Sonnenperle - Heidi Lange - E-Book

Sonnenperle E-Book

Heidi Lange

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Beschreibung

Comte Luis de Passeur hat sich in der Erlenburg eingenistet und spaltet die Gemüter. Viele Damen der Stadt bewundern seine elegante Erscheinung, nicht aber Agnes, die Tochter des ansässigen Webermeisters Gustav Gründel. In dessen Werkstatt lässt de Passeur große Mengen kostbarer Stoffe weben. Aber wofür? Agnes bleibt nicht verborgen, dass der Comte um sie wirbt und versucht ihm aus dem Weg zu gehen. Sehnsüchtig wartet sie auf die Ankunft von Johan, den sie liebt. Eines Nachts beobachtet Karamell, das Zauberhuhn, wie eine geheimnisvolle Kiste in die Burg gebracht wird. Sie und Strudel, der Wassermann, sind alarmiert. Was führt de Passeur im Schilde? Schon ereignen sich in der Stadt merkwürdige Dinge. Hat Erlin, die Königin im Erlenhain darauf vielleicht eine Antwort? Ein Märchen für Erwachsene.

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Heidi Lange ist Heilpädagogin und Supervisorin und als Dozentin tätig. Ihre Enkelin Lea hat in ihr die Freude an Märchen wieder zum Leben erweckt, was sie dazu veranlasst hat, eine Ausbildung zur Märchenerzählerin zu machen. Seitdem befasst sie sich mit Märchen aus vielen Ländern der Welt. Mit ihrem Mann und zwei Katzen lebt die Autorin in einem Holzhaus inmitten eines verwunschenen Gartens.

2021 veröffentlichte sie ihr erstes Buch „Lichtmond“ – ein Märchenroman (s.S.413ff). In „Sonnenperle“ begegnet der Leserin / dem Leser der Handweber Johan erneut, der nun um seine große Liebe Agnes kämpft.

„Mögest du fragen und zweifeln, hadern und ringen, wie Menschen es tun, die bereit sind, bis zum Grund zu tauchen und der Welt die Perle zu schenken, die sie finden.“

Giannina Wedde, 2021

*

„Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; aber die Liebe ist die größte unter ihnen.“

Bibel, 1. Korinther, 13

Sonnenlicht durchbrach die Linie zwischen Luft und Wasser, drang in die Tiefe hinab, wo aus wogendem Algenwald ein mächtiger Turm emporragte – eine Festung aus Perlmutt. Silbergrün, blassrosa, leuchtendweiß. Bunte Fische umkreisten den Turm, ließen sich von der Strömung gemächlich durch seine Öffnungen treiben, verschwanden im Inneren und schwammen wie schwerelos an anderer Stelle wieder hinaus. Am Grund des Gewässers tummelten sich zwischen Steinen und korallenbewachsenen Felsen Krebse aller Art, ebenso geschmeidige Seesterne, kugelige Seeigel und wie von Hand polierte Muscheln. Unablässig öffneten und schlossen sich schwebende Quallen wie aufgebauschte Regenschirme. Seepferdchen ließen sich bei ihrem Tanz von den wiegenden Algenzweigen liebkosen. Mürrisch dreinblickende Schildkröten schoben langsam ihre massigen Körper voran. Auf der Suche nach unsichtbaren Moostierchen und raffiniert getarnten Würmern stolzierte eine Wasserspinne auf dünnen haarigen Beinen zwischen den Felsenritzen umher.

Im Schutz des Perlmuttturms hatten alle Tiere ein angenehmes Leben. Außer wenn sich plötzlich die schwarzen, sich windenden Schatten zwischen sie und das Licht schoben und aus dem Turm ein dumpfer durchdringender Laut ertönte. Blitzschnell verschwanden dann die Geschöpfe in ihren Verstecken. Einige nutzten dafür den Turm, andere verkrochen sich zwischen den Felsen, wieder andere verharrten bewegungslos getarnt, bis die vermeintliche Gefahr vorüber war.

Eines der Schalentiere hatte sich vor Zeiten ebenfalls in diesen Turm begeben. Seitdem lebte es dort, um zu wachsen und abzuwarten, bis der verheißene Augenblick gekommen war. Alles was das Tier zum Leben brauchte, fand es hier.

So vergingen die Jahre, bis zu jenem Tag, an dem es wie von einem fernen Ruf gelockt begann, sich in der ihm eigenen Langsamkeit nach oben zu bewegen – ein langer mühsamer Weg durch die verschlungenen labyrinthischen Gänge des Turms. Aber das Tier hatte keine Eile, obwohl sein Ziel jener Punkt war, der sich an der Turmspitze, knapp unterhalb der Wasseroberfläche befand. Dort würde ein Strahl der Sonne den Schatz in seinem Innersten zum Strahlen bringen.

Meister Gründel sah von seinen Büchern auf. Schon einen Moment bevor der Kunde an die Tür pochte, hatte er das energische Klacken eines Gehstocks, dann die Schritte des Besuchers auf den hölzernen Stufen vernommen.

Er kommt, schoss es ihm durch den Kopf. Rasch erhob er sich, straffte seinen Gehrock, ebenso seine Haltung, und verschränkte die Hände hinter dem Rücken, wie er es gewöhnlich tat. Angespannt fixierte er die dunkle Holzfläche der Tür. Zudem bemühte sich Gustav Gründel um ein Lächeln, mit dem er den Mann empfangen wollte, was ihm allerdings misslang, wie er sich eingestehen musste. Verdammt! Warum kann ich ihn nicht freundlich begrüßen?, dachte er und ärgerte sich über sich selbst. Schließlich ist er der beste, nein, der allerbeste Kunde, den ich jemals hatte! Schon deshalb verdient er meine Freundlichkeit.

Während er noch mit sich haderte, klopfte es. Gustav holte tief Luft, um „Herein“ zu rufen, doch der Besucher wartete gar nicht erst ab. Er trat einfach ein.

„Seid willkommen, Eurer Gnaden“, hörte sich Gustav sagen, konnte es jedoch selbst nicht glauben. Die Anwesenheit des Mannes füllte augenblicklich, auf eine höchst unangenehme Weise, den Raum. Obwohl das Arbeitszimmer des Meisters – schon wegen des vielen Holzes, das es hier überall an Wänden, Decke und am Boden gab – eine wohlige Gemütlichkeit ausstrahlte, durchfuhr Gustav ein eisiger Schauer. Die Flammen der Kerzen, die vorhin noch ruhig flackerten, wurden von einem heftigen Luftzug erfasst, sodass er befürchtete, sie könnten erlöschen.

Als dann die Tür ins Schloss gefallen war, ging der Besucher ein paar Schritte auf Gründels Arbeitstisch zu, blieb aber mitten im Raum stehen. Die Männer betrachteten einander. Der Besucher tat dies mit durchdringendem Blick, den Gustav schon von ihm kannte, während er sich bemühte, seine Nervosität in den Griff zu bekommen. Dabei half ihm das vertraute Klappern und Klopfen der Webstühle, auf denen in der ebenerdigen Etage die Weber ihrer Arbeit nachgingen. Mit einer Handbewegung lud er den Mann ein, auf dem rot gepolsterten Stuhl vor seinem Tisch Platz zu nehmen.

Die Erscheinung des Besuchers war wie gewöhnlich an Eleganz kaum zu überbieten. Unter seinem schwarzen Gehrock blitzte ein helles Hemd aus feinstem Leinen hervor. Über diesem trug er eine Weste aus leuchtendgrüner Seide, aufwändig bestickt mit kunstvollen Blumenranken. Das Hemd hatte einen hohen Kragen, um den ein Band aus dunkelgrünem Samt stilvoll gebunden war. Die ebenfalls schwarze Hose konnte nur aus Leder sein, das im Kerzenlicht matt glänzte, gleichfalls die Handschuhe, die der Mann nun lässig abstreifte, nachdem er Platz genommen und ein Bein über das andere geschlagen hatte. Seinen Gehstock, an dessen Ende eine goldene Spitze aufblitzte, legte er fast zärtlich auf den Oberschenkeln ab. Das Leder seiner Hose bedeckte selbst im Sitzen den Schaft der blank geputzten Stiefel. Auf dem Kopf trug er einen steifen Zylinder mit breiter Krempe. Das mit Pomade sorgfältig frisierte, rötlich schimmernde Haar schaute nur an wenigen Stellen darunter hervor. Kein Zweifel: Hier saß ein Mann mit modischem Verstand, der penibel auf ein elegantes Äußeres achtete. Meister Gründel kam nicht umhin, dieser Tatsache Bewunderung zu zollen.

