Sozialisationstheorien - Klaus-Jürgen Tillmann - E-Book

Sozialisationstheorien E-Book

Klaus-Jürgen Tillmann

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Sozialisationsforschung ist ein interdisziplinäres Arbeitsfeld, das in den letzten Jahren in Psychologie, Soziologie und Erziehungswissenschaft erheblich an Bedeutung gewonnen hat. Diese aktualisierte Neuausgabe führt exemplarisch in die wichtigsten Theorien zum vergesellschafteten Subjekt ein: · psychoanalytische, lerntheoretische und kognitionspsychologische Konzepte werden am Beispiel der geschlechtsspezifischen Sozialisation entwickelt; · struktur-funktionale, marxistische und interaktionistische Ansätze werden an der schulischen Sozialisation verdeutlicht; · die Probleme einer integrativen Weiterentwicklung dieser Einzeltheorien werden anhand der Sozialisation im Jugendalter erörtert. Damit liegt eine verständliche Einführung in dieses komplexe Theoriefeld vor; zugleich bietet sie eine Standortbestimmung der gegenwärtigen sozialisationstheoretischen Diskussion.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 636

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Klaus-Jürgen Tillmann

Sozialisationstheorien

Eine Einführung in den Zusammenhang von Gesellschaft, Institution und Subjektwerdung

Inhaltsverzeichnis

Widmung

Vorwort zur Neuausgabe

1 Einführung

1.1 Sozialisation

1.1.1 Persönlichkeit und Umwelt: Zum Charakter des Sozialisationsprozesses

1.1.2 Ebenen und Phasen: Zur Struktur des Sozialisationsprozesses

1.2 Sozialisationstheorie

1.2.1 Zur Theoriediskussion in den Sozialwissenschaften

1.2.2 Anforderungen an eine Sozialisationstheorie

1.2.3 Zur Methodendiskussion in der Sozialisationsforschung

1.3 Zur Geschichte der Sozialisationstheorie

1.4 Zielsetzung und Aufbau des Buchs

2 Sozialisation und Geschlecht – zugleich eine Einführung in psychologische Basistheorien

2.1 Geschlecht als biologische oder als soziokulturelle Kategorie? (gemeinsam mit Michael Lenz)

2.1.1 Zweigeschlechtlichkeit als Naturtatsache – die biologische Sicht

2.1.2 Zweigeschlechtlichkeit im Patriarchat – die feministische Sicht

2.1.3 Fazit und Forschungsperspektive

2.2 Der Erwerb der Geschlechtsidentität in psychoanalytischer Sicht

2.2.1 Grundannahmen und zentrale Begriffe

2.2.2 Ödipale Situation und Geschlechtsidentität

2.2.3 Einordnung, Kritik und Weiterführung

2.3 Der Erwerb geschlechtsspezifischen Verhaltens in lerntheoretischer Sicht

2.3.1 Grundannahmen und zentrale Begriffe

2.3.2 Geschlechterrolle und soziales Lernen

2.3.3 Einordnung, Kritik und Weiterführung

2.4 Der Erwerb der Geschlechtsidentität in kognitionspsychologischer Sicht

2.4.1 Grundannahmen und zentrale Begriffe

2.4.2 Kognitives Realitätsurteil und Geschlechtsidentität

2.4.3 Einordnung, Kritik und Weiterführung

2.5 Vergleichende Diskussion der Theorieansätze

3 Sozialisation durch die Schule – zugleich eine Einführung in soziologische Basistheorien

3.1 Institutionen als Bedingungsrahmen: Zur Struktur der Sozialisation durch die Schule

3.1.1 Institutionen und Sozialisation

3.1.2 Die Schule als Institution

3.1.3 Fazit und Forschungsperspektive

3.2 Schulische Sozialisation in struktur-funktionaler Sicht

3.2.1 Grundannahmen und zentrale Begriffe

3.2.2 Der Schüler als Rollenspieler

3.2.3 Einordnung, Kritik und Weiterführung

3.3 Schulische Sozialisation in interaktionistischer Sicht

3.3.1 Grundannahmen und zentrale Begriffe

3.3.2 Der Schüler als Akteur zwischen Normalität und Abweichung

3.3.3 Einordnung, Kritik und Weiterführung

3.4 Schulische Sozialisation in materialistischer Sicht

3.4.1 Grundannahmen und zentrale Begriffe

3.4.2 Der Schüler als Träger der Ware Arbeitskraft

3.4.3 Einordnung, Kritik und Weiterführung

3.5 Vergleichende Diskussion der Theorieansätze

4 Sozialisation im Jugendalter – zugleich eine Einführung in theorieverbindende Ansätze

4.1 Jugend als Lebensphase: Zur Verknüpfung individueller und gesellschaftlicher Entwicklung

4.1.1 Pubertät, Jugend, Adoleszenz

4.1.2 Jugend im historischen Wandel

4.1.3 Fazit und Forschungsperspektive

4.2 Jugend in der modernen Industriegesellschaft: Das Interesse an der gesellschaftlichen Integration

4.2.1 Eisenstadts soziologisches Konzept

4.2.2 Eriksons psychologisches Konzept

4.2.3 Die Verbindung von Eisenstadts und Eriksons Konzepten

4.3 Jugend im Spätkapitalismus: Das Interesse am gesellschaftskritischen Potenzial

4.3.1 Grundannahmen und zentrale Begriffe der Habermas’schen Theoriebildung

4.3.2 Adoleszenzkrise und Identitätsbildung

4.3.3 Einordnung, Kritik und Weiterführung

4.4 Jugend in der Risikogesellschaft: Individualisierung als sozialisationstheoretisches Konzept?

4.4.1 Grundannahmen und zentrale Begriffe der Beck’schen Gesellschaftsanalyse

4.4.2 Gewandelte Lebensphase und jugendliche Subjektentwicklung

4.4.3 Einordnung, Kritik und Weiterführung

4.5 Perspektiven der weiteren Theoriebildung

5 Sozialisation – ein theoretisches Konzept in der Kritik

5.1 Soziologie der Kindheit statt Sozialisation?

5.1.1 Kritik: Der Sozialisationsbegriff verfehlt die Kindheit

5.1.2 Selbstsozialisation als begriffliche Alternative?

5.1.3 Replik 1: Selbstsozialisation bringt keine weiteren theoretischen Erkenntnisse

5.1.4 Replik 2: Kindheitsforschung ist Sozialisationsforschung

5.2 Konstruktion von Geschlecht statt geschlechtsspezifischer Sozialisation? (gemeinsam mit Ulrike Popp)

5.2.1 Kritik: Geschlechtsspezifische Sozialisationsforschung stabilisiert die Geschlechterhierarchie

5.2.2 Biographietheoretischer Zugang als Alternative?

5.2.3 Replik 1: Biographische Forschungsstrategien lassen sich sozialisationstheoretisch gut integrieren

5.2.4 Replik 2: Eine Entwicklungsperspektive auf die Geschlechterdifferenz bleibt unverzichtbar

5.3 Sozialisation – ein Theorie- und Forschungskonzept auch für die Zukunft

Anmerkungen

Literatur

Namenregister

Sachregister

Für Marianne

Vorwort zur Neuausgabe (16.Auflage)

Dieses Buch ist erstmals im Februar 1989 erschienen und hat inzwischen eine Gesamtauflage von nahezu 60000Exemplaren erreicht. Daran wird deutlich, dass es sich als wissenschaftliches Standardwerk etabliert hat. Dieser ungewöhnliche Erfolg für ein erziehungs- und sozialwissenschaftliches Fachbuch erfüllt mich mit Freude und auch mit ein wenig Stolz. Er zeigt, dass es richtig war, dieses Buch von Anfang an als eine Theorieeinführung zu konzipieren: Es soll für Studierende, auch für Anfangssemester lesbar, verständlich und anregend sein; dies macht eine exemplarische Auswahl von Problemen erforderlich, verlangt einen behutsamen Umgang mit der Fachsprache und erzwingt gelegentlich eine Reduktion von theoretischer Komplexität. Auf der anderen Seite darf die Einführung nicht hinter den Diskussionsstand der Disziplin zurückfallen, dürfen Theorien nicht durch Didaktisierung simplifiziert werden, muss der Text auch den kritischen Blicken der Fachkollegen standhalten können. Der anhaltende Erfolg des Buchs macht deutlich, dass es diejenigen erreicht hat, für die es vor allem geschrieben wurde: die Studentinnen und Studenten, die sich in Seminaren (oder auch im Selbststudium) mit sozialisationstheoretischen Fragen befassen. Aber auch Lehrer(innen) und Schüler(innen), die sich in Oberstufenkursen in das Sozialisationsthema einarbeiten, greifen recht häufig zu diesem Band.

Allerdings ist der sozialisationstheoretische Diskurs seit Erscheinen dieses Buchs nicht stehen geblieben, vielmehr haben sich Forschung und Theorie munter weiterentwickelt. Dies macht zum dritten Mal eine eingehende Überarbeitung erforderlich. Nachdem in der 4.Auflage (1993) eine Aktualisierung und inhaltliche Erweiterung (Individualisierungstheorie, feministische Psychoanalyse) vorgenommen wurde, erfolgte die nächste Überarbeitung zur 10.Auflage (2000). Damals wurde Kapitel 2.1 zu Geschlecht und Geschlechterkonstruktion (in Koautorenschaft mit Michael Lenz) völlig neu gefasst. Bei der jetzigen Überarbeitung erfolgte zum einen der Einbezug neuer Forschungsergebnisse und Theorievarianten in die bestehenden Kapitel. Für die Hilfestellung, die ich dabei von Melanie Rauh und Martin Goecke erfahren habe, bedanke ich mich herzlich. Zum Zweiten enthält dieser Band ein neues Schlusskapitel. Es reagiert auf den Sachverhalt, dass in den letzten Jahren das sozialwissenschaftliche Konzept «Sozialisation» zunehmend kritisiert worden ist, dass einige Sozialwissenschaftler(innen) sogar seine Abschaffung forderten. Mein besonderer Dank gilt dabei meiner Kollegin Ulrike Popp, mit der ich dieses abschließende Kapitel gemeinsam verfasst habe. Sie hat ihre Fachkenntnisse aus Kindheitssoziologie und Geschlechterdiskurs in eine Argumentation einfließen lassen, mit der wir begründen, warum wir das Sozialisationskonzept überhaupt nicht als überholt ansehen – sondern als ein entwicklungsfähiges Modell für die künftige Theorie- und Forschungsarbeit.

Bielefeld/​Berlin, im Juli 2010

Klaus-Jürgen Tillmann

1Einführung

Als im Jahr 1969 die Ergebnisse der angloamerikanischen Sozialisationsforschung für den deutschsprachigen Bereich aufgearbeitet wurden, musste der Autor seinen pädagogischen Fachkollegen zunächst erläutern, dass es ihm hier keineswegs um ‹Sozialisierung› im Sinne der Überführung von Produktionsmitteln in Gemeineigentum gehe, sondern um eine interdisziplinäre Betrachtung menschlicher Entwicklung (vgl. Fend 1969, S.12). Dies erscheint uns heute als eine erstaunliche Anekdote; denn der Begriff ‹Sozialisation› hat sich seit den 1970er Jahren nicht nur in der Erziehungs- und Sozialwissenschaft etabliert, er ist in gewissem Grad auch bereits in die Alltagssprache eingedrungen: Wenn auf Party-Gesprächen von einer ‹kleinbürgerlichen Sozialisation› oder von ‹Sozialisationsdefiziten› gesprochen wird, wird dabei meist ein grob richtiges Begriffsverständnis unterlegt: Sozialisation meint in dieser Verwendung die Gesamtheit der gesellschaftlichen Einflüsse auf die Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen. Ein solches Alltagsverständnis verweist auf zwei Aspekte, die sich auch in sozialwissenschaftlichen Definitionen finden: Zum einen geht es um die soziale Integration der Subjekte, zum anderen um die Fähigkeit zur selbständigen Lebensführung (vgl. Grundmann 2006, S.17). Mit diesem alltäglichen Begriffsverständnis ist der Gegenstandsbereich zunächst umrissen.

Dieses Buch beschäftigt sich mit Theorien zu diesem Gegenstandsbereich, also mit Sozialisationstheorien. Es will eine Einführung bieten in ein interdisziplinäres wissenschaftliches Arbeitsfeld, zu dem Soziologen, Psychologen und Erziehungswissenschaftler in den letzten Jahrzehnten umfangreiche theoretische und empirische Beiträge geliefert haben. Inzwischen liegt eine kaum noch überschaubare Forschungsliteratur vor, die sich längst nicht mehr allein aus angloamerikanischen Quellen speist; denn seit Beginn der 1970er Jahre wird in zunehmendem Umfang und mit beachtlichem Erfolg Sozialisationsforschung auch in der Bundesrepublik betrieben.

Dieses Buch will Schneisen in ein kompliziertes Theorie- und Forschungsdickicht schlagen: Es stellt die wichtigsten Basistheorien vor, die entweder aus der Psychologie (Psychoanalyse, Lerntheorie, Kognitionspsychologie) oder aus der Soziologie (struktur-funktionale, materialistische, interaktionistische Konzepte) stammen und die seit den 1970er Jahren vor allem innerhalb der Erziehungswissenschaft diskutiert und weiterentwickelt wurden. Auf der Grundlage dieser theoretischen Ansätze werden wichtige Bereiche des Sozialisationsprozesses analysiert: Geschlechtsspezifische Sozialisation, schulische Sozialisation und Sozialisation im Jugendalter werden auf diese exemplarische Weise zum Thema. Am Anfang steht allerdings eine weiter gehende Klärung des Sozialisationsbegriffs, um vom skizzierten Alltagsverständnis zu einer brauchbaren Arbeitsdefinition vorzudringen.

