9,99 €
Wie Sex unsere Seele nährt.
Probleme mit der Sexualität bringt fast jedes Paar mit, das in die Praxis von Eva-Maria Zurhorst kommt. Frauen fühlen sich von der Lust an der Liebe verlassen und Männern schlagen Stress, Leistungsdruck oder Zurückweisung durch die Partnerin auf die Seele.
Soulsex beschreibt Zurhorsts persönliches Wundermittel für die Heilung von Beziehungsstress und die Rückkehr der körperlichen Lust: Der Sex muss mit dem Herzen verbunden werden.
Soulsex zeigt Paaren den Weg, sich wieder neu für den Sex zu öffnen, Angst und Scham zu überwinden und sich ohne Druck genussvoll fallen zu lassen.
Dieses Buch erschien ursprünglich 2014 bei Arkana.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Seitenzahl: 465
Buch
In immer mehr Ehen herrscht Flaute im Bett. Dies ist allerdings kein Grund, an sich oder der Partnerschaft zu zweifeln, sich zu schämen oder sich gar vom Partner zu trennen, findet Eva-Maria Zurhorst. Es ist Zeit für eine Revolution im Bett! Soulsex ist ein neuer, sanfter, höchst erfüllender Zugang zur körperlichen Liebe und verhilft Paaren zu einer ganz neuen, tiefer gehenden Empfindungsfähigkeit und echter Nähe.
Autorin
Eva-Maria Zurhorst ist Bestsellerautorin und Beziehungscoach. Ihre Bücher wurden weltweit in 17 Sprachen übersetzt. Sie war ursprünglich als Journalistin tätig, u. a. in Südafrika und Ägypten, und wechselte später als Kommunikationsberaterin in die Wirtschaft, bis sie nach einer psychotherapeutischen Zusatzausbildung das Projekt »Liebe Dich selbst« ins Leben gerufen hat.
Eva-Maria Zurhorst
Soulsex
MIT LUST DIE LIEBE NEU ENTDECKEN
Unter Mitwirkung von Tatjana Blobel
Mit Ergänzungen von Wolfram Zurhorst
Dein nackter Körper soll nur denen gehören,
die auch Deine nackte Seele lieben.
CHARLIE CHAPLIN
Dank
Mein Dank gilt meinem Mann, ohne den ich die Tiefe der Wahrheit, die ich in diesem Buch beschreibe, nie entdeckt hätte. Usha Swamy, die mich so geduldig und liebevoll geschubst hat, dieses Buch doch endlich zu schreiben. Sie hat ihr Herz mit in dieses Projekt gegeben und mit weiblichem Engagement die Wege dafür geebnet. Uli Ehrlenspiel, Anja Schmidt und Anne Nordmann danke ich, dass sie den knappen Endspurt mit seinen unvorhersehbaren Hürden so engagiert begleitet und unterstützt haben. Ulrike Tourneur und Claudia van de Kamp, dass sie mir die ganze Zeit verständnisvoll und wissend den Rücken frei gehalten haben und alles um mich herum perfekt weiterfunktioniert hat. Tatjana Blobel, mit der ich gelernt habe, wie wichtig es ist, klar zu sein und klar zu kommunizieren.
Ich danke Diana und Michael Richardson. Für mich sind sie Pioniere, die mir und vielen anderen mit ihren Büchern einen völlig neuen Zugang zur Sexualität eröffnet haben. Und Krish und Amana Trobe, die Heilkraft in die verletzte Sexualität gebracht haben. Möge dieses Buch eine Brücke bilden, über die noch viele Menschen den Weg zu ihrer Arbeit finden.
Vor allem danke ich dem Buch selbst, das mich so viel gelehrt hat und das mir das Wichtigste wurde, das ich je geschrieben habe. Möge es ein Stück mehr Frieden auf diese Welt bringen, indem es den Sex wieder mit der Liebe, den Körper wieder mit dem Herzen und den Mann wieder mit der Frau verbindet.
Inhaltsverzeichnis
Männer und Frauen
Nehmen Sie sich das, was Sie brauchen können
Teil I – DER ALTE SEX
Warum es wieder Zeit ist für eine Revolution im Bett
Alle wollen Sex!
Oder vielleicht doch nicht?
Mein erstes Mal
… mit sechzehn oder mit Ende dreißig?
Lieben Sie noch
oder haben Sie keine Lust mehr?
Ohne Pornos geht gar nix
Warum Shades of Grey uns nicht befreit
Sex beginnt mit dem ersten Atemzug
und hört erst mit dem letzten wieder auf!
Allen fehlt die richtige Sex-Software
… aber jeder ist ein sexuelles Wesen
Ich liebe dich nicht mehr
oder: Der Körper vergisst nichts
Im Bett bin ich wie ferngesteuert
Wie Familiengeheimnisse unseren Sex belasten
Ich kann nicht bleiben
Von Trennung, Tod und Fremdgehen
Der Schoß gebiert alle Dinge
Von Geburt, Tod und Sex
Angst fressen Seele und Sex auf
Von vorgespielten Orgasmen und körperlichen Notlügen
Wer nicht fühlen will, wird süchtig
Wenn Sex zur Droge wird
Teil II – DER NEUE SEX
Wie Frauen Sex lieben und Paare wieder zusammenfinden
Wenn Frauen sich selbst verstehen …
werden Männer zu Frauenverstehern
Die feine Lust der Frauen
und wie Männer in ihren Genuss kommen können
Wellen statt Wollen
Warum die Jagd nach dem Orgasmus einen nur fertigmacht
Unsichtbar, aber wahr
Warum man sich nach dem Sex manchmal wie zugemüllt fühlt
Vom Busenwunder
und anderen Überraschungen im Körper der Frau
Er muss nicht groß, sondern weise sein
Wie der Penis die Vagina heilt
Soulsex heilt
Wie Sie mit Schmerz und Angst umgehen
Teil III – SOULSEX PRAKTISCH
Gespräche zwischen Mann und Frau
Spielregeln für den Soulsex
Im Alltag auf den Sex einstimmen
Der Einstieg in den Soulsex
Missverständnisse und Hürden beim Soulsex
Nachwort
Literaturverzeichnis
Prolog
»Wie berührt man die Seele? Durch Liebe oder durch Lust?«, fragt Paulo Coelho in Elf Minuten. Seine Protagonistin, die Prostituierte Maria, gibt die Antwort in ihrem Tagebuch: »Er ist ein Künstler: Er sollte wissen, dass der Mensch die Liebe in ihrer Ganzheit begreifen muß. Die Liebe ist nicht im anderen, sie ist in uns selbst; wir erwecken sie. Aber für dieses Erwecken brauchen wir den anderen. Das Universum ergibt nur einen Sinn, wenn wir jemanden haben, mit dem wir unsere Gefühle teilen können. Er hat genug vom Sex? Gut, ich auch – und dennoch, weder er noch ich weiß, was das ist.«
Für A. und A.
Liebe A., ich weiß, Du glaubst noch nicht an solche Bücher. Du glaubst an die Liebe. Aber der Tag wird kommen, da glaubst Du nicht mehr an sie. Da sagt Dir jemand, es gehe um Sex und nicht um Liebe. Da beginnt Dein Körper langsam zu sterben, Dein Herz sich zu verschließen. Ich wünsche mir, dass Du dann dieses Buch als Deines erkennst. Es ist für Dich, wie alles in mir immer für Dich war.
Ich liebe Dich.
Liebe A., ich weiß, Du bist nun schon ziemlich lange verheiratet. Oft fragst Du Dich, was da noch Neues kommen soll. Vor allem in Sachen Sex hast Du langsam jede Hoffnung verloren.
Ich kann mich noch erinnern, wie Du damals vor vielen Jahren den Befreiungsschlag gewagt hast. Du hattest Dich in Deiner Ehe ausgetrocknet wie Dörrobst gefühlt und Dir einen Liebhaber gegönnt. Von einem Tag auf den anderen warst Du wieder saftig und voller Lust und Leben. Mit Deinem Wagemut und Deinem Verlangen nach Lebendigkeit hast Du den Alltagstunnel einfach weggesprengt. Wenn Du erzähltest, war ich gleich mit elektrisiert. »Alles ist wieder da!«, lautete die Botschaft, die aus jeder Deiner Poren strömte.
Ich wusste genau, was Du erlebst. Ein paar Jahre zuvor hatte ich mich ja auch aus meiner ziemlich desolaten Ehe verdrückt und meinem Mann seine Affäre mit meiner Affäre heimgezahlt. Und auch mir kam es damals so vor, als würde ich aus einem langen Koma erwachen. Beim Gedanken an den Liebhaber schienen sofort magnetische Kräfte aktiviert. Das Verlangen war zurückgekehrt, mein Körper taute wieder auf, jede Zelle rief vibrierend Ja! zu Berührung und Begegnung.
Damals schienen Liebhaber tatsächlich wie ein wunderbares Elixier zu wirken, das alles in uns wieder in Ordnung und die weiblichen Urkräfte neuerlich in Wallungen bringen konnte: Hunger weg, Lust zurück, Seele berührt, Körper im Saft. Es gab nichts zu denken, wir wurden einfach mitgerissen. Wir fühlten uns wieder weit, pulsierend, genährt und nährend zugleich. Wie das Leben selbst. Wir dachten: Das muss die Liebe sein.
War sie es wirklich? Zumindest haben diese magnetischen Kräfte bei keiner von uns angehalten. Irgendwann ließ auch bei Dir das Vibrieren wieder nach. Du konntest nichts dagegen machen, als Deine Idealvorstellung von Deinem Liebhaber den gemeinsamen Erfahrungen weichen musste. Auch er war nur ein Mann – ein anderer zwar, ein neuer, aber eben auch einer mit seinem eigenen Alltagstunnel, mit Vergangenheit und Verletzungen, mit Prägungen und Gewohnheiten. Mit all dem eben, was am Ende immer gegen die Verliebtheit gewinnt.
Die ersten Missverständnisse, die als Zurückweisungen interpretiert wurden; die ersten Zweifel und Kompromisse, der quälende Spagat zwischen dem alten und dem neuen Leben – die Magie verschwand genauso unkontrollierbar, wie sie gekommen war.
Das Fremdgehen ist lange vorbei. Du bist wieder bei Deinem Mann. Doch mit dem Geliebten hast Du ein Geheimnis in Dir selbst berührt, hast erlebt, dass die Frau in Dir von einer Sekunde auf die andere erwachen kann. Dass es unvorstellbare Lebendigkeit bringen und absolut lohnenswert sein kann, die Begrenzungen der Gewohnheit zu überwinden und ohne jedes Festhalten an der Sicherheit ganz und gar in körperlicher Freude aufzugehen.
Und jetzt sitzt Du wieder da in Deiner Ehe und fragst Dich: Wie, verdammt noch mal, kriege ich das zurück?
Ich weiß, wie sehr Du haderst, weil Dir die Lust immer wieder abhandenkommt, Dich schämst, weil Dein Körper sich so verschließt. Du bist rasend wütend und dann wieder voller Schuldgefühle, weil Dein Mann dich so oft nicht erreichen kann.
Manchmal kommen die alten Erinnerungen an damals wieder hoch. Vielleicht noch mal fremdgehen? Doch Du ahnst, dass das heute nicht mehr so funktionieren würde. Du bist reifer als damals, weißt, dass ein neuer Liebhaber nur vorübergehend für Abhilfe sorgen kann. Du hast schon erlebt, dass Verliebtheit und Begehren flüchtig sind und dem Alltag auf Dauer wenig entgegenzusetzen haben.
Manchmal wird der Frust übermächtig, und Du überlegst, ob Weggehen vielleicht die einzige Lösung ist, um wieder lebendig zu werden, um doch noch die Liebe zu finden. Doch Du bist wach genug, um zu spüren, dass Weglaufen am Ende nichts nützt; dass die Liebe und ihr lebendiges, wohliges Vibrieren da draußen nicht zu finden sind. Du weißt, dass Du den Schlüssel in Dir selbst finden musst. Und Dir ist auch klar, dass Du Dich gerade verdrückst vor weiteren körperlichen Begegnungen mit Deinem Mann, weil sie nur allzu leicht im Streit oder in Resignation enden könnten. Denn wer will das schon: Taubheitsgefühle und Starre im ganzen Körper, wenn der Mann sich nur nähert. Mittlerweile stellt sich bei Dir manchmal regelrechter Ekel vor dem Sex ein. Das ist ein schreckliches Gefühl. Dann lieber irgendein neues Projekt starten, da gibt es wenigstens Anerkennung und Erfolg. Oder zum Yoga, zum Tango, zur Party oder zur Massage gehen und dieses herrliche Gefühl genießen, wenn der Körper sich wieder wie von selbst löst und entspannt, wenn er wenigstens ein bisschen schwingt und genießt. Ich weiß, Du wirst nicht aufgeben, nach Herausforderungen, Sinnlichkeit und Erfüllung zu suchen. Aber was nützt Dir all das, wenn Du Deine Liebe nicht teilen kannst?
Du spürst, dass noch etwas auf Dich wartet, dass das hier nicht die Endstation sein kann. Du willst die Liebe leben. Sie drückt in Dir, lässt Dich nicht ruhen. Du willst die Süße und die Wonnen in Deinem Körper fühlen. Du willst Dich fallenlassen in Dich und einen anderen Menschen hinein, über die Grenzen Eurer selbst hinaus. Aber mit Deinem Mann? Wenn Du nur versuchst, Dir solche Wonnen mit ihm vorzustellen, steigt sofort dieses graue, flaue Gefühl in Deinem Magen hoch. Alles wird eng. »Nein«, denkst Du, »sinnlos! Es wird nie gehen. Es geht schon so lange nicht. Es soll einfach nicht sein. Unsere Ehe ist dazu nicht auserkoren. Wir müssen uns mit dem anderen – unseren Kindern, der Vertrautheit, dem gemeinsamen Weg – zufriedengeben. Aber erfüllender Sex, bei dem alle Zellen Ja! rufen? Durch den sich das Leben in seiner Süße und Selbstverständlichkeit verströmt? Nein, das ist uns nicht beschieden, zumindest nicht auf Dauer. Uns bleibt die Liebe all der Jahre.« Doch ist das tatsächlich Liebe? Oder ist es nur Vertrautheit? Sicherheit? Die liebevolle Zugewandtheit zweier Weggefährten? Die Verliebtheit von damals war keine Liebe – aber das hier ist sie auch nicht.
Bitte täusche und betäube Dich nicht. Du kannst noch tausend Mal versuchen, Dich abzufinden, Dich zu beruhigen, vom Weglaufen zu träumen, das nagende Mangelgefühl und die immer wieder aufsteigende Sehnsucht durch irgendetwas zu kompensieren – es wird Dir nichts nützen. Du weißt es, ich weiß es: Unsere Seele hat etwas anderes für uns vorgesehen.
Du weißt es, und ich weiß es: Sex und Liebe gehören zusammen. Und nur die, die es wagen, diese heilige Verbindung in ihre Partnerschaft zu bringen, finden Frieden und werden erleben, wie die natürliche Freude, Wonne und Lebendigkeit in ihre Körper zurückkehrt.
Liebe A., bitte gib nicht auf. Öffne Dich wieder für den Sex, für Deinen Körper und für Dein Herz. Und fordere Deinen Mann auf, das Gleiche zu tun. Sei kompromisslos, aber bleib bei der Sache. Den Sex mit der Liebe zu verbinden wird Dir Angst machen und Dich frustrieren. Du wirst hassen und weinen. Aber wenn Du bereit bist, wirklich von Grund auf neu zu lernen, wenn Du dabeibleibst und Dich immer wieder Deinem Körper zuwendest, wird er Dich zur Liebe führen.
Stellt die Verbindung von Sex und Liebe in den Mittelpunkt und übt, wieder Euren Körpern zuzuhören. Sie werden Euch den Weg zeigen. Und ich werde in diesem Buch alles an Euch weitergeben, was ich von meinem Körper und meinem Herzen gelernt habe und bei anderen erfahrenen und weisen Menschen an Überzeugendem, kompromisslos der körperlichen Liebe Gewidmetem gefunden habe.
Liebe A., alles Weitere ist für Dich …
Männer und Frauen
Nehmen Sie sich das, was Sie brauchen können
Eins vorweg: Ich werde in diesem Buch für manch einen vielleicht zu eindimensional von Frauen und Männern erzählen, werde den klassischen Rollenbildern entsprechend uns Frauen das eine zuschreiben und den Männern das andere. Dies tue ich aus dem einfachen Grund, weil es noch immer der Realität meines Arbeitsalltags entspricht. Auch wenn es eine Tendenz zur Annäherung in den Themen gibt, erlebe ich in den vielen Jahren, die ich nun schon mit Paaren arbeite, dass bestimmte Abläufe, Ängste, Sorgen und Sehnsüchte in der Regel bei Frauen vorkommen und andere bei Männern.
Lassen Sie sich beim Lesen nicht irritieren, wenn ich von »den« Frauen oder »den« Männern spreche, wenn ich von weiblichen Mustern oder männlichen Strategien erzähle. Wir alle tragen männliche und weibliche Anteile in uns. In manchen Beziehungen steht der Mann auf dem weiblichen Pol und die Frau auf dem männlichen, in anderen Beziehungen wechseln die Positionen im Laufe der Zeit. Wenn Sie sich beim Lesen irgendwo angesprochen fühlen, dann ist das Ihrs – ganz egal, ob da Mann draufsteht und Sie eigentlich eine Frau sind oder andersherum.
Tun Sie sich doch überhaupt den Gefallen, sich dieses Buch genau so zunutze zu machen, wie Sie es brauchen. Wenn bestimmte Worte Sie abstoßen oder einengen, dann lesen Sie einfach darüber hinweg und setzen Sie das Geschriebene in einen Kontext, in dem Sie es gut nehmen können.
Natürlich gilt vieles von dem, was ich hier beschreibe, auch für homosexuelle Paare. Wenn Sie homosexuell sind, leben Sie trotzdem als Paar in einer Polarität wie jedes heterosexuelle Paar auch. Fragen Sie sich beim Lesen einfach, wo Sie eher in der weiblichen Energie leben und wo eher in der männlichen. Und prüfen Sie, ob Sie, was die männlichen und weiblichen Kräfte betrifft, für sich persönlich in der richtigen Balance leben oder ob es da Veränderung und Klärung mit Ihrem Partner braucht. Ansonsten nehmen Sie sich aus dem Buch, was für Sie passt. Sie werden schon merken, wo beim Lesen etwas in Ihnen anspringt, wo Sie sich betroffen fühlen oder in einem Thema wiederfinden.
Teil I
Der alte Sex
Warum es wieder Zeit ist für eine Revolution im Bett
Alle wollen Sex!
Oder vielleicht doch nicht?
Alle wollen Sex. Gerd ist 77. Fast täglich liegt er versonnen strahlend im Bett und befriedigt sich selbst. Anni ist 69 und schockt ihre Angehörigen, weil sie sich ständig zwischen den Beinen streichelt und dabei lustvoll atmet, egal, wer gerade im Raum ist. »Bei uns ist jeder Zweite sexuell aktiv«, erzählt die Leiterin eines Pflegeheims für Alzheimerkranke: »Wenn es ein Fest im Haus gibt, dann blitzen die Augen der Frauen wie mit 18. Und die Männer sind zärtlich und wieder voller Energie.«
Die Menschen, die so voller Zärtlichkeit und Sinnenfreude sind, können ihre nächsten Angehörigen kaum erkennen und sich nur noch bruchstückhaft an ihr vergangenes Leben erinnern. Die Krankheit, an der sie leiden, heißt Demenz, was übersetzt so viel bedeutet wie »abnehmender Verstand«. Alte Menschen, die langsam ihren Verstand verlieren, geben sich wieder frei und ungeniert ihrer körperlichen Lust hin, so wie wir es als Babys alle getan haben, als wir noch vor Sinnenfreude glucksten und Berührungen wie ein Allheilmittel aufsaugen konnten. … etwas, das man über uns Erwachsene, so wir nicht dement sind, wohl nicht behaupten kann – außer wir sind gerade frisch verliebt oder stecken in einer leidenschaftlichen Affäre.
Eine aktuelle Studie sagt, dass die Hälfte aller Deutschen mit ihrem Sexleben unzufrieden sind und sich nicht trauen, mit ihrem Partner darüber zu sprechen. Auch ich erlebe in meiner Arbeit, dass unzählige Menschen, gerade solche, die in einer Langzeitbeziehung stecken, in sexueller Hinsicht unglücklich sind oder unter einer Art Sex-Burnout leiden. Die einen sind frustriert, weil ihnen die emotionale Nähe verloren gegangen ist und ihr Körper nur noch von Bildern im Kopf gesteuert wird, und die anderen fühlen sich erschöpft und leer, weil sie über die Jahre in eine Routine geraten sind, in der sich der gemeinsame Sex mechanisch zu wiederholen scheint und ihnen kaum noch etwas gibt. Am häufigsten aber erlebe ich, wie sich in langfristigen Partnerschaften Männer und Frauen nach und nach ganz vom Sex zurückziehen. Auch das entspricht den aktuellen Umfrageergebnissen, nach denen 65 Prozent der Männer und 54 Prozent der Frauen in Deutschland ein Problem damit haben, dass ihr Partner keine oder weniger Lust auf Sex hat.
Fast alle, egal ob sie ganz ausgestiegen, ins Kopfkino abgedriftet oder in der Routine gefangen sind, haben eins gemein: Sie wissen nicht, warum ihnen der Kontakt zu ihrer natürlichen sexuellen Kraft abhandengekommen ist und wie sie den Zugang dazu wieder finden können. Fast alle können nur eine Art Erkaltung und Abstumpfung feststellen.
Vielen Frauen ist die Lust an der Liebe verloren gegangen. Der Sex mit ihren Männern dauert wenige Minuten, berührt sie nicht mehr oder erfüllt sie sogar mit Widerwillen. Die einen sind wütend, wenn sie miterleben müssen, wie ihre Körper sich verschließen und auf keinerlei Stimulation mehr reagieren, die anderen sind voller Scham und Selbstvorwürfe, wenn sie keinen Zugang mehr zu ihrer Sinnlichkeit finden.
Die Männer sind aber nicht minder verunsichert. Viele stehen auch im Bett unter Erfolgsdruck, meinen, sie müssten »es bringen«, und kommen dann zu früh oder gar nicht. Längst ziehen sich auch viele Männer in ein Schneckenhaus zurück, wenn es um Sex geht. Das Risiko des Versagens oder der ungewollten Lustlosigkeit hängt über ihnen wie ein Damoklesschwert. Bei jeder intimen Begegnung mit einer Frau müssen sie das Risiko eingehen, dass ihnen Stress, Leistungsdruck und Beziehungsprobleme auf die Potenz und auf die Seele schlagen.
Andere werden gierig wie hungrige Wölfe; sie fühlen sich wie abhängige Sexjunkies, die von ihren Frauen auf Entzug gesetzt werden, und sie packt die Wut, wenn sie den Eindruck haben, dass sie um Sex buhlen müssen oder ihre Frauen entweder gar nicht mehr oder nur zur Absolvierung der ehelichen Pflichten mit ihnen schlafen.
Der Beziehungs- und Sexualforscher Dr. Ragnar Beer von der Uni Göttingen sagt: »Ich habe noch keine Kurve gesehen, die so traurig abwärtsgeht und sich nie wieder erholt, wie die der sexuellen Aktivität von Paaren.« Auf die Frage, wie oft man Sex haben muss, um normal zu sein, antwortet er: »Null Mal! Wir haben eine Umfrage gemacht, und die größte Gruppe hatte überhaupt keinen Sex mehr. Das Gute daran: So wissen wir zumindest, dass wir völlig normal sind!«
Die Leute, die zu meinem Mann und mir kommen, weil sie in ihrer Beziehung in einer Sackgasse stecken, halten sich aber meistens eben nicht für normal. Sie schämen sich, weil sie das Gefühl haben, irgendetwas nicht hinzukriegen, was alle anderen hinkriegen. Sie sitzen auf Partys und bekommen heiße Anekdötchen erzählt, blättern in Magazinen, die die Geheimnisse des G-Punkts und Tipps für den multiplen Orgasmus verraten, und haben das Gefühl, vom lieben Gott irgendein geiles Gen nicht mitbekommen zu haben.
Es geht nicht um normal oder nicht normal. Ob wir es uns eingestehen oder nicht, ob wir es tief verdrängen oder wegrationalisieren – uns fehlt etwas, wenn der Sex sich aus unserem Leben verabschiedet oder wenn er zu einem gewohnheitsmäßigen Geschubbel degeneriert. Ich kann mir vorstellen, dass sich an dieser Stelle vor allem einige Frauen verspannen und in Gedanken sagen: »Quatsch! Mir fehlt nichts ohne Sex.« Wenn ich behaupte, dass dies doch so ist, möchte ich Sie damit nicht noch weiter unter Druck setzen, sondern ich möchte Sie aus einer Sackgasse der Verdrängung locken. Oft ist der Rückzug vom Sex nur die Folge eines emotionalen Rückzugs oder einer seelischen Überbelastung. Unser Körper drückt lediglich den Stress aus, den wir eigentlich in Herz und Seele spüren. Dann ziehen wir uns vom Sex zurück, weil wir erschöpft und ausgelaugt sind, emotional und verbal Grenzüberschreitungen und Übergriffigkeit erlebt haben oder weil wir uns unter äußerem Druck, aber ohne innere Berührung fühlen, was den Sex angeht. Eigentlich aber sehnen wir uns tief im Inneren danach, uns fallen zu lassen und uns zu öffnen.
Die weibliche Seite von uns Frauen fühlt sich in einer Beziehung wohl, wenn wir mit dem, was von einem Mann emotional und körperlich ausgeht, so sein können, als ob wir unter einer warmen Dusche stehen. Unter der warmen Dusche stehen wir nackt und sind empfänglich, während das warme Wasser belebend auf uns niederprasselt, jeden Mikromillimeter von uns wohlig umhüllt und prickelnd an uns hinunterrinnt.
Wenn wir Nein sagen zum Sex, dann verschließen wir uns vor dem, was aus der Dusche kommt. Wenn wir weitermachen mit Sex, der uns nicht nährt, dann öffnen wir uns nur scheinbar – denn eigentlich ist es so, als ob wir mit Regenschirm und Taucheranzug duschen. Da kann es nicht zu heiß und nicht zu kalt werden, uns kann nichts wehtun, niemand kann uns verletzen, kurz: wir werden nicht nass – aber wir bleiben eben auch unberührt.
Ich weiß, wie verschreckt viele Frauen mittlerweile sind, wenn es um Sex geht. Wie wenig berührt sie sich fühlen von dem, was sie mit ihren Männern erleben. Wie beschämt sie sind, weil ihre Körper scheinbar nicht mehr anspringen. Wie resigniert, weil sie nicht wissen, wie sie das ändern sollen. Vor allem aber, unter welchem immensen Druck sie sich fühlen, weil ihr Partner aus allen Poren verströmt: Ich hätte doch so gerne mehr Sex.
Es gibt einen Ausweg: Soulsex – Sex, bei dem auch Herz und Seele wieder mit dabei sind. Sex, bei dem Sie nichts können, sich nicht anstrengen, anhübschen, antörnen und auch nicht verstellen oder verkleiden müssen. Sex, der durch Vertrauen wächst und sich nicht aus der Begierde, sondern aus der Liebe speist.
Soulsex ist eine körperliche Begegnung, die für viele Frauen einer Befreiung aus einem Gefängnis gleichkommt. Hier kann sich das Weibliche wieder zuhause fühlen, hier können Sie wieder Ihrem Körper folgen und vertrauen, sich wieder mit Ihrer Sinnlichkeit, Ihrem Wohlgefühl und Ihren feinen Wonnen verbinden.
Ich konzentriere mich in diesem Buch vor allem auf die Frauen. Nicht nur, weil sicher der größte Teil der Leserschaft weiblich ist, sondern auch, weil ich selbst eine Frau bin und daher viel authentischer und näher über das, was uns bewegt, schreiben kann. Da dieses Thema aber genauso die Männer betrifft, wird auch mein Mann zu Wort kommen und seine Erfahrungen mit einbringen. Abgesehen davon bemühe aber auch ich mich natürlich, immer auch die männliche Perspektive zu berücksichtigen.
Wenn ich an manchen Stellen tiefer in die Zusammenhänge einsteige, die uns Frauen betreffen, so kann dieses Buch doch auch den Männern ungeahnte Dienste leisten. Mein Mann und ich erleben bei unserer Arbeit, dass sich mittlerweile auch immer mehr Männer vom Sex eher gehetzt als genährt fühlen und die gewohnte Praxis sie leer und unerfüllt hinterlässt. Auch der männliche Körper spielt häufig nicht mehr richtig mit, und so suchen viele Männer genauso händeringend nach einer Alternative zum herkömmlichen Sex wie Frauen.
Soulsex ist Sex, der Männer nicht ins Reich von Kuschelsex und Kastration führt, aber sie von allem Druck, von Rastlosigkeit, Gier und der Abhängigkeit von Fantasien und Pornografie erlöst und ihnen stattdessen zu Entspannung, tiefer Empfindungsfähigkeit und Befriedigung – und zu einer dankbaren und erfüllten Frau – verhelfen kann. Soulsex zeigt, dass ein Samenerguss nur ein schnödes Vergnügen ist im Vergleich zu einem Orgasmus, der sich im ganzen Körper in wohligen Wellen ergießt.
Leider hat uns über diese Art von Sex selten jemand etwas beigebracht. In den Medien kommt er so gut wie nicht vor und im Schulunterricht schon gar nicht. Unsere Eltern kannten ihn in der allergrößten Mehrzahl nicht und konnten uns deshalb auch nichts darüber erzählen. Und die Auflagen der wenigen guten Bücher, die es darüber gibt, sind immer noch Lichtjahre entfernt von denen von Shades of Grey.
Dabei ist Soulsex so etwas wie ein Heilmittel. Er ist langsam und behutsam genug, dass Sie mit ihm Herzensbrüche überwinden und neues Vertrauen aufbauen können. Gleichzeitig ist er so wach und ehrlich, dass er Sie wieder in Kontakt mit Ihrer natürlichen Lebendigkeit bringt. Er kann Sie aus einer jahrelang eingefahrenen Routine befreien und wieder Frische und echte Nähe in Ihr Bett bringen. Er kann Sie entspannen und nähren. Er kann Ihnen das Gefühl von Einssein mit sich selbst zurückgeben und Ihre Ehe selbst nach Jahrzehnten rundum erneuern, weil er für Frieden und Harmonie sorgt und Ihnen und Ihrem Partner die Chance gibt, sich miteinander fallen zu lassen in einem Gefühl von Vertrauen. Die Voraussetzung ist, dass Sie bereit sind, sich vom Druck aus dem Kopf zu befreien und wieder eine tiefere Verbindung zu Ihrem Körper und Ihrem Herzen aufzunehmen. Dann kann Sex wieder das sein, was er eigentlich ist: Körperlich gelebte Liebe, die unsere Seele berührt.
Soulsex ist kein Blümchensex. Soulsex ist sanft und entspannt, aber deshalb nicht weniger lustvoll und ekstatisch als herkömmlicher Sex. Das, was seinen Genuss, seine Ekstase ausmacht, ist, dass Sie nicht auf einen kurzen orgiastischen Moment von wenigen Sekunden der Entladung hinackern müssen, sondern dass Sie lernen, die vielen kleinen Momente unterwegs auszukosten; dass Sie sich einem Menschen wieder so sehr anvertrauen lernen, dass Sie sich in der körperlichen Verbindung mit ihm von Moment zu Moment immer tiefer in sich hinein entspannen und Ihnen dort eine Quelle von Wonne und Wohlgefühl entgegensprudelt, die Sie vielleicht lange irgendwo draußen gesucht haben. Eine Quelle, die sich Ihnen genau dann öffnet, wenn Sie nicht mehr machen, sondern loslassen.
Bei dieser Art von körperlicher Verbindung werden Sie bewusster und präsenter. Sie lernen, nicht in den Kopf abzuhauen oder sich vom Trieb und der Gier mitreißen und von der eigentlichen Begegnung mit Ihrem Partner wegreißen zu lassen. Soulsex trägt Sie durch Präsenz tiefer in den eigenen Körper hinein und durch diese Entspannung und damit einhergehenden Öffnung gleichzeitig über den Körper hinaus in etwas, das sich eher mit der Erfahrung von seelischem Einssein beschreiben lässt – und was in Wahrheit das Einzige ist, das Ihnen ein echtes Gefühl von Verbundenheit schenken kann.
Heutzutage wird beim Sex zu oft verleugnet, dass wir Ruhe und Vertrauen und nicht bestimmte Stellungen oder antörnende Fantasien brauchen, wenn wir uns wirklich fallen lassen und öffnen wollen. Und dass wir zu einem Menschen eine seelische Verbindung haben müssen, wenn wir uns ihm wirklich anvertrauen und gleichzeitig mit uns selbst verbunden bleiben wollen. Zu oft führt der Sex dazu, dass wir uns aus uns selbst herausbeamen oder über uns hinweggehen. Das laugt uns aus und entfernt uns vom anderen.
Sex ist die intimste Form der Kommunikation, die wir Menschen haben. Er übt nicht deshalb so eine große Faszination auf uns aus, weil er ein Spielplatz ist, auf dem wir uns körperlich austoben und abreagieren können – das könnten wir auch beim Sport –, seine wahre Magie liegt in der urgewaltigen Kraft der Verbindung, die ihm innewohnt. Wenig kann unsere Sehnsucht nach Angenommensein, Zugehörigkeit und Einssein so tief befriedigen wie eine beseelte körperliche Begegnung zwischen Mann und Frau.
Klar kann und soll Sex Spaß machen und aufregend sein. Aber das sind in Wahrheit nur kleine Wellenbewegungen an der Oberfläche. Tief im Sex liegt eine wundersame Kraft verborgen, die zwei Menschen miteinander und über sich hinaus verschmelzen lässt. Soulsex zeigt uns einen Weg, zu dieser tiefen Intimität zurückzufinden, ohne den Genuss, die Süße und Sinnlichkeit zu vernachlässigen.
Vielleicht lesen Sie und lesen und fragen sich: »Was meint sie denn? Ja, was denn nun? Ich versteh das nicht.« Kein Wunder. Denn das alles ist nur eine sprachliche Annäherung an das, was Soulsex wirklich ist. Soulsex kann man nicht intellektuell erfassen, er ist nichts für unseren Kopf. Soulsex hat kein Konzept und keine Technik. Soulsex ist Ihre natürliche Sexualität, die es zu entdecken und im eigenen Körper zu erfahren gilt. Trotzdem, sonst würde ich dieses Buch nicht schreiben, gibt es Mittel und Wege, sich ihm zu nähern. Seien Sie also unbesorgt, wenn Sie jetzt noch kein genaues Bild vor Augen haben. Im zweiten Teil des Buches werde ich noch konkret auf die praktische Umsetzung eingehen.
Gerd und Anni können Ihnen in Bezug auf das Gefühl, um das es beim Soulsex geht, erste Wegweiser sein. Sie sind alt und krank und scheinbar nicht normal, aber sie erleben sich ganz selbstverständlich als lustvolle Wesen. Sie sind nicht von Gier getrieben, sie strengen sich nicht an, sie erleben einfach die natürlichen, wonnevollen Regungen in ihren Körpern und genießen sie voller Unschuld und ohne Scham. Das, was die beiden von Ihnen und mir unterscheidet, ist, dass sie unfreiwillig immer weniger im Kopf sind. Sie verlieren durch die Demenz sukzessive ihr Gedächtnis und alle möglichen anderen Fähigkeiten des Geistes. Hemmungen und Ängste lösen sich bei ihnen in Vergessen auf, und so werden sie wieder frei für ihre natürliche und unschuldige sexuelle Energie, die nicht nur durch sie, sondern durch uns alle permanent hindurchströmt.
Wenn wir diese Kraft nicht mehr spüren, dann liegt es nicht daran, dass sie nicht mehr da wäre, sondern daran, dass unser Zugang dazu blockiert ist. Falls eine jahrelange Sex-Routine Sie langweilt; falls Sie unter Druck und gierig nach Sex sind oder im Gegenteil gar keine Lust mehr darauf haben; falls Sie unter Funktionsstörungen leiden oder sich taub und reglos fühlen – in all diesen Fällen haben Sie weder einen Sex-Defekt noch brauchen Sie Aufrichtungspillen. Stattdessen sollten Sie die inneren Mechanismen genauer kennenlernen, die Sie blockieren. Verdrängte Ängste, Scham-, Schock- und Schuldgefühle, alte Verletzungen, Familiendynamiken, Moralvorstellungen und Konditionierungen – Blockaden gegen eine ungehemmte Hingabe an einen anderen Menschen trägt jeder von uns in sich.
Alle diese Blockaden sind natürlich nichts, was wir gerne beim Sex dabeihaben wollen. Deshalb packen wir sie weg oder schummeln uns drum herum. Aber gerade beim Sex kommen solche lähmenden und beschämenden Gefühle wieder hoch. Wenn wir intim werden wollen, dann triggert das unsere Angst vor Nähe, vor Kontrollverlust und Übergriff. Je intimer wir mit jemandem sind, desto näher kommt er unserer Verletzlichkeit.
Soulsex geht nicht dagegen an, sondern trägt uns behutsam durch die Ängste hindurch, die wir beim normalen Sex durch Fantasien oder Sexspiele zu verdrängen versuchen. Er hilft uns, uns bewusst und vertrauensvoll in unserem eigenen Körper zu verankern und uns aus dieser inneren Sicherheit heraus einem anderen Menschen zu öffnen. So können wir endlich wieder echte Befriedigung – und auch Befriedung – erleben, weil wir in der intimsten Form der Verbindung von zwei Menschen wieder vertrauen, auf unsere Lust zugehen und dabei gleichzeitig unsere Angst annehmen und auflösen können, bis unsere sexuelle Kraft wieder frei fließen kann.
Dazu brauchen Sie weder eine Sexbombe noch ein geiler Typ mit Steherqualitäten zu sein. Sie müssen nicht jung, knackig und frei von Cellulite sein. Sie brauchen kein Viagra, nicht den längsten und auch nicht den härtesten. Damit der Sex wieder natürlich erwachen kann, braucht er ein Paar, das gemeinsam lernt, von Action und Abwehr loszulassen und sich stattdessen behutsam zu öffnen, wieder genau hinzuspüren und sich dem eigenen Körper anzuvertrauen.
Vielleicht ruft die Vorstellung, sich auf so viel Nähe einzulassen, Scham oder Verunsicherung in Ihnen hervor. Haben Sie keine Scheu, alles in diesem Buch geht behutsam vonstatten. Wenn Sie sich trotz aller Verunsicherung, Skepsis und Resignation darauf einlassen, werden Sie erleben, wie lohnenswert es ist. Soulsex ist der beste Weg, Angst und Scham zu überwinden und sich ohne Druck und Anforderungen wieder zu begegnen. Durch ihn werden die unsichtbaren Mauern, die sich oft über die Jahre in Ihnen selbst und zwischen Ihnen und Ihrem Partner aufgebaut haben, abgetragen.
Doch ich möchte gleich zu Beginn ehrlich zu Ihnen sein: Soulsex wird Sie herausfordern, aus der sicheren Defensive, aus der Sprachlosigkeit und aus den Fantasiewelten hervorzutreten. Es kann sein, dass Sie sich zeitweise wie ein Junkie auf Entzug fühlen. Oder dass Sie sich von Ihrem Harmoniebedürfnis verabschieden und auch mal einen saftigen Streit mit Ihrem Partner in Kauf nehmen müssen, der der Weiterentwicklung und Wiederbelebung Ihres Sexlebens und damit auch Ihrer Beziehung dient. Aber glauben Sie mir, es lohnt sich.
Soulsex kann Ihnen das Gefühl von Ganzheit und Kontakt zu sich selbst zurückgeben. Er kann helfen, die Fronten aufzuweichen und Ihnen als Paar die Lebendigkeit und Verbindung wiederbringen, nach der Sie sich vielleicht schon lange sehnen. Unterwegs wird er Sie allerdings wie gesagt auch mit verdrängten Ängsten und Fluchtmechanismen konfrontieren. Aber genau deren Annahme sorgt dafür, dass Sie endlich wieder bei sich und in Ihrem Körper landen können. Sie werden erleben, wie eine Angst, die Sie endlich bewusst und ohne Widerstand gefühlt haben, sich öffnet und sich in neue Energie verwandelt. Und nicht nur einmal werden Sie denken: Warum habe ich nur so lange einen Bogen um all das gemacht? Warum habe ich nicht schon viel eher etwas Neues gewagt?
Wenn Sie sich für diesen neuen Weg öffnen und sich seine Langsamkeit erlauben, werden Sie erleben: All die lang ersehnten Empfindungen sind möglich. Sie müssen kein Superliebhaber und keine Sexgöttin werden, Sie müssen nur lernen, wieder feiner in Ihren Körper und den Ihres Partners hineinzufühlen. Dann werden die Körper wach und beginnen, ohne Ihr Zutun erst ganz leise, fast unmerklich, aber dann immer deutlicher und in wachsendem Einklang miteinander zu kommunizieren. Sie werden entdecken: Ihre Körper sind wie Instrumente, die sich gegenseitig in Schwingung versetzen können. Sie können wunderbare Musik hervorbringen und vor Wonne summen und klingen, wenn Sie lernen, still zu werden, Ihre Herzen zu öffnen und die Liebe in Ihnen zu verströmen.
»Quatsch!«, denken Sie. Der Frust mit dem Sex dauert bei Ihnen einfach schon zu lange. Der Graben zwischen Ihnen und Ihrem Partner ist einfach schon zu tief. Nehmen Sie diesen Frust und respektieren Sie Ihren Graben. Gerade wenn Sie vielleicht schon seit Jahren nicht mehr mit Ihrem Partner schlafen, resigniert sind wegen Ihrer Blockaden oder müde von körperlichen Begegnungen, die sie nicht mehr erfüllen, kann Soulsex auf sanfte Art den Pfropfen lösen.
Sex ist eigentlich heilsam. Wenn Sie sich vor ihm drücken, weil er Ihnen Ärger gebracht oder Sie frustriert hat, dann tun Sie sich keinen Gefallen. Sie ahnen gar nicht, wie viel Spannung und Distanz sich unterschwellig bei einem Paar aufbaut, das sich nicht gemeinsam körperlich entspannen kann. Die körperliche Begegnung berührt einfach ganz andere Ebenen von uns als ein Gespräch oder eine gemeinsame Aktivität im Alltag. Sie kann uns auf tieferen Ebenen verletzen und verstören. Sie kann uns aber auch auf tieferen Ebenen erfüllen und berühren.
Sex kann die Wurzel aller Partnerschaftsprobleme sein, wenn er unerfüllt ist oder nicht mehr gelebt wird – und er kann für die Heilung dieser Probleme sorgen, wenn ein Paar sich ihm auf diese neue Art und Weise nähert. Wenn der Sex eingeschlafen oder verschreckt ist, dann sollten Sie sich nicht schämen oder den anderen beschuldigen, sondern einen neuen Weg finden, sich wieder körperlich aufeinander einzulassen. Für diese Annäherung dürfen Sie sich alle Zeit der Welt nehmen, Sie dürfen rumeiern und nicht wissen, wie es geht. Sie dürfen drei Schritte vor und zwei zurück machen – das alles ist Teil des Weges.
Wichtig ist nur, dass Sie es probieren. Und dabei begleitet Sie dieses Buch Schritt für Schritt. Es ist voller konkreter Beschreibungen, Fallbeispiele und Erfahrungsberichte, die Ihnen auf unterschiedlichen Wegen vermitteln, wie Sie von Rückzug, Scham, Hemmung und Abwehr, von Funktionsstörungen und Unsicherheit, von Gier, Fantasien, Sucht und den alten Geschichten und Verletzungen loslassen können. Wie Sie sich und Ihren Körper wieder besser verstehen und annehmen können und einen so behutsamen Zugang zu einer neuen Form der körperlichen Begegnung finden, dass der Druck langsam von Ihnen abfallen kann. Wie Sie körperlich wieder zueinanderfinden und dabei bleiben und schließlich, wie Sie sich unterwegs von der eigenen Unsicherheit und auch von den Widerständen und Fluchttendenzen Ihres Partners nicht zurückhalten lassen.
Sie werden sehen, dass Sie und Ihr Partner nichts können und schon gar nichts leisten müssen. Aber wenn Sie sich trauen, wieder mehr loszulassen, Soulsex tatsächlich ausprobieren und in Ihr Leben integrieren, werden Sie erleben, wie weit er in den Alltag hineinwirkt und dafür sorgen kann, dass zuhause wieder mehr Frieden und Ruhe einkehrt und Sie beide immer öfter ganz natürlich auf einer Wellenlänge sind.
Egal, wie weit Sie sich von Sex in diesem Moment entfernt fühlen, egal, wie gefrustet und müde Sie von ihm sind, wie gehemmt und verunsichert, verletzt und verstört, wie wütend und voller Abwehr, wie süchtig, angetrieben und gierig, wie traurig und resigniert – Soulsex zeigt Ihnen einen langsamen und behutsamen Weg durch all diese Blockaden hindurch. Wenn Sie sich wieder für den Sex öffnen, öffnet er sich wieder für Sie. Sex ist in jedem von uns; er muss nicht gemacht, sondern befreit werden.
Mein erstes Mal
… mit sechzehn oder mit Ende dreißig?
Als ich das erste Mal Sex hatte, war ich sechzehn oder siebzehn. Meine erste Begegnung mit Soulsex hatte ich mit Ende dreißig. Beide Male war ich verwirrt und überrascht über das, was gerade in mir geschehen war. Beim ersten Mal handelte es sich dem äußeren Anschein nach zwar eindeutig um Sex, doch innerlich ging damit eine seltsame Verwirrung einher. Beim ersten Soulsex handelte es sich definitiv nicht um etwas, das ich bisher als Sex bezeichnet hätte. Nichtsdestotrotz war jede meiner Zellen überwältigt vom Gefühl vollkommener Ekstase und Glückseligkeit. Aber lassen Sie mich vorne anfangen …
Mein erstes Mal. Ich hatte Glück. Ich war verliebt, und mein Freund war ein wunderbarer, einfühlsamer Mensch, dem ich vertraute. Trotzdem – nach unserem ersten Sex überkam mich ein eigenartiges Gefühl von Enttäuschung und Leere: Das sollte es also gewesen sein? Das, wovon alle so unablässig redeten und träumten? Wir hatten beide einen Orgasmus gehabt. Es war aufregend gewesen, sicher. Sofern ich das beurteilen konnte, war es auch gut gewesen. Aber …? Aber.
Nun, da es vorbei war, lag ich im Bett, und in mir war es verschwommen. So als ob ich gerade eben emporgeschwebt, dann aber in einer Wolkendecke hängen geblieben wäre. Irgendetwas fehlte. Irgendetwas in mir war nicht berührt worden. Ich hatte keine Ahnung, was. Es war nichts, worüber ich etwas hätte sagen können oder die anderen bisher je hatte reden hören. Es war etwas tief in mir, für das ich selbst keine Worte fand. Es kam mir so vor, als wäre ich jetzt nicht etwa endlich eingeweiht, sondern schlagartig ausgeschlossen vom großen Geheimnis namens Sex. Ich hing in dieser Wolkendecke fest, aber ich ahnte, dass dahinter die Sonne schien. Von diesem Moment an war ich wie ein Jagdhund, der zum ersten Mal Fährte aufgenommen hat – allerdings ohne das Wild zu erlegen. (Aus solchen Hunden werden meist streunende Wilderer …)
Von nun an war ich auf der Suche nach etwas, wovon ich nicht wusste, was es war. Ich war neugierig, ungehemmt und offen und hatte alle möglichen Erlebnisse mit Sex. Manchmal schien es, als ob ich hinter etwas gekommen wäre. Oft machte es Spaß, oder es war aufregend, manchmal unersättlich, wild oder geheimnisvoll. Aber mit der Zeit fehlte immer etwas, nur selten und nie auf Dauer fühlte ich mich in der Tiefe wirklich berührt. Vor allem mein Herz behielt eine Sehnsucht und immer öfter eine still nachklingende Traurigkeit. Während ich mich vom einen Partner trennte, um früher oder später in den Armen eines anderen zu landen, war es doch, als ob mir das größte Geheimnis des Lebens verwehrt bleiben sollte. Das Verrückte war, ich wusste ja gar nicht, ob da noch ein Geheimnis existierte, aber irgendwie war ich mir sicher. So blieb ich rastlos und auf der Suche, zur Geduld verdammt.
Ich versuchte mich in der Liebe, aber ich fand immer nur einen Teil von ihr. Wenn mir bei einem Mann warm ums Herz war und ich mich geborgen fühlte, konnte ich mir sicher sein, dass mir irgendwann die Leidenschaft abhandenkam und sich stattdessen eine nagende Rastlosigkeit einstellte, die mich weitertrieb auf meiner Suche. War ich wiederum von Lust erfüllt, gab es meist nicht mehr als die Hoffnung auf Liebe. Sex und Liebe blieben ein ewiges Entweder-oder. Entweder liebte ich und fühlte mich eingesperrt, oder ich hatte Angst, die Liebe und den Mann wieder zu verlieren. In solchen Fällen war ich aber meist voller Leidenschaft und Lust.
Spezialisten für Lust und Leidenschaft schienen die Typen, die man seiner Mutter besser nicht vorstellte. Rastlose Cowboys und aufregende Liebhaber, denen jeder Sex recht war, aber jede Bindung lebensbedrohlich erschien. Mit den Cowboys war es spannend und berauschend, manchmal waghalsig. Aber am Ende blieb das Herz doch immer einsam und wund, weil es eben nur ein Spiel war – zwar ohne Grenzen, aber auch ohne Verantwortung.
Daneben gab es noch die Unerreichbaren. Männer, die sich nach der Liebe sehnten, aber doch immer vor ihr weglaufen mussten, wenn sie zu nah kam. Mit ihnen gab es zarte Gefühle, leise, aber nährende körperliche Begegnungen und immer eine Ahnung von der romantischen Liebe. Doch schließlich war der Sex so anfällig wie das Herz. Für beide gab es keine Sicherheit und keinen Alltag. Das Herz musste von der Hoffnung leben, bis es irgendwann vollkommen erschöpft war, weil die Hoffnung am Ende nie in Erfüllung ging. Der Sex konnte immer nur dann ein Fest der Hingabe werden, wenn es kurz vorher Angst vor der Trennung oder zumindest ausreichend Distanz gegeben hatte.
Tröstlicherweise durfte mein Herz auch die großartige Liebe erfahren, die sich dem gemeinsamen Alltag stellt und mit einem offenen Bekenntnis zueinander einhergeht. Es gab zwei Männer, mit denen ich wuchs, denen ich nah sein konnte und mit denen ich mich wirklich verbunden fühlte. Zwei, die sich mir und denen ich mich anvertraute. Zweimal hatte ich das Gefühl, ich wäre angekommen. Schließlich aber endeten beide Begegnungen so, als ob ich mir selbst bei lebendigem Leib das Herz rausreißen müsste. Ich trennte mich in unendlicher Traurigkeit, weil uns die Lust abhandengekommen war, obwohl ich sie immer noch liebte. Wir waren jung, und niemand hatte uns das Geheimnis der körperlichen Liebe gezeigt. Wir weinten bittere Tränen, lagen uns beim Abschied verwirrt in den Armen und wussten nicht, warum der Sex uns unter den Händen zerronnen war. Ich hätte damals alles getan, wenn mir nur jemand gezeigt hätte, wie ich den Sex und die Liebe hätte zusammenhalten können.
Das Leben ging voran und mit ihm meine innere Spaltung. Ich suchte nach etwas, wovon ich nicht wusste, was es war. Und fand immer wieder etwas, wovon ich ahnte, dass es das nicht sein konnte. In meiner Ehe lief das Dilemma dann auf seinen Höhepunkt zu. Am Anfang gab es ständig Sex, doch trotzdem hatte ich oft ein Gefühl von Ferne. So nah sich unsere Körper kamen, so wenig schienen wir seelisch verbunden zu sein. Wir kamen aus völlig unterschiedlichen Welten. Es gab vieles, was wir überhaupt nicht teilen konnten oder anzusprechen wagten. Wir redeten oft über Alltägliches, aber nur selten begegneten wir uns in der Tiefe. Wenn ich versuchte, meinem Mann auch emotional näherzukommen, flüchtete er. Wenn es um Sex ging, war er zumindest körperlich da.
Ein leises Unbehagen, das sich in dieser Zeit immer mal wieder meldete, drückte ich sofort weg. Doch irgendwann schien auch das Körperliche seine Nähe zu verlieren. Manchmal fühlten sich die Küsse taub an. Manchmal beim Tanzen war es ganz blechern zwischen uns. Den Sex empfand ich oft wie isoliert vom restlichen Leben. Es fehlte etwas. Nur was? Die Signale waren so fein, dass ich sie ohne Probleme überhören oder als unbedeutend abtun konnte.
Ich weiß noch, wie ich einmal im Alltag hinter meinem Mann stand. Im Radio lief soulige Musik, in die ich mich wohlig fallen ließ. Mein ganzer Körper war wie elektrisiert und setzte sich praktisch von selbst in Bewegung. Ich lehnte mich von hinten an meinen Mann, schloss, erfüllt von der Musik, die Augen und wollte ihn ganz selbstverständlich mitnehmen in dieses so sinnliche und erotisierende Wiegen. Er bewegte sich, aber seine Bewegung war ohne Kontakt – weder zu mir noch zur Musik oder zu sich selbst. Er führte die Bewegung zwar aus, aber er ließ sich nicht bewegen. Es war, als ob er taub für diesen feinen Strom in mir wäre, innerlich eingefroren. Nichts von mir übertrug sich auf ihn. Alle Sinnenfreude lief ins Leere und erstarrte.
Dieses Erlebnis hätte ich damals gar nicht so klar benennen, die feine Disharmonie zwischen uns gar nicht so detailliert beschreiben können, wie ich das jetzt rückblickend tue. Es gab einfach nur eine wachsende Ansammlung an winzigen Störgefühlen in unserer Körperlichkeit. Die Szene war nur einer dieser unzähligen, diffusen Mikromomente, in denen etwas Urweibliches, ganz Selbstverständliches, aber sehr Feines in der Begegnung zwischen mir und meinem Mann ins Leere lief und unerkannt und traurig verblühte. In jedem dieser kleinen, feinen ungeteilten Momente breitete sich kaum merklich eine subtile Resignation in mir aus. Weiches erstarrte. Lebendiges fror ein. Sinnliches wurde taub. Während wir weiter Sex hatten, starb langsam und weitgehend unbemerkt etwas Weibliches in mir ab.
Aber, wie gesagt, mir war das alles gar nicht richtig bewusst, ich merkte lediglich, dass die Küsse fahler und der Sex unbedeutender wurden. So wurden wir langsam, aber sicher ein Alltagspaar. Es gab Sex, wenn es Zeit für Sex war (und die war es zunehmend seltener). Ansonsten gab es Begrüßungsküsschen, Gewohnheitsumarmungen und Nebenbeigekuschel vor dem Fernseher.
Ich erinnere mich noch gut daran, wie mein Mann eines Abends von der Arbeit kam und mich wie gewohnt zur Begrüßung umarmen und küssen wollte. Das war einer dieser Momente in meinem Leben, die mich schon öfter ohne Vorwarnung aus den gewohnten Bahnen gesprengt hatten; in denen etwas in mir auf einmal aufbegehrte, das ich lange unterdrückt hatte. Mein Mann hielt mich für den üblichen, belanglos kurzen Moment in den Armen, und alles in mir rebellierte. Ich schob ihn abrupt weg: »Ich halte das nicht mehr aus«, schluchzte ich: »Nicht einen einzigen von diesen toten, langweiligen, unbedeutenden, abwesenden, dämlichen Küssen will ich mehr haben!« Mein Mann stand da und wusste nicht, wie ihm geschah. Mir ging es ähnlich. Ich hatte das nicht geplant und war selbst überrascht von der Heftigkeit meines Ausbruchs; er war wie übermächtig in mir aufgestiegen. Mein Mann verließ schweigend die Wohnung durch die Tür, durch die er gerade gekommen war. Schweigen und Flüchten war in dieser Zeit der einzige Weg, den er kannte, um mit zu starken und unangenehmen Gefühlen umzugehen. Aber auch ich wusste nicht, was ich weiter hätte sagen oder tun sollen.
Schweigend gingen wir erst mal zur Tagesordnung über und vermieden alle bis dato selbstverständlichen, aber leblosen Küsse und Umarmungen. Etwas war allerdings jetzt in mir aufgebrochen: Ich wusste nun klar und deutlich, dass mir etwas fehlte und dass das hier auf Dauer nicht mein Leben sein konnte; auch wenn sich Millionen Paare mit solchen Küssen und Umarmungen bis zur Silberhochzeit schleppten.
Nach einer Phase der Wortlosigkeit begannen wir irgendwann wieder miteinander zu sprechen. Das endete allerdings meist in fruchtlosem Diskutieren und dem Beharren auf dem eigenen Standpunkt. Keiner von uns wusste, wie wir aus dieser Sackgasse wieder herauskommen sollten. Wir konnten ja nicht mal genau sagen, wie wir hineingeschlittert waren. Die einzige Lösung, die mein Mann parat hatte, bestand darin, sich abzulenken und weniger nachhause zu kommen. Und ich wurde zunehmend resignierter. Unterschwellig wuchsen die Selbstzweifel in mir. Irgendwann war mein Frust groß genug, dass ich mich alleine auf die Suche nach Hilfe und neuen Impulsen machte.
Ich ging auf eine Entdeckungsreise mit meinem Körper. Probierte mich aus in freiem Tanz und Körpertherapie, besuchte Selbsterfahrungsgruppen, in denen man seine Wahrnehmung verfeinern und Gefühle wieder körperlich zum Ausdruck bringen konnte. Und tatsächlich, in dieser Zeit begann sich das feine Weibliche wieder zaghaft in mir zu rühren. Ich war manchmal überwältigt von der freudigen Süße und lebendigen Kraft, die unerwartet und unschuldig in mir aufblühten.
Eine ganz neue Welt tat sich auf. Ich lernte, mich in mich hinein zu entspannen, feiner wahrzunehmen und mit meinem Körper bewusst in Kommunikation zu treten. Es war eine faszinierende Entdeckungsreise, bei der es wenig für den Kopf zu tun, aber viel in Körper und Seele zu erfahren gab. Manchmal sank ich so tief in meinen Körper, dass ich nur noch seine vibrierende Lebendigkeit und ein intensives Strömen spürte. In diesen Momenten fühlte ich mich so glücklich und verbunden mit mir selbst wie selten. Jeglicher Druck, alles Tempo schienen von mir abzufallen.
Mit der Zeit entdeckte ich, dass sich diese wunderbaren Empfindungen und Erfahrungen von Einssein dann einstellten, wenn ich mich in einer ungewöhnlich tiefen Entspannung befand. Überrascht stellte ich fest, dass sie nichts Besonderes brauchten – kein Antörnen, keine Aufregung, keine speziellen Vorgehensweisen oder Tricks. Allein durch die richtige Musik, eine Mikrobewegung, den Hauch einer Berührung oder einen einzigen Atemzug konnten sie in Bruchteilen von Sekunden ausgelöst werden. Und oftmals tauchten sie gerade dann auf, wenn ich nichts mehr kontrollieren konnte; wenn ich einfach nur erschöpft oder entspannt genug war, um loszulassen.
Nie kam ich allerdings auf die Idee, dass diese Erfahrungen, so sinnlich und erfüllend sie auch waren, etwas mit Sex zu tun haben könnten. Denn so oder so, immer war es ein Erleben allein in mir … bis ich irgendwann bei einem Seminar den unbekannten Mann mit dem Feinrippunterhemd traf.
Ich hatte ihn nie vorher gesehen und sah nie wieder danach. Wir hatten kein Wort miteinander gesprochen, so kannte ich nicht mal seine Stimme. Ich schaute ihn einige Sekunden lang an und er mich. Da war nichts zwischen uns. Wir waren Fremde und blieben es, auch als sich unsere Blicke trafen. Wir wendeten uns voneinander ab und setzten uns wortlos Rücken an Rücken auf eine Matratze. Ich spürte seine Muskeln an den Schultern und die kleinen Wölbungen seiner Wirbel an meinem Rückgrat, während der halbdunkle Raum um uns herum sich mit den sinnlichen Klängen einer unbekannten Musik füllte.
Ich konnte ihn nicht sehen, meine Augen hatten also keine Kontrolle mehr. Dadurch wurden alle anderen Sinne hellwach und liefen auf Hochtouren. Ich spürte die Bewegung seines Atems in meinem Rücken. Ein tiefer Seufzer entfuhr ihm und schien sich auf mich zu übertragen. Auch ich atmete unwillkürlich tiefer aus. Er atmete wieder, mein Atem folgte. Seine Bewegung begann sich mit dem Rhythmus der Musik zu verbinden. Meine Bewegung folgte. Sein Atem begann, seinen Rücken in Bewegung zu versetzen. Mein Rücken folgte. Er beugte sich nach vorne, ich blieb an seinem Rücken und fiel zurück. Er atmete ein, und sein Rücken richtete sich wieder auf, bog sich sanft wieder nach hinten und schob meinen Rücken weit nach vorne, bis mein Kopf entspannt über mein Knie sank.
Ich tat nichts. Es tat mit uns. Wir waren eine Welle. Ohne Anfang und Ende im Meer von Musik und Atem. Die Atemzüge wurden länger und länger, unser Wiegen größer und größer. Der Kontakt unserer Rücken wurde immer intensiver wie unter einer Lupe. Ich verlor mich in mir selbst. Jede einzelne Zelle begann sich zu öffnen und ließ ein glückseliges Wohlgefühl durch mich hindurchströmen. Ich war wie elektrisiert, reine Empfänglichkeit. Die Frau in mir war vollkommen erwacht und eins mit allem. Bis die Musik langsam ein Ende nahm, unser Atem sich wieder beruhigte und aus der Welle wieder einzelne Körper hervorgingen.
Wir lösten uns voneinander, standen auf, und ich war wieder eine fremde Frau und er ein fremder Mann, der mir mit entrücktem Blick in Feinrippunterhemd, Jogginghose und breitem Kölsch entgegenhauchte: »Dat war äscht jeil. Meine Jüte, sowat hann isch noch nisch ärlebt.«
Ja, »sowat« hatte ich auch noch nicht erlebt. Ich war überwältigt und glückselig. Eine simple Übung bei einem körpertherapeutischen Seminar, in der zwei Leute wahllos zusammenkamen. Eine unschuldige Verbindung auf einer Art Turnmatte, die helfen sollte, zu entspannen und loszulassen, hatte mich ins Nirwana getragen. Bei der Feedbackrunde stammelte ich herum, fand keine Worte für das, was ich eben erlebt hatte. Bis ich schließlich verschämt resümierte: »Das war wohl ein Ganzkörperorgasmus …«
Dieses Erlebnis ließ mich nicht mehr los. Es war so viel einprägsamer, süßer, ekstatischer und bis in die tiefsten Tiefen entspannender gewesen als jeder Orgasmus, den ich kannte. Ich hatte in der Begegnung mit einem anderen Menschen etwas mit und in meinem Körper erfahren, das sich wahrhaftig anfühlte. Es war genau das, wonach ich immer gesucht hatte, ohne zu wissen, was es ist. Es war weit über das begrenzte und im Vergleich so angestrengte Lusterleben meiner bisherigen sexuellen Erfahrungen hinausgegangen. Es hatte mich in meinem ganzen Sein berührt. Und auch in meiner Erinnerung kann ich es nicht anders beschreiben, als dass dies eine Art Ganzkörperorgasmus gewesen ist, der sich bis in mein Herz und meine Seele ausgebreitet hat.
Dass es dazu tatsächlich den entsprechenden Sex gab, erfuhr ich allerdings wieder erst eine ganze Zeit später, als mir ein kleines Buch mit dem seltsamen Titel Sexuelle Liebe auf göttliche Weise in die Hände fiel. Das Buch begann mit den folgenden Worten:
»Das grundlegende Leiden der Frau, ihre beständige Unzufriedenheit entsteht, weil der Mann sie nicht mehr körperlich erreichen kann. Ihre emotionale Maßlosigkeit, ihre Depression, ihre Frustration (…) sind auf das sexuelle Versagen des Mannes zurückzuführen, der während des Liebesaktes ihre feinsten und tiefsten weiblichen Energien nicht zu sammeln oder freizusetzen vermag. Diese unglaublich schönen, göttlichen Energien sind intensiv und exquisit, und wenn sie in der Frau unerschlossen bleiben, wie es jetzt der Fall ist, entarten sie zu psychischen oder emotionalen Störungen und verfestigen sich schließlich zu physischen Anomalien. Der Schoß gebiert alle Dinge.«
Diese Worte waren nicht etwa die Abrechnung einer sexuell frustrierten Feministin mit den Männern, sondern der Feder des spirituellen Lehrers Barry Long entsprungen – einem siebzigjährigen Mann, der den Sex und die Frauen liebte. Sie trafen mich ins Mark, doch ich schämte mich dafür, denn ich war keine Männerhasserin und wollte auch keine werden. Nichts lag mir ferner, als da draußen einen Schuldigen für meinen Sexfrust und meine Rastlosigkeit zu suchen, aber ich fand nun mal mein Erleben in diesen Worten wieder.
Es gab die Ahnung einer Sinnlichkeit und Weite in mir, die beim Sex mit Männern meist unberührt blieb. Seit meiner »Ganzkörperorgasmus-Erfahrung« wusste ich aber um ihre tatsächliche Existenz und um ihre »exquisite« und ekstatische, alles umfassende Kraft, wenn sie erst einmal hervortrat. Ich hatte in dieser Zeit der Selbsterfahrung versucht, mit meinem Mann darüber zu reden, und ihm von dieser feinen Kraft und meinen unglaublichen Erlebnissen berichtet. Aber meine Worte konnten ihm nichts vermitteln, was er hätte nachvollziehen können oder was ihn neugierig gemacht hätte.
In mir war durch diese starken Erfahrungen allerdings eine Tür geöffnet worden, die sich nicht mehr schließen ließ. Egal, ob mein Mann mich verstand oder nicht, ob er sich für meine Erlebnisse interessierte oder nicht – die Tür blieb offen. Manchmal taten sich auch beim Sex mit ihm wie aus dem Nichts heraus winzige Öffnungen auf, die an das, was ich beim Ganzkörperorgasmus erlebt hatte, erinnerten. Dann stiegen auf einmal ganz feine, lustvolle Wellen von innen durch meinen Körper an die Oberfläche. Sie waren aber nicht etwa das Ergebnis dessen, was wir gerade taten, sie zeigten sich eher trotz