Sonny Boy - Al Pacino - E-Book

Sonny Boy E-Book

Al Pacino

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Beschreibung

Al Pacino, eine der größten Schauspieler-Legenden in der Geschichte des Kinos, veröffentlicht seine lang erwarteten Memoiren Für die Weltöffentlichkeit tauchte Al Pacino wie eine Supernova am Himmel auf. Seine erste Hauptrolle spielte er 1971 in Panik im Needle Park. Bis 1975 kamen vier Filme dazu: Der Pate und Der Pate Teil II, Serpico und Hundstage, die nicht nur Erfolge, sondern auch Meilensteine der Filmgeschichte waren. Diese Rollen machten Al Pacino zur Legende und veränderten sein Leben für immer, denn seit Marlon Brando und James Dean hatte kein Schauspieler mehr für solches Aufsehen gesorgt. Damals war Al Pacino bereits Mitte dreißig und hatte mehr als ein einziges Leben gelebt. In Sonny Boy gibt er zum ersten Mal Einblick in seine mitreißende Vergangenheit. Es sind die Memoiren eines Mannes, der nichts mehr zu fürchten und nichts mehr zu verbergen hat. »Ich habe dieses Buch geschrieben, um zu erzählen, was ich in meinem Leben gesehen und durchgemacht habe.« »Es war eine sehr persönliche und spannende Erfahrung, diese Reise erneut zu erleben und zu begreifen, was die Schauspielerei mir ermöglicht und welche Welten sie mir eröffnet hat.« »Mein ganzes Leben war wie ein Raketenflug zum Mond, und ich bin ein ziemlicher Glückspilz gewesen.«

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EPUB

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Aus dem amerikanischen Englisch von Stephan Kleiner

Die Originalausgabe erschien 2024 unter dem Titel Sonny Boy – A Memoir bei PENGUIN PRESS, an imprint of Penguin Random House LLC, New York.

© Al Pacino, 2024

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form. This edition published by arrangement with Penguin Press, an imprint of Penguin Publishing Group, a division of Penguin Random House LLC.

Für die deutsche Ausgabe:

© Piper Verlag GmbH, München 2024

Covergestaltung: zero-media.net, München, nach einem Entwurf von Darren Haggar (The Penguin Press/Penguin Randomhouse)

Covermotiv: WARNER BROTHERS / Album / Alamy Stock Photo

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

1 Ein Grashalm

2 Eine Veränderung

3 Ein Tiger und ein Inder

4 Die neue Welt

5 Erwachsene machen so etwas nicht

6 Die Branche, die wir uns ausgesucht haben

7 Höchstgeschwindigkeit

8 Jeder Tag auf der Erde ist besser als unter der Erde

9 Es ist vorbei

10 Gerade wo ich denke, ich bin draußen

11 Vierzig Dollar am Tag(und Donuts, so viel du essen kannst)

12 Man kann sich ja jederzeit neue Freunde kaufen

13 Das unentdeckte Land

14 Wer spricht von Siegen?Überstehn ist alles

Dank

Bildteil

Bildnachweise

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Literaturverzeichnis

Widmung

Für Charlie, für meinen Opa und für meine Mama

1 Ein Grashalm

Ich war bereits als kleiner Junge ein Darsteller. Meine Mutter ging schon mit mir ins Kino, als ich gerade einmal drei oder vier Jahre alt war. Tagsüber verrichtete sie niedere Tätigkeiten und arbeitete in einer Fabrik, und wenn sie nach Hause kam, war nur ihr Sohn da, um ihr Gesellschaft zu leisten. Also nahm sie mich mit ins Kino. Sie wusste nicht, dass sie mir damit eine Zukunft an die Hand gab. Ich fand sofort Gefallen daran, Schauspielern auf der Leinwand zuzuschauen. Da nie andere Kinder zum Spielen in unsere Wohnung kamen und wir auch noch keinen Fernseher hatten, blieb mir reichlich Zeit, über die Filme nachzudenken, die ich zuletzt gesehen hatte. Ich ging die Figuren im Kopf durch und erweckte sie in der Wohnung eine nach der anderen zum Leben. So lernte ich schon in jungen Jahren, mir mithilfe meiner Vorstellungskraft Freunde zu machen. Sich selbst zu genügen ist manchmal ein zweischneidiges Schwert, vor allem was die Menschen betrifft, mit denen man sein Leben teilt.

Das Kino war ein Ort, an dem meine Mutter sich im Dunkeln verstecken konnte und ihren Sonny Boy mit niemand anderem teilen musste. Das war ihr Spitzname für mich, den sie mir gegeben hatte, bevor alle anderen anfingen, mich ebenfalls Sonny zu nennen. Sie war im Kino darauf gestoßen, als sie einen Song von Al Jolson hörte. Darin hieß es:

Climb up on my knee, Sonny Boy

Though you’re only three, Sonny Boy

You’ve no way of knowing

There’s no way of showing

What you mean to me, Sonny Boy

Der Song ging ihr ganze zehn Jahre lang nicht aus dem Kopf, und bei meiner Geburt 1940 hatte sie ihn noch immer so gut im Gedächtnis, dass sie mir die Zeilen vorsang. Ich war das erste Kind meiner Eltern, das erste Enkelkind meiner Großeltern, und so machten alle viel Aufhebens um mich.

Mein Vater war gerade einmal achtzehn, als ich zur Welt kam, und meine Mutter nur wenige Jahre älter. Sagen wir einfach, sie waren jung, selbst für damalige Verhältnisse. Ich war vermutlich keine zwei Jahre alt, als sie sich trennten. In meinen ersten Lebensjahren zogen meine Mutter und ich ständig um, es gab keine Stabilität und keine Gewissheit. Wir lebten erst in möblierten Zimmern in Harlem und zogen dann in die Wohnung ihrer Eltern in der South Bronx. Von meinem Vater erhielten wir kaum Unterstützung. Irgendwann sprach uns ein Gericht fünf Dollar im Monat zu, was gerade ausreichte, um ihre Eltern für Kost und Logis zu vergüten.

Viele Jahre später, als ich vierzehn war, forderte meine Mutter noch einmal vor Gericht Geld von meinem Vater, das er angeblich nicht hatte und das wir auch nicht bekamen. Ich fand, der Richter war gegenüber meiner Mutter sehr ungerecht. Es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis die Gerichte Verständnis für die Bedürfnisse alleinerziehender Mütter entwickelten.

Auf der Suche nach der frühesten Erinnerung an eine gemeinsame Zeit mit beiden Eltern muss ich bis zum Alter von drei oder vier zurückgehen. Ich schaue in der Loge des Dover Theater mit meiner Mutter einen Film. Es ist irgendein Melodram für Erwachsene, und meine Mutter ist völlig gebannt. Ich weiß, dass ich da etwas sehe, das eigentlich für Erwachsene bestimmt ist, und wahrscheinlich ist ein gewisser Kitzel damit verbunden, als kleiner Junge an der Seite meiner Mutter diesen Moment mit ihr zu teilen. Aber ich kann der Erzählung nicht richtig folgen, und meine Aufmerksamkeit lässt nach. Ich schaue von der Loge auf die Sitzreihen unter uns. Und dort sehe ich einen Mann herumlaufen und etwas suchen. Er trägt die Ausgehuniform der Militärpolizei, der mein Vater während des Zweiten Weltkriegs angehörte.

Der Mann musste mir irgendwie bekannt vorgekommen sein, denn ich rief instinktiv: »Dada!« Meine Mutter sagte, ich solle still sein. Ich verstand nicht, warum. Wie konnte sie mir den Mund verbieten? Ich rief wieder nach ihm. »Dada!« Sie flüsterte immer wieder: »Pssst – sei still!«, denn er suchte nach meiner Mutter. Sie hatten Beziehungsprobleme, und sie wollte nicht von ihm gefunden werden, aber jetzt hatte er sie doch entdeckt.

Ich weiß noch, wie ich nach dem Ende des Films nachts mit meiner Mutter und meinem Vater die dunkle Straße entlangging und die Anzeigetafel des Dover Theater langsam hinter uns verschwand. Ich ging zwischen meinen Eltern, und sie hielten mich an den Händen. Aus dem rechten Augenwinkel sah ich ein Holster an der Hüfte meines Vaters, aus dem eine gewaltige Pistole mit perlmuttweißem Griff ragte. Als ich Jahre später in Heat einen Polizisten spielte, trug meine Filmfigur eine Pistole mit einem solchen Griff. Schon als kleines Kind begriff ich: Das ist etwas Mächtiges. Das ist etwas Gefährliches. Und dann war mein Vater fort. Er zog in den Krieg und kehrte auch wieder nach Hause zurück, aber nicht zu uns.

Später im Leben, als ich in meiner ersten Broadway-Show auftrat, kamen einige Verwandte aus der Familie meines Vaters, um sich die Aufführung anzusehen. Ich war ein junger Avantgardeschauspieler, der den Großteil seiner Zeit in Greenwich Village verbracht hatte und sich allmählich zum Broadway hochspielte. Nach der Show statteten mir ein paar meiner Tanten mit einem oder zweien ihrer Kinder einen Überraschungsbesuch im Backstagebereich ab. Sie bedeckten mein Gesicht mit Küssen, umarmten und beglückwünschten mich. Sie waren Pacinos, und auch wenn ich sie von gelegentlichen Besuchen bei meiner Großmutter väterlicherseits kannte, war ich doch leicht beschämt.

