf dem Sofa im Wohnzimmer schlief. Zur Wohnung gehörte auch noch ein winziges Bad und daneben die noch winzigere Toilette, vom engen Flur nur abgetrennt durch eine Falttür, die sich anfühlte wie Pappe. Und nicht zu vergessen die Küche, die Ninette erobert hatte, nachdem sie Émile vor vielen Jahren bei einem Bingoabend in einer Brasserie an der Place Monge kennengelernt hatte.

Lola trat in den kleinen Raum, der gleich links vom Flur abging. Hier in der Küche roch es herrlich nach Hühnchen und Basilikum, der sich auf der schmalen Fensterbank beim Spülbecken aus fleckigem Emaille beinahe geschwisterlich einen Blumenkasten mit den Rosen teilte – eine duftende Allianz aus Grün und Pink. Und endlich, beim Anblick der vertrauten hellblauen Küchenmöbel mit den abgestoßenen Ecken, bekam Lola Appetit.

Doch der Gedanke, dass sie in der Enge dieser Wohnung übernachten sollte, behagte ihr nicht sonderlich. Wie immer, wenn sie kam, würde Ninette die ausklappbare Gästematratze im Wohnzimmer ausbreiten, zwei aneinandergenähte Schaumstoffwürfel, die, wenn man sich auf sie legte, auf geheimnisvolle Weise sofort auseinanderstrebten, sodass man am Morgen mit dem Hintern in einem Spalt lag, der bis zum Boden reichte. Die beengte Wohnsituation von ihrem Vater und seiner Freundin war einer der Gründe, weshalb es Lola nicht allzu oft hierherzog. Doch für ein Hotel reichte ihr Kellnerinnengeld hinten und vorne nicht.

«Wir rücken wieder ein bisschen zusammen, Herzchen, habe ich recht?», sagte Ninette aus dem Flur, als habe sie ihre Gedanken gelesen, und zog schnaufend die Wohnungstür ins Schloss.

Lola nickte und versuchte, ein Lächeln aufzusetzen, als die Stimme ihres Vaters aus dem Wohnzimmer herüberschallte.

«Poussin? Bist du das?»

«Papa», sagte Lola und ging durch den Flur in den Salon, wie sie und Émile das Zimmerchen immer halb spöttisch, halb liebevoll nannten. Sie trat auf den winzigen Balkon. Eigentlich trat sie nicht wirklich hinaus, denn dafür war nicht genug Platz, vielmehr blieb sie in der Balkontür auf der Schwelle stehen und sah auf ihren Vater herunter, der es sich in einem Klappstuhl gemütlich gemacht hatte. Der Stuhl nahm die winzige Außenfläche ganz ein, die von einem schwarz lackierten Gitter umschlossen wurde. Lola beugte sich hinab und küsste Émile auf beide Wangen. Dabei versuchte sie, nicht allzu erschrocken zu wirken. Ihr Vater war viel dünner als beim letzten Mal. Sein kleines Bäuchlein war wieder verschwunden, er wirkte müde. Doch die Hundeaugen blickten sie treuherzig an wie immer, und der süßliche Pfeifenduft beruhigte sie, weil er so vertraut war.

«Bonjour, meine Kleine», sagte Émile und nahm ihre Hand, «ich hoffe, du nimmst es deinem alten Vater nicht übel, dass ich Ninette allein zum Bahnhof vorgeschickt habe. Sie fährt so furchtbar Auto, comme une folle – wie eine Wahnsinnige! Und wenn wir zusammen fahren, streiten wir immer.»

«Jedes Mal!», tönte Ninettes Stimme in Lolas Rücken. «Émile behauptet, ich wolle uns umbringen. Was natürlich Blödsinn ist.» Sie streckte den Kopf kurz über Lolas Schulter, wozu sie sich auf die Zehenspitzen stellen musste, und alle blonden Löckchen flogen empört um ihre weichen Wangen. «Man muss in Paris eben ein bisschen energisch sein, sonst denkt jeder Crétin in seinem Mercedes, er hätte die Oberhand.»

Mit diesen Worten verschwand sie wieder.

