Sommerscheiben
Michael Pick
Copyright © 2012 Michael Pick
All rights reservedThe characters and events portrayed in this book are fictitious. Any similarity to real persons, living or dead, is coincidental and not intended by the author.No part of this book may be reproduced, or stored in a retrieval system, or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording, or otherwise, without express written permission of the publisher.Copyright Michael PickImkenrade 15g23898
[email protected]Sommerscheiben
und einundreißig erfrischend knackige Geschichten
in Liebe
Michael Pick
Sommerscheiben
Der Junge stellte sich auf die Zehenspitzen, um die Hügelkuppe besser überblicken zu können.
Links, im Schatten riesiger Eichenkronen, strahlten Tische auf der Wiese. Jeder bringt etwas mit, hat es geheißen. Eine junge Frau im weißen Sommerkleid dirigierte die Schlange der Gäste mit Leichtigkeit.
Der Junge tätschelte nach den Sommerscheiben in seinen Hosentaschen.
Von der Hügelkuppe wehte Musik herüber, die Bäume tanzten dazu. Die jüngeren Männer riefen den Mädchen zu und diese jauchzten und warfen ihre Röcke auf. Die Älteren rekelten sich auf den Decken im Gras und blitzten dem Ganzen aus jugendlichen Augen zu.
Die Äpfel spannten die Hosentaschen beim Gehen.
Er hatte die prächtigsten gepflückt. Doch mit einmal kamen sie ihm richtig mickrig vor - war der eine nicht ein wenig verkrumpelt und hatte der andere nicht eine hässliche braune Stelle?
Zwei Äpfel, nicht mehr als zwei Äpfel hatte er zu geben, der eine schrumpelig und der andere hatte eine Stelle. Jetzt war er auf dem Hügel und fast wäre er zu den Füßen der Frau hingefallen. Sie lächelte. Ihre Augen leuchteten. Ihm brannte das Herz.
Er grub seine Hände in die Hosentaschen und holte die beiden Sommerscheiben heraus.
Genau in der Mitte des Tisches schob sie einen Platz frei. Eine Schale aus Holz, schlicht geschnitten. Sie legte die beiden Sommerscheiben hinein.
„Danke“, flüsterte sie, so dass es alle hören konnten und dennoch glaubte der Junge, sie spräche nur zu ihm.
Dem Jungen machten die Blicke der Umherstehenden plötzlich nichts mehr aus und ein Lächeln huschte über sein Gesicht. Das ganze Fest über stand er an einen Baum gelehnt und betrachtete sein Mädchen im weißen Sommerkleid.
Heute kommt Marie
Als mir einfiel, welcher Tag heute war, wäre ich beinahe aus dem Bett gefallen. Plötzlich hatte ich es so eilig, dass ich nicht wusste, was ich zuerst machen sollte.
Marie war die Liebe meines Lebens, und sicher nicht nur meines. Ich hätte alles dafür gegeben, wenn ich das gleiche für sie wäre.
Marie kommt heute.
Der Satz klang angenehm. Ich rief ihn in die leere Wohnung. Die Worte flitzten durch die zwei Zimmer und entkamen aus dem Fenster.
Heute kommt Marie.
Ich riss sie auf. Ich hätte meine Freude hinausschreien sollen, doch ich fühlte die Verschwendung. So lüftete ich wenigstens die Wohnung. Marie war verrückt nach frischer Luft.
Ich war so durcheinander, dass ich die Hose für ungerade Tage wählte, obgleich heute Sonnabend war. Zur Feier des Tages ein Hemd. Es war zehn Jahre alt, aber ich trug es kaum.
Heute kommt Marie.
Ich freute mich auf sie und darauf, sie abzuholen. Ein Termin in meinem leeren Kalender. Ich unterstrich ihn mit roter Farbe, so war er schon von weitem zu sehen.
Im Spiegel suchte ich nach meinem Mund. Ein Gestrüpp von Barthaaren hatte sich unbemerkt über ihn geschoben. Ich schüttelte die Dose mit Rasierschaum, bis sie sich auf meinen Fingern erbrach und kratzte mir den Bart mit der Rasierklinge ab. Die Haut war gereizt, ich weniger, man darf die Verhältnisse nicht außer Acht lassen. Ich wunderte mich, im Badezimmerschrank noch eine Tube Zahnpasta zu finden.
Heute ist ein besonderer Tag: Heute kommt Marie.