Aber während wir Smalltalk betrieben, kam etwas zur Sprache, das mich bis ins Mark erschütterte. Sie sagten etwas über »die Zeit, als du bei uns warst«. Ich fragte: »Was heißt das, als ich bei euch war?« Sie antworteten: »Weißt du das nicht mehr? O ja, Sonny Boy, du warst kaum aus dem Babyalter raus, noch keine anderthalb Jahre alt, da hast du bei deiner Oma und deinem Opa gelebt – den Eltern deines Vaters.«

Ich fragte: »Für wie lange?«

Etwa acht Monate, sagten sie – fast ein Jahr.

Und mit einem Mal fügte sich in meinem Kopf einiges zusammen. Man hatte mich meiner Mutter weggenommen, als mein Vater im Krieg gewesen war. Aber ich kam nicht in ein Waisenhaus oder zu einer Pflegefamilie; gnädigerweise hatte man mich einer Blutsverwandten anvertraut – der Mutter meines Vaters, meiner Großmutter, die ein absolutes Gottesgeschenk war. Während meiner Zeit auf diesem Planeten habe ich einige Lebensretter gehabt, und sie war vielleicht der erste.

Die Erkenntnis erschlug mich förmlich. Mit einem Mal verstand ich all die unerklärlichen Dinge, die ich bis zu diesem Zeitpunkt meines Lebens, mit achtundzwanzig Jahren, getan hatte – den unsteten Lebenswandel, die Entscheidungen, die ich getroffen hatte, und meine Herangehensweise an bestimmte Dinge. Dass man mich mit sechzehn Monaten zumindest zeitweise weggegeben hatte, war eine Enthüllung. Ganz und gar von meiner Mutter abhängig zu sein, nichts anderes zu kennen und dann in ein völlig anderes Leben gesteckt zu werden – das ist ein heftiger Einschnitt. Kurz darauf begann ich eine Therapie. Es gab offenkundig einiges, womit ich mich auseinanderzusetzen hatte.

Die Mutter meines Vaters hieß Josephine, und sie war vermutlich der wunderbarste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Sie war eine Göttin. Sie hatte einfach das Gesicht eines Engels. Sie war die Art von Frau, die seinerzeit nach Ellis Island gefahren war und dort auf Neuankömmlinge gewartet hatte, Italiener und alle anderen, die kein Englisch sprachen, um ihnen zu helfen. Sie hatte so gut für mich gesorgt und sich immer so für mich eingesetzt, dass ihr in der Scheidungsvereinbarung meiner Eltern Besuchsrecht eingeräumt wurde. Ihr Mann, mein Großvater und Namensvetter Alfred Pacino, kam Anfang der 1900er-Jahre aus Italien nach New York. Es war eine arrangierte Ehe, und mein Großvater arbeitete als Maler und Lackierer. Er trank, was ihn launisch und unberechenbar machte.

Ich habe keine Erinnerung an die Zeit, die ich bei ihnen zu Hause verbrachte, getrennt von meiner Mutter. Meine Mutter hatte wahrscheinlich Gewissensbisse wegen des Arrangements. Die muss sie gehabt haben. Ich war zwar nicht sehr lange von ihr getrennt, aber in diesem Alter sind acht Monate lange genug.

Als mein Sohn Anton noch klein war, keine zwei Jahre alt, waren wir einmal zusammen an der Ecke Seventy-Ninth Street und Broadway, und seine Mutter war nicht dabei. Er wirkte völlig verloren. Ich dachte: Das liegt daran, dass er nicht weiß, wo seine Mutter ist. Und er suchte tatsächlich nach ihr – schaute an den Leuten auf der Straße vorbei, um zu sehen, ob er sie irgendwo entdecken konnte. Er war in einem ähnlichen Alter wie ich, als ich bei den Eltern meines Vaters gelebt hatte. Ich habe meinen Sohn weder vorher noch nachher jemals so verloren gesehen. Ich hob ihn hoch und sagte ihm: »Keine Sorge, Mama kommt gleich.« Das beruhigte ihn.

Die Eltern meines Vaters lebten in einem fünfstöckigen Gebäude in der Bryant Avenue in der South Bronx, in einer Wohnung im Obergeschoss, wo die Miete am niedrigsten war. In den drei Räumen, die alle als Schlafzimmer genutzt wurden, herrschte ständig hektisches Treiben. Es waren kleine Zimmer, aber mir kamen sie nicht so vor. Manchmal hausten wir dort zu sechst oder zu siebt. Wir lebten in Schichten. Niemand hatte ein Zimmer nur für sich, und oft schlief ich zwischen meinen Großeltern. Dann wieder, wenn ich nachts im sogenannten Wohnzimmer auf einem Schlafsofa lag, wusste ich nicht, wer womöglich neben mir landen würde – ein Verwandter auf der Durchreise oder der Bruder meiner Mutter, der selbst gerade aus dem Krieg zurückgekehrt war. Er war im Pazifischen Ozean stationiert gewesen, und wie so viele andere Männer mit Kampferfahrung sprach er nicht über seine Kriegserlebnisse. Manchmal steckte er sich Streichhölzer in die Ohren, um den Lärm der Explosionen zu ersticken, die er noch immer hörte.

Der Vater meiner Mutter wurde als Vincenzo Giovanni Gerardi geboren und stammte aus einem alten sizilianischen Ort, der, wie ich später erfuhr, den Namen Corleone trug. Mit vier Jahren kam er als möglicherweise illegaler Einwanderer nach Amerika, wo er zu James Gerard wurde. Zu der Zeit hatte er bereits seine Mutter verloren; sein recht despotischer Vater hatte noch einmal geheiratet und war mit seinen Kindern und der neuen Frau nach Harlem gezogen. Mein Großvater hatte eine wilde Kindheit wie aus einem Dickens-Roman gehabt, aber für mich war er die erste echte Vaterfigur meines Lebens.

Mit sechs Jahren kam ich von meinem ersten Schultag nach Hause, und mein Großvater rasierte sich im Badezimmer. Er stand im Unterhemd vor dem Spiegel, die Hosenträger hingen seitlich herunter. Ich stand in der offenen Badtür. Ich wollte ihm etwas erzählen.

»Opa, einer aus meiner Schulklasse hat was richtig Schlimmes gemacht. Also habe ich es der Lehrerin gesagt, und er hat eine Strafe gekriegt.«

Ohne beim Rasieren aufzuschauen, sagte mein Großvater nur: »Dann bist du also eine Petze?« Es war nur eine beiläufige Bemerkung, so als hätte er gesagt: »Du magst Klaviermusik? Das wusste ich ja gar nicht.« Aber seine Worte trafen mich mitten in den Solarplexus. Ich spürte, wie ich an den Seiten der Badezimmertür hinunterrutschte. Ich war am Boden zerstört. Ich konnte nicht atmen. Mehr sagte er nicht. Und ich habe in meinem ganzen Leben niemanden mehr verpfiffen. Wobei ich mich gerade selbst verpfeife, indem ich das aufschreibe.

Seine Frau Kate war meine Oma. Sie hatte blondes Haar und blaue Augen wie Mae West, bei Italienern eine Seltenheit, wodurch sie sich von meinen anderen Verwandten etwas abhob. Vielleicht hatte sie deutsche Vorfahren. Als ich wohl etwa zwei Jahre alt war, setzte sie mich immer zu sich an den Küchentisch, fütterte mich mit Babynahrung und erzählte mir dabei raffiniert ausgedachte Geschichten mit mir als Hauptfigur. Das muss eine gewisse Wirkung auf mich gehabt haben. Als ich etwas älter war, ging ich immer zu ihr in die Küche, wenn sie beim Kartoffelschälen war, und aß die Kartoffeln roh. Sie hatten wenig Nährwert, aber ich liebte den Geschmack. Manchmal gab sie mir ein paar Hundekekse, und die aß ich auch.

Meine Großmutter war für ihre Kochkünste bekannt. Sie kochte natürlich italienisch, aber wir wohnten nicht in einer italienisch geprägten Gegend. Wir waren vielmehr die einzigen Italiener im Viertel. Auf der anderen Straßenseite gab es vielleicht noch einen, Dominic, einen fröhlichen Jungen mit Hasenscharte. Wenn ich nach draußen ging, stellte sich mir meine Oma mit dem feuchten Lappen, den sie immer in der Hand zu halten schien, in den Weg und sagte: »Wisch dir die Soße aus dem Gesicht, sonst halten dich die Leute für einen Italiener.« Als die Italiener nach Amerika auszuwandern begannen, hatte es schon gewisse Vorurteile uns gegenüber gegeben, und nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs war es noch schlimmer geworden. Amerika hatte gerade vier Jahre lang gegen Italien gekämpft, und auch wenn viele Italoamerikaner nach Übersee gegangen waren, um gegen ihre eigenen Brüder zu kämpfen und Mussolini mit zu Fall zu bringen, wurden andere zu feindlichen Ausländern erklärt und in Internierungslager gesteckt. Als die Italoamerikaner aus dem Krieg zurückkehrten, vermählten sie sich in großer Zahl kreuz und quer mit anderen ethnischen Gruppen.