«Energisch …», brummte Émile und klopfte seine Pfeife aus, «was für eine Untertreibung!» Er zwinkerte Lola zu, aber es lag ein Schatten auf seiner Fröhlichkeit. Und Lola dachte kurz an den Tag, als ihre Mutter in ihrem dunkelroten Peugeot verunglückt war. Und sie ahnte, dass ihr Vater ebenfalls daran dachte, doch in vertrauter Einigkeit schwiegen sie. Unten klapperte ein Fahrrad über das Pflaster, und von fern hörte Lola das An- und Abschwellen einer Sirene. Sie blickte über die Häuser – fünfstöckig, blendendes Weiß, verzierte Balkongitter, grau gedeckte Dächer, Schornsteine. Darüber wölbte sich ein makelloser hellblauer Augusthimmel.

«Schön, dass du es geschafft hast, ein paar Tage freizunehmen», sagte ihr Vater schließlich. Er erhob sich ächzend und legte kurz die Hand an ihren Arm. «Ich weiß, du hast dein eigenes Leben, und es gibt für dich nichts Schlimmeres, als herkommen zu müssen …»

Lola wollte protestieren, doch er hob beide Hände.

«Schon gut», sagte er, «ich fange nicht wieder davon an. Lass uns lieber über deine Großmutter reden, da weiß ich mir nämlich keinen Rat mehr.»

Sie traten ins Innere der Wohnung. Ninette schien in der Küche zu sein, sie hörten sie drüben mit Besteck hantieren, und etwas zischte laut.

«Was ist denn nun eigentlich genau passiert?», fragte Lola und ließ sich auf das abgewetzte Sofa fallen. «Und wo ist Charles? Hat Mamie ihn mitgenommen?»

Émile schüttelte betrübt den Kopf und setzte sich in seinen Lieblingssessel mit den geblümten Kissen. «Charles ist vor drei Wochen gestorben», sagte er leise. «Rose war außer sich. Sie schwor, sie wolle keinen neuen Hund, sie könne es nicht noch einmal ertragen, ein Tier zu verlieren. Sie sei zu alt und ihr Herz zu brüchig.»

Lola blickte ihren Vater betroffen an.

«Arme Mamie», sagte sie. «Seltsam, so kenne ich sie gar nicht. So verstört … ich kann es mir nicht vorstellen.»

«Ja, sie war ganz verändert.» Émile seufzte. «Schminkte sich kaum noch, trug die Haare zerzaust, verließ die Wohnung nicht mehr.»

«Du hättest mich anrufen sollen», sagte Lola und wusste im selben Moment, dass ihr Vater sich wohl nicht getraut hatte. Es war unfair, dass sie ihm jetzt Vorwürfe machte, wo sie doch diejenige war, die sich viel zu selten meldete. Sie hob die Achseln. «Und was geschah dann?»

«Das war merkwürdig», sagte Émile, «nach etwa zwei Wochen in diesem Zustand traf ich sie vergangenen Samstag auf dem Markt. Im ersten Moment erkannte ich sie gar nicht – sie hatte sich die Haare abschneiden lassen, richtig chic sah sie aus und um Jahre jünger. Sie kaufte gerade Muscheln, genug, um drei satt zu kriegen. Als sie mich sah, strahlte sie. ‹Émile›, sagte sie, ‹ist heute nicht ein herrlicher Tag?›»

«Und dann?»

«Dann küsste sie mich auf die Wange und ging hinüber zu Pierre, du weißt doch, dieser Lebkuchenmann aus der Rue Mouffetard. Sie kaufte ihm ein Herz ab, aber als ich neben sie trat, wollte sie mir den Spruch nicht zeigen, der darauf stand.»

Lola kicherte ungläubig. Ihre strenge, reservierte Großmutter kaufte ein kitschiges Lebkuchenherz? Sie kannte den Straßenverkäufer vom Sehen. Mit seinen schwermütigen Augen und der langen Nase wirkte er stets wie ein trauriger Clown, wie er so über und über behängt mit seinen Köstlichkeiten an bunten Bändern versuchte, den Leuten, die vorüberkamen, seine orakelnden Lebkuchenherzen anzudrehen. Was aber hatte Rose damit angefangen?

«Das war das letzte Mal, dass ich deine Großmutter gesehen habe», sagte Émile und schüttelte erneut den Kopf. «Als ich am nächsten Tag bei ihr in der Wohnung nach dem Rechten sehen wollte, war die Tür verschlossen. Niemand hatte sie gesehen. Nur ein kleiner Zettel lag drinnen auf dem Tisch.»