Die Tür fiel hinter mir ins Schloss. Auf dem Flurplan war mein Name durchgestrichen, so, als würde ich hier gar nicht mehr wohnen. Gut, ich hatte seit Jahren keine Treppe geputzt. Ich war nie ein großer Treppenputzer gewesen.
Egal, heute kommt Marie.
Der Weg war beinahe so schön wie die Ankunft von Marie selbst. Ich ging nicht oft aus, auch um etwas Neues entdecken zu können. Eines Tages hatte man mir sogar die Straße gestohlen.
Nicht wörtlich, doch von gestern auf heute hieß sie nicht mehr Leningrader Straße. Ich fragte einen Passanten, wo der Name geblieben sei? Er meinte, Leningrad gäbe es nicht mehr und eine Leningrader Straße müsse dann geradewegs ins Nichts führen. Vermutlich hatte er Recht.
Was soll es, wenn nur Marie da ist.
Auch sonst veränderte sich dauernd etwas in meiner Stadt. Von einer Frau schnappte ich auf, „Wir müssen jetzt mit der Zeit gehen!“ Ich bekam Angst. Ich wusste nicht, wohin die Zeit mich mitnehmen würde.
Fast alles war bunter und neuer. Selbst die Sonne strahlte klarer.
Vielleicht liegt es daran, dass Marie heute kommt.
Links von mir führte die Hochbrücke Autos über den Mühlenteich. Ich begleitete sie ein Stück. Bevor sie mir entwischte, brachte sie mich an den alten Lokschuppen vorbei.
Die roten Ziegelsteine, aus denen sie geschichtet waren, verliehen ihnen eine politische Ausrichtung. Die Ziegel waren längst verblasst und etliche aus der Reihe gefallen. Wenn der Wind ging, schlugen die Türen.
Ich mochte sie, die alten Gebäude. Vielleicht, weil wir uns so ähnlich waren.
Heute habe ich keine Zeit für sie, heute kommt Marie.
In den Löchern im Gehweg sammelte sich Regenwasser zu Pfützen. Ich sah mich vor fünfzehn Jahren darin. Ich sah mich, wie ich die Welt verändern wollte.
Die Welt hatte sich geändert. Ohne mich.
Marie ist die Konstante und heute kehrt sie heim.
Im Lindengarten lag die Zeit begraben. Eine Sonnenuhr, eingelassen in die Erde wie ein Grabstein. Eine Gruppe Linden umstand die Uhr und ich fragte mich, wie sollte die Sonne in ihrem Schatten je die richtige Zeit anzeigen können?
Möglich, dass es gar nicht darum ging. Die Zeit war einfach zu beschränkt.
In dieser Uhr schwammen Seelen. Auch meine. War es Furcht, die ich spürte? Ich dachte schnell an Marie und verjagte die dunklen Gedanken wie der Sturm die Wolken.
Es ist gut, dass Marie heute kommt.
Der Lindengarten endete am Bahnhof und das war natürlich. Ein Bahnhof ist immer der Anfang oder das Ende von etwas, meistens von Bewegung.
Alt war er geworden in den letzten Jahren. Grau und ein bisschen nachlässig im Äußeren. Unrasiert und ungewaschen. Im Eingang die Schwingtür und im Tunnel der Alkoven mit der Ausstellung des Modelleisenbahnvereins.
Die Züge donnerten nicht mehr so oft über den Tunnel und es stank nach Urin. Auf den Bahnsteigen hing noch eine Spur des Duftes von Ferne. Über den Bänken der Nebel der Sehnsucht.
Unter dem Dach stauten sich die Gedanken der Reisenden. Abschied und Freude, Tränen und Umarmung, Ankunft.
Ankunft!
Heute kommt Marie.
Manchmal wünschte ich mir, ich wäre ein Fremder in der Stadt. Alles hier wäre in weißes Tuch gehüllt und ich gefordert, es wie ein Maler nach meinen Eindrücken neu zu färben.
Die Kirche hätte ich bunt gestrichen. Sie ist so groß geraten, dass alles ein Spaß sein könnte.
Übrigens, die Kirche hieß wie Marie.
Ich meinte, vom Kirchturm aus müsse man den Horizont viel einfacher sehen.
Ich könnte Marie sehen, wenn sie heute nach Hause kommt.
Ich war dreißig Jahre alt und hatte die eine Hälfte mit und die andere ohne Mauer gelebt. Ohne die Mauer. Als es mir bewusst wurde, kam eine ganze Gedankenarmee in Marsch. Sie überrollte mich mitten auf dem Bürgersteig.