1.1Sozialisation

Mit Sozialisation ist ein bestimmter Bereich der sozialen Realität angesprochen. Ähnlich wie ‹soziale Schichtung› oder ‹Lernmotivation› ist der damit gemeinte Sachverhalt weder sinnlich direkt fassbar noch dinglich greifbar, er ist dennoch existent. In einer wissenschaftlichen Definition geht es zunächst darum, diesen Bereich der sozialen Realität so präzise wie möglich zu bezeichnen, sodass weitgehend einvernehmlich geklärt werden kann, welche Ereignisse, Faktoren und Prozesse dazugehören – und welche nicht. Im «Handbuch der Sozialisationsforschung». (1980) ist hierzu eine abgrenzende Formulierung gefunden worden, die auch heute noch als Konsens in der Sozialisationsforschung gelten kann: Sozialisation ist begrifflich zu fassen «als der Prozeß der Entstehung und Entwicklung der Persönlichkeit in wechselseitiger Abhängigkeit von der gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt. Vorrangig thematisch ist dabei…, wie sich der Mensch zu einem gesellschaftlich handlungsfähigen Subjekt bildet». (Geulen/​Hurrelmann 1980, S.51). Diese Definition ist in der Folgezeit zwar von verschiedenen Autoren modifiziert und variiert worden (vgl. z.B. Hurrelmann 2008, S.24f.), im Grundsatz kann sie jedoch als weitgehend akzeptiert gelten.

Sie hebt zunächst einmal hervor, dass die Gesamtheit aller Umweltbedingungen, die auf die Subjektentwicklung Einfluss nehmen, zum Gegenstandsbereich gehören. Danach werden die Anforderungen am Arbeitsplatz ebenso als Bedingungen des Sozialisationsprozesses gesehen wie die Wohnsituation, der Fernsehkonsum oder das elterliche Sprachverhalten. Der Begriff der «gesellschaftlich vermittelten sozialen und materiellen Umwelt» signalisiert dabei, dass sämtliche Umweltfaktoren gesellschaftlich durchdrungen bzw. beeinflusst sind. Dies ist unmittelbar einsichtig für die sozialen Bedingungen des Aufwachsens: Dass der elterliche Erziehungsstil, die Lernprozesse in der Schule, die Kommunikation am Arbeitsplatz abhängig sind von der jeweiligen gesellschaftlichen Einbindung, lässt sich leicht nachweisen. Weniger auffällig, aber ebenso zutreffend gilt dies für die physisch-materiellen Bedingungen der Umwelt (vom Spielzeug über die Wohnhäuser bis hin zum städtischen Park); denn die materielle Umwelt befindet sich nirgendwo mehr in einem natürlichen Urzustand, sondern kommt immer nur in gesellschaftlicher Bearbeitung vor: Spielzeug wurde von Fabrikanten erdacht und produziert, Wohnumwelten unter ökonomischen Gesichtspunkten geplant, selbst der Stadtpark und seine Anlagen sind das Ergebnis gesellschaftlicher Gestaltung. Alle sozialen und materiellen Umweltfaktoren sind somit gesellschaftlich beeinflusst, sie alle können als Bedingungen des Sozialisationsprozesses Bedeutung erlangen. Zugleich wird einschränkend definiert, dass diese Gesamtheit der Umweltbedingungen nur unter einem spezifischen Blickwinkel betrachtet wird. So interessiert der Fernsehkonsum in seinen Auswirkungen auf kindliche Wahrnehmungsmuster, nicht jedoch in seiner Bedeutung für die Werbewirtschaft; die Arbeitsplatzsituation interessiert in ihrer Auswirkung auf die Verhaltensweisen und Charakterstrukturen der Beschäftigten, nicht jedoch in ihrer tarifrechtlichen Relevanz. Die Baustruktur des Stadtviertels wird in ihrer Auswirkung auf kindliche Aktivitäten, nicht jedoch unter dem Aspekt der Sanierungspolitik betrachtet. Es geht also um die Gesamtheit der gesellschaftlich vermittelten Umwelt in ihrer spezifischen Bedeutung für die Entwicklung der Persönlichkeit. Eine solche Begriffsdefinition nimmt jedoch nicht nur eine Abgrenzung des Gegenstandsbereichs vor, sondern enthält zugleich Grundannahmen über Charakter und Struktur des Sozialisationsprozesses.

1.1.1Persönlichkeit und Umwelt: Zum Charakter des Sozialisationsprozesses

Im Zentrum des Sozialisationsprozesses steht die Entwicklung und Veränderung der menschlichen Persönlichkeit. Daraus ergibt sich zunächst, dass sich ‹Sozialisation› nur definieren lässt, wenn der Persönlichkeitsbegriff einbezogen wird. Ohne bereits einzelne psychologische Theorien heranzuziehen, lässt sich Persönlichkeit bezeichnen als das spezifische Gefüge von Merkmalen, Eigenschaften, Einstellungen und Handlungskompetenzen, das einen einzelnen Menschen kennzeichnet. Entstanden ist dieses organisierte Gefüge auf der biologischen Lebensgrundlage des Menschen durch die Erfahrungen, die der Einzelne im Laufe seiner Lebensgeschichte gemacht hat (vgl. Neyer/​Lehnart 2008). Eine solche Definition verweist darauf, dass sich mit dem Begriff ‹Persönlichkeit› Vorstellungen über ein Gefüge von psychischen Strukturen und Merkmalen bei einem Individuum verbinden. Es geht somit nicht nur um von außen beobachtbare Verhaltensweisen, sondern auch um innerpsychische Prozesse und Zustände; Gefühle und Motivationen gehören ebenso dazu wie Wissen, Sprache und Werthaltungen. Sozialisationsforschung und -theorie hat aufzuzeigen, in welchem Verhältnis diese Aspekte der inneren Realität zu den Bedingungen der äußeren Realität stehen. Ein solches Verständnis von Persönlichkeit verweist zum Zweiten darauf, dass bei den einzelnen Menschen sehr unterschiedliche Ausprägungen des psychischen Gefüges anzutreffen sind. Das spezifische Gefüge des Einzelnen wird als ‹Individualität› bezeichnet (vgl. Abels 2006, S.43). Zur Persönlichkeit gehört diese Individualität (die den Einzelnen von allen anderen unterscheidet) ebenso wie der Sozialcharakter, den die Mitglieder einer Gesellschaft miteinander teilen (vgl. Rolff 1967, S.22ff.; Veith 2008, S.37f.). Darunter wird der Teil der Persönlichkeit verstanden, «der signifikanten sozialen Gruppen gemeinsam ist und der… das Produkt der Erfahrung dieser Gruppen darstellt. Der so verstandene Begriff des sozialen Charakters erlaubt es uns,… von dem Charakter von Klassen, Gruppen, Völkern und Nationen zu sprechen». (Riesman 1958, S.20). Eine solche Definition erlaubt es auch, zwischen unterschiedlichen Sozialcharaktern in einer Gesellschaft zu unterscheiden: So gibt es bei ethnischen Minderheiten andere ‹Selbstverständlichkeiten› im Rollenverhalten zwischen Mann und Frau, bei den Essgewohnheiten, bei alltäglichen Höflichkeitsformen als in der deutschen ‹Mehrheitskultur›. In jedem Fall aber erwirbt ein heranwachsender Mensch die ‹Selbstverständlichkeiten› seiner Gruppe – und damit die entsprechenden Anteile des Sozialcharakters. Daraus wiederum folgt, dass die Genese der Persönlichkeit im Sozialisationsprozess zugleich auf Vergesellschaftung und Individuierung hinausläuft. An eine Sozialisationstheorie ist der Anspruch zu stellen, dass diese beiden Dimensionen der Persönlichkeitsentwicklung systematisch gefasst werden.

In den hier angesprochenen Sozialisationsbegriff fließen jedoch nicht nur Annahmen über die innerpsychischen Strukturen ein, sondern es werden auch Grundaussagen über das Verhältnis des Individuums zu den Bedingungen seiner Umwelt getroffen. Die gewählten Formulierungen lassen erkennen, dass von einem heranwachsenden Menschen ausgegangen wird, der auf seine Lebens- und Lernprozesse einen aktiv gestaltenden Einfluss nimmt. Menschen sind nicht Opfer ihrer Sozialisation, sondern sie wirken auf sich und ihre Umwelt immer auch selber ein und entwickeln sich auf diese Weise zum handlungsfähigen Wesen, zu einem Subjekt (vgl. Grundmann 2006, S.23f.). Damit erfolgt bereits in den Definitionen von ‹Sozialisation› und ‹Persönlichkeit› eine deutliche Absetzung von allen sozialdeterministischen Vorstellungen, in denen Sozialisation als einseitige Prägung missverstanden wird. Sozialisation ist nicht einfach die (freiwillige oder erzwungene) Übernahme gesellschaftlicher Erwartungen in psychische Strukturen, sondern ein Prozess der aktiven Aneignung von Umweltbedingungen durch den Menschen. Die prinzipielle Möglichkeit des Menschen, sich zu seiner Umwelt aktiv, individuell und situativ verschieden zu verhalten, steht in einem Spannungsverhältnis zu den gesellschaftlichen Anforderungen, die auf Anpassung und Normierung ausgerichtet sind. Damit dieses Spannungsverhältnis auch theoretisch begriffen wird, dürfen Sozialisationstheorien nicht von einem passiv erleidenden Individuum ausgehen, sondern müssen die aktive Gestaltungsfähigkeit des Subjekts in Rechnung stellen. Hier hat Klaus Hurrelmann das Konzept des «produktiv realitätsverarbeitenden Subjekts». (1986) entwickelt, das inzwischen auch von weiteren Theorieströmungen aufgenommen wurde (vgl. Hurrelmann/​Grundmann/​Walper 2008; Böhnisch/​Lenz/​Schröer 2009, S.16f.).

Mit dem hier verwendeten Sozialisationsbegriff verbindet sich somit eine Grundvorstellung vom sozialisierenden Subjekt und seinem Verhältnis zur Umwelt. Dieses Grundverständnis kann inzwischen als Konsens zwischen Sozialisationsforschern unterschiedlicher theoretischer Ausrichtung betrachtet werden. Ein solcher sozialisationstheoretischer Konsens ‹nach innen› bedeutet zugleich, dass hierzu im Widerspruch stehende Positionen, die ‹von außen› – also von anderen Wissenschaftsrichtungen – über den Charakter menschlicher Entwicklung vorgetragen werden, von Sozialisationsforschern nicht akzeptiert werden; vielmehr wird ihnen gemeinsam argumentativ entgegengetreten. Dies gilt insbesondere für Konzepte (a) einer biologistisch argumentierenden Humanwissenschaft, (b) einer idealistisch überzogenen Philosophie und (c) einer verkürzt analysierenden Pädagogik. Was sich hinter diesen konkurrierenden Konzepten verbirgt, wird im Folgenden erläutert. Indem dazu jeweils die sozialisationstheoretischen Gegenargumente angeführt werden, wird der angesprochene Konsens in der Gemeinschaft der Sozialisationsforscher präzisiert.

(a) Die Implikationen des Sozialisationsbegriffs wenden sich entschieden gegen alle biologistischen Auffassungen, die die Persönlichkeitsentwicklung allein oder weit überwiegend auf genetisch fixierte ‹Anlage›-Faktoren und ihre ‹Reifung› zurückführen wollen. In einer solchen Sichtweise sind individuelle Unterschiede in Leistungsfähigkeit und Charaktereigenschaften bereits vor der Geburt weitgehend festgelegt, die Umwelt hat dann allenfalls noch die Funktion eines gärtnerischen Nährbodens. Solche Vorstellungen haben bis in die 1960er Jahre hinein die bundesdeutsche Pädagogik beherrscht (vgl. z.B.K.V.Müller 1956). In den 1970er Jahren wurden sie in öffentlichkeitswirksamer Weise von dem amerikanischen Psychologen Jensen (1973) vertreten, in den 1990er Jahren wurden sie von «Verhaltensbiologen» aufgefrischt (vgl. Promp 1990, S.118). Gegenüber solchen Thesen haben Sozialisationsforscher stets betont, dass sich die Persönlichkeit in Auseinandersetzung mit der jeweiligen Umwelt entwickelt und dass eine genetische Fixierung von Charaktereigenschaften eine wissenschaftlich durch nichts belegte Spekulation ist. Diese Ablehnung biologistischer Positionen schließt aber ein, dass Sozialisationstheorien die biologische Basis aller menschlichen Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit berücksichtigen. Es geht also nicht darum, die organischen Voraussetzungen der menschlichen Entwicklung (z.B. genetische Vorgaben, körperliches Wachstum, Triebbedürfnisse, physiologische Gehirnaktivitäten) zu leugnen, sondern die Wechselwirkungen zwischen diesen Bedingungen und den Einflüssen der Umwelt zu analysieren. Hierzu sind in den letzten Jahren aus biologischer Perspektive differenzierte Konzepte vorgelegt worden, mit denen sich die «alte» Konfrontation überwinden lässt (vgl. Asendorpf 2008, vgl. auch Kap. 2.1).

(b) Der Sozialisationsbegriff wendet sich gegen eine idealistische Auffassung, die in der abendländischen Philosophie eine lange Tradition hat (vgl. Geulen 1980, S.24): die Vorstellung, dass die Subjektwerdung des Menschen einer erfahrungswissenschaftlichen Analyse nicht zugänglich und auch nicht auf gesellschaftliche Bedingungen zurückführbar sei. Eine solche Position wurde im ausgehenden 19.Jahrhundert von Wilhelm Dilthey in einer Weise vertreten, die die Entwicklung von Pädagogik und Psychologie bis weit in das 20.Jahrhundert stark beeinflusst hat. Dilthey geht davon aus, dass die Genese der Persönlichkeit vor allem ein immanenter Prozess der psychischen Entfaltung sei, der sich allenfalls geisteswissenschaftlich-verstehend beschreiben, keinesfalls aber empirisch analysieren lasse (vgl. Dilthey 1957, S.218ff.). Geulen, der diese Position ausführlich dargestellt und kritisiert hat (vgl. 1989, S.29ff.), bezeichnet sie als einen «idealistischen Individualismus» und betont demgegenüber die Grundposition des sozialisationstheoretischen Herangehens: dass es darauf ankommt, die Entwicklung der Persönlichkeit als Interaktion zwischen Subjekt und Umwelt zu untersuchen, und dass dieser Prozess erfahrungswissenschaftlichen Methoden genauso zugänglich ist wie die allermeisten anderen Bereiche des menschlichen Lebens. Damit ist die Sozialisationsforschung darauf ausgerichtet, soziale Regelhaftigkeiten im Prozess der Persönlichkeitsentwicklung auszumachen. Die Ablehnung idealistischer Positionen schließt aber durchaus ein, die in der philosophischen Tradition formulierten Ansprüche an ein entwickeltes Subjektverständnis zu akzeptieren und aufzunehmen. Dass Menschen zur Selbstreflexion fähig sind, sich zur Individualität entwickeln und auf diesen Entwicklungsprozess einen aktiv gestaltenden Einfluss nehmen, ist in dem dort entwickelten Begriff vom Subjekt enthalten. Die Akzeptanz dieser Erkenntnisse bedeutet, dass sozialisationstheoretische Entwürfe sich vor jeder Form des Milieudeterminismus hüten müssen, sie aber dennoch die Entwicklung der Persönlichkeit im Kontext der jeweiligen Umweltbedingungen zu erklären haben.

(c) Der Sozialisationsbegriff wendet sich gegen eine pädagogisch reduzierte Perspektive, die in der Erziehungswissenschaft lange Zeit vorgeherrscht hat. Betrachtet wurde dort vor allem der «pädagogische Bezug». (Nohl) und damit die bewusste erzieherische Interaktion eines Erwachsenen gegenüber dem Heranwachsenden. Im Mittelpunkt der Pädagogik stand daher vor allem die intentionale Bildung und Erziehung in der Schule. Alle anderen Einflussfelder – von den Auswirkungen institutioneller Strukturen über die Massenmedien bis hin zu den ‹peergroups› – blieben hingegen am Rande der Erörterung. Dies hat Bernfeld bereits 1925 massiv kritisiert; die bis in die 1960er Jahre vorherrschende «geisteswissenschaftliche Pädagogik» hat diese Verkürzung jedoch nicht überwinden können (vgl. die Analyse bei Klafki u.a. 1970, S.55–74). Wer hingegen den Sozialisationsbegriff gebraucht, weigert sich, die Analyse auf bewusste erzieherische Akte zu reduzieren. Er betont vielmehr, dass die Gesamtheit aller Lebensumstände für die Subjektentwicklung von Bedeutung ist. Der Einfluss des erzieherischen Handelns wird damit nicht geleugnet, sondern systematisch eingeordnet: ‹Erziehung› als bewusste und geplante Beeinflussung der Heranwachsenden durch Erwachsene wird als Teil (als Unterkategorie) des Sozialisationsprozesses gesehen und entsprechend gewürdigt.

Die bisher referierte Begriffsbestimmung verbindet eine definitorische Abgrenzung des Gegenstandsbereichs mit der Festlegung von Prämissen über den Charakter des Austauschs zwischen Person und Umwelt. Darüber hinaus enthält diese Definition weitere Annahmen über die Grundstrukturen des Sozialisationsprozesses, die im Folgenden verdeutlicht werden sollen.

1.1.2Ebenen und Phasen: Zur Struktur des Sozialisationsprozesses

Aus der Bestimmung, dass die Persönlichkeitsentwicklung ein Austauschprozess zwischen dem Subjekt und seiner gesellschaftlich vermittelten Umwelt ist, ergibt sich eine Gliederung des Sozialisationsfeldes in gesellschaftliche Ebenen: Es ist begrifflich zu fassen, über welche Zwischenstufen eine Vermittlung zwischen ‹Persönlichkeit› und ‹Gesamtgesellschaft› vorstellbar ist. Aus der weiteren Bestimmung, dass dies ein individueller Entwicklungsprozess hin zur Handlungsfähigkeit ist, ergibt sich eine biographische Gliederung des Sozialisationsprozesses in Phasen: Es ist darzulegen, in welchen Altersabschnitten typischerweise welche Entwicklungsaufgaben zu bewältigen sind. Beide Dimensionen sind in der weiter vorn zitierten Definition bereits angesprochen, sie sollen hier verdeutlicht werden.

Ebenen des Sozialisationsprozesses

Bisher wurde in eher globaler Weise die ‹Persönlichkeit› der ‹gesellschaftlich vermittelten Umwelt› gegenübergestellt. Nun tritt im Sozialisationsprozess dem Einzelnen ‹die› Gesellschaft aber nie in ihrer Totalität und Komplexität gegenüber, sondern das Individuum bewegt sich in konkreten sozialen Umwelten, die wiederum in größere Zusammenhänge eingebunden sind. Daraus ergibt sich ein Gefüge von Abhängigkeiten, das an einem Beispiel erläutert werden kann.

Die Erziehungspraktiken der Eltern lassen sich als unmittelbare Bedingungen der vorschulischen Sozialisation ansehen. Sie werden vor allem bestimmt von den Persönlichkeitsmerkmalen der Eltern, die wiederum vielfältig beeinflusst sind. Die Erfahrungen am Arbeitsplatz spielen dabei ebenso eine Rolle wie die gegenwärtigen Belastungen in der Familie. Nicht weniger bedeutsam sind die Entlastungen, die durch gesellschaftliche Erziehungseinrichtungen (z.B. Kinderkrippen, Kindergärten) geboten werden. Damit wird deutlich, dass Sozialisationsprozesse in Kleingruppen (Familie) und Institutionen (Betrieb, Kindergarten) eingebunden sind und davon auch beeinflusst werden. Diese wiederum sind Bestandteil eines umfassenden gesellschaftlichen Gefüges, sie werden durch gesamtgesellschaftliche Prozesse (etwa Flexibilisierung der Arbeitszeit) verändert, die wiederum in längerfristige historische Entwicklungen eingegliedert sind (Veränderung des Systems gesellschaftlicher Arbeit). Dies bedeutet: Die gesellschaftlichen und institutionellen Bedingungen der Subjektentwicklung sind nicht stabil, sondern ändern sich im historischen Prozess; dies gilt für den Wandel der Familie ebenso wie für die Veränderungen der Schule und für den Wandel der Medienwelt (vgl. Ecarius/​Fuchs/​Wahl 2008). Auf diese Weise wirken gesellschaftliche Strukturveränderungen z.B. auf die Interaktion zwischen Eltern und Kindern in der Familie und damit auf die Persönlichkeitsentwicklung des Kindes. An diesem Beispiel wird zum einen deutlich, dass soziale und ökonomische Grundstrukturen einer Gesellschaft (System der Arbeitsteilung, soziale Schichtung etc.) den Sozialisationsprozess beeinflussen; zugleich wird gezeigt, dass diese Grundstrukturen nicht direkt auf Heranwachsende einwirken, sondern einer Vermittlung z.B. über familiale Lebensbedingungen, über elterliches Handeln oder auch über spielerisches Lernen im Kindergarten bedürfen. Zwar sind all die genannten Faktoren als Sozialisationsbedingungen zu bezeichnen, weil sie von der gesellschaftlichen Seite her den Sozialisationsprozess beeinflussen. Doch diese Bedingungen – von ‹Sozialschicht› bis ‹mütterliche Zuwendung› – haben höchst unterschiedliche Konkretheitsgrade, ihr Verhältnis zueinander ist zunächst ungeklärt.

Um hier zu einer ersten groben Ordnung zu kommen, ist ein «Strukturmodell der Sozialisationsbedingungen». (Geulen/​Hurrelmann 1980, S.64) erforderlich. Ein solches Modell soll darstellen, in welchen systematischen Beziehungen die verschiedenen Faktoren stehen und in welcher Weise sie – direkt oder indirekt – auf die Persönlichkeitsentwicklung wirken. Vorarbeiten zu einem solchen Modell sind von verschiedenen Autoren geleistet worden (vgl. z.B. Rolff 1967, S.18f.; Bronfenbrenner 1976, S.203f.). Geulen und Hurrelmann (1980) führen diese Arbeiten fort, indem sie vier Ebenen des Sozialisationsprozesses unterscheiden und diesen Ebenen systematisch bestimmte Komponenten zuordnen. Ein solcher Modellentwurf ist als eine Art ‹Vorsortierung› der wichtigsten Faktoren des Sozialisationsprozesses zu verstehen. Er ist selbst noch keine Sozialisationstheorie, sondern ein «pragmatisches Raster für die weitere Theoriebildung». (ebd., S.64). Abbildung 1 zeigt in vereinfachter und modifizierter Form dieses pragmatische Raster.

Dabei werden die verschiedenen gesellschaftlichen Komponenten nach ihrer Nähe bzw. Ferne zum unmittelbaren Sozialisationsprozess (zur Subjektwerdung) geordnet:

Die erste Ebene wurde schon mehrfach als zentrale Betrachtungsperspektive benannt. Es geht um die Entwicklung der Individuen, um die Herausbildung von Persönlichkeitsmerkmalen und damit um Erfahrungsmuster und Einstellungen, um Wissen und um emotionale Strukturen. All diese Fähigkeiten leisten einen Beitrag, um das Subjekt handlungsfähig zu machen. Der Erwerb dieser Fähigkeiten vollzieht sich im gesellschaftlichen Austausch; denn der sich entwickelnde Mensch steht in Interaktion mit anderen Menschen und betreibt zugleich die handelnde Aneignung und Umgestaltung der dinglichen Umwelt (zunächst im Spiel, später auch in der Arbeit). Die zweite Ebene der unmittelbaren sozialisatorischen Umwelt lässt sich daher mit den Begriffen «Interaktionen und Tätigkeiten» fassen. In unserer Gesellschaft sind solche sozialisatorischen Umwelten überwiegend in Institutionen wie Kindergarten, Schule und Betrieb eingebettet (dritte Ebene). Bestimmte Institutionen sind ausschließlich zum Zweck der Sozialisation eingerichtet worden (z.B. die Schule), andere Institutionen haben andere Hauptaufgaben und erledigen die Sozialisation überwiegend ‹nebenbei› mit (etwa der Betrieb). Das Ganze wiederum ist Teil eines gesamtgesellschaftlichen Systems (vierte Ebene), in deren Zusammenhang sich Veränderungen institutioneller Strukturen und Bedeutungen vollziehen.1

[Bild vergrößern]

Abb. 1: Struktur der Sozialisationsbedingungen

Diese Skizzierung hat verdeutlicht, dass die Bedingungsebenen, die auf die Subjektentwicklung Einfluss nehmen, in einem hierarchischen Verhältnis zueinander stehen. Die jeweils höhere setzt die Rahmenbedingungen für die Strukturen und Abläufe in der nächst niedrigeren. Dass damit kein deterministisches Verhältnis gemeint ist, deuten die doppelseitigen Pfeile an: Strukturen und Abläufe der unteren Ebene wirken immer auch auf die nächsthöhere zurück und können dort Veränderungen bewirken. Auf diese Weise sind Prozesse der gesellschaftlichen Makroebene (gesamtgesellschaftliche Strukturen, Institutionen) mit Prozessen der Mikroebene (Interaktion, Subjektentwicklung) verknüpft. Es ist Aufgabe der Sozialisationsforschung, diese Verknüpfungen unter dem Aspekt ihrer Bedeutung für die Subjektentwicklung zu analysieren.

Die Gliederung in Ebenen strukturiert den Gegenstandsbereich und ist damit vorklärend für Forschung und Theoriebildung. Mit diesem Ebenenmodell wird zugleich der Anspruch verdeutlicht, dem sich eine umfassende Sozialisationstheorie stellen muss: Sie hat zum einen die eher psychologische Frage aufzuklären, wie sich Subjekte ihre unmittelbare soziale Umwelt aneignen und dabei ihre Persönlichkeitsstrukturen ausbilden. Zum anderen hat sie das eher soziologische Problem zu behandeln, welche Zusammenhänge zwischen diesen Umweltbedingungen und umfassenderen gesamtgesellschaftlichen Strukturen bestehen. Aufgabe einer Sozialisationstheorie ist es somit, dieses Strukturmodell zu ‹füllen› und dabei den Zusammenhang zwischen den Ebenen zu beschreiben. Ein solches Ebenen-Modell der Sozialisationsbedingungen ist gelegentlich als zu mechanistisch, zu stark vereinfachend kritisiert worden (vgl. z.B. Dausien 2002, S.47f.). Doch darf dabei nicht übersehen werden, dass damit lediglich eine erste ordnende Absicht verbunden ist: «Der Ertrag… liegt in der Bereitstellung eines gestaltgebenden Rahmens, dessen inhaltliche Füllung und empirische Anwendung vom jeweiligen Erkenntnisinteresse her zu systematisieren bleibt». (Dippelhofer-Stiem 2008, S.121). Dabei ist diese Aufgabenstellung stets auf das Problem der Persönlichkeitsentwicklung zu zentrieren; denn die Sozialisationstheorie hat nicht die generelle Beziehung zwischen der Gesamtgesellschaft und ihren Institutionen zu behandeln (das ist vielmehr Aufgabe der allgemeinen Soziologie), sondern sie sollte diesem Verhältnis nur in dem Maße nachgehen, in dem sich daraus Erklärungen für die psychische Entwicklung von Individuen gewinnen lassen. Im weiteren Verlauf wird zu zeigen sein, dass dieses Vier-Ebenen-Modell sozialisationstheoretisch mit ganz unterschiedlichen und zum Teil höchst kontroversen Entwürfen gefüllt wird. Mit diesem Ebenen-Modell wird jedoch keine Präferenz für den einen oder anderen Theorieansatz ausgesprochen, sondern an jeden Theorieansatz ein Anspruch formuliert, der sich aus der Grundstruktur des Sozialisationsprozesses ergibt: dass Persönlichkeitsentwicklung in gesellschaftlich umfassender Weise aufzuklären ist.

Phasen des Sozialisationsprozesses

Eine Analyse des gesellschaftlichen Gefüges führt somit dazu, das Sozialisationsfeld in Ebenen zu strukturieren. Die nicht weniger wichtige Betrachtung von Lebenslauf und Lebenszeit führt dazu, eine weitere grundsätzliche Strukturierung des Sozialisationsprozesses in Phasen vorzunehmen. Eine solche Strukturierung beginnt bei der Feststellung, dass die Ontogenese – also die Entwicklung des Einzelnen im Zuge des Älterwerdens – im Zentrum der Sozialisationsforschung steht. Dabei lassen sich vergangene Erfahrungen nicht ausradieren, sondern bilden den Horizont, vor dem neue Erfahrungen ihre Bedeutung gewinnen (vgl. Kohli 1991). Auch dies lässt sich an dem weiter vorn bereits angesprochenen Beispiel verdeutlichen: Verhaltensweisen von Eltern gegenüber einem Kleinkind sind einerseits erklärbar auf der Folie der strukturellen Einbindung dieser Familie in das gesellschaftliche System. Ebenso wichtig ist es aber, sie vor dem Hintergrund der bisherigen Lebenserfahrungen der Eltern zu sehen: Welche Erlebnisse der eigenen Kindheit, welche Bildungswege, welche Erfahrungen in der eigenen Ehe haben ihre Persönlichkeiten beeinflusst und finden nun ihren Niederschlag in ihrem Interaktionsverhalten gegenüber dem eigenen Kind? Diese Frage verdeutlicht, dass die ontogenetische Dimension des Lebenslaufs und das mit ihr verbundene Ineinandergreifen von früheren und späteren Erfahrungen für die Sozialisationstheorie eine zentrale Bedeutung besitzen (vgl. Faltermaier 2008).

Eine erste Berücksichtigung hat dieser Sachverhalt in der Unterscheidung von ‹primärer› und ‹sekundärer› Sozialisation gefunden. Dabei wird die frühe Sozialisation allein in der Familie (primär) von der nachfolgenden Sozialisation in Familie, Schule und Altersgruppe (sekundär) unterschieden. Dementsprechend wird für die Sozialisation im Erwachsenenalter gelegentlich der Begriff ‹tertiär› benutzt. Eine solche Unterscheidung erweist sich aber als viel zu grob; zur Konzipierung der Sozialisationsforschung sind hier differenziertere Modelle erforderlich. Diese setzen bei der Feststellung an, dass in jeder Gesellschaft Lebensläufe sozial vorstrukturiert sind. Dabei gibt es nur sehr wenige Sequenzen, die interkulturell stabil sind (z.B. die Unterscheidung zwischen Kind und Erwachsenem). Bereits die uns völlig selbstverständliche Altersphase ‹Jugend› ist genauso ein Produkt gesellschaftlicher Entwicklungen (vgl. Kap. 4.1) wie die Lebenssituation des ‹Rentners›. Über zeitliche Phasen des Sozialisationsprozesses lässt sich somit nicht anthropologisch-allgemein, sondern nur historisch-konkret sprechen. Dabei gilt für differenzierte Gesellschaften (wie die unsrige), dass Lebensläufe in hohem Maß institutionell vorgeprägt werden: Wer einen Facharbeiterberuf ausüben will, muss vorher eine berufliche Lehre durchlaufen haben. Wer Arzt werden will, muss vorher die Universität besuchen und Medizin studieren. Wer das 6.Lebensjahr erreicht hat, muss die allgemeinbildende Schule besuchen und darf sie nicht vor dem 15.Lebensjahr verlassen. Mit diesen gesellschaftlich-institutionellen Sequenzsetzungen sind biologische Prozesse des Älterwerdens verknüpft. Von phasenbestimmender Bedeutung sind diese jedoch nur in sehr frühen und sehr späten Lebensjahren; so sind die verschiedenen Etappen der kindlichen Entwicklung (Säuglingsalter, Krabbelalter etc.) stark durch biologische Reifungen bedingt, andererseits setzt im hohen Alter ein körperlich bedingter Abbau von Fähigkeiten ein. Doch auch hier werden körperliche Entwicklungen von institutionellen Phasierungen begleitet oder gar überlagert; denn Kinderkrippe, Kindergarten und Altersheim sind institutionelle Formen, mit denen in unserer Gesellschaft die Lebensweisen in bestimmten Altersabschnitten organisiert und damit auch die Erfahrungsinhalte vorbestimmt werden. Dabei werden die Übergänge zwischen den verschiedenen Sequenzen als besonders bedeutsam für die Persönlichkeitsentwicklung angesehen, weil sie häufig zu einer Veränderung von Einstellungen, zur Aneignung neuer Normen und damit zum Aufbau einer geänderten Identität führen (vgl. Faltermaier u.a. 2002).

Vor dem Hintergrund dieser grundlegenden Einsichten haben Friedrichs/​Kamp (1978, S.178) versucht, auf empirischem Weg ein soziologisches Modell der Phasierung des Lebenslaufs zu entwerfen. Auf der Grundlage der amtlichen Bevölkerungsstatistik von 1976 stellen sie fest: 99Prozent der bundesrepublikanischen Menschen erleben im 6.Lebensjahr die Einschulung und zwischen dem 15. und 19.Lebensjahr die Schulentlassung, die meisten von ihnen treten dann in eine berufliche Ausbildung ein. Wie sich der Zeitpunkt und das Ausmaß des Eintritts in eine Berufsausbildung als Teil einer «Normalbiographie» seit Ende des Zweiten Weltkriegs verschoben hat, hat Blossfeld (1989, S.70ff.) in einer Kohortenanalyse aufgezeigt. 90Prozent verlassen zwischen dem 18. und dem 20.Lebensjahr das Elternhaus, 80Prozent heiraten, das durchschnittliche Alter bei der ersten Eheschließung liegt bei etwa 25Jahren. Damit sind bereits die Lebenssituationen gekennzeichnet, die von (fast) allen Mitgliedern dieser Gesellschaft durchlaufen werden. Andere Phasen und Ereignisse (z.B. Geburt des eigenen Kindes) kommen zwar in den meisten, aber längst nicht in allen Lebensläufen vor. Schließlich gibt es wichtige biographische Einschnitte (z.B. Aufnahme eines Studiums, eigene Ehescheidung), die nur von einer Minderheit der Bevölkerung selbst erlebt wird. Dabei verzweigen sich mit zunehmendem Alter Lebensläufe immer häufiger: Während alle 13-Jährigen einheitlich als Schüler anzusprechen sind, gibt es für eine 40-Jährige sehr unterschiedliche Lebenssituationen. Sie kann als Hausfrau und Mutter, aber auch als ledige Berufstätige ohne Kinder leben. Sie kann in zweiter Ehe verheiratet, sie kann aber auch bereits Witwe sein. Kurz: Mit zunehmendem Alter ist die sequenzielle Reihung von Lebensereignissen weniger eng vorbestimmt, sodass die Skizzierung einer ‹Normalbiographie› immer schwieriger wird (vgl. Kohli 1991, S.313). Es kommt hinzu, dass in den letzten Jahrzehnten die Abfolge der Rollen und Ereignisse im Lebenslauf zunehmend flexibler wurden: Die «Altersnormen wurden weniger verbindlich, sie wirken jedoch durchaus weiter». (Faltermaier 2008, S.164).

Einen anderen Zugang zur Untergliederung des Lebenslaufs bietet die Entwicklungspsychologie. Sie hat sich in ihrer langen Forschungstradition immer wieder mit der Frage befasst, welche Altersabschnitte aufgrund einer gemeinsamen Lebensthematik sinnvoll zu Phasen zusammengefasst werden können. Dabei hat sie zunehmend die Einsicht übernommen, dass Lebensphasen immer auch durch gesellschaftliche Bedingungen definiert werden (vgl. z.B. Elder 2000). Insofern hat hier eine Angleichung psychologischer und soziologischer Betrachtungsperspektiven stattgefunden. Legt man das wichtige Lehrbuch zur Psychologie (Zimbardo/​Gerring 2004, S.439) zugrunde, so findet sich dort eine Unterscheidung zwischen Säugling (1.Lebensjahr), früher Kindheit (2. bis 6.Lebensjahr) und später Kindheit (6. bis 13.Lebensjahr). Daran schließt sich die Jugendphase an, deren Beginn etwa mit dem 13.Lebensjahr angesetzt wird. Fasst man diese entwicklungspsychologischen Einordnungen mit der zuvor zitierten soziologischen Forschung zum Lebenslauf zusammen und fügt dem die Erkenntnisse über die Bedeutung unterschiedlicher Institutionen in unterschiedlichen Lebensphasen hinzu, so ist es auch hier möglich, das Sozialisationsfeld durch ein heuristisches Modell vorläufig zu strukturieren.

[Bild vergrößern]

Abb. 2: Phasen des Sozialisierungsprozesses

Für dieses Phasenmodell gilt die gleiche Einordnung, wie sie zuvor für das Strukturmodell vorgenommen wurde: Die Reihung der verschiedenen Lebensphasen, der Verweis auf ihre wechselseitigen Abhängigkeiten und ihre individuelle biographische Verknüpfung beschreiben einen Grundsachverhalt des Sozialisationsprozesses. Damit wird keine spezifische Sozialisationstheorie entworfen, sondern auf einen unhintergehbaren Grundsachverhalt hingewiesen, der sich aus dem Älterwerden von Menschen in dieser Gesellschaft ergibt. Es ist Aufgabe der Sozialisationsforschung, die damit verbundenen Zusammenhänge und Abhängigkeiten aufzuklären. An sozialisationstheoretische Entwürfe ist damit die grundsätzliche Anforderung zu stellen, dass sie auch darzustellen haben, wie sich Kompetenzen und Persönlichkeitsstrukturen in der Genese der verschiedenen Phasen verändern und wie dabei die Erfahrungen der einen Phase die der nächsten beeinflussen.

1.2Sozialisationstheorie

In dem vorangegangenen Abschnitt wurde der Gegenstandsbereich ‹Sozialisation› so abgegrenzt und strukturiert, dass er wissenschaftlich bearbeitbar erscheint. Darüber hinaus wurde verdeutlicht, welche Implikationen über das Subjekt-Umwelt-Verhältnis sich mit dem Sozialisationsbegriff verbinden. Aufgrund dieser Überlegungen konnten bereits Anforderungen an eine Sozialisationstheorie formuliert werden: Sie habe das Verhältnis zwischen den verschiedenen gesellschaftlichen Ebenen zu erklären, müsse systematisch die ontogenetische Dimension des Lebenslaufs berücksichtigen und soll von einem aktiv aneignenden Subjekt ausgehen. Nun sind solche Anforderungen an eine Sozialisationstheorie im Grunde zu früh gestellt; denn zunächst muss erläutert werden, was denn unter einer Theorie verstanden werden soll, wie sie erstellt werden kann, was sie leisten soll. Mit anderen Worten: Nachdem erläutert wurde, was unter Sozialisation zu verstehen ist, gilt es nun, in ähnlicher Weise den Theoriebegriff zu klären. Das Zusammenfügen beider Überlegungen soll dann zu einem hinreichenden Vorverständnis darüber führen, was Sozialisationstheorien sind und was sie leisten können.

Auf die Frage, was denn eine Sozialisationstheorie ist, lässt sich eine erste und nur sehr vorläufige Antwort formulieren: Weil Sozialisation weder unmittelbar sinnlich fassbar noch dinglich greifbar ist, kann man darüber nur nachdenken und reden, wenn man sich begriffliche Vorstellungen macht, die zugleich bildhaft und abstrakt sind (vgl. Hurrelmann 2002, S.155). Solche Vorstellungen lassen sich als Modelle bezeichnen; sie gehen von Erfahrungen aus und formulieren in verallgemeinernden Begriffen Erkenntnisse, die sich auf die gesellschaftliche Beeinflussung der Persönlichkeitsentwicklung beziehen. Jedem von uns sind alltagssprachliche Aussagen bekannt, in denen solche modellhaften Vorstellungen auftauchen: «Die Jugend heute will sich nicht mehr anstrengen.» – «Zu viel Fernsehen schadet der Konzentrationsfähigkeit.» Derartige Aussagen von Alltagserfahrungen sind nicht gemeint, wenn von einer Theorie gesprochen wird. Zwar sind solche Verallgemeinerungen nie ganz falsch, aber immer willkürlich und beliebig, oft einseitig und daher kurzschlüssig. Im Kontrast dazu ist an wissenschaftliche Theorien der Anspruch zu stellen, dass dort die Begriffs- und Modellbildung in systematischer, kritischer und nachvollziehbarer Weise erfolgt. In einer ersten Annäherung lässt sich somit eine Theorie als ein nach wissenschaftlichen Prinzipien erstelltes Aussagesystem bezeichnen. Eine Sozialisationstheorie ist demnach ein wissenschaftliches Aussagesystem, das sich mit dem (zuvor definierten) Gegenstandsbereich Sozialisation befasst.

Mit dieser Formulierung ist das angesprochene Problem aber keinesfalls gelöst, sondern lediglich verschoben; denn erst jetzt stellt sich die Frage, wann ein Aussagesystem als ‹wissenschaftlich› gelten kann und daher als Theorie bezeichnet werden darf. Indem wir in solche Überlegungen eintreten, wird die Theorie zum Gegenstand des Nachdenkens gemacht: Wir denken nicht mehr über einen Ausschnitt der sozialen Realität (Sozialisation) nach, sondern reflektieren jetzt über Theorien über soziale Realität. Ein solches Denken wird als metatheoretisch bezeichnet. Es ist an dieser Stelle hilfreich, die verschiedenen Ebenen des Theoretisierens präzise auseinanderzuhalten: Wir haben es mit einer Objektebene zu tun, den real ablaufenden Sozialisationsprozessen. Darüber gelagert ist die Ebene der Objekttheorie: ein strukturiertes Gefüge von Aussagen über den Gegenstandsbereich, das als Sozialisationstheorie bezeichnet wird. Welche Kriterien eine solche Objekttheorie erfüllen muss, ist ein Problem der Metatheorie.

[Bild vergrößern]

Die Frage nach den wissenschaftlichen Regeln und den damit verbundenen Ansprüchen an eine Theorie ist ein metatheoretisches Problem. Wir betreten das Gebiet der Wissenschaftstheorie, in dem über logische und methodische Grundlagen von wissenschaftlichen Theorien und Vorgehensweisen nachgedacht wird. Der Ort unserer Frage lässt sich somit genau bestimmen, die Antwort dagegen ist äußerst schwierig zu geben; denn im Unterschied etwa zur Physik2 gibt es in den Erziehungs- und Sozialwissenschaften keine Einigkeit über ein gemeinsames wissenschaftstheoretisches Grundkonzept. Im Gegenteil, unterschiedliche Wissenschaftsauffassungen konkurrieren miteinander oder bekämpfen sich sogar. Die Vorgehensweise bei der Theoriebildung, die der eine Wissenschaftler für richtig und einzig sinnvoll hält, kann von einem anderen als völlig falsch, nutzlos oder gar schädlich angesehen werden. Dieser Streit ist kein aktueller, sondern begleitet Psychologie, Soziologie und Pädagogik (und damit auch die Sozialisationstheorie) seit Beginn des 20.Jahrhunderts. Er ist eng verknüpft mit der Entstehung bestimmter theoretischer Grundparadigmen (Psychoanalyse, Behaviorismus, Marxismus etc.), die jeweils ihre eigenen