„Euer Gnaden sehen heute wieder vortrefflich aus“, sagte er, nicht ohne einen leisen Anflug von Neid.

Der Besucher schenkte seinem Gegenüber ein kühles Lächeln.

„Wie weit seid Ihr mit meinem Auftrag?“ Er sprach mit leicht französischem Akzent.

Gustav schluckte.

„Meine Weber arbeiten beinahe Tag und Nacht daran“, antwortete er wahrheitsgemäß. Er wagte nicht zu ergänzen, dass der Besucher doch wissen müsse, dass es noch dauern würde. Das hatte er in den vergangenen Tagen ja schon mehrmals betont. Die von dem Mann bestellten Stoffe verlangten von seinen Webern höchste Kunstfertigkeit. Schon allein die Fertigung der mit prunkvollen Mustern zu versehenden Seide dauerte seine Zeit. Ein Auftrag dieser Größenordnung wäre daher frühestens in zwei Wochen fertiggestellt.

Seine noble Erscheinung abrundend zog der elegante Herr nun eine goldene Taschenuhr an einem scharlachroten Band hervor. Langsam öffnete er den Deckel, betrachtete das Ziffernblatt, schloss die Uhr wieder und erhob sich, nachdem er den wertvollen Gegenstand in der dafür vorgesehenen Tasche seiner Hose hatte verschwinden lassen.

„Nun, ich hoffe, es wird nicht mehr allzu lange dauern“, sagte er mit durchdringender Stimme, begleitet von einem abschätzigen Blick seiner grünen Augen. Dann erhob er sich zum Gehen, was bei Meister Gründel Erleichterung hervorrief. Er hatte nicht mal die Gelegenheit gehabt, dem Gast etwas anzubieten.

„Wir tun, was wir können, Euer Gnaden“, versicherte er und wagte nun doch hinzuzufügen, dass die Fertigstellung noch eine gewisse Zeit in Anspruch nehme. Vielleicht, so hoffte er, würde das den Mann davon abhalten, gleich am nächsten Tag wiederzukommen.

Bevor nun aber der Besucher den Raum verließ, wandte er sich noch einmal Gustav zu.

„Wo ist Eure Tochter heute, Meister? Hier oben ist sie offensichtlich nicht, ich habe sie auch unten in der Werkstatt nicht gesehen.“

Gustav spürte einen Stich in der Magengrube. Es war ihm nicht entgangen, dass der edle Herr sich immer dann länger in seinem Haus aufhielt, wenn Agnes anwesend war.

„Meine Tochter macht Besorgungen“, schwindelte er.

Die Augen des Mannes blitzten ihn argwöhnisch an.

„Es wäre mir eine große Freude, die junge Dame bei meinem nächsten Besuch wieder einmal anzutreffen“, entgegnete er befehlerisch.

Gustav schwieg. Sein Vaterherz verbot ihm, dem Mann zu versichern, dass dies selbstverständlich so sein würde.

„Ich wünsche Euer Gnaden noch einen angenehmen Tag“, verabschiedete er ihn stattdessen mit fester Stimme und deutete eine leichte Verbeugung an.

Als das Klacken des Gehstocks auf der Treppe verklungen und dem Rattern der Webstühle gewichen war, ließ sich Gustav in seinen Stuhl fallen. Das Interesse des Besuchers an seiner Tochter behagte ihm nicht.

Er schickte ein Stoßgebet zur Zimmerdecke und seufzte: „Möge der Auftrag dieses merkwürdigen Menschen nun endgültig der letzte sein, den wir für ihn erfüllen müssen!“

Der Mann, dessen Besuch den Webermeister so aufgewühlt hatte, war – so hieß es – ein Graf französischer Abstammung. Er hatte sich ihm beim ersten Zusammentreffen mit Comte de Passeur vorgestellt. Gustav zuckte mit den Schultern. Heutzutage war das französische Gehabe ja in Mode gekommen. Jeder, der hier in Erlenburg etwas auf sich hielt, legte neuerdings irgendwelche französischen Marotten an den Tag. Woher der Comte genau kam, wusste niemand. Auch er wagte es nicht danach zu fragen. Der elegante Graf genoss in Erlenburg aber großes Ansehen, was nicht nur an seiner eleganten Erscheinung und dem Hauch des Unbekannten und Geheimnisvollen lag, der ihn umwehte. Nein, die Leute zogen vor ihm vor allem deshalb den Hut, weil er in der Erlenburg logierte.

Die Erlenburg, die weithin sichtbar über der Stadt thronte und ihr den Namen verlieh, war eine mächtige Burg. Seit Hunderten von Jahren hatte sie zahlreiche Herrscher beherbergt. Derzeit residierten dort der Graf Jakob und die Gräfin Charlotte von Erlenburg, ein junges, allseits beliebtes Paar. Die Menschen in Erlenburg glaubten, die beiden würden niemanden so lange bei sich aufnehmen, der nicht wenigstens ein entferntes Mitglied der gräflichen Familie war.

Karamell gackerte genüsslich vor sich hin. Sehr zu ihrer Freude lachte heute, nach trüben Spätwintertagen, endlich wieder mal die Sonne von einem blauen Himmel herab. Einfach herrlich, im Kräutergarten der Burg umher zu spazieren, nach zarten Kräutertrieben zu sehen und sich die Federn wärmen zu lassen. Karamell drehte bedächtig ihre Runden und bewunderte dabei ihr Spiegelbild, das sie im Fenster des angrenzenden Badehauses sehen konnte. Ach, dachte sie, es wird kaum ein schöneres Huhn als mich geben. Wie doch mein Gefieder in der Sonne glänzt. Man könnte meinen, es wäre aus purem Gold.

Karamell hatte recht, es gab kein schöneres Huhn als sie. Das lag aber ehrlicherweise auch daran, dass sie ein ganz besonderes Huhn war. Denn Hühner, also gewöhnliche Hühner, gab es auf der Burg schon – jenseits des gräflichen Privatbereiches. Solche Hühner, die den ganzen Tag zusammen mit anderen im Dreck scharrten, sich von einem Hahn herumkommandieren ließen, jeden Tag ein Ei legten und nach einem kurzen Leben im Suppentopf landeten.

Aber Karamell zählte nicht zur Gattung der gemeinen Hühner. Nein, sie war ein Zauberhuhn, genauer gesagt ein Mittags-Zauberhuhn, denn sie beherrschte die Kunst, die Zeit in der Mitte des Tages in die Länge zu ziehen oder zu verkürzen. Wenn sie es wollte, verging die Zeit zwischen zwölf und ein Uhr in ganz Erlenburg entweder viel langsamer oder eben schneller als gewöhnlich.

Heute, nachdem die Burguhr zwölfmal geschlagen hatte, entschied sie die Zeit zu verlängern. Nicht ohne Eigennutz wollte sie bei diesem Wetter die wärmste Stunde des Tages ausdehnen. Wie das genau vor sich ging, ist schwer zu sagen. Jedenfalls blickte sie auf die Turmuhr und begann mit ihren zarten Hühnerfüßen genau zwölfmal zu scharren. Karamell würde es vermutlich anders bezeichnen. Es sah ein wenig aus wie ein kleines Tänzchen. Nun bewegte sich der Minutenzeiger der Uhr viel langsamer – und Karamell freute sich ihres Lebens.