Wenn man wollte, teilte die Mauer noch immer mein Leben. Irgendwie auch in jung und alt, doch das war mehr Zufall. Es juckte in meinen Händen, daran etwas zu ändern.
Vielleicht warte ich damit, bis Marie angekommen ist.
Ich schob die Nase in den Wind. Ich konnte sie schon riechen. Salz lag in der Luft und puderte meine Haare und Kleidung. Ich streckte die Zunge aus und schmeckte die Freiheit. Wellen klatschten gegen die Hafenmauer, schlugen einen Purzelbaum und tauchten zurück, um im nächsten Augenblick einen neuen Versuch zu starten. Möwen kreisten kreischend um mein Haupt und fragten sich, ob ich etwas zu essen dabei hätte. Der Wind kam geradewegs von der offenen See und brachte sie huckepack mit sich.
Marie kommt heute.
Sie war ein kleiner Punkt am Horizont. Mein Herz erkannte sie früher als meine Augen. Sie war ein Pickel auf der Oberfläche.
Der Wind blähte ihre Segel.
Marie ist wieder zu Hause.
Eins
Die Nacht verdunkelte die Stille. Ein halber Mond spiegelte sich auf dem regenassen Gehweg, während der riesige Wohnblock sanft schnarchte. Als ich mein Ohr an die Wand legte, hörte ich sein Herz langsam pochen.
Selbst die Zeit schien sich ausruhen zu wollen. Meine Haut pickelte in Punkten, der Sommer war zu Ende. Ich verschränkte die Arme vor der Brust. Die Nacht hatte kein Gesicht.
Eine Prise Zeit verrann und als ich auf die Uhr schaute, war die verabredete Stunde vergangen. Ich war nicht bereit, wieder zu gehen. Dunkelheit macht einsam und beschränkt den Blick.
Ich hörte sie, bevor ich sie sah und sie meinen Arm als Entschuldigung berührte. Ihre blauen Augen waren Sterne in einer grauen Nacht, ihre Arme weiße Königsnattern. Ihr Mund öffnete einen dunklen Spalt breit und ihr warmer Atem strich über mein Gesicht. Ich schloss die Augen und sah sie trotzdem.
Ihre Hand führte mich in den Trockenraum. Mein Mantel war die Decke, auf der wir lagen. Unser Atem verlor jeden Takt. Der Augenblick, als ich ihr den Pullover auszog, gravierte sich für immer in meinen Kopf. Ihre Haut roch nach Wärme und schmeckte nach schäumendem Meer. Ihre Haare spülten auf ihre Schultern, als sie vor mir lag. Ich konnte nicht aufhören, sie anzusehen. Sie war so vollkommen, dass ich Angst hatte, sie mit meiner Berührung zu beschmutzen.
Sie war es, die meinen Finger auf ihrer Haut forderte. Die aufgehende Sonne warf einen Strahl auf ihren Bauchnabel und setzte die Zeit wieder in Gang.
Ihre Lippen drückten einen Rest Hitze auf die meinen und ich blickte ihren wippenden Haaren nach.
Welt
Wir trugen die Welt zu Grabe.
Auf einem einfachen Feld, bar jeder Schönheit, standen wir nebeneinander. Die erste Gemeinsamkeit seit Jahren.
Ich hatte fest daran geglaubt, für immer jung zu sein und nun dies. Ich suchte auf dem braunen Boden vergebens nach einem grünen Halm. Konnte nicht wahrhaben, keinen zu finden und legte mich auf die Erde.
Der Schlamm drang mir durch Nase und Mund und verschlang Kopf und Haar.
Ich öffnete die Augen um blind zu sein.
Es war wunderbar!
Als ich die Augen wieder schloss, konnte ich alles genau sehen.
Die Welt war tot, es lebe die Welt.
Wir gingen ohne ein Wort auseinander und das war die zweite Gemeinsamkeit.
Ich hängte meinen Mantel an einen Ast und lachte mit der Amsel, die aus einem Busch flog. Die Sonne trieb Nebel stiefelhoch über das Feld.
Die Welt war anders geboren, es fehlte mir die zweite Sicht. Ich fragte mich, ob ich ein Auge verloren hätte.
Wie ein Maulwurf grub sich eine Pflanze aus dem Boden und blockierte meinen Weg so lange, bis ich mich niedersetzte und sie betrachtete. Es war März und sie trug ein aprilgrünes Kleid. Neu geboren, dieses Grün, unbefleckt von Zeit und Wissen.
Ich liebte es, wie nie etwas zuvor oder danach.