Die Familien in unserem Haus kamen aus ganz Osteuropa und anderen Teilen der Welt. Man hörte eine Kakofonie aus Dialekten. Alle hörten sich gegenseitig. Unser kurzer Straßenabschnitt zwischen Longfellow Avenue und Bryant Avenue, von der 171st Street bis hinauf zur 174th Street, war eine Mischung aus Nationalitäten und Ethnien. Wenn wir im Sommer aufs Hausdach gingen, vernahm man das Murmeln verschiedener Sprachen in einer Vielzahl von Akzenten. Es war eine glorreiche Zeit: Viele arme Leute aus verschiedenen Ghettos waren hergezogen, und wir machten etwas aus der Bronx. Je weiter man nach Norden kam, desto wohlhabender wurden die Familien. Wir waren nicht wohlhabend. Wir hielten uns über Wasser. Mein Großvater war Gipser und hatte jeden Tag gut zu tun, denn Gipser waren zu der Zeit sehr gefragt. Er war erfahren und wurde für seine Arbeit geschätzt. Für unseren Vermieter baute er in der Gasse hinter dem Haus eine Mauer, die diesem so gut gefiel, dass er die Monatsmiete von 38,80 Dollar nicht ein Mal erhöhte, solange wir dort lebten.

Bis ich etwas älter war, durfte ich nicht allein aus dem Haus – wir wohnten nach hinten hinaus, und das Viertel war nicht gerade sicher –, und Geschwister hatte ich auch nicht. Es gab nur wenig Zerstreuung, abgesehen von den Al-Jolson-Platten, zu denen ich mit drei oder vier Jahren zur Freude meiner Familie den Sänger mimte. Neben meiner Großmutter, meiner Mutter und einem kleinen Hund namens Trixie blieben mir allein die Figuren aus den Filmen. Ich muss der einzige Fünfjährige gewesen sein, der Das verlorene Wochenende im Kino sehen durfte. Ray Millands Darstellung des selbstzerstörerischen Alkoholikers, die ihm einen Oscar einbrachte, beeindruckte mich sehr. Als er trocken zu werden versucht und am Delirium tremens leidet, halluziniert er eine Fledermaus, die sich von einer Ecke seines Krankenhauszimmers auf eine an der Wand hochkrabbelnde Maus stürzt. Milland vermochte glaubhaft darzustellen, dass er in einem wahnhaften Schrecken gefangen war. Ich konnte die Szene nicht vergessen, in der er nüchtern ist und fieberhaft nach dem Alkohol sucht, den er in betrunkenem Zustand versteckt hat, ohne sich jedoch zu erinnern, wo. Ich versuchte sie nachzuspielen und tat so, als würde ich eine unsichtbare Wohnung auf den Kopf stellen, während ich mich durch nicht vorhandene Schränke, Schubladen und Wäschekörbe wühlte. Bald beherrschte ich diese kleine Nummer so gut, dass ich sie Verwandten jederzeit auf Wunsch vorführte. Dann schrien sie vor Lachen. Sie fanden es offenbar lustig, wenn ein Fünfjähriger eine imaginäre Küche auf den Kopf stellte, als ginge es um Leben und Tod. Da war eine Energie in mir, die ich bereits zu entdecken begann. Schon im Alter von fünf Jahren dachte ich: Warum lachen die? Der Mann kämpft doch um sein Leben.

Meine Mutter war für diese Dinge empfänglich. Ich glaube, deshalb mochte sie solche Filme. Sie war eine schöne Frau, aber verletzlich, mit einem fragilen Gefühlsleben. Sie ging gelegentlich zum Psychiater, wenn Opa das Geld hatte, um für die Sitzungen zu bezahlen. Ich ahnte nicht, dass meine Mutter Probleme hatte, bis ich mit sechs Jahren eines Tages zum Spielen hinausgehen wollte und in der Küche auf einem Stuhl saß, während meine Mutter mir die kleinen Schuhe zuband und mir einen Pullover anzog, damit ich nicht fror. Ich merkte, dass sie weinte, und ich fragte mich, was los war, aber ich wusste nicht, was ich sagen sollte. Sie bedeckte mich mit Küssen, und bevor ich die Wohnung verließ, schloss sie mich fest in die Arme. Das war ungewöhnlich, aber ich wollte nach unten zu den anderen Kindern und dachte nicht weiter darüber nach.

Wir waren ungefähr seit einer Stunde draußen, als in der Straße Unruhe aufkam. Leute rannten auf das Wohnhaus meiner Großeltern zu. Jemand sagte zu mir: »Es ist anscheinend was mit deiner Mutter.« Ich glaubte ihm nicht und dachte: Wie kann jemand so etwas sagen? Mit meiner Mutter? Das stimmt doch nicht. Ich lief mit den anderen mit. Vor dem Haus stand ein Krankenwagen, und in der offenen Haustür erschien meine Mutter auf einer Trage. Sie hatte versucht, sich umzubringen.

Mir wurde nichts erklärt; ich musste mir selbst zusammenreimen, was passiert war. Ich wusste, dass sie anschließend zur Genesung ins Bellevue Hospital gebracht wurde, wo Menschen, die so etwas taten, eine Zeit lang blieben. Ich habe nicht viele Erinnerungen an diese Zeit, aber ich weiß noch, wie ich in der Wohnung meiner Großeltern am Küchentisch saß, wo die Erwachsenen beratschlagten, was sie unternehmen wollten. Ich verstand es nicht ganz, aber ich tat so, als wäre ich auch erwachsen. Jahre später drehte ich den Film Hundstage, und eins der letzten Bilder, das zeigt, wie die von John Cazale verkörperte Figur auf einer Trage fortgebracht wird, bereits tot, erinnerte mich an den Augenblick, in dem ich sah, wie meine Mutter in den Krankenwagen geschoben und weggefahren wurde. Aber ich glaube, sie wollte damals nicht sterben, noch nicht. Sie kehrte lebendig zu uns zurück, und ich zog in die Straßen hinaus.

***

In meiner Kindheit waren es die Beziehungen zu meinen Freunden auf der Straße, die mir Kraft und Hoffnung gaben. Ich zog mit einer Clique umher, zu der meine drei besten Freunde Cliffy, Bruce und Petey gehörten. Jeder Tag war ein neues Abenteuer. Wir streunten durch die Gegend, hungrig nach Leben. Im Rückblick wird mir bewusst, dass ich mehr Liebe von meiner Familie bekam als die anderen drei von ihren. Ich glaube, das könnte den Unterschied gemacht haben. Ich überlebte, sie nicht.

Bis heute ist eine meiner liebsten Erinnerungen, wie ich einmal samstagmorgens die Treppe hinunter und auf die Straße vor dem Haus lief. Ich kann nicht älter als zehn gewesen sein. Die Straße war verwaist, und es war sonnig. Ich weiß noch, wie ich den Häuserblock hinunterschaute, und da war Bruce, etwa fünfzig Meter entfernt. Ich empfand diese Freude, die mir bis heute gegenwärtig ist. Es war ein kalter, klarer Tag, und alles war still und leise. Er drehte sich um und lächelte, und ich lächelte auch, denn wir wussten, wir waren am Leben. Der Tag war voller Möglichkeiten. Irgendetwas würde passieren.

Alle paar Blocks gab es verlassene Grundstücke, wo auf dem Höhepunkt des Zweiten Weltkriegs Kriegsgärten angelegt worden waren. Nachdem Eleanor Roosevelt sich im Weißen Haus einen solchen Garten eingerichtet hatte, schossen sie überall aus dem Boden, sogar in der South Bronx. Aber als wir nach Kriegsende dorthin kamen, waren sie verwüstet und zugeschüttet – die Blumen waren im Himmel. An den Rändern dieser Grundstücke entlang verliefen Gehwege. Wenn man von dort aus hinunterschaute, konnte man hin und wieder einen Grashalm aus dem Beton wachsen sehen. So hat mein Freund Lee Strasberg einmal Talent beschrieben: als einen Grashalm, der aus einem Betonblock sprießt.

Die vermüllten Kriegsgärten wurden zu unseren Versammlungsorten und Spielplätzen. Sie gaben ganz gute Baseballfelder ab, wenn man den Müll zusammenschob und als Laufmale verwendete.

Oft spielte ich auf einem dieser Grundstücke Baseball, und kurz nach siebzehn Uhr sah ich dann in der Ferne Großvater vorbeigehen, der von der Arbeit nach Hause kam. Ganz egal, wo ich mich gerade auf dem Grundstück befand, sobald ich ihn zu sehen bekam, rannte ich zum Bürgersteig, bevor er vorbei war, und entlockte ihm genug Kleingeld für ein Eis.

Er schaute auf mich herunter und griff in die Hosentasche. Seine Hand schien bis zum Ende des Hosenbeins herumzukramen und tauchte schließlich mit dem großen Geschenk wieder auf: einer glänzenden Fünf-Cent-Münze. Ich sagte schnell: »Danke, Opa«, und lief davon.

Wenn ich ihn bemerkte, während ich am Schlagmal stand, schrie ich, um seine Aufmerksamkeit zu erregen, und hoffte, er würde sehen, wie ich den Ball traf und es aufs Laufmal schaffte. Er blieb stehen und schaute kurz zu, und jedes Mal, wenn er dort stand, traf ich. Jedes einzelne Mal. Wenn ich nach Hause kam, erzählte ich ihm, dass ich anschließend einen Triple erzielt hatte, und er nickte und lächelte.

In unserem Viertel schien ich regelmäßig dem Tod von der Schippe zu springen. Ich war wie eine Katze mit deutlich mehr als neun Leben. Mir passierten mehr Missgeschicke und Unfälle, als ich zählen kann, also ziehe ich nur ein paar aus dem Bündel heraus, die hervorstechen und von Bedeutung sind. An einem Wintertag glitt ich über den zugefrorenen Bronx River. Wir hatten allerdings keine Schlittschuhe, also drehte ich in Turnschuhen Pirouetten, um meinen am Ufer stehenden Freund Jesus Diaz zu beeindrucken. Ich lachte, und er feuerte mich an, und im nächsten Moment brach ich durchs Eis und stürzte in das bitterkalte Wasser darunter. Immer, wenn ich herauszuklettern versuchte, gab das Eis nach, und ich rutschte ins kalte Wasser zurück. Ich glaube, ohne Jesus Diaz wäre ich an diesem Tag erfroren. Er fand einen Stock, der doppelt so lang war wie er selbst, und zog mich damit an Land. Ich war völlig durchnässt und durchgefroren, also nahm er mich mit zur Wohnung seiner Familie in einem Mietshaus, in dem sein Vater Hausmeister war. Jesus Diaz gab mir seine eigenen Sachen zum Anziehen.

Ungefähr in diesem Alter hatte ich eines der peinlichsten Erlebnisse meines Lebens. Selbst jetzt scheue ich mich noch, es zu erzählen, aber warum nicht, dafür sind wir schließlich hier. Ich kann nicht älter als zehn gewesen sein, und ich balancierte wie ein Hochseilartist auf einem dünnen eisernen Zaun. Es hatte den ganzen Morgen lang geregnet, und natürlich rutschte ich ab, und die Eisenstange traf mich genau zwischen den Beinen. Ich hatte solche Schmerzen, dass ich kaum nach Hause gehen konnte. Ein älterer Mann sah mich stöhnend an der Straße stehen, hob mich hoch und trug mich zur Wohnung meiner Tante Marie. Sie war die jüngere Schwester meiner Mutter, die im selben Haus wie meine Großeltern im zweiten Stock wohnte. Der Samariter warf mich auf ein Bett und sagte: »Pass auf dich auf, Mann.«

Damals war es noch üblich, dass der Arzt zu einem nach Hause kam, selbst wenn die Praxis nur ein Stück die Straße hinunter lag. Während meine Familie auf Dr. Tanenbaum wartete, lag ich auf dem Bett, die Hose bis zu den Knöcheln heruntergezogen, und die drei Frauen in meinem Leben – meine Mutter, meine Tante und meine Großmutter – drückten und stupsten leicht panisch an meinem Penis herum. Während ich sie bei ihrer Untersuchung untereinander tuscheln hörte, dachte ich nur: Bitte, Gott, hol mich zu dir, jetzt! Mein Penis blieb mir erhalten, zusammen mit dem Trauma. Das Erlebnis verfolgt mich bis heute.

Unser Viertel in der South Bronx verfügte über eine ganze Reihe außergewöhnlicher Charaktere, und die meisten von ihnen waren unschuldig. Da war dieser Typ, der Ende dreißig oder Anfang vierzig zu sein schien, halb rötliche, halb schwarze Haare hatte und immer einen Anzug und ein Kragenhemd mit loser ausgefranster Krawatte trug. Er sah aus, als wäre er beim Sonntagsgottesdienst mit Asche überschüttet worden. Er ging leise durch die Straßen, sprach fast nie ein Wort, und wenn er es tat, sagte er immer nur: »Du kannst die Zeit nicht totschlagen – die Zeit schlägt dich tot.« Das war alles. Wäre er irgendwann einmal zu uns gekommen und hätte auch nur gefragt: »Wie geht’s, Jungs?«, wären wir völlig schockiert gewesen. Natürlich fand ich ihn ein bisschen verdächtig, das taten wir alle. Wir waren wie ein Rudel wilder Tiere, und er wusste, dass er sich von unserer Spezies besser fernhalten sollte. Unser Instinkt sagte uns, dass er anders war als die anderen, also fragten wir nicht weiter, was es mit ihm auf sich hatte. Wir akzeptierten einfach, dass es ihn gab. Im Vergleich zu unserer heutigen Welt gab es damals ein stärkeres Gefühl für Privatsphäre, einen gewissen Anstand und Abstand, den man einander einräumte. In kleineren Orten gibt es das vielleicht noch, und ich habe es mir immer bewahrt.

Aber die Finsternis konnte hinter jeder Ecke lauern. Einmal, ich war vielleicht acht oder neun, warf ich in der Bryant Street allein einen Ball gegen die Wand unseres Mietshauses. Ein Junge, den ich kannte – nennen wir ihn Steve –, kam gerade von einem großen Busbahnhof zurück, wo wir oft in den leeren Bussen spielten, die bunten Fahrkarten aufklaubten und so taten, als wären es Geldscheine. Steve hatte so einen komischen leeren Ausdruck im Gesicht, er wirkte wie benommen. Ich fragte: »Hey, Steve, was ist denn los?«

Er schaute einfach durch mich hindurch und sagte: »So ein Typ hat mir in den Mund gepisst.«

Ich fragte: »Wieso sollte dir denn jemand in den Mund pissen?«

Er antwortete: »Ich weiß es nicht.«

»Er hat dir in den Mund gepisst.«

»Ja, drüben am Busbahnhof.«

Steve hatte keine Ahnung, was ihm da widerfahren war, und ich in meinen jungen Jahren auch nicht. Ich verfügte nicht über die notwendige Erfahrung, kannte die Zwischentöne nicht. Später im Leben begriff ich, was wohl tatsächlich passiert war. Etwas, das in jeder Straße in jeder Stadt geschehen konnte und das eben hier geschehen war. Ich fand einen Weg, es gedanklich hinter mir zu lassen. Es gibt Dinge, die uns beim Aufwachsen begegnen, und auch wenn sie uns hart treffen, können wir sie nicht richtig verarbeiten oder uns daran erinnern, solange wir nicht in einen Hypnosezustand versetzt werden. Aber wir nehmen sie trotzdem in uns auf. Damals wusste ich nur, dass irgendetwas Grundfalsches passiert war und Steve danach gebrochen wirkte, hilflos.

Ich wusste nur, dass ich mich mit Freunden wie Cliffy, Bruce und Petey niemals hilflos fühlte. Als wir etwas älter waren, elf oder zwölf, bildeten wir Banden und erkundeten das Viertel, ließen das Ende unseres Blocks hinter uns, brachen zu neuen Ufern auf. Du gingst irgendwohin und wurdest von irgendeiner Bande vertrimmt. Du gingst woandershin und wurdest von einer anderen Bande angegriffen. Bald schon lerntest du, wo das eigene Bandenrevier endete, und bewegtest dich innerhalb seiner Grenzen, so gut es ging.

Wir machten alles, was uns Spaß brachte, solange wir es uns leisten konnten. Wir lagen stundenlang auf dem Bauch und fischten in den Gullideckeln an den Enden unserer Blocks herum, hofften auf etwas Blinkendes im Schmutz, das womöglich eine verlorene Münze war. Es war kein schnöder Zeitvertreib – fünfzig Cent konnten alles verändern. Wir stiegen auf die Hausdächer und sprangen von einem Dach zum anderen. Einige Jungs, die nur wenige Jahre älter waren als wir, hatten schon angefangen, sich mit Mädchen zu treffen, und wenn wir samstagabends sahen, dass sie mit ihnen ins Kino oder zur U-Bahn gingen, stiegen wir auf die Dächer der Geschäfte und bombardierten sie mit Müll. Manchmal zerlegten wir einen Salatkopf und bewarfen sie damit. Eine aus fünf, sechs Metern Abstand geworfene Brechbohne konnte ganz schön zwicken. Im Sommer knackten wir Hydranten, was uns zu den Helden sämtlicher junger Mütter machte, die ihre kleinen Kinder im Wasser spielen ließen. Mitte Juli wurde es in der South Bronx ganz schön heiß. Wir sprangen hinten auf fahrende Busse auf, hüpften in der U-Bahn über die Drehkreuze. Wenn wir etwas zu essen wollten, klauten wir es. Wir bezahlten nie für irgendetwas.

Unser Zeitvertreib bestand darin, Dummheiten anzustellen und vor Autoritätspersonen zu flüchten. Wir versuchten, den Pfadfindern beizutreten, hatten aber kein Geld, um die Uniform zu bezahlen oder mit ins Pfadfinderlager zu fahren. Die Treffen fanden in den öffentlichen Schulen der Gegend statt, also versammelten wir uns mit ihnen in irgendeinem Gymnasium, wo uns ein Gruppenleiter Befehle erteilen wollte. Wir brachen nur in Gelächter aus, bis wir hinausgeschmissen wurden. Wir hätten niemals Pfadfinder sein können: Wir wussten gar nicht, wie so etwas ging.

Wir lebten für die alten Straßenspiele wie Dosenkicken, Stickball oder Ringolevio. Beim Ringolevio teilte man sich in zwei Mannschaften auf, und dann jagte man die Mitglieder der gegnerischen Mannschaft und versuchte, sie zu fangen, in dem man die Arme um sie legte und dreimal hintereinander »Ringolevio, eins, zwei, drei« sagte. Dann kam derjenige ins Gefängnis, einen eingekreisten Bereich in der Mitte des Schulhofs. Aber wenn man es schaffte, einen Fuß ins Gefängnis seiner Mannschaft zu stellen und »Alle frei!« zu rufen, war die ganze Bande wieder frei. Gelang einem das irgendwie, war es das beste Gefühl der Welt. Manche sprangen von Häusern, nur um einen Fuß in den Kreis zu bekommen und »Alle frei!« zu rufen.

Wo ich herkam, waren wir immer entweder Jäger oder Gejagte. Wenn die Polizei uns das Leben schwermachte, riefen wir einander zu: »Wie heißt du, wenn dein Vater ein Rind ist und deine Mutter eine Sau?« Und dann schrien wir: »Bullenschwein!« Je nach Stimmung gähnten die Polizisten entweder, lachten oder rannten hinter uns her. Aber den Polizisten, der für unser Viertel zuständig war, kannten wir alle gut; er zog mit uns durch die Gegend, wachte über uns, ermunterte uns, Spaß zu haben. Ich weiß nicht, wie viele Gewaltakte er verhinderte, aber wir schlossen ihn ins Herz, und er hatte Freude an uns. Ich dachte immer, dass er ein bisschen in meine Mutter verschossen war. Er fragte mich öfter nach ihr, und sogar mit elf hatte ich schon eine Ahnung, weshalb.

Zu meiner kleinen Bande gehörten außer Bruce, Petey, Cliffy und mir noch ein paar andere: Jesus Diaz, Bibby, Johnny Rivera, Smoky, Salty und Kenny Lipper, der eines Tages Vizebürgermeister von New York unter Ed Koch werden sollte. (Der Film City Hall, eine solide Regiearbeit von Harold Becker, in der ich mit John Cusack auftrat, beruhte auf seinen Erfahrungen.)

Zu unserer Gruppe gehörte auch einer, der Hymie hieß und, wie man heute sagen würde, besonderen Förderbedarf hatte. Er war älter als wir und sehr stark. Die anderen Banden überlegten sich zweimal, ob sie auf uns losgingen, wenn sie ihn sahen. Abends machte ich mich immer gemeinsam mit ihm auf den Heimweg, und wir sangen »I Wonder Who’s Kissing Her Now«, ein altes Lied aus dem Zweiten Weltkrieg, das von einem Soldaten handelt, der an seine Freundin in der Heimat denkt. Bei mir zu Hause folgte Hymie mir die gesamte Treppe hinauf, und beim Hinuntergehen sang er: »I wonder who’s …«, und ich sang: »… kissing her now.« Mit sechzehn wurde Hymie dann gewalttätig; er griff wiederholt seine Mutter an, und sie steckten ihn in ein Heim. Wir sahen ihn nie wieder. Er fehlte uns.

Im Viertel lebte auch ein Junge namens Philly, der von einem anderen Jungen schikaniert wurde. Damals gab es einen Slang-Ausdruck: Wenn du den Kragen aufstelltest, warst du »rocky« oder ein »rock« – du warst cool. Der andere Junge rief Philly ständig so, er sagte andauernd zu ihm: »Na, meinst du, du bist ein rock, oder was?« Der Tyrann machte das so lange, bis Philly nicht mehr konnte. Er schlug immer wieder den Kopf gegen eine Wand und schrie: »Ich bin ein rock, ich bin ein rock!« Daraufhin wurde Philly von der Schule genommen und kam in eine Resozialisierungsanstalt. Hinterher war er nicht mehr derselbe. Er saß auf einem Stuhl, starrte ins Leere und sprach mit niemandem. Seine Mutter saß neben ihm.

Cliffy, Bruce, Petey und ich – wir waren die Obermacker. Die anderen nannten mich Sonny oder Pacchi, ihr Spitzname für Pacino. Sie nannten mich auch Pistacchio, weil ich Pistazieneis mochte. Hätten wir einen Bandenchef wählen müssen, wäre es Cliffy oder Petey gewesen. Petey war Ire, ein harter Knochen. Aber Cliffy war ein Gelehrter, ein echtes Original, furchtlos und selbst mit dreizehn nie ohne eine Dostojewski-Ausgabe unterwegs. Dieser Junge hatte das Potenzial, alles im Leben zu erreichen. Er hatte das nötige Talent. Er hatte das nötige Aussehen. Er hatte einen übermäßig hohen IQ, womit er gern prahlte. Und er hatte vier ältere Brüder, die ihn täglich verprügelten. Er war extrem fintenreich. Wir brauchten ihn nie zu fragen, was wir anstellen könnten, er hatte immer schon irgendeine Gaunerei im Kopf.

Wir stiegen auf die Hausdächer, wenn wir einfach nur herumhängen wollten, aber auch weil sie uns Fluchtwege boten, falls wir verfolgt wurden. Dort oben gab es auf jedem Haus Fernsehantennen, allesamt entlang einer dreißig Zentimeter breiten Dachkante montiert, die sich um das gesamte Gebäude zog. Manchmal stiegen wir auf diesen Sims und balancierten darauf wie bei einer Hochseilnummer. Vier Stockwerke hoch über der Erde bewegten wir uns wie Katzen, und wenn wir bei einer der Antennen ankamen, blieben wir stehen und hielten uns kurz fest, bevor wir das nächste Stück angingen. Cliffy bewegte sich mit fröhlicher Unbekümmertheit. »Guckt mal!«, rief er und flog dahin wie ein rasender Vogel. Ein paarmal machte ich das auch, aber niemals so wie Cliffy.

Wir gingen zum Bronx Zoo, zur sogenannten Affeninsel, wo es einen abgelegenen Bereich mit Bäumen gab, in dem wir die mächtigen Seile hinaufkletterten, die irgendwelche fernen Vorfahren von uns dort um die Äste geschlungen hatten. Wir schwangen uns an den Seilen über den Teich, ließen uns fallen und tollten im Wasser herum. Bruce kam einmal mit einem Blutegel heraus, der sich an ihm festgesaugt hatte. Ein paar der älteren Jungs stellten sich öfter auf einen großen, flachen Felsen, der ins Wasser hineinragte, und veranstalteten einen Wichswettbewerb – wer konnte am weitesten spritzen? Für sie war alles ein Wettstreit: »Ich wette fünf Cent, dass du die Zigarettenkippe auf dem Boden und die Orangenschale daneben nicht aufisst.« Und irgendwer nahm die Herausforderung ganz sicher an. Ich hielt mich aus diesen Spielchen heraus und ließ sie machen. Irgendwie beobachtete ich immer alles, beteiligte mich aber nur hin und wieder.

Einmal sah Cliffy ein Eichhörnchen an einem Baum hochlaufen und warf einen Stein nach ihm. Das arme Tier schlug tot auf dem Boden auf, und Cliffy fing an zu weinen. Er hatte nicht vorgehabt, es zu töten. Wir beerdigten das Eichhörnchen und sprachen Gebete. Ein anderes Mal kam ich mit einem verletzten Spatzen nach Hause, den ich gefunden hatte; ich brachte ihn zu meiner Mutter, und wir kümmerten uns um ihn. Nach einiger Zeit gewöhnte sich der Spatz an uns. Er flog durch die Wohnung und landete auf unseren Schultern. Wir mussten nur aufpassen, dass ihm der Hund nicht zu nah kam. Wir schlossen ihn alle richtig ins Herz. Meine Mutter küsste ihn immer, und wir bauten ihm einen kleinen Vogelkäfig. Sie fütterte ihn und päppelte ihn auf, gab ihm Nahrung, Streicheleinheiten und Liebe. Irgendwann mussten wir ihn ziehen lassen, weil wir glaubten, er brauche die Freiheit. Wir brachten ihn dorthin, wo all die anderen Spatzen waren, und ließen ihn frei. Aber er war kleiner als die anderen, und später erfuhren wir, dass domestizierte Vögel meist von den anderen verstoßen wurden. Der Gedanke, dass unser Freund wegen seiner Zeit bei uns wahrscheinlich von seinen eigenen Artgenossen getötet worden war, brach uns das Herz. Später las ich Orpheus steigt herab von Tennessee Williams, und an der Stelle, an der es heißt: »Und diese kleinen Vögel haben keine Beine und leben ihr ganzes Leben in der Luft, sie schlafen auf dem Wind«, musste ich an den Spatzen denken.

***

Wie die meisten Hausbewohner putzte meine Großmutter das Küchenfenster, indem sie es öffnete, sich aufs Fensterbrett setzte und die Scheiben von außen abwusch, während ihr Hinterteil vier Stockwerke über dem Boden gefährlich weit aus dem Rahmen ragte. Wenn ich in der Küche stand und durch dieses Fenster schaute, sah ich auf die Gasse hinunter, in der mein Großvater die Mauer gebaut hatte, die sie von der Gasse des Nachbarhauses trennte. Kletterte man über diese Mauer, landete man in einem schmalen Korridor, der zu einem Gewirr von Aus- und Eingängen führte, einer eigenen Welt aus Verbindungswegen zu Höfen und kreisrunden Plätzen. Als ich anfing zu rauchen, irgendwann mit zehn oder elf, achtete ich darauf, es in einer Gasse zu tun, wo mich niemand sehen konnte, weil ich wusste, dass es nicht erlaubt war. Ich stellte mir immer vor, dass dort unten schäbige Dinge getrieben wurden, alles, was verboten war. Dieses Gefühl hatte ich, aber es war nicht beängstigend, sondern einladend. Als ich das erste Mal ein Mädchen küsste, passierte es dort unten in diesen Gassen. Ich wusste nicht, was ich machte, aber ich glaubte, es wäre etwas Spektakuläres geschehen. Ich glaubte, ich hätte meine Jungfräulichkeit verloren. Leider nicht.

Wenn ich in diese Gasse hinunterschaute, sah ich oft meine Freunde – ein Rudel wilder, pubertierender Wölfe mit verschlagenem Lächeln im Gesicht – zu mir heraufschauen. »Komm runter, Sonny Boy!«, riefen sie. »Wir haben was für dich!« Eines Morgens stand Cliffy mit einem riesigen Schäferhund dort. Er schrie herauf: »He, Sonny, willst du meinen Hund sehen? Er ist mein neuer Freund, und er heißt Hans!« Ich wäre am liebsten aus dem Fenster gehüpft, um mir dieses gewaltige Hundevieh sofort anzuschauen, aber ich befand mich ja im obersten Stockwerk.

Cliffy war eigentlich nicht fürs Klauen von Hunden bekannt. Er hielt sich eher an Katzen. Mit etwa vierzehn Jahren stahl er einen Stadtbus. Einmal war es ein Müllwagen. Während der Tat hatte er immer noch die Dostojewski-Ausgabe einstecken. Er brach auch in Häuser ein – New Jersey konnte er nicht mehr betreten, weil er dort von der Polizei gesucht wurde. Er zog mich auf, weil ich nie etwas von den Drogen nahm, auf die er stand. Er sagte: »Sonny braucht keine Drogen – der ist von sich selbst berauscht!«

Sport war ein Gebiet, auf dem ich mich vom Rest der Gruppe abhob. Mein Großvater hatte mir die Liebe zum Sport nahegebracht: Er war sein Leben lang Baseballfan gewesen und hatte den Boxsport geliebt. Er hatte schon mit den New York Yankees mitgefiebert, bevor sie überhaupt zu den Yankees wurden – anfangs nannten sie sich noch die Highlanders –, und er als armer Junge schaute sich die Spiele durch Löcher im Zaun am Hilltop Park oder den Polo Grounds an, wo die New York Giants spielten. Später bekamen die Yankees ein eigenes Stadion, das in einer von Sidney Lumet wunderschön gefilmten Szene in Serpico im Hintergrund zu sehen ist, als Serpico sich mit der Gruppe korrupter Polizisten trifft und sie zusammenhocken wie in einer Räuberhöhle. Am Morgen des Tages, an dem die Szene gedreht wurde, hatten Tuesday Weld und ich uns getrennt, und wenn man mir ins Gesicht schaut, sieht man einen ziemlich traurig wirkenden Typen.

Mein Großvater hielt immer zu den Außenseitern, und das scheint auch mein Credo zu sein. Ich drücke immer den Unterlegenen die Daumen, bis sie anfangen zu gewinnen, und dann sage ich mir: O Mann, zu denen halte ich nicht mehr.

Wenn er es sich leisten konnte, nahm Opa mich zum Baseball mit, und wir saßen ganz oben auf der Tribüne – die billigen Plätze. Natürlich wussten wir, dass es Logenplätze gab, die teurer waren und auf denen man näher am Spielfeld saß. Das war eine ganz andere Geschichte – dieser Klasse gehörten wir nicht an. Ich hielt mich nicht für benachteiligt – es war einfach nur ein anderer Block im Viertel, ein anderer Stamm. Es hätte ebenso gut ein anderes Land sein können. Der Unterschied zwischen Cliffy und mir war: Wenn Cliffy diese Logenplätze sah, wollte er da runter. Gab es an der Kinokasse eine Schlange, wartete er nicht – er drängelte sich vor und ging einfach hinein. Er hatte diesen Wagemut. Es war, als gäbe es nur ihn auf der Welt, er war der größte Solipsist, den ich je gesehen habe. Wenn ich es mir überlege, könnte ich auch irgendwo auf dieser Skala sein.

In dem Alter war ich selbst Sportler. Ich war schnell und wendig und hüpfte immer leicht, wenn ich mich bewegte. Ich spielte Baseball in der Mannschaft meines Viertels. Cliffy und die anderen Jungs hatten kein Interesse an Sport, und so war es beinahe, als führte ich zwei Leben: das mit der Bande und das mit meinen Mannschaftskameraden. Eine Zeit lang dachte ich, ich würde vielleicht einmal Profispieler werden, bis ich sah, wie sich ein paar von den anderen für den Nachwuchskader der Yankees bewarben – sie wurden nicht mal angeschaut, und ganz ehrlich, die Jungs waren viel besser als ich. Ich habe große Ehrfurcht vor Profisportlern. Es ist ein steiniger Weg bis zum Gipfel, und in meinen Augen haben sie alle den Mount Everest erklommen.

Die Jungs aus der Bande waren mein Leben, aber wenn ich Baseball spielte, zog ich allein los, ohne sie. Als ich eines Tages auf dem Heimweg von einem Spiel in einer üblen Wohngegend war, wurde mir mein Baseballhandschuh gestohlen. Eine Gruppe von vier oder fünf Jungs, nicht viel älter als ich, stellte sich mir in den Weg; sie hatten Messer und wer weiß was noch, und sie sagten: »Her mit dem Handschuh!« Sie wussten, dass ich kein Geld hatte, und ich wusste, ich war den Handschuh los. Mein Großvater hatte ihn mir gekauft, und ich ging unter Tränen nach Hause und sagte ihm, sie hätten ihn gestohlen und ich wisse nicht, was ich machen sollte. Ich wusste, einen zweiten konnte er sich nicht leisten, und hätten wir versucht, die Typen ausfindig zu machen, es hätte Krieg gegeben. Wären nur Cliffy, Petey und Bruce bei mir gewesen, dann wäre das nie passiert. Es war nicht bloß bequem, gemeinsam unterwegs zu sein – es war eine Notwendigkeit, denn andernfalls waren wir ungeschützt, wehrlos.

Am Ufer des Bronx River, etwa vier Blocks von dort entfernt, wo wir alle wohnten, standen die Dutch Houses. Es waren uralte Gebäude, erbaut von den als Siedler nach Amerika gekommenen Holländern und inzwischen verfallen, aber nicht vollständig verwaist. Herman Wouk hat in seinem Roman Großstadt-Junge darüber geschrieben und das Gebiet als »stinkende Schutthalden« bezeichnet. Wenn wir uns richtig verwegen fühlten, wagten wir uns zu den Dutchies hinaus. Die Ruinen waren von unberechenbaren Jugendlichen und Ausreißern bevölkert – wir nannten sie Boonies, weil die Häuser in der Boone Avenue lagen. Sie lebten dort unten in Hütten, und sie hatten ansteckende Krankheiten, und es hieß, die Spitzen ihrer selbstgebastelten Waffen seien vergiftet.

Pflanzen wucherten wild und ungezähmt entlang der Flussbetten: dichtes Unkraut, das einem bis über den Kopf reichte, und Bambussträucher, von denen wir Zweige abschnitten, in Stücke hackten und zu Messern, Bögen und Pfeilen zurechtschnitzten. Flöße wurden den Bronx River hinauf und hinunter gerudert, um die Art von Waren zu befördern, die man nicht im Laden kaufen konnte. Wir spionierten zwielichtigen Händlern hinterher, die verstohlen mysteriöse Transaktionen durchführten, und Männern, die wer weiß was mit den Frauen anstellen wollten, die sie dabeihatten.

Hin und wieder hörte man gedämpfte Schüsse, meist von einer aus Holz und Gummibändern gefertigten Pistole. Es war eine Steinschleudervariante: Fügte man eine Patrone vom Kaliber .22 hinzu und zündete die Hülse an, ging das meist nicht gut aus; wenn man Pech hatte, flog sie einem ins Gesicht. Man schoss damit auf Dosen, Flaschen und Steine, aber sie machte was her. Trug man eine bei sich, war man den anderen ein Stück voraus, doch sie konnte einen auch in Schwierigkeiten bringen. Der ganze Ort roch nach Gefahr, aber wir hatten Spaß daran.

Eines Tages war ich in der Bryant Avenue unterwegs, als ich den Rest der Bande von den Dutchies nach Hause humpeln sah; die Jungs wirkten niedergeschlagen. Cliffy war blutüberströmt. Als er mein erschrockenes Gesicht sah, rief er: »Das ist nicht mein Blut – es ist Peteys!« Hinter ihm war Petey, dem aus einer Wunde am Handgelenk das Blut nur so heraussprudelte. Sie waren tief in den Dutchies gewesen und einen Hügel hinuntergelaufen, als Cliffy plötzlich schrie: »Achtung, ein Boony!« Er rief einen Namen, der in der Gegend berüchtigt war. Ich bringe ihn noch heute nicht über die Lippen. Cliffy hatte nur einen Witz machen wollen, aber die anderen stoben in alle Richtungen auseinander. Petey wusste, dass Eile geboten war, aber leider stolperte er und schlug hart auf dem Boden auf. Er landete auf irgendetwas Spitzem und Gezacktem, das ihm das linke Handgelenk aufriss. Der Schnitt war so tief, dass er bis auf die Nerven ging. Es war grauenhaft.

Die Ärzte bekamen ihn schließlich wieder hin, aber sie nähten ihn stümperhaft zusammen, sodass er die Hand nicht mehr richtig bewegen konnte. Heute würde man eine solche Verletzung wohl ordentlich behandeln – es wäre nicht billig, aber sie würden es richtig machen. Petey dagegen blieb mit einer Hand zurück, die er nicht mehr bewegen konnte. Die dunkle Welt der Armut hatte ihn zum Krüppel gemacht. Wenn er mit uns Ball spielte, musste er den Handschuh von der Hand ziehen, mit der er gerade gefangen hatte, und den Ball mit derselben Hand zurückwerfen. Cliffy fühlte sich immer schuldig, weil Petey nur wegen seines blöden Streichs so etwas passiert war.

***

Abends bade ich in der Wohnung meiner Großeltern, als ich es unten rumoren höre. Von der Gasse vier Stockwerke weiter unten schallen die Stimmen zu meinem Badezimmerfenster herauf:

»Sonny!«

»He, Pacchi!«

»Sonn-yyyyy!«

Es sind meine Freunde, die nach mir rufen. Sie haben sich zu einer weiteren Runde von Eskapaden versammelt – zur Spätschicht. Ich bin zehn oder elf Jahre alt, aber sie wollen, dass ich noch mit ihnen losziehe. Sie jaulen wie die Wildkatzen. Es gibt keine Klingel und kein Telefon, also kommunizieren sie auf diese Art. Sie führen irgendetwas im Schilde – irgendetwas Aufregendes, und ich will zu ihnen.

Aber etwas hindert mich daran, aus der Wanne zu springen, meine Klamotten überzuziehen und mich ihnen anzuschließen. Ich spreche nicht von meinem Gewissen; ich spreche von meiner Mutter. Sie sagt, ich darf nicht. Sie sagt, es ist spät, und morgen ist ein Schultag, und Jungen, die so spät am Abend herkommen und in der Gasse herumschreien, sind nicht der richtige Umgang für mich, und überhaupt: Nein heißt Nein.

Ich hasse sie dafür. Sie schneidet mich vom Rest der Welt ab. Diese Freunde sind der Quell meiner Identität. In diesem Alter sind sie das Einzige in meinem Leben, das mir etwas bedeutet, und meine Mutter erlaubt mir nicht, sie zu sehen. Ich verabscheue sie dafür. Und dann bin ich eines Tages zweiundfünfzig, betrachte mein vom Rasierschaum aufgeplustertes Gesicht im Schminkspiegel und zerbreche mir den Kopf darüber, wem ich bei der Rede zu einem Preis danken soll, der mir verliehen wird. Ich denke an diesen Augenblick zurück, und mir wird klar, dass ich allein wegen meiner Mutter noch da bin. Natürlich muss ich ihr danken, und ich habe mich noch nie dafür bedankt. Sie ist diejenige, die dem Ganzen einen Riegel vorgeschoben hat, die mich von dem Weg abgebracht hat, der zu Straftaten, Gefahr und Gewalt führte, zur Spritze, zu dieser tödlichen Wonne namens Heroin, die meine drei engsten Freunde umgebracht hat. Petey, Cliffy, Bruce – sie sind alle an Drogen gestorben. Ich stand nicht unter strenger Überwachung, aber meine Mutter behielt mich im Auge, wie es die Familien meiner Freunde nicht taten, und wir wussten es alle. Ich glaube wirklich, dass sie mir das Leben gerettet hat.

***

Mir war klar, dass die Familie meiner Mutter nicht das beste Bild von meinem Vater hatte, aber meine Großeltern waren immer darauf bedacht, in meiner Gegenwart nichts Negatives über ihn zu sagen. Meiner Mutter dagegen rutschten hin und wieder gewisse Dinge heraus, die deutlich machten, dass sie ihn nicht respektierte und meinte, er würde sich nicht gut um mich kümmern. So etwas kann Kinder verletzen. Wenn die Eltern getrennt sind, kommt man sich ohnehin wie ein Waisenkind vor. Solche Ansichten aus dem Mund von Erwachsenen können zu anhaltenden Vorurteilen führen – sie können den Brunnen für immer vergiften, wovor man sich sehr in Acht nehmen muss. Und ich bin mir sicher, es von ihr zu hören blieb nicht ohne Wirkung. Doch selbst in diesem Alter wollte ich nicht zulassen, dass sie meine Gefühle für meinen Vater beeinflusste. Ich wollte mir selbst ein Bild von ihm machen.

Als ich neun war, ging mein Vater mit mir durch das Viertel von East Harlem, in dem er lebte. Meine Mutter und er waren seit einigen Jahren geschieden, und nach seiner Heimkehr aus dem Krieg hatte er sich eine neue Existenz aufgebaut. Er war Ende zwanzig und hatte mit der finanziellen Unterstützung für Ex-Militärs einen Hochschulabschluss erworben. Nun arbeitete er als Buchhalter und kam ganz gut über die Runden, soweit ich das beurteilen konnte. Ich sah ihn gelegentlich an Feiertagen und Geburtstagen. Er hatte eine neue Wohnung, eine neue Frau, ein neues Kind, aber trotzdem wollte er mich irgendwie noch in seinem Leben. An dem Tag zog er mit mir um den Block, machte an Läden und den einschlägigen Treffpunkten halt, präsentierte mich seinen Freunden. »Das ist mein Sohn«, sagte er zu ihnen. »Na, Sohn«, erwiderten sie. Aber ich wusste nicht, wer diese Leute waren. Sie waren von einem anderen Schlag. Es waren Italiener, und sie sahen zwar aus wie die Verwandten, die ich kennengelernt hatte, gaben sich aber ganz anders. Sie waren älter, und sie nippten in Cafés Anisette aus winzigen Espressotässchen. Sie waren cool, und sie mochten mich, aber ich wollte nach Hause in die Bronx und zu meinen eigenen Freunden. Ich hatte das Gefühl, von meinem Vater herumgezeigt zu werden.

Ich dachte, es handelte sich nur um einen Tagesbesuch, aber als wir nach dem Streifzug um die Blocks wieder auf dem Weg zu meinem Vater nach Hause waren, erfuhr ich, dass es sich um eine Übernachtung handelte. Ich würde in seiner Wohnung schlafen, einem schlauchförmigen Apartment. Ich wurde an einem der weit auseinanderliegenden Enden ins Bett gelegt, und als ich mitten in der Nacht aufwachte, war ich völlig orientierungslos. Alles fühlte sich falsch an. Ich konnte den Raum nicht erkennen, in dem ich einquartiert war. Das Bett, das sie mir zum Schlafen gegeben hatten, war nicht meins. Die Geräusche von der Straße klangen völlig fremd. In der Wand hörte ich ein Kratzen, das von Mäusen oder Ratten kommen musste.

Ich begann durch die Dunkelheit in Richtung meines Vaters zu schleichen. Hinter jeder Tür, an der ich vorbeikam, konnten Gefahren lauern. Jedes Zimmer, das ich betrat, war finster und voller Hindernisse. Als ich am Ende des Schlauchs ankam, fand ich ihn schlafend in dem Bett vor, das er sich mit seiner neuen Frau teilte. Das Bettgestell reichte mir bis zum Bauch, und in der Dunkelheit konnte ich nur unterschiedlich große Hügel unter den Bettdecken ausmachen. Ich konnte nicht erkennen, welcher zu ihm und welcher zu ihr gehörte, wollte aber diese Frau keinesfalls wecken; nach der Art und Weise zu schließen, wie sie mich den Tag über angesehen und mit mir gesprochen hatte, schien sie mich als so etwas wie eine Taube zu betrachten, die von ihrem Schwarm getrennt worden und ganz gewiss mit einer tödlichen Krankheit infiziert war.

Also zupfte ich am Laken, wodurch sie natürlich beide wach wurden. Aber ich wollte unbedingt weg von dort, und ich wusste nicht, wie. Ich stammelte nur: »Kann ich … kann ich nach Hause?« Und der müde Mann stand mitten in der Nacht auf und setzte mich in sein Auto. Er hatte tatsächlich ein Auto, was für mich so war, als hätte er ein Flugzeug. Und er fuhr mich zurück nach Hause, was sich ganz schön hinzog. Mit der U-Bahn wäre es schneller gegangen.

Vor dem Wohnhaus meiner Familie stellte mein Vater den Motor ab und sprach mit mir. Er wollte mir seinen Teil der Geschichte erzählen. Er sagte: »Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, aber deine Großmutter hat sich immer in den Weg gestellt.« Auf seine ungelenke, ungeübte Art versuchte er eine Verbindung zu mir herzustellen, aber er redete mit einem Neunjährigen, und ich konnte nicht aufnehmen, was er mir sagen wollte. Ich war so erleichtert, als ich oben bei meinen Großeltern ankam. Mein Vater ist kein so übler Kerl, dachte ich. Ich meine, schließlich hat er mich nach Hause gefahren – das hätte er nicht tun müssen. Aber ehrlich gesagt, wollte ich nur weg. Er war für mich ein Fremder.

In der Schule hatten die Lehrer immer zu meiner Mutter gesagt: »Ihr Sohn braucht auch einen Vater.« Es machte sie rasend. Sie meinen also, wir müssen ein Paar sein und leiden und uns streiten und anschreien, und mein Kind soll das alles mitanhören?

Ich habe mein ganzes Leben lang Freunde gehabt, die ihre Väter mochten oder sogar starke Bindungen zu beiden Elternteilen hatten. Aber andere hatten keine gute Beziehung zu ihrem Vater. Manche wuchsen damit auf, dass ihr betrunkener Vater ihre Mutter regelmäßig verprügelte. Bei einigen war der Hass auf ihren Vater so heftig, dass ihnen in seiner Nähe regelrecht übel wurde. Ich dagegen hatte einfach nie einen Vater gehabt. Er war abwesend. Ich kann mich glücklich schätzen, dass ich meinen Großvater hatte. Aber wenn ich heute darüber nachdenke, muss es ziemlich schmerzhaft gewesen sein, dass mein Vater keine Beziehung zu mir aufbauen konnte. Er war Italiener, und ich war sein erster und einziger Sohn, und ich weiß, das muss ihm nahegegangen sein. Andererseits wurde mir auch klar, dass es in gewisser Weise ein Segen war, ihn nicht um mich herum zu haben. Hätte er mich großgezogen, wäre ich heute nicht der, der ich bin. Aber ich habe drei Halbschwestern, seine Töchter, die ich kennenlernte und die alle gut über ihn sprachen. Ich merkte, wie sehr sie ihn liebten.

Ich hatte andere Menschen in meinem Leben, die auf mich aufpassten und mich an die Hand nahmen, auch wenn es mir damals nicht bewusst wurde. Meine Lehrerin auf der Mittelschule, eine attraktive Frau mittleren Alters namens Blanche Rothstein, bestimmte mich dazu, während der Schülerversammlung aus der Bibel zu lesen. Ich stamme nicht aus einer besonders religiösen Familie. Meine Mutter schickte mich zum Katechismusunterricht, und zur Erstkommunion trug ich meinen kleinen weißen Anzug. Aber ich hatte Angst, womöglich so brav zu sein, dass die Jungfrau Maria vom Himmel heruntersteigen und mich zum Heiligen machen würde; ein Heiliger wollte ich nicht sein. Davor hatte ich wirklich Angst, das ist die Wahrheit, also ging ich nie wieder zur Kommunion. Außerdem schlugen einen die Nonnen ohne Grund.

Aber wenn ich mit lauter, dröhnender Stimme aus dem Buch der Psalmen las – »Wer ohne Tadel einhergeht und recht tut und redet die Wahrheit von Herzen« –, dann spürte ich, wie mächtig die Worte waren. Denn Worte können Flügel verleihen. Sie können zum Leben erwachen. Das fleischgewordene Wort, wie mein Freund Charlie immer sagte, ein weiteres Bibelzitat. So habe ich die Schauspielerei immer begriffen: Schöne Worte sagen und versuchen, die Menschen damit zu unterhalten.

Bald übernahm ich im Schultheater Rollen in Stücken wie The Melting Pot, einem kleinen Historienspiel zu Ehren der vielen Nationen, deren Angehörige zu Amerikas Größe beigetragen hatten. Ich war eins der Kinder, die vor einem großen Schmelztiegel in der Bühnenmitte standen. Gemeinsam mit einem zehnjährigen Mädchen mit dunklem Haar und olivenfarbener Haut sollte ich Italien repräsentieren. Ich betrachtete das Mädchen über den Schmelztiegel hinweg und dachte: So sehen Italiener aus? Als unser Jahrgang Der König und ich aufführte, spielte ich Louis, den Sohn der Heldin Anna, und sang gemeinsam mit einem anderen Jungen, der den jungen Prinzen von Siam darstellte, ein Lied über das rätselhafte Verhalten der Erwachsenen.

Ich nahm die Schauspielerei nicht besonders ernst – es war nur eine Möglichkeit, herumzuhängen, Dampf abzulassen und mich vor allem vor dem Unterricht zu drücken. Aber irgendwie erwarb ich mir den Ruf eines Typen, den man bei diesen Schulaufführungen unbedingt dabeihaben musste. Offenbar hatte ich meine Sache ganz ordentlich gemacht, denn nach einer Vorstellung kam einmal jemand zu mir und sagte: »He, Junge – du bist der nächste Marlon Brando!« Ich sah ihn an und sagte: »Wer ist Marlon Brando?«

Als bei einer Feier zum Ende des Schuljahrs verschiedene Preise verliehen wurden, erkor man mich zum Schüler mit den »besten Erfolgssaussichten«. Ich war enttäuscht, weil ich lieber zum Bestaussehenden gewählt worden wäre. Aber das wurde ein Typ namens Willy Rams – er war einer von denen, die einarmig Liegestützen machten und auf den Händen gehen konnten. Er war ein netter Kerl. Aber die Ernennung zum Schüler mit den »besten Erfolgsaussichten« war bloß ein Beliebtheitswettbewerb. Es hieß nur, dass man einigermaßen bekannt war. Und wer will schon bekannt sein?

Blanche Rothstein, meine Mittelschullehrerin, hatte für mich Größeres im Sinn. Eines Tages kam sie die fünf Treppenfluchten in unserem Mietshaus herauf, um mit meiner Großmutter zu sprechen. Sie war nicht gekommen, um mich zu maßregeln, sondern um mich zu ermuntern. »Dieser Junge muss weiter schauspielern können«, sagte sie zu Oma. »Das ist seine Zukunft.« Es war eine so schlichte und zugleich so rare Geste. Niemand sonst hatte je solche Anstrengungen unternommen, zumindest nicht für mich. Diese großartige, engagierte Lehrerin tat etwas Ehrenhaftes und zeigte zugleich etwas, das eigentlich alle Lehrer anzubieten haben, nämlich Inspiration und Hingabe an ihren Beruf. Ermutigung – das schönste Wort, das es gibt. Meine Großmutter begriff nicht ganz, was diese Lehrerin wollte, aber meine Mutter schon, und es bereitete ihr Kopfzerbrechen. In ihren Augen waren wir arme Leute, und arme Leute werden keine Schauspieler.

Doch das hielt mich nicht davon ab, in der Schule genau so weiterzumachen. Als ich dreizehn war und wir Home Sweet Homicide aufführten, sollte ich eins der Kinder spielen, die ihrer verwitweten Mutter helfen, einen Mord im Nachbarhaus aufzuklären. Bevor ich auf die Bühne ging, sagte mir jemand, meine Eltern säßen beide im Publikum. Meine Mutter und mein Vater unter den Zuschauern. O nein. Das brachte mich aus dem Konzept, und ich spielte nicht so gut wie erhofft. Bis heute will ich nie wissen, wer bei der Premiere oder an irgendeinem anderen Abend im Publikum sitzt.

Aber abgesehen davon war es wunderbar, in dem Stück mitzuspielen. Auf der Bühne fühlte ich mich stets heimisch. Mein Gefühl sagte mir: Hier gehöre ich hin. Zwar stand ich auch gern auf dem Baseballfeld, aber Baseball lag mir nicht so sehr wie diese andere Sache namens Theater. Es machte mir einfach Spaß. Ich fühlte mich frei. Ich hatte das Gefühl, beachtet zu werden. Und ich genoss das Zusammensein mit den anderen Schauspielern.

Direkt nach der Vorstellung fuhren meine Mutter und mein Vater mit mir zu Howard Johnson’s, und wir stießen auf meinen Erfolg an. Howard Johnson’s war ein ganz normaler Diner, ähnlich wie der, den man am Anfang von Pulp Fiction