In aller Ruhe trippelte sie durch die Kräuterbeete und entdeckte hie und da ein paar würzige Blättchen, die in der Frühlingssonne bereits austrieben. „Mmmh“, gackerte sie aufgeregt, „das ist Thymian und hier, ah, Liebstöckel und dort der köstliche Schnittlauch.“

Während sie sich ausgiebig ihrer Mittagsspeise widmete, stieg aus dem Brunnen in der Nähe das Geräusch lauter werdenden Plätscherns des Wassers an die Brunnenwand herauf. Karamell hob kurz den Kopf, verdrehte ein wenig ihre kleinen Knopfaugen und fuhr mit ihrer Lieblingsbeschäftigung fort.

Dann tauchte am Brunnenrand eine höchst eigenartige Gestalt auf. Zunächst sah man die Schwanzflosse und den Bauch eines Fisches aufsteigen, so als würde ein Fisch rückwärts nach oben geschoben werden. Es war aber kein Fisch, sondern die Mütze von Strudel, dem Wassermann. Eigentlich hieß er ja Aquarius der VIII., aber alle, die ihn kannten, nannten ihn Strudel, weil er es liebte, in den wildesten Wasserstrudeln zu schwimmen.

Er kletterte ächzend über den Rand und landete mit einem lauten Platsch auf dem Boden.

„Pssst!“, gackerte Karamell, „du störst die Mittagsruhe, Strudel!“

„Ich freue mich auch, dich zu sehen, werteste Karamell“, schmetterte der Wassermann mit kräftiger Stimme, während es um ihn herum tropfte und gluckerte.

„Was machst du denn hier, mitten am Tag?“, fragte das Huhn und betrachtete ihren nassen Freund. Ein wenig freute sie sich ja doch über sein Auftauchen. „Komm mit“, bat sie ihn, „es muss uns ja nicht jeder sehen.“

„Aber hier ist doch niemand, der uns sehen könnte“, wunderte sich Strudel.

„Vielleicht aber doch. Manchmal ist mir, als hätte die Burg überall Augen und Ohren.“

Als die beiden einen noch einsameren Platz in der hintersten Ecke des Burggartens gefunden hatten, sah Karamell Strudel fragend an.

„Nun, wie ich sehe genießt du die Frühlingssonne. Und wie geht es sonst?“, wollte er wissen.

Er hatte auf einem Stein Platz genommen. Das Licht des Tages ließ die Schuppen, die seinen Rumpf bedeckten, blaugrün schimmern. Arme und Beine waren nackt. Zwei kugelrunde Augen blickten Karamell freundlich an, während aus seinen grünen Haaren und dem langen Bart das Wasser tropfte. Unter besagter Fischmütze ragten zwei spitze Ohren hervor.

„Ach, ich kann nicht klagen“, antwortete Karamell. Dann aber drang doch ein leiser Seufzer aus ihrer Hühnerbrust.

„Was ist los?“

„Ach weißt du, es ist der französische Graf, der mir Sorgen macht. Er ist schon den ganzen Winter über hier, macht aber noch immer keine Anstalten wieder zu verschwinden. Ich kann mich nicht erinnern, dass ein Gast jemals so lange hier gewesen ist. Selbst bei der Belagerung 1785, als … Aber das ist ja eine ganz andere Geschichte.“ Karamell schien wirklich betrübt zu sein.

Strudel nickte. Ganz dunkel konnte er sich an damals erinnern.

„Aber weshalb macht dir das Sorgen?“

„Weil ich mich frage, was er so lange hier macht und weil er ein undurchschaubarer Kerl ist“, gab Karamell zu, „außerdem finde ich es anmaßend, die Gastfreundschaft auf der Erlenburg so lange auszunutzen. Die beiden Männer in seinem Schlepptau sind auch sonderbar. Ich wäre nicht überrascht, wenn die etwas aushecken würden.“

Strudel hatte seinen Kopf schief gelegt. „Sehen Jakob und Charlotte das auch so?“

„Ich glaube, die beiden nehmen es hin“, sinnierte Karamell, „jedenfalls scheint ihnen die gräfliche Etikette zu verbieten, ihren Gast darauf hinzuweisen, dass es langsam Zeit wird, die Hühner zu satteln.“ Karamell stutzte. „Na, du weißt schon, wie ich das meine“, sagte sie ein wenig kleinlaut.

„Mir kommt der Kerl ja auch nicht ganz geheuer vor“, gab Strudel zu.

Das Huhn horchte auf.

„Aha, du kennst ihn?“

„Ja klar, schließlich ist er schon lange genug hier, und am Brunnen auf dem Markt wird viel über ihn geredet.“

„Und was sagt man so über ihn?“

Der Wassermann grinste.

„Also, nachdem sich dort hauptsächlich Frauen aufhalten, …“

Er blickte Karamell tief in die Augen und atmete tief ein: „Nein, was für eine edle Erscheinung, dieser Comte de Passeur!“, sagte er affektiert, „wenn er mich doch einmal darum bitten würde, in seine Kutsche einzusteigen … ich würde nicht Nein sagen“, flötete er theatralisch und fuhr fort, „so ein gut aussehender Mann mit den besten französischen Manieren – davon kann eine Frau wie ich nur träumen!“

Karamell kicherte und Strudel prustete vor Lachen.

„Gott sei Dank bin ich kein Mensch“, gluckste sie, nachdem sie sich beruhigt hatten.

Agnes ging auf dem schmalen Weg den Bach entlang, der hinab zu ihrem Lieblingsort führte. Ein Ort unterhalb der Stadt, wo der Erlenbach ruhig dahinfloss und sein Ufer weniger dicht mit Erlen bewachsen war. Von einigen bemoosten Felsbrocken aus, die auf einer Lichtung lagen, konnte man dem Fließen des Baches zusehen und die Gedanken mit dem Plätschern des Wassers wandern lassen.

Agnes blickte in das Blau des Himmels und fühlte sich frei. In diesen Tagen genoss sie jede Minute, die sie nicht im Haus verbringen musste, was nicht nur daran lag, dass endlich der Frühling einzog. Nein, es lag vor allem daran, dass sie das dringende Bedürfnis verspürte, keinesfalls dem Comte begegnen zu müssen, mit dessen Erscheinen sie aber jederzeit rechnen musste. Erst heute hatte sie sich rasch hinter einem Schrank in der Werkstatt verstecken können, als der Comte eintrat. Oskar, der Geselle, hatte sie verwundert angesehen, sie ihm aber zu verstehen gegeben, dass er den Mund halten solle. Immer wenn sich der französische Graf in der Werkstatt oder im Arbeitszimmer ihres Vaters aufhielt, befiel sie ein mulmiges Gefühl. Und obwohl er bisher kaum ein Wort mit ihr gewechselt hatte, wusste sie, dass er sie beobachtete. Die Art und Weise, wie er sie ansah, konnte sie nicht ausstehen. Was wollte er von ihr? Oder bildete sie sich alles nur ein? Als Vaters bester Kunde war er allemal eine Goldgrube für das Geschäft. Agnes war nicht entgangen, dass die Frauen ins Schwärmen kamen, wenn sie sich über den Edelmann unterhielten. Das geschah nach Agnes’ Geschmack allerdings viel zu oft. Sie mochte ihn einfach nicht.

Aber hier, an ihrem Lieblingsort, wollte sie erst recht nicht an ihn denken. Viel lieber dachte sie an Johan. Aus ihrer Rocktasche zog sie einen gefalteten Brief hervor. Die vielen Knicke und Falten des Papiers zeigten, dass sie das schon oft getan hatte. Sie kannte den Inhalt längst auswendig, doch hielt sie den Brief in Händen, war es auch ein wenig so, als ob sie Johan selbst halten würde. Er schrieb, dass es ihm nach einem aufregenden Abenteuer gut ginge und er fleißig am Weben sei. Agnes freute sich für ihn, aber am meisten freute sie sich über die Stelle wo es hieß, dass er sie sehr vermissen würde und bald, wenn der Frühling Einzug gehalten hätte, nach Erlenburg käme. Sie faltete den Brief sorgfältig zusammen und lächelte. Ja, sie vermisste Johan auch.

Sehr sogar.

In jener Mittagsstunde, die deshalb so langsam verlief, weil Karamell die Zeit verzaubert hatte, fuhr eine schwarze Kutsche auf den Marktplatz, auf dem um diese Zeit wenig los war. Die Händler – sie hatten schon seit dem frühen Morgen ihre Waren feil geboten – verstauten die Reste bereits wieder in ihren Wägen und schenkten der vorbeifahrenden Kutsche kaum Beachtung. Anders die Frauen, die am größten Brunnen der Stadt standen oder ringsherum auf den steinernen Stufen saßen.

Der Brunnen war ein beliebter Treffpunkt für Alt und Jung. Erlaubte es das Wetter, hielten sich manche Frauen den ganzen Tag hier auf, um zu spinnen, den neuesten Tratsch auszutauschen und sich Geschichten zu erzählen. Die verheirateten Frauen und Mütter hatten in der Mittagszeit freilich anderes zu tun. Aber andere, die keine mittäglichen Verpflichtungen hatten und sich durch das Spinnen ein paar Groschen verdienten, verweilten hier gern mit ihren Spindeln und einem Korb voller Flachs oder Wolle.

Als die Erste die heranrollende Kutsche bemerkte, veränderte sich die Schläfrigkeit, die sich aus einem unerfindlichen Grund eingestellt hatte, jedoch schlagartig.

„Seht nur“, rief die Frau errötend aus, „die Kutsche des Comte! Wie aufregend!“

Ruckartig fuhren alle Köpfe in die Höhe.

Alle bemühten sich, den Mann in der Kutsche zu erspähen, der, zu ihrer Enttäuschung, hinter den dunklen Scheiben kaum zu erkennen war.

„Wo ist denn das hübsche Söhnchen?“, krächzte eine Alte, die ihre Augen besonders anstrengen musste, sich mühsam erhob und mit gebeugtem Rücken ein paar Schritte in Richtung Kutsche humpelte. Auch andere Frauen erhoben sich, strichen ihre Kleidung glatt und setzten ihr schönstes Lächeln auf.

Nur Ella, eine junge Witwe, die im vergangenen Jahr ihren Mann verloren hatte, fuhr ungestört mit dem Spinnen fort.

„Habe ich euch eigentlich schon die Geschichte von Hans, dem Gockel, erzählt, der sich in einen Spiegel verliebte?“

Für einen Moment herrschte Schweigen.

„Ach Ella“, rügte eine sehr junge Spinnerin, „du und deine Geschichten!“

Mit kühlem Lächeln bemerkte indessen der Comte de Passeur die Aufregung der Frauen, die sein Erscheinen hervorgerufen hatte. Die offensichtliche Verehrung, die ihm die Weiblichkeit in Erlenburg entgegenbrachte, erfüllte ihn mit großer Genugtuung. Für das, was er mit der Stadt vorhatte, war es zweifellos von Nutzen. Jetzt aber schlug er mit der Handfläche gegen die Kutschenwand, womit er dem Kutscher zu verstehen gab, dass der schneller fahren solle, damit er die gaffenden Gesichter nicht mehr sehen musste. Der Mann auf dem Kutschbock allerdings hatte heute einen schlechten Tag, denn das Gefährt wurde eher langsamer als schneller. Der Comte seufzte ärgerlich, wandte sich von den Frauen ab und blickte auf die Häuser des Platzes, deren Fachwerkfassaden in der Mittagssonne farbig leuchteten. In einem dieser Häuser würde er in wenigen Tagen eine Auberge du Pâté, ein „Gasthaus zur Pastete“ eröffnen.

Er lehnte sich zurück. Bald würden alle von seinen Pasteten kosten.

Jakob hatte seinen Arm um Charlotte gelegt, während beide das Teehaus betrachteten. Das Häuschen mit dem pagodenartigen Dach war nach chinesischem Vorbild gebaut. Von außen war es nun fertig, die Arbeiten im Inneren dauerten noch an.

„Ich finde, es passt sehr gut hierher“, sagte Jakob anerkennend, „ich muss zugeben, dass meine anfänglichen Zweifel restlos verschwunden sind.“

„Und ich freue mich darauf, mit dir gemeinsam dort zu sitzen, Tee zu trinken und dabei hinaus aufs Wasser zu sehen“, ergänzte Charlotte und küsste Jakob auf die Wange.

Er dachte an Augenblick zurück, als seine Frau zum ersten Mal die Idee geäußert hatte, ein Teehaus bauen zu wollen.

„Du warst anfangs wenig begeistert“, sagte Charlotte.

„Ja, genau, ich dachte, meine Frau ist jetzt endgültig übergeschnappt.“

Charlotte rammte ihren Ellbogen in seine Seite.

„Frau Gräfin, was erlauben Sie sich!“

„Vielleicht muss man manchmal ein wenig verrückt sein, damit Schönes entstehen kann“, sinnierte Charlotte, während ihr eine blonde Haarsträhne in die Stirn fiel.

„Wen wollen wir zum Einweihungsfest einladen?“, fragte sie wie nebenbei.

„Einweihungsfest?“, rief Jakob aus, „ist das wirklich notwendig?“

Er hatte so etwas schon befürchtet, sah sie aber zärtlich an.

„Ich dachte, nur du und ich …“ hauchte er ihr ins Ohr.

„Oh ja, und höchstens vielleicht noch der Comte?“, entgegnete Charlotte unerwartet aufbrausend. „Dann sind wir ja immerhin schon zu dritt!“

Ihr Ärger war nicht zu überhören. Jakob nahm sie bei der Hand und führte sie zur Burgmauer, die an dieser Stelle kaum hüfthoch war und von wo aus sich ein atemberaubender Ausblick bot.

Auf der einen Seite das Wasser – eine riesige Seenlandschaft mit kleinen und größeren Inseln darin, die bis zum Horizont reichte, auf der anderen Seite die Landzunge, die hauptsächlich von Erlen bewachsen war, und unter ihnen der Hafen und die ersten Häuser und Gassen der Stadt.

„Schau, wie schön es hier ist“, sagte Jakob besänftigend.

Charlotte seufzte. Auch sie liebte diesen Ausblick.

„Ja, wunderschön, aber ich hoffe trotzdem jeden Tag, dass unser Gast seine Abreise ankündigt.“

„Da hätte ich auch nichts dagegen“, gab Jakob zu. „Jetzt wo der Frühling kommt, packt ihn vielleicht die Reiselust.“

Charlotte hätte Jakob gern zugestimmt, hatte aber Zweifel.

„Ich hoffe, dass du recht behältst, mein Lieber. Ich befürchte allerdings, dass er noch länger bleiben will.“

„Er hat Meister Gründel einen weiteren Großauftrag gegeben; irgendetwas muss er dann ja mit dem gewebten Stoff anfangen. Wenn er in anderen Städten, vielleicht in Frankreich, seine Abnehmer hat, wird er dort seinen Geschäften nachgehen müssen.“

Charlotte runzelte die Stirn.

„Glücklicherweise ist die Erlenburg groß genug, sodass wir ihm nicht ständig begegnen.“

Der Comte, ein entfernter Verwandter, hatte gleich nach seiner Ankunft den Ostflügel der Erlenburg bezogen. Gemeinsam mit seinem Koch und einem Berater, wie er sagte.

„Andrerseits birgt die Größe unserer Burg die Gefahr, dass Gäste sich besonders wohlfühlen, weil es reichlich Platz für sie gibt“, stellte Jakob nachdenklich fest.

Charlottes Blick wanderte wieder zum Teehaus. Mit seinen Fenstern, die teilweise bis zum Boden reichten, und der gelben Farbe, die in der Sonne leuchtete, sah es sehr einladend aus.

„Jedenfalls ist das Teehaus viel zu klein für ihn. Hier wird er sich nicht breit machen können“, stellte sie zufrieden fest.

„Und wann wird dein kleines Reich fertig sein?“, fragte Jakob, froh über die Wendung des Gesprächs.

„Die Innenfarbe und einige Bildminiaturen müssen noch angebracht werden. Aber am meisten bin ich auf die chinesische Drachenskulptur gespannt.“

„Wird denn der Drache dort hineinpassen?“, scherzte Jakob.

„Natürlich nicht, mein lieber Graf“, entgegnete sie lachend, „er wird den Eingang bewachen. Und ich rate auch dir, es mit der Bauherrin nicht zu verscherzen. Chinesische Drachen können nämlich sehr unangenehm werden.“

Die drei Männer saßen um einen großen Holztisch, auf dem einige Papierbögen ausgebreitet lagen. Der Kachelofen, der eine beträchtliche Größe hatte, verströmte seine Wärme in den kühlen Abendstunden. An den Wänden brannten Kerzen in gusseisernen Halterungen und auch an den gegenüberliegenden Tischenden leuchteten Kerzenlichter. Die Körper der Männer, die sich über das Papier beugten, warfen große Schatten an die Wände. Jetzt erhob sich der Comte de Passeur. Er zeigte auf den vor ihm liegenden Plan, auf dem die Häuser des Marktplatzes eingezeichnet waren.

„Genau hier steht das Haus, in dem wir die Pasteten verkaufen wollen“, der Comte lächelte, „in der Auberge du Pâté, am Markt. Und dann, dann werden die Menschen wie Wachs in meinen Händen sein und mir zu Füßen liegen.“

„Das tun sie doch jetzt schon“, säuselte Archimbald, der Berater, „die Bewunderung für Euch ist nicht zu übersehen, Euer Gnaden.“

Ohne darauf einzugehen fuhr der Comte fort.

„Der Plan ist perfekt. Alle werden kommen und die Pasteten kaufen. Wir brauchen dann nur noch die richtigen Zutaten hineinzumischen.“

„Und wann bekommen wir die?“, fragte Gaston nüchtern.

Anders als Archimbald, dessen Unterwürfigkeit grenzenlos war, hatte er ein Gespür dafür, was als Nächstes zu tun war.

„Euer Gnaden sollten nicht mehr so lange damit warten und alles rechtzeitig beschaffen“, legte Gaston nach, während Archimbald die Luft anhielt.

Wie konnte dieser Pastetenkoch es wagen, so mit dem Comte zu sprechen. Der jedoch schien unbeeindruckt zu sein.

„Du bekommst alles zum rechten Zeitpunkt, Gaston“, versicherte er.

„Was werden der Graf und die Gräfin zu Eurem Vorhaben sagen?“, fasste der Koch geradeheraus nach.

Der Comte lächelte abfällig und winkte ab.

„Die beiden sind dermaßen arglos. Ihre Höflichkeit erlaubt es Ihnen nicht, uns hinauszukomplimentieren. Die Gräfin ist mit ihrem Teehaus beschäftigt und Jakob muss sich um seine Geschäfte kümmern. Und haben die beiden erst von den Pasteten gekostet, wird es sowieso keine Rolle mehr spielen. Denn dann werde ich endlich der Herr der Burg und der Stadt sein.“

In der Abenddämmerung schwamm Strudel am Hafen entlang, um sich davon zu überzeugen, ob alle Boote gut vertäut waren. Hin und wieder kam es vor, dass ein Fischer am Ende des Tages vergaß, sein Boot festzumachen. Heute war dies nicht der Fall. Der Wassermann tauchte tiefer und verließ den ruhigen Hafen. Erst ein paar Stunden später würden die Fischer erneut ihr Tagwerk beginnen. Aber was war das? Ein wenig abseits bemerkte Strudel die Umrisse eines Bootes im Wasser über sich. Na sowas, habe ich eines übersehen? Während er mit kräftigen Zügen nach oben schwamm, nahm er zu seiner Überraschung die Bewegungen der Ruder wahr. Er hielt inne. Da saß also jemand in dem Boot. Oh, es wird ein Liebespärchen sein, das die Abendstimmung auf dem Wasser genießt. Da will ich lieber nicht stören, dachte er und wollte schon weiterschwimmen.

Aber er war nun mal ein Wassermann und als solcher von Natur aus neugierig. Einen kleinen Blick kann ich auf das Boot werfen. Er streckte den Kopf gerade so weit aus dem Wasser, damit er sehen konnte, wer der Ruderer war.

„Das ist doch …“, entfuhr es ihm.

Vor Schreck verschluckte er einen Schwall Wasser, wovon er sofort Schluckauf bekam. Schnell tauchte er wieder ab und hoffte, der Comte hatte ihn nicht bemerkt. Was will der denn um diese Zeit auf dem Wasser?, fragte sich Strudel, während er gleichzeitig beschloss, genau das herauszufinden. Er entfernte sich lieber ein Stück weit, um sicherzugehen, dass der Comte ihn nicht hörte. Der edle Herr indessen ruderte weiter. Es dauerte ziemlich lange, bis das Boot langsamer wurde und die Ruderschläge verstummten. Strudel nahm an, der Mann wolle sich ein wenig ausruhen, ehe er umkehren würde.

Sekunden später wurden die Ruder zwar ins Boot gelegt, gleichzeitig aber setzte es sich wieder in Bewegung. Nanu, rätselte Strudel, wie soll das denn gehen? Er tauchte auf und spähte über die Wasseroberfläche – und was er sah, verschlug ihm den Atem. Der Comte stand im Boot, die Arme zur Seite gebreitet. Mit den Händen hatte er die Enden seines weiten Mantels gefasst, sodass sich der Stoff um seinen Körper wie ein Segel aufblähte. Auf diese Weise nahm das Boot Fahrt auf.

In Strudels Mund, der vor Staunen offen stand, schwappte erneut eine Ladung Wasser.

„Hicks!“

Dann aber vergaß er den Schluckauf und beeilte sich, dem Boot des Comte hinterherzukommen. Er kannte sich in diesen Gewässern ja gut aus, gerade so wie in seiner nicht vorhandenen, aber sprichwörtlichen Westentasche, und empfand daher, neben seiner Neugierde, auch eine gewisse Freude an diesem nächtlichen Ausflug.

Seine Freude steigerte sich erheblich, als das Boot an eine Stelle kam, an der das Wasser zwischen zwei Inseln, die plötzlich wie aus dem Nichts auftauchten, wild zu schäumen begann.

„Juhuuu!“, jubelte der Wassermann über die heftigen Strudel in den starken Strömungen.

Er ließ sich von den schnellen Drehbewegungen in die Tiefe kreiseln, schwamm wieder nach oben und warf sich sofort mit dem größten Vergnügen in den nächsten Strudel.

Über diesem herrlichen Spiel vergaß er eine Weile den Comte. Doch dann schoss ein Gedanke in seinen Kopf: Kein Ruderboot kommt durch diese Wassergewalt hindurch, ohne zu kentern. Er kämpfte sich nach oben, um nachzusehen, wo sich das Boot mittlerweile befand. Da werde ich dem edlen Herrn wohl oder übel helfen müssen, dachte Strudel, nicht gerade erfreut über diesen Gedanken. Weshalb ist er nur so unvorsichtig, ausgerechnet hierher zu kommen! Als er seinen Kopf aus dem Wasser streckte, sah er jedoch nichts weiter als tosendes, dunkles Wasser um sich herum. Wo kann er nur abgeblieben sein? Weil er befürchtete, dass das Boot mitsamt dem Mann darin in die Tiefe gerissen worden war, tauchte er erneut hinab. Aber es war wie verhext – das Boot war weg. Doch als er in einiger Entfernung seinen Blick nochmal übers Wasser schweifen ließ, sah er einen sich bewegenden Schatten.

„Das ist doch? Das kann ja wohl nicht sein …!“, rief er aus.

So schnell er konnte, schwamm Strudel dem Schatten hinterher. Und tatsächlich – der Comte hatte es geschafft, die tosenden Strömungen zu überwinden.

Strudel näherte sich wieder und sah, dass das Boot gar nicht im Wasser lag, sondern darüber hinwegzufliegen schien. Ich glaube, ich träume, dachte er, das ist Zauberei! Wenig später endete die Fahrt des fliegenden Bootes. Reglos stand der Mann mit dem weiten Mantel da, dann – mit einem Mal – wandte er sich um und blickte genau in Strudels Richtung. Verflixt, hoffentlich hat er mich nicht bemerkt, dachte der.

Einen Wimpernschlag später war von dem Wassermann nichts mehr zu sehen. Die Oberfläche des Wassers wurde vom Mond in ein silbriges Licht getaucht, als er nach einer Weile wieder auftauchte. Das Boot aber war verschwunden. Nicht mal in der Ferne zeigte sich ein Hauch von einem Schatten. Strudel war ein wenig enttäuscht, denn zu gern hätte er herausgefunden, welches Ziel der Comte ansteuerte. Andererseits spürte er seine Erschöpfung, denn selbst für einen unermüdlichen Wassermann wie ihn war dieser nächtliche Ausflug kein Spaziergang. Sollte er sich einfach auf den Grund niederlassen und warten? Nein, das ergäbe keinen Sinn. So beschloss er, wieder nach Erlenburg zurückzukehren, warf einen letzten Blick in die Richtung, in der das Boot verschwunden sein musste – da erschrak er. Täuschte er sich, oder sah er wirklich dunkle, aus dem Wasser ragende Zacken, die geradewegs auf ihn zusteuerten? Strudel spürte sofort, dass er in Gefahr war. Die Zacken kamen schnell näher. Nichts wie weg!, durchfuhr es ihn. So schnell er konnte, schwamm er davon.

Über der Insel im verborgenen Land lag die morgendliche Stille, aber die aufgehende Sonne vertrieb die Dunkelheit in der Grotte.

Die Nymphe Nayah öffnete schläfrig die Augen, räkelte sich wohlig auf ihrem Nachtlager und gab sich noch einen Augenblick der Erinnerung an ihren nächtlichen Besucher hin. Ihre vogelgleichen Luftnymphen, die sich nachts in die unzähligen Felsnischen zurückgezogen hatten, erwachten ebenfalls. Sogleich begannen sie zu flirren und zu flattern, flogen schaukelnd durch die Luft und umschwirrten schließlich ihre Herrin.

Nayah erhob sich und ging hinaus, um dort, im klaren Wasser des steinernen Beckens, ihr morgendliches Bad zu nehmen. Ihre Diener, denen unterhalb der Flügel kurze Arme und kleine Hände gewachsen waren, schafften indessen ein Tuch herbei, in das sie, nachdem die Nymphe aus dem Wasser gestiegen war, ihren zarten Körper hüllten. Andere Luftwesen brachten Bürsten und Kämme. Damit brachten sie eifrig Nayahs gewellte, goldweiße Haarpracht in Ordnung, die ihr bis zur Hüfte reichte.

„Jetzt ist es gut“, rief sie nach einer Weile, woraufhin sich die Winzlinge gehorsam entfernten.

Die Nymphe ging hinaus in ihr Paradies, wie sie den weitläufigen Inselgarten gerne nannte. Zwar konnte die Frühlingssonne der Natur noch nicht ihren üppigen Zauber entlocken, aber das war wie immer nur eine Frage der Zeit.

Einige Luftnymphen bereiteten sich unterdessen auf das morgendliche Ritual vor. Aus einem hölzernen Kästchen, mit Muscheln und Perlen reich verziert, entnahmen sie winzige Instrumente, mit denen sie sich in die Zweige der Bäume setzten. Wie ein schützendes Dach breiteten sich die Kronen der Bäume aus, die im Inneren der Grotte aus den Spalten zerborstener Steine herauswuchsen. Andere Flatterwesen legten Nayahs Gewand bereit und schwirrten herbei, als die Nymphe die Grotte wieder betrat. Ihr lichtdurchlässiges Kleid, dessen Stoff leicht und fließend ihren Körper einhüllte, betonte ihre Zartheit. Die Luftdiener quietschten vor Freude angesichts der Schönheit ihrer Herrin und entfernten sich, nachdem sie ihre Arbeit beendet hatten.

Nun erhob sich eine fröhliche Musik aus dem Geäst, woraufhin Nayah in die Mitte der Grotte trat. Dort lag eine kristallene Kugel, an deren Oberfläche sich das einfallende Licht in hundert Farben brach. Die Nymphe begann im weiten Kreis um die Kugel zu tanzen. Ihre Bewegungen waren anmutig und setzten sich im Fließen des Stoffes, der um ihren Körper wehte, fort. Dreimal tanzte sie um die Mitte, dann hielt sie inne. Die Musik verklang. Jetzt berührte Nayah die Kugel. In diesem Augenblick erstrahlte aus ihrem Inneren ein Licht. Sie beugte sich über den Kristall und schaute aufmerksam hinein, so als suche sie etwas. Und ja, sie sah die Stadt, sah die Erlenburg, sah die Menschen und ihr geschäftiges Treiben auf dem Marktplatz in der Nähe des Brunnens.

Wie so oft, wenn die Nymphe in ihre Kugel blickte, überfiel sie eine eigenartige Traurigkeit. Ihre Augen blieben an Ella hängen, die mit anderen Frauen am Brunnen saß und spann. Dann sah sie Agnes, wie sie sich dazu gesellte und neben Ella Platz nahm. Die beiden begannen lebhaft miteinander zu schwatzen und zu lachen. Als die Nymphe sie so vertraut miteinander sah, tauchte mit einem Mal ein Gedanke in ihr auf – ein völlig neuer Gedanke – gleichermaßen befremdlich wie verlockend: Wenn es möglich wäre, die Frauen auf ihre Insel zu bringen, dann wäre sie endlich nicht mehr allein.

Nayah war von ihrem Einfall so überwältigt, dass sie rasch die Hände von der Kugel nahm, woraufhin das Licht erlosch und die Bilder verschwanden.

„Agnes, wie schön dich zu sehen. Komm, setz dich“, begrüßte Ella ihre Freundin, die sich dem Brunnen näherte.

Agnes sah Ella verstohlen an.

„Wie geht es dir?“, fragte sie vorsichtig, denn Ella war seit dem Tod ihres Mannes nah am Wasser gebaut – verständlicherweise.

„Mal so, mal so“, antwortete sie, „der Frühling tut mir gut, glaube ich. Da hat es die Trauer nicht mehr so leicht mit mir.“

„Ella will uns schon wieder Geschichten erzählen“, brachte sich eine Spinnerin ein, „ich glaube, sie wird langsam wieder die Alte.“

„Das ist sehr gut“, freute sich Agnes, „deine Geschichten, Ella, sind die besten.“

„Sie werden nur oft gar nicht gern gehört.“

„Kann ich mir nicht vorstellen“, protestierte Agnes.

„Also vorhin wollte ich die Geschichte von dem stolzen Gockel erzählen, der sich in einen Spiegel verliebte. Das wollte niemand hören.“

Ella warf den Frauen einen vielsagenden Blick zu.

„Der Comte ist kein stolzer Gockel“, verteidigte eine den Mann. „Er ist ein gutaussehender edler Herr. Und er beabsichtigt, in unserer Stadt Gutes zu tun!“

Agnes lachte bitter. Daher wehte der Wind.

„Ella, kann es sein, dass du das etwas anders siehst?“

Ella nickte und verdrehte die Augen.

„Du hättest mal sehen müssen, wie vorhin alle den Comte angeschmachtet haben.“

Agnes rückte näher an sie heran. Die anderen mussten ja nicht alles hören.

„Ich finde, er ist ein schrecklicher Zeitgenosse“, pflichtete sie Ella bei, „er ist mir unheimlich. Wenn er bei uns ist, friere ich.“

Ella deutete auf ein stattliches Fachwerkhaus auf dem Platz gegenüber.

„Hast du es auch schon gehört? Die Erlenburger munkeln, dass de Passeur dieses Haus gekauft hat und damit irgend sowas Französisches vorhat.“

Agnes erschrak.

„Oh nein, dann will er also bleiben?“

„Ja, sieht ganz danach aus. Es scheint ihm bei uns wirklich zu gefallen. Ihm und seinen beiden zwielichtigen Begleitern.“

Agnes machte ein zerknirschtes Gesicht.

„Mir wäre es lieber, er würde dorthin gehen, wo der Pfeffer wächst.“

Ella tätschelte Agnes am Arm.

„Er hat ja viele weibliche Verehrerinnen, Agnes. Was immer er hier vorhat, sie werden begeistert sein.“

Strudel lag wie tot am Ufer des Erlenwaldes, die Beine ins Wasser gestreckt, den Oberkörper zwischen die Wurzeln einer stattlichen Erle gebettet. Obwohl die Sonne schon ziemlich hoch stand, schlief er tief und fest. Erlin, die Erlenkönigin, musste heute wohl ein wenig nachhelfen. Zunächst ganz sanft, dann mit mehr Nachdruck rüttelte sie ihn mit den Wurzeln des Baumes, in dem sie sich heute aufhielt. Wenig später streckte sich der Wassermann und gähnte ausführlich.

„Na, mein Lieber, Aquarius der VIII.“, vernahm er eine Stimme aus der Erle, „dein nächtliches Abenteuer hat dich ziemlich entkräftet, wie mir scheint.“

„Hmmm…“, brummte Strudel, der sich nun langsam erinnerte, „das war sogar für mich zu viel des Guten.“

Die Königin lächelte.

„Du bist sehr lange draußen gewesen, aber jetzt erzähl schon!“

„Ich hatte zweimal Schluckauf“, brummelte Strudel schläfrig, „und das lag ganz allein an diesem Comte.“

„Soso, zweimal Schluckauf also, welch spannende Geschichte.“

Die Erlenkönigin schüttelte den Kopf, wobei ihre langen erlenholzfarbenen Haare hin und her schwangen.

„Bitte entschuldigt, verehrte Königin, ich glaube, ich bin noch nicht so ganz bei mir.“

Für eine Weile herrschte Stille. Nur das leise Schlagen der Wellen an die erdige Uferkante war zu hören. Strudel blickte in die Zweige der Erle, deren Linien sich dunkel vor dem sonnigen Himmel abzeichneten.

In welchen Baum Erlin sich gerade aufhielt wusste man nie so genau. Ob in den kleineren Erlen am dicht bewachsenen Uferstreifen oder drüben in den stattlichen Erlen ihrer königlichen Allee – Erlin hatte reichlich Auswahl. Die Königin war, wie ein Geist, meist unsichtbar. Aber wurde sie hin und wieder sichtbar, sah man ihr langes glänzendes durchscheinendes Gewand, in manchen Augenblicken auch ihre Arme und Beine, die im Spiel von Licht und Schatten farbenreich schimmerten oder aber nebelhaft verblassten. Strudel wie auch die Erlenkönigin liebten das Wasser. Beide lebten schon sehr lange hier. Wie Karamell war sie eine gute Freundin des Wassermanns.

„Du wirst es nicht glauben, was ich dir gleich erzähle!“, kündigte Strudel an, bevor das nächtliche Erlebnis aus ihm heraussprudelte.

Erlin hörte schweigend zu, bis der aufgeregte Erzähler schließlich damit endete, dass er zwar nicht so ganz, aber schon ziemlich sicher sei, dass da plötzlich grässliche Wasserungeheuer hinter ihm her gewesen wären und er deshalb gezwungen war, so schnell wie möglich kehrtzumachen.

„Wären die nicht aufgetaucht, hätte ich ganz bestimmt herausgefunden, wohin der Comte gefahren ist.“

Jetzt, da Strudel Erlin alles erzählt hatte, ärgerte er sich erneut darüber, dass er am Ende gekniffen hatte.

„Vielleicht hätte ich doch …“

„Nein, hättest du nicht“, unterbrach ihn die Stimme aus der Erle.

„Nicht?“

„Nicht!“

„Warum nicht, Erlin?“

„Weil du im verborgenen Land gewesen bist. Ich dachte mir schon, dass es dort auch Wasserungeheuer gibt.“

Strudel sah sie ungläubig an.

„Wo soll ich gewesen sein?“

„Kannst du dich denn erinnern, das Wasser und die Inseln jenseits der Strudel gekannt zu haben, Aquarius der VIII.?“

Er sprang auf.

„Ja, zum heiligen Wasserstrudel! Du hast recht, verehrte Königin! Wieso ist mir das gestern nicht aufgefallen?“

Erlin schwieg, während ihr Freund laut nachdachte:

„Ich war so begeistert von den herrlichen Kreiseln. Na ja … und Wasser ist schließlich Wasser. Für einen wie mich gibt es da keine großen Unterschiede.“ Er kratzte sich am Ohr. „Außer wenn es angreifende Wasserungeheuer darin gibt.“

Vor Aufregung schüttelte die Erlenkönigin die Wurzeln des Baumes und ließ seine Zweige zittern.

„Der Comte de Passeur weiß also, wie man in das verborgene Land gelangt. Die Erlenburger täten gut daran, sich vor ihn in Acht zu nehmen.“

Gustav Gründel begutachtete die Arbeit der Weber. Hie und da gab er Anweisungen, aber meist hatte er nur Lob für die Männer und die Stoffe, die unter ihren Händen und Füßen entstanden.

Der Auftrag des Comte verlangte den Webern einiges ab. Zum einen sollten es farbig glänzende Muster aus Seide sein, deren Herstellung überaus aufwändig war, zum anderen hatte der Franzose aber auch Leinenstoffe ohne jegliche Verzierungen bestellt. Auf seine treuen Arbeiter konnte sich Gustav verlassen. Die fluchten zwar zuweilen über die verzwickten Muster und über das Einrichten der Webstühle, denn mit dem Einspannen der Kettfäden dauerte das seine Zeit. Wenn Webstuhl und Muster aber vorbereitet waren, ging es meist schnell voran.

Der Meister blieb bei Oskar, dem Gesellen, der das Leinen webte, stehen.

„Das sieht gut aus, Oskar“, lobte Gustav, „gib nur acht, dass du die Schussfäden von links nicht so straff ziehst.“

Er klopfte dem jungen Mann auf die Schulter. Oskar erinnerte ihn an Johan, seinen letzten Gesellen. Er hatte gehofft, Johan würde in Erlenburg bleiben und eines Tages die Werkstatt übernehmen, denn er war ein geschickter Weber und hatte obendrein eine feine Nase fürs Geschäft. Und da gab es noch einen weiteren Grund, der schwerer wog als Geschick und Gespür: Johan hatte sich in Agnes verliebt und sie sich in ihn. Aber im vergangenen Jahr hatte sich der junge Mann unerwartet verabschiedet, um in sein Heimatdorf zurückzukehren. Damit schwanden die Hoffnungen des Meisters dahin.

„Was meinst du, Thomas – schafft ihr es bis morgen?“, fragte Gustav jetzt den dienstältesten Weber.

„Ich denke schon, Meister.“

Thomas wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. „Ihr könnt dem Comte sagen, dass er in vier Tagen seine Ware abholen kann.“

In einer Ecke der Werkstatt saß Agnes ebenfalls an einem Webstuhl. Als Tochter des Meisters musste sie nicht an Aufträgen der Kunden arbeiten. Sie webte an eigenen Stücken oder an Stoffen für Bekannte und Nachbarn. So lange sie denken konnte, fühlte sie sich zwischen den Webstühlen und den Arbeitern zu Hause. Jedenfalls mehr als oben in den Wohnräumen, in deren Stille sie noch immer ihre Mutter vermisste, die viel zu früh verstorben war. Sie lächelte ihrem Vater zu, der soeben die Tür öffnete, um die Werkstatt zu verlassen. Dann aber bemerkte sie, wie er plötzlich innehielt und sich in seinem Gesicht ein angespanntes Lächeln zeigte.

Agnes wusste sofort, was das zu bedeuten hatte. Ihr Vater wich zurück, deutete eine Verbeugung an – und der Comte betrat den Raum. Die Weber blickten auf und betrachteten den Ankömmling mit neugieriger Distanz. In der momentanen Stille lag augenblicklich eine spürbare Spannung. Agnes senkte den Kopf und vertiefte sich angestrengt in ihre Arbeit, verspürte aber auch das Bedürfnis, ihrem Vater zur Seite zu stehen. Sie wusste ja, dass er den Comte ebenso wenig mochte wie sie.

Mit gespieltem Interesse flanierte dieser nun durch die Werkstatt, berührte hier und dort eine Stoffbahn, wechselte mit einem gefälligen Lächeln das eine oder andere Wort mit einem Weber, während er sich langsam, aber zielstrebig dem Platz von Agnes näherte. Gustav, der ihm gefolgt war, versuchte sich zwischen ihn und Agnes zu stellen, aber der Comte schob ihn einfach mit seinem Gehstock beiseite.

„Guten Tag, Fräulein Agnes. Sie sehen heute wieder bezaubernd aus.“ Der Comte hob zum Gruß leicht seinen Zylinder.

Nun, da musste Gustav ihm tatsächlich recht geben. Agnes erhob sich, weil sie nicht wollte, dass der Mann auf sie herabblickte.

Das durch das Fenster einfallende Sonnenlicht umrahmte ihren Körper. Ihr braunes Haar, das sie zum Weben zu einem seitlichen Zopf geflochten hatte, und das erdfarbene hochgeschlossenes Leinenkleid verschmolzen in dem warmen Licht zu einem harmonischen Bild. Alles an ihr strahlte, nur nicht ihre blauen Augen, mit denen sie den Comte kühl ansah. Diesmal hatte sie keine Gelegenheit gehabt, sich vor ihm in Sicherheit zu bringen. Agnes war es furchtbar unangenehm, dass er sie bezaubernd fand.

Sie trat auf ihren Vater zu und hakte sich bei ihm unter.

„Wir haben gute Nachrichten für Euch, Euer Gnaden“, sagte sie, um von sich abzulenken, „Euer Auftrag wird in nur vier Tagen fertiggestellt sein.“

Dem Comte de Passeur - oder wie immer der Franzose heißen mochte - entging die ablehnende Haltung von Agnes nicht. Aber er lächelte, während er unverhohlen fortfuhr, den schlanken, wohlgeformten Körper der jungen Frau zu betrachten. Du wirst deine Widerspenstigkeit schon noch verlieren, dachte er und malte sich in erregter Vorfreude aus, wie er ihre Ergebenheit gewinnen würde.

Agnes fühlte sich indessen immer unwohler. Sie trat zu ihrem Vater und gab ihm mit dem Druck ihres Unterarmes zu verstehen, dass er sie aus der Werkstatt begleiten solle. Gustav verstand den Hinweis.

„Euer Gnaden, folgen Sie mir doch bitte in mein Arbeitszimmer. Dort können wir in Ruhe die weiteren Schritte klären.“

Mit energischen Schritten gingen Agnes und ihr Vater zur Tür. Draußen im Flur bat der Meister den Comte mit einer Handbewegung, vor ihm die Treppe hochzugehen.

„Da fällt mir ein … ich muss zu einer Nachbarin. Sie wollte mir die Maße für das Tuch geben, das ich für sie weben soll“, brachte Agnes als Entschuldigung vor, während der ungebetene Besucher die ersten Stufen nahm.

De Passeur wandte sich um und lächelte, hob langsam seinen Gehstock und zeigte mit der goldenen Spitze auf sie.

„Wie überaus schade, Fräulein Agnes. Aber wir werden uns sicher bald wiedersehen.“

Agnes warf ihrem Vater einen vielsagenden Blick zu und huschte grußlos durch die Haustür davon.

Vier Tage später berieten die Männer im Rittersaal des Ostflügels über ihr weiteres Vorgehen. Nun, im Grunde war es keine Beratung, vielmehr eine Zusammenkunft, bei der der Comte Anweisungen gab.

„Gaston, du wirst morgen um Mitternacht vor der Stadt bei der alten Eiche eine Truhe in Empfang nehmen. Gib acht, dass dich dabei niemand sieht.“

Gaston nickte. Nun würden also endlich die geheimen Gewürze für die Pasteten geliefert werden.

„Und du, Archimbald, wirst nach dem Frühstück die Stoffe abholen und in die Schneiderwerkstatt bringen. Vergiss die Maße für die Wände nicht.“

Archimbald nickte ebenfalls, nur um einiges unterwürfiger als Gaston. Ab und zu tauchte in ihm flüchtig der Gedanke auf, dass er ja eigentlich der Berater des Comte war – zumindest wurde er in Gegenwart anderer so vorgestellt. Aber zum einen wusste der Comte selbst immer genau, was zu tun war, zum anderen hatte Archimbald gar nicht den Mumm, dem Comte etwas anderes zu raten, als das, was der selbst schon beschlossen hatte.

Später am Abend, als de Passeur allein war, lehnte er sich in den ledernen Armsessel zurück und schenkte sich Rotwein nach. Langsam, in kleinen Schlucken, ließ er die Flüssigkeit durch Mund und Gaumen laufen. Dabei schmatzte er leise und dachte an Agnes Gründel.

Wäre ihr Vater heute nicht in der Werkstatt gewesen, hätte er sich ihr weiter nähern können. Er glaubte fest, dass ihre Ablehnung nicht echt gewesen war. Ihr kühler flüchtiger Blick erregte nur noch mehr sein Begehren. Dort, in der Ecke der Werkstatt, hätte niemand sehen können, wie er ihren Körper berührte. Vielleicht hätte sie so getan, als wenn sie sich ein wenig bedrängt fühlte. Aber der Comte wusste, dass die Frauen gerade das liebten: das Spiel mit dem Feuer in Gegenwart eines gut aussehenden Mannes.

Ungeduldig leerte er das Glas. Wenn es nur schon so weit wäre.

Er erhob sich, ging zum Kamin und legte Holz nach, sah zu, wie die Flammen es umzüngelten und ein helles Feuer entfachten. Ja, genauso wollte er es haben. Er würde mit seiner Leidenschaft das Liebesfeuer von Agnes schon zum Lodern bringen.

Zuvor aber galt es, die Erlenburger so zu beeinflussen, dass sie in seinen Händen formbar wie Wachs wurden. Niemand würde nach dem Verspeisen der Pasteten noch an ihm zweifeln. Alle würden folgsam genau das tun, was er wollte. Vielleicht müsste er bei einigen kritischen Geistern etwas nachhelfen, aber mit größeren Schwierigkeiten rechnete er nicht.

Mit den Augen suchte er seinen Gehstock, der in einer Ecke stand und dessen goldene Spitze im Schein des Feuers glänzte.

Am nächsten Tag ließ sich der Comte mit der Kutsche vor das Haus, das er gekauft hatte, fahren. Es war für sein Vorhaben genau das richtige.

Im Erdgeschoss gab es zwei große Räume. In dem einen Raum würde der Verkauf der Pasteten stattfinden, im zweiten noch größeren Raum, der nach französischem Vorbild ausgestattet werden sollte, konnten die Erlenburger verweilen, während sie Pasteten und diverse Getränke zu sich nahmen. Der Comte wusste, dass die Menschen schon aus reiner Neugier hierher strömen würden.

Die Tischler brachten bereits eine hüfthohe Lambris aus Walnussholz an. Nach der Fertigstellung dieser Vorrichtung an den Wänden würden die Arbeiter sie mit genau den Stoffen bespannen, die gegenwärtig in der Weberwerkstatt gewebt wurden. Die Verkleidung aus feinstem golddurchwirktem Seidenbrokat würde Begeisterungsstürme bei den Besuchern auslösen. Solchen Luxus gab es selbst auf der Erlenburg nicht. Aber hier, mitten in der Stadt, auf dem Marktplatz, würde es bald für alle möglich sein, das zu erleben und einzutauchen in die wunderbare köstliche Welt delikater französischer Pasteten, in seiner „Auberge du pâté“. Der Comte schwenkte sein Glas. Alles lief so, wie er es wollte.

Etwa eine halbe Stunde, bevor er die Truhe in Empfang nehmen sollte, fand sich Gaston bei der alten Eiche draußen vor der Stadt ein.