Eine neue Welt.
Kyra und Lille
Durch die Scheibe des Flughafenfensters sah Kyra die kleinen Regentropfen vergnügt auf den Platten des Gehweges vor dem Gebäude aufschlagen. Wenn sie den Boden berührten, zersprangen sie jauchzend in tausend kleine Tröpfchen. Wie die Figuren in einem wilden Tanz wirbelten sie durch die Luft. Die junge Frau schlängelte sich begeistert zwischen mantelverhüllten Passagieren hindurch ins Freie. Sie streifte ihre Schuhe ab und auf Zehenspitzen hüpfte sie in drei Drehungen den Weg zum nächsten Taxi. Sie schwebte in den Wagen und lächelte dem Fahrer „Ahornallee 15“ zu.
Als Kyras Taxi abgefahren war, rückte die Reihe der wartenden Wagen einen Platz zum nächsten Fahrgast auf. Der großgewachsene, schlanke Lille öffnete den Kofferraum, noch bevor der Fahrer aussteigen und helfen konnte. Er verstaute den großen Koffer, schloss die Klappe wieder und setzte sich in den Fahrgastraum, von wo er den Fahrer ein kurzes und bestimmtes „Ahornallee 15“ diktierte. Als der Wagen anfuhr, kündigte der Radiosprecher eine Unwetterwarnung an.
Das Taxi mit Kyra hielt vor der einladend winkenden Stadtvilla, an deren Mauern Efeu hinaufrankte. Kyra stand einen Augenblick vor dem Haus, legte ihren Kopf auf die linke Schulter und betrachtete es aus dieser Stellung heraus. Das war ihr Ritual, wenn sie ein neues Haus bezog. Kyra grinste das Haus an, „wir werden gute Freunde sein“. Ein kräftiger Wind zerrte an ihren Kleidern und aus den fröhlichen Tröpfchen vom Bahnhof waren schwere, fette Regentropfen geworden.
Kyra hatte die Tür des Hauses gerade hinter sich geschlossen, als das Taxi mit Lille vorfuhr. Lille zahlte den Fahrpreis und ohne einen weiteren Blick zu verschwenden, schritt er mit langen, ausgreifenden Schritten auf die Haustür zu.
Er drehte den Schlüssel und schnurrend öffnete sich die Tür. Die Wohnung wirkte auf den ersten Blick altmodisch, aber gemütlich eingerichtet. Lille interessierten Äußerlichkeiten weniger, doch besorgt erschnupperte er das süßliche Frauenparfüm, dass träge zwischen den Räumen lag.
Lille schnaubte durch die Nase. Der Geruch des Parfüms war widerlich stark. Wahrscheinlich war der Vorbesitzer eine Frau gewesen. Lille ging einige Schritte tiefer in den Flur und plötzlich schien ihm, als würde er Wasser rauschen hören.
Lille lauschte in die Wohnung hinein. Kein Zweifel, jemand hatte vergessen, den Wasserhahn zu schließen. Lille stürmte in Richtung des Geräusches, riss die Badezimmertür auf und blieb auf der Türschwelle stehen. Im daumendicken Strahl spülte Wasser in die Badewanne und traf dort auf einen schmalen, festen Unterschenkel. Dazu rekelte sich eine nackte Frau im Wasser. Lille war ein höflicher Mensch, doch der Anblick des unverhüllten Körpers fesselte seine Aufmerksamkeit.
Die nasse Haut zog sich glatt und stramm über die sportliche Figur, die gleichwohl zierlich und beinahe zerbrechlich wirkte. Die Beine waren wohlproportioniert und nur der mäkelige Kritiker hätte eine leichte O-Krümmung bemängelt. Die Taille schimmerte schmal durchs Wasser und die Brüste ragten ebenmäßig zierlich fest - verführerisch schutzlos aus dem Wasser. Das Gesicht war von dunkelschwarzem Haar umschlossen, das durchnässt an der Haut klebte. Lille konnte sich endlich von dem Anblick lösen und schloss die Tür leise hinter sich.
Als die Tür ins Schloss fiel, sank auch der nebulöse Schleier, der sich vor Lilles Verstand gelegt hatte. Wie kam diese Frau in seine Wohnung? Es musste einen Fehler beim Vermieter gegeben haben. Lille spürte Ärger in sich aufsteigen und verzog sich ins Wohnzimmer. Er hasste es, wenn Absprachen nicht eingehalten wurden. Er ließ sich auf den Sessel vor dem Kamin fallen und wartete.