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Das schönste Schmetterlingsbuch unserer Zeit Nach ihren beiden erfolgreichen, hochgelobten Büchern »Von seltenen Vögeln« und »Das botanische Schauspiel« widmet sich Anita Albus in ihrem neuen Buch einer der faszinierendsten Erscheinungen der Natur: den Schmetterlingen. Spannend und farbenfroh erzählt sie von Raupen, Larven und Faltern aus aller Welt und lässt immer wieder auch die großen Schmetterlingsliebhaber der Literaturgeschichte – von Goethe über Strindberg bis Nabokov – zu Wort kommen. Wie in ihren vorangegangenen Büchern verbindet Anita Albus dabei naturkundliches Wissen und historische Bildung mit dem genauen, liebevollen Blick einer Künstlerin, die mit Worten und Farben malt. Der opulent ausgestattete Band enthält über 60 Abbildungen, darunter zahlreiche spektakuläre Schmetterlingsbilder von Anita Albus selbst. Ein Buch, das uns zum Staunen bringt und den Schmetterlingen bei aller Präzision der Darstellung ihren Zauber, ihr Geheimnis lässt.
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Seitenzahl: 253
Anita Albus
Sonnenfalter und Mondmotten
FISCHER E-Books
Mit zahlreichen Abbildungen
Lepidoptera, »Schuppenflügler«, ist die wissenschaftliche Bezeichnung der Tiere, für die im Deutschen zwei Namen zur Wahl stehen: Falter oder Schmetterling. Letzterer war weder Maria Sibylla Merian noch dem ihr nacheifernden August Johann Rösel von Rosenhof geläufig. Zwar taucht das Wort schon 1501 auf, löst aber erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts »Papilion«, »Sommervogel« und »Schmettling« ab, während das viel ältere »Falter« immer erhalten blieb. Schmettling ist die deutsche Version des englischen butterfly. Das dem tschechischen smetana entlehnte »Schmetten« bedeutet Rahm, Sahne, Schmand. Im Volksglauben waren Schmetterlinge verwandelte Hexen, die Butter stehlen oder Rahm, die Blüte der Milch.
Wie zum Ausgleich für die zweifache Benennung der Ordnung Lepidoptera wurde die Bedeutung des Wortes Motte im Deutschen durch die Systematik eingeschränkt. Ursprünglich wie das englische moth auf alle Nachtfalter bezogen – »Mottenvögel« hat die Merian sie genannt –, wird der Name nur noch den Echten Motten zugesprochen, den Tineidae, zu denen auch die Kleider-, Pelz-, Tapeten-, Korn- und Korkmotten gehören. Allein, in landläufiger Rede gelten die des Nachts das Licht umschwirrenden Falter immer noch als Motten im ursprünglichen Sinn, und so sind auch meine Mondmotten zu verstehen.
Zur wissenschaftlich korrekten Bezeichnung eines Tieres gehört nach dem Gattungs- und Artnamen auch der Name des Autors, der es als Erster beschrieben und benannt hat und obendrein noch das Datum seiner Veröffentlichung. Die vollständigen Benennungen sind im Anhang nachzulesen.
Mit Ausnahme der von Johannes Goedaert verkleinert dargestellten Insekten sind alle Falter, Raupen und Puppen meines Buches in ihrer Originalgröße wiedergegeben.
Meinen Urenkeln Amina und Elias gewidmet.
Seit dem Parmenides des Platon wissen wir, daß die Wahrheit sich nicht einfangen läßt, daß, wenn es eine letzte Realität gibt, sie in dem Maße vor uns zurückweicht, wie wir ihr zu nahe kommen, und daß sie sich schließlich bis zur Nichtigkeit verflüchtigt. Von Elementarteilchen zu Elementarteilchen, von psychologischer Analyse zu psychologischer Analyse ist der Abstieg schwer und ohne Ende. Dieser Weg kann nur zur Aufdeckung der Kontingenz führen, und so wird der Zufall unser Weggefährte sein.
Wir aber suchen einen anderen Weg, einen Aufstieg, von wo aus wir die Dinge sich fügen und nicht sich teilen sehen und wo der Zufall uns verläßt, so wie Vergil Dante verließ, als sie am Eingang des Paradieses angekommen waren. Und was uns leitet, wird die Schönheit sein.
Ivar Ekeland
Johannes Goedaert, Titel des dritten Bandes der Metamorphosis Naturalis, Middelburg 1668.
»We are such stuff as dreams are made of; and our little life is rounded with a sleep.«
Shakespeare
Der Ursprung des Schmetterlings aus dem Ei war in Europa noch unbekannt, die Zucht der Seidenraupe ein seit drei Jahrtausenden gehütetes Geheimnis Chinas, als Dschuang Dsi vor etwa zweitausenddreihundert Jahren sein berühmtes Gleichnis über die Wandlung der Dinge schrieb. Einst träumte ihm, er sei ein Schmetterling, hu dieh, der im Glück des Umherflatterns von keinem Dschuang Dsi weiß. Als er plötzlich aufwachte, war er »wirklich und wahrhaftig« wieder Dschuang Dsi. Nun weiß er nicht, ob Dschuang Dsi träumte, er sei ein Schmetterling, oder ob der Schmetterling träumte, er sei Dschuang Dsi.[1] Ob Mensch oder Schmetterling, Wirklichkeit oder Traum, dem Mystiker des Tao und glänzenden Dichter galt es gleichviel. Ganz anders nähme es sich in den Facettenaugen des Schmetterlings aus. Als Dschuang Dsi seiner Flügel und Fühler beraubt auf nur zwei Beinen der Erde verhaftet zu sein wäre ein Alptraum für ihn. Auch der glückselige Traum von Dschuang Dsi hätte sich in einen Alptraum verwandelt, wenn er als Schmetterling alle Stadien von Raupe, Puppe und Falter durchträumt hätte.
In einer Schilderung der Metamorphose des Schmetterlings von Vladimir Nabokov ist der schlüpfende Falter eine Falterin, die Puppe ein Neutrum und die Raupe ein Rauperich. Für den Autor von Lolita ging der größte Zauber von dem Stadium der Puppe aus, in dem der bald schlüpfende Schmetterling unter der gläsernen Puppenhaut hindurchschimmert. Im Englischen wird die Puppe pupa oder chrysalis, aber auch nymph genannt. Der schlüpfende Falter mußte demnach ein Weibchen sein, die Raupe hingegen, die in der Puppe gleichsam ihr Innerstes der »Nymphe« hingibt, ein Rauperich, ein eher abstoßendes Wesen wie Humbert Humbert.
Die wahrscheinlich 1950 von Nabokov verfaßte Miszelle war als Verbindungsstück zwischen seiner Vorlesung über Franz Kafkas Die Verwandlung und Robert Louis Stevensons Dr. Jekyll und Mr. Hyde gedacht, aber kein Student hat sie je von ihm vernommen. Zweiundzwanzig Jahre nach seinem Tod erschien sie unter dem Titel »Einladung zu einer Verwandlung« in der New York Times Book Review. Es muß Nabokov klar gewesen sein, daß er sich auf Kosten des Schmetterlingsforschers von der Spinnlust des Dichters fortreißen ließ, als er sich an die Stelle eines Rauperichs versetzte, in dem sich die Verwandlung in die Puppe vollzieht:
»Obwohl wunderbar anzusehen, ist die Verwandlung der Larve in eine Puppe oder der Puppe in einen Schmetterling für das betreffende Wesen kein sonderlich angenehmer Vorgang. Für jede Raupe kommt der schwierige Moment, da ein komisches Gefühl des Unbehagens sie überfällt. Es ist ein Gefühl der Enge – hier am Hals und anderswo – und dann ein unerträglicher Juckreiz. Natürlich hat er sich schon mehrmals gehäutet, aber das war nichts im Vergleich zu dem Kribbeln und dem Drang, den er jetzt verspürt. Er muß diese enge trockene Haut abwerfen oder sterben. Wie Sie schon vermutet haben werden, bildet sich unter jener Haut bereits der Panzer einer Puppe – und wie unbequem ist es, die eigene Haut über dem eigenen Panzer zu tragen: im Augenblick habe ich vor allem jene Schmetterlinge im Sinn, die eine auch Chrysalide genannte Puppe haben, welche von irgendeinem Halt frei in der Luft baumelt.
Nun ja, irgend etwas muß der Rauperich gegen dieses schreckliche Gefühl tun. Er läuft unruhig umher, auf der Suche nach einem passenden Ort. Er findet ihn. Er kriecht eine Mauer oder einen Baumstamm hoch. An der Unterseite ihres Hochstands macht er sich ein kleines Seidenpolster. Er heftet sich mit dem Leibesende oder den hintersten Beinen an dieses Seidengespinst, so daß er in der Haltung eines umgedrehten Fragezeichens mit dem Kopf nach unten hängt, und tatsächlich stellt sich eine Frage – nämlich wie er seine Haut loswerden soll. Eine Schlängelbewegung, noch eine – und ratsch, den Rücken entlang platzt die Haut auf, und peu à peu befreit er sich aus ihr, wie jemand, der sich mit Schultern und Hüften aus der Wurstpelle eines Kleidungsstücks windet. Dann kommt der kritischste Augenblick. Sie verstehen, wir hängen gerade mit dem Kopf nach unten an unseren hintersten Beinen, und das Problem jetzt besteht darin, die gesamte Haut abzustreifen, sogar die Haut jener hintersten Beine, an denen wir hängen – aber wie soll das gehen, ohne in die Tiefe zu stürzen?
Was macht es also, dieses tapfere und hartnäckige Tierchen, das schon halb entkleidet ist? Sehr sorgfältig beginnt es, seine Hinterbeine freizumachen, sie aus dem Seidengespinst, an dem es kopfunter hängt, hervorzuziehen – und mit einem bewundernswerten Dreh und Ruck springt es sozusagen schließlich aus dem Seidenpolster, wirft den letzten Fetzen der Umkleidung ab, und noch während dieses Ruck-und-Dreh-Sprungs befestigt es sich aufs Neue, diesmal mittels eines Hakens, der sich unter der abgestreiften Haut am Ende seines Leibes befand. Jetzt ist gottseidank die ganze Haut ab, und die entblößte Oberfläche, nunmehr hart und glänzend, ist die Puppe, ein wickelbabyhaftes Etwas, das an einem Zweig hängt – eine sehr schöne Chrysalide mit goldenen Knötchen und gepanzerten Flügelhüllen. (…)
Nach etwa zwei oder drei Wochen tut sich etwas. Die Puppe hängt reglos, doch eines Tages bemerken Sie, daß durch die Flügelhüllen hindurch – die um vieles kleiner sind als die Flügel des zukünftigen vollkommenen Insekts – Sie bemerken also, daß durch die hornartige Oberfläche jeder Flügelhülle en miniature das Muster des künftigen Flügels hindurchschimmert, die wunderbare Tönung der Grundfarbe, ein dunkler Saum, ein rudimentärer Augenfleck. Noch ein Tag oder zwei – und es ereignet sich die endgültige Verwandlung. Die Puppe reißt auf, wie die Raupe aufgerissen war – tatsächlich ist es eine letzte, bessere Häutung, und das Schmetterlingsweibchen kriecht hervor – und hängt nun ihrerseits am Ast, um zu trocknen. Zunächst ist sie nicht hübsch. Sie ist feucht und verschlumpt. Doch jene schlaffen Anhängsel, die sie langsam frei gemacht hat, trocknen, sie dehnen sich, die Adern verästeln sich und werden hart – und in ungefähr zwanzig Minuten ist sie bereit zum Flug. Sie haben bemerkt, daß die Raupe männlich ist, die Puppe sächlich und der Falter weiblich. Sie werden fragen: Wie fühlt sich das Schlüpfen an? Nun ja, zweifellos rauscht Panik in den Kopf, gibt es den Kitzel einer atemlosen und seltsamen Empfindung, doch dann sehen die Augen, in einer Flut von Sonnenlicht sieht die Falterin die Welt, das große und schreckliche Gesicht des staunenden Entomologen.
Jetzt wollen wir uns aber der Verwandlung von Jekyll und Hyde zuwenden.«[2]
Es beflügelt die Imagination, sich die qualvolle Verwandlung von Jekyll und Hyde wie die des Schmetterlings vorzustellen. Allein die Schmetterlingsmetamorphose kann so qualvoll, wie Nabokov sie schildert, nicht sein. Die Raupe kennt keinen Schmerz. Sonst könnte eine Raupenart, die, wenn sie am Hinterende verwundet wurde und dort blutet, eingekrümmt an sich zu saugen und zu fressen beginnt, nicht auf diese Weise gleichsam Selbstmord begehen.[3] Da die Raupenhaut über kein Nervengeflecht verfügt, kann sie auch nicht jucken. In die Verlegenheit, die eigene Haut über dem eigenen Panzer zu tragen, kann keine Raupe je kommen, denn die hervordringende Puppe ist bei der Häutung noch »so weich, zart, biegsam und flüßig, als beinahe das Wasser selbst«.[4] Erst an der Luft härtet ihre Haut allmählich hornartig aus. Mit dem Kopf nach unten am eigenen Spinnfaden, an einem Ast, Zweig oder Pflanzenstengel zu hängen ist für das Tierchen eine ganz alltägliche Stellung. Zuletzt sind auch die Flügeladern des schlüpfenden Schmetterlings bereits verästelt, wenngleich man das unter dem dicken Samt der Schuppen in den herabhängenden weichen Flügellappen mit ihren Fältelungen nicht unbedingt erkennt. Die Flügel entfalten sich zu ihrer vollen Pracht, wenn der geschlüpfte Schmetterling Blutflüssigkeit aus seinem Körper in die hohlen Flügeladern pumpt, so daß sich die dehnbare Flügelmembran durch den inneren Druck aufspannt und sich langsam auf das ihr verliehene Maß ausstreckt.[5] »Dieser Vorgang des Streckens dauert in der Regel etwas weniger als eine Stunde. Funktionsfähig werden die Flügel aber erst nach einer wesentlich längeren Zeitspanne, wenn sie durch die Einwirkung der Luft erhärtet sind, das heißt, wenn die Blutflüssigkeit aus den Adern zurückgezogen und durch Luft ersetzt ist. Viele Falter schwingen sich nach dem Hartwerden der Flügel bald in die Luft, während andere noch eine Nacht in Ruhelage verharren, die Flügel über dem Rücken zusammengeklappt, bei den Widderchen dachförmig angelegt. Vor dem Flug wird in allen Fällen der sogenannte Puppenharn abgegeben, Stoffwechselabfälle der Puppe, die zunächst im Darm gespeichert wurden. Diese kräftig gefärbte Flüssigkeit hinterläßt, wenn an einer Stelle viele Falter schlüpfen, am Boden deutliche Farbspuren – Blutregen heißt diese Erscheinung im Volksmund.«[6]
Die eigentliche Umwandlung, das wahre Wunder der Metamorphose, mußte Nabokov ausblenden. Was sich während der Puppenruhe in der Chrysalide abspielt, entzieht sich einer einfühlenden Schilderung: die makellose Auferstehung aus der eigenen Auflösung. Jahrhundertelang waren die Gelehrten der Ansicht, daß Insekten durch Urzeugung aus Fäulnis und Schlamm entstehen. Es muß sie in ihrem Glauben bestärkt haben, daß eine junge Puppe, wenn man sie öffnet, mit einem dünnen, formlosen Brei angefüllt ist.
Seidenspinner Bombyx mori, unterschiedlich gefärbte Raupen mit den entsprechenden Kokons; Fig. 18 Puppe; Fig. 19 Falter ♂; Fig. 20 Falter ♀. (Insecten-Belustigung, Bd. III)
Es bedurfte der Lupen und Mikroskope niederländischer Linsenschleifer, den Irrtum der Urzeugung zu widerlegen. Zu der Einsicht, daß alles Lebende aus einem Ei entsteht, kam im 17. Jahrhundert Francesco Redi, der die Fliegeneier nachwies, Marcello Malpighi, der den Seidenspinner Bombyx mori unter das Mikroskop nahm, und Jan Swammerdam, dem es mit andächtiger List und unerschöpflicher Geduld gelang, die »Zeugeglieder« des Falters und die Eierstöcke der Falterin sichtbar zu machen, indem er mit winzigen Glaskanülen gefärbtes flüssiges Wachs in die Gefäße blies. »Alle Züge vom Apelles sind gegen die zarten Striche der Natur grobe Balken. Alles künstliche Gewebe der Menschen muß sich vor einer einzigen Lungenader verkriechen. Wer will sie abbilden? Welcher Witz vermag sie zu beschreiben? Welcher Fleiß kann sie hinlänglich untersuchen?«, fragt er in seiner Bibel der Natur, die seine Darstellungskunst, seinen Witz und seinen Fleiß belegt.[7]
Ex ovo omnia, ob Elefant oder Mücke, Mensch oder Motte, aber was vollzieht sich im Ei? Im 17. Jahrhundert kommt die Präformationslehre auf, der Glaube, daß der Schöpfer die Gestalt aller Lebewesen im Keim vorgebildet hat, so daß die Entwicklung des Embryos ohne Neubildung einzig auf dem Auswachsen von Teilen beruht, die im Keim en miniature eingeschachtelt waren. Ob aber das Elefäntchen, Mückchen, Menschlein oder Möttchen im Ei oder im Sperma vorgebildet war, darüber stritten die Meister der Mikroskopie. Ovulisten nannten sich die Anhänger der Einschachtelung im Ei, Animalkulisten die Vertreter der eben von Leeuwenhoek entdeckten »Samentierchen«, deren Beweglichkeit ihnen als ein Indiz männlicher Überlegenheit erschien. Man sah die Spermatozoen als wirkliche Tiere an, deren Verwandlung vom kaulquappenartigen Zustand in den zweibeinigen so wundersam war wie die Metamorphose der Raupe in den Schmetterling. Eben diese wurde nun von den Ovulisten in Frage gestellt.
»Auch läßt sich nicht unrecht zweifeln«, schreibt der Ovulist Malpighi 1669 in seiner Monographie des Seidenspinners De Bombyce, »ob nicht die neue Lebensart der Goldpuppe eine Maske oder Decke des bereits gebohrnen Zwiefalters[8] sei, unter der er, ohne durch äußerliche Zufälle gerührt oder gekränkt zu werden, dem Ansehen nach feste steckt und anwächst, wie eine Frucht im Mutterleibe.«[9] Der Glaube an die Präformation verblendete selbst die schärfsten Beobachter der Insektenmetamorphose. Swammerdam, der keine Mühe scheute, die Verwandlung der Gliederfüßer, ob Ameise oder Nashornkäfer, Eintagsfliege oder Bremse, Spinne oder Skorpion, Biene oder Laus, Heuschrecke oder Zwiefalter in jeder Phase und in jedem Fäserchen zu erfassen, erklärt die Verwandlung im Sinne einer Neubildung für das Hirngespinst derer, die sich das ausgedacht haben. »Die Verwandlung ist also ganz ungegründet, und wider alle Wahrheit. Daher können wir nicht allein in einer Puppe: sondern auch in dem Wurme, oder der Raupe selbst alle Theile des zukünftigen Thieres zeigen. Diese Theile werden nicht auf einmal hervorgebracht: sondern sie wachsen langsam an, eines nach dem andern.«[10] Er stellte sich das Anwachsen als ein Sprießen wie im Pflanzenreich vor: »Darinne nun liegt der einige Grund aller Veränderungen der Insekten, daß die neuen Gliedmassen (…) nach und nach durch eine Zusetzung der Theile (…) anwachsen, aufschwellen, gleichsam Knospen und Augen gewinnen.«[11] Er sezierte Puppen von Aglais urticae, dem kleinen Fuchs, in verschiedenen Phasen. Seine Überzeugung von der »Zusetzung der Theile« geriet auch beim Anblick der sich auflösenden Raupenorgane in der Puppe nicht ins Wanken. Die einzige Veränderung in der Puppe bestehe darin, »daß die überflüßige Feuchtigkeit, womit alle Puppen sich nothwendig verändern, nach und nach ausdunstet. Die schwachen, zarten, und wie Wasser flüßigen Glieder werden (…) durch diese Ausdünstungen gestärkt, und von der überflüßigen Feuchtigkeit, die ihre Bewegung verhinderte, befreyet.«[12] Wenn dann der Falter schlüpfe, geschehe nichts anderes, »als daß die allmählig bekleidenden Fellgen oder Häutgen, die als so viele das Gesicht behindernde Vorhänge sind, nun allgemach weggenommen, abgelegt und ausgeschüttet werden, so daß man zuletzt die inwendig verborgenen Glieder äusserlich zu sehen bekommt.«[13]
Kleiner Fuchs Aglais urticae, Fig. 1–4 verschiedenfarbige Raupen; Fig. 5 Puppe, Fig. 6 und 7 Falter. (Insecten-Belustigung, Bd. I)
In seiner Einleitung zur »Zergliederung des gemeinen und farbigen Tag-Zwiefalters« Aglais urticae kann er dann doch nicht umhin, das Wunder der Veränderungen mit der Auferstehung aus dem Tode zu vergleichen: »Hier wird man sehen, daß ein elendes Thier allmählig alle Bewegung seiner Gliedmassen verlieren, und als wie zum Grabe und Tode sich nähern wird; wie in solchem Zustande alle seine vorigen Gliedmassen zu einer viel grösseren Vollkommenheit gelangen sollen; wie es gleichsam aus dem Tode wieder auferstehen, mit dem allerschönsten Glanz und blitzenden Schmuck begabt, und an stat eines trägen und an der Erde klebenden Lebens, eine schnelle Bewegung erhalten wird. (…) Das Thier fliegt nunmehr, das vorhin kroch, es saugt, da es vorhin kauete, es sieht zierlich und schön aus, da es vorhin mit Dornen bewachsen war, es ist hurtig und rasch, da es vorhin träge und plump war.«[14]
»Die Gestalt ist ein bewegliches, werdendes, ein vergehendes. Gestaltenlehre ist Verwandlungslehre. Die Lehre der Metamorphose ist der Schlüssel zu allen Zeichen der Natur.«
Goethe
Der Glaube an die »Evolutionstheorie«, wie die Präformationslehre im Gegensatz zur Theorie der Epigenese genannt wurde, währte bis ins 19. Jahrhundert. Er stand im Einklang mit dem Glauben an einen Schöpfer, der alle Formen vollendet im Keim verborgen hat, während die Theorie der Epigenese, der Entwicklung durch Neubildung aus ungeformten »organischen Molekülen«, wie Buffon sie vertrat, einzig auf die gestaltenden Kräfte der Natur verwies. Ob auch diese dem Schöpfer zu verdanken waren, stand auf einem anderen Blatt. Buffons Auffassung der epigenetischen Keimentwicklung barg jedoch ein präformiertes Element, denn er setzte »eine ursprüngliche und allgemeine Vorzeichnung« voraus, etwas, das er sich als moules interieurs, als »innere Formen«, vorstellte, in denen die organischen Moleküle ihre Gestalt annehmen, wie der Teig in einer Kuchenform.
Ob Anhänger oder Gegner der Präformationslehre, die auf ihr gründende Bibel der Natur las alle Welt mit Bewunderung. Herder lobt Swammerdams »treuen Fleiß« und mag sich doch mit der Präformationslehre nicht abfinden: »Ist es ewig bestimmt, daß die Blume nur Blume, das Tier nur Tier sein soll und vom Anfange der Schöpfung her in präformierten Keimen alles mechanisch dalag: so lebe wohl du zauberische Hoffnung eines höchsten Daseins. Zum gegenwärtigen und zu keinem höhern Dasein lag ich ewig im Keim präformiert: was aus mir sprossen sollte, sind die präformierten Keime meiner Kinder (…). Wollen wir uns also in dieser wichtigen Frage nicht mit süßen Worten täuschen: so müssen wir tiefer und weiter her anfangen und die gesamte Analogie der Natur merken. Ins innere Reich ihrer Kräfte schauen wir nicht; es ist also so vergebens als unnot, innere wesentliche Aufschlüsse von ihr, über welchen Zustand es auch sei, zu begehren. Aber die Wirkungen und Formen ihrer Kräfte liegen vor uns; sie also können wir vergleichen und etwa aus dem Gange der Natur hienieden, aus ihrer gesamten herrschenden Ähnlichkeit Hoffnungen sammeln.«[15]
Goethe, der beklagte, »daß die starre Vorstellungsart: nichts könne werden als was schon sei, sich aller Geister bemächtigt habe«, schreibt 1797 an Karl von Knebel: »Ich habe diese Tage den Swammerdam studiert, es ist eine außerordentlich schöne Natur und ein trefflicher Beobachter. Er erhob sich unglaublich über sein Zeitalter, durch eine treue Beobachtung der Phänomene, durch eine klare Aufstellung und eine verständige Zusammenstellung derselben, er dachte gut und es fehlte ihm bis auf einen gewissen Punkt weder an Klarheit noch an Methode.«[16] Der gewisse Punkt war eben jene Lehre, die Swammerdam bewog, die Metamorphose als ein Hirngespinst anzusehen.
Dabei war Goethe überzeugt, daß die »kalte, fast unfreundliche« Aufnahme seiner Metamorphose der Pflanzen der vorherrschenden Einschachtelungslehre geschuldet war und deshalb sein Ostern 1790 erschienenes sechsundachtzigseitiges Büchlein »ganz ohne Wirkung« blieb. 1796 wandte er sich den Insekten zu, deren Metamorphose »niemand leugnet«. Mit bloßem Auge und unter dem Mikroskop studierte er bei Sphinx ligustri, dem Ligusterschwärmer, Hyles euphorbiae, dem Wolfsmilchschwärmer, und Abraxas grossulariata, dem Stachelbeerspanner, die fortwährende Umbildung vom Ei bis zum Schmetterling. In Swammerdams vegetabilischer Deutung der Insektenmetamorphose fand er seine Anschauung bestätigt, daß es bei der Pflanze, mag sie sprossen, blühen oder Früchte bringen, »doch nur immer dieselbigen Organe (sind), welche, in vielfältigen Bestimmungen und unter oft veränderten Gestalten, die Vorschrift der Natur erfüllen«.[17]
Ligusterschwärmer Sphinx ligustri, Raupe, Puppe, Falter, Eier. (Insecten-Belustigung, Bd. III)
Wolfsmilchschwärmer Hyles euphorbiae, Fig. 1 junge Raupe; Fig. 2 ausgewachsene Raupe; Fig. 3 Puppe; Fig. 4, 5 Falter. (Insecten-Belustigung, Bd. I)
Mochte Swammerdam in einem gewissen Punkt auch irren, an der Richtigkeit der Beobachtung, daß schon in der Raupe die Schmetterlingsorgane in unvollendeter Form vorhanden sind, sah er keinen Grund zu zweifeln: »Der aus der letzten Raupenhaut sich loslösende, zwar vollkommene, aber nicht vollendete Schmetterling verwahrt, von einer neuen, seine Gestalt weissagenden Haut eingeschlossen, bei sich einen köstlichen Saft. Diesen in sich organisch cohobirend, eignet er sich davon das Köstlichste zu, indem das Unbedeutendere nach Beschaffenheit äußerlicher Temperatur verdunstet.«[18]
Goethe neigte der Epigenesislehre von Caspar Friedrich Wolff zu, setzte aber wie Buffon eine Prädelineation voraus. »Präformation ein Wort, das nichts sagt; wie kann etwas geformt sein, eh es ist«, notiert er in den »Fragmenten zur Botanik«. In Gestalt der Puppe mit ihrer weissagenden Haut hatte er jedoch eben dies vor Augen: die Form des Rüssels, der Augen, Fühler, Flügel und Beine des Schmetterlings, eh diese sind. Als innerliche Raupe mit der Maske eines Falters, stellt die Puppe den Übergang zwischen Raupe und Schmetterling dar. Sie frißt nicht, sie spinnt nicht, sie sieht nicht, sie tastet nicht, sie fliegt nicht, sie pflanzt sich nicht fort. Der Ruhe ist ihr Dasein gewidmet, dem scheinbaren Tod, aus dem ein anderes Leben entsteht. Vergeblich war der Streit um Präformation und Epigenese, denn vorherbestimmte Anlagen und Neubildungen schließen einander nicht aus. Die Raupe ist kein geschlechtliches Wesen, aber in ihrem Körper ist das künftige Geschlecht des Falters festgelegt, und auch dessen Flügel sind in ihrem Inneren als anfangs eingestülpte und später ausgestülpte Imaginalscheiben angelegt. Beides kommt in der Puppe zur Entfaltung, während sich die eigentlichen Raupenorgane, ihre Mundwerkzeuge, ihr Nerven- und Verdauungssystem, vollkommen auflösen. Die dabei freiwerdenden Stoffe dienen, an andere Stellen transportiert, dem allmählichen Aufbau des Schmetterlings mit seinen ganz anderen Organen. Die Energie für diese gewaltige Umwandlung verdankt sich dem Fettkörper, der sich in der Raupe, deren raison d’être das Fressen und Speichern war, gebildet hatte. Man weiß seit einer Weile, welche Hormone die Häutung und die Metamorphose steuern, aber wie die Entstehung des Falters aus der aufgelösten Raupe in der Chrysalide genau vor sich geht, ist noch immer ein Geheimnis.
Wolfsmilchschwärmer Hyles euphorbiae, Fig. 1 halberwachsene Raupe; Fig. 2 erwachsene Raupe; Fig. 4 dunklere erwachsene Raupe; Windig Agrius convolvuli, Fig. 3 Raupe. (Insecten-Belustigung, Bd. III)
Die Entdeckung, daß der »köstliche Saft« in der Puppe ein Produkt des Zerfalls ist, wäre Goethe unerträglich gewesen. Tod und Zerfall sollten ihm niemals vor die Sinne treten, selbst die Rede davon verbat er sich. So kam ihm auch beim Studium der Metamorphose seiner Schwärmer und Spanner der Gedanke an Tod und Auferstehung nicht in den Sinn. Selbst eine vernehmliche Stimme vom Himmel würde ihn nicht davon überzeugen, daß ein Toter aufersteht, teilte er Lavater mit, vielmehr halte er das für eine Lästerung gegen den großen Gott und seine Offenbarung in der Natur. Als ein junger Maler dem Greis in Weimar eine Winterlandschaft zusandte, in der Mönche einem verschiedenen Bruder das letzte Geleit geben, urteilte Goethe: »Das sind ja lauter Negationen des Lebens und ›der freundlichen Gewohnheit des Daseins‹, um mich meiner eigenen Worte zu bedienen. Zuerst also die erstorbene Natur, Winterlandschaft; den Winter statuiere ich nicht; dann Mönche, Flüchtlinge aus dem Leben, lebendig Begrabene; Mönche statuiere ich nicht; dann ein Kloster, zwar ein verfallenes, allein Klöster statuiere ich nicht; und zuletzt, nun vollends noch ein Toter, eine Leiche; den Tod aber statuiere ich nicht.«[19] In den Maximen und Reflexionen bekennt er: »Wenn ich an meinen Tod denke, darf ich, kann ich nicht denken, welche Organisation zerstört wird.«[20] Nicht an Auferstehung, aber an das Fortleben seines Geistes glaubte er. Als ein bis ans Ende seiner Tage rastlos Wirkender sah er die Natur als verpflichtet an, ihm eine andere Form des Daseins anzuweisen, eine Wiedergeburt nach Art der Verwandlung des Blattes in eine Blume oder der Raupe in einen Schmetterling.[21] Das Dasein eines Falters stellte er sich nicht vor. In einen solchen verwandelt hat sich Caspar David Friedrich in einer Sepiazeichnung dargestellt, in der er das eigene Begräbnis imaginierte. »Hier ruht in Gott C.D. Friedrich« steht auf dem Grabkreuz am offenen Grab inmitten eines Friedhofs mit einer gothischen Kirchenruine; Trauernde umringen das Grab, während ein Priester auf einen fliegenden Schmetterling deutet; weiter oben schweben fünf weitere Falter vor einem Lichtstrahl, der aus einem bewölkten Himmel hervorbricht, an dem ein Regenbogen über der Kirchenruine steht. Der einzelne Schmetterling stellt die Seele des Malers dar, die fünf anderen die seiner Mutter selig und seiner verstorbenen Geschwister. Goethe, der die »sauber getuschten Landschaften« Friedrichs bewunderte, die darin enthaltenen »düsteren Religionsallegorien« aber mißbilligte, kannte »Mein Begräbnis«. Ob er es statuierte, ist nicht überliefert.[22]
Die Metamorphose der Schmetterlinge hat auch der Goethe nahestehende Herder in Analogie zu der der Blütenpflanzen aufgefaßt, ohne deshalb in seiner Darstellung der Raupenverwandlung den Tod wegzublenden: »Die Blume erscheint unserm Auge als ein Samensprößchen, sodann als Keim; der Keim wird Knospe und nun erst geht das Blumengewächs hervor, das seine Lebensalter in dieser Ökonomie der Erde anfängt. Ähnliche Auswirkungen und Verwandlungen giebt es bei mehrern Geschöpfen, unter denen der Schmetterling ein bekanntes Sinnbild geworden. Siehe, da kriecht die häßliche einem groben Nahrungstriebe dienende Raupe, ihre Stunde kommt und Mattigkeit des Todes befällt sie: sie stemmt sich an: sie windet sich ein: sie hat das Gespinnst zu ihrem Todtengewande, so wie zum Teil die Organe ihres neuen Daseins schon in sich. (…) Wer würde in der Raupengestalt den künftigen Schmetterling ahnen? wer würde in beiden Ein und dasselbe Geschöpf erkennen, wenn es uns die Erfahrung nicht zeigte? Und beide Existenzen sind nur Lebensalter Eines und desselben Wesens auf Einer und derselben Erde, wo der organische Kreis gleichartig wieder anfängt; wie schöne Ausbildungen müssen im Schooß der Natur ruhen, wo ihr organischer Zirkel weiter ist, und die Lebensalter, die sie ausbildet, mehr als Eine Welt umfassen. (…) Und so zeigt uns die Natur auch an diesen Analogieen werdender d.i. übergehender Geschöpfe, warum sie den Todesschlummer in ihr Reich der Gestalten einwebte.«[23]
Herder glaubte, daß der Mensch zur Hoffnung der Unsterblichkeit gebildet ist.[24] Auch Jean Paul hat diese Hoffnung in Selina oder über die Unsterblichkeit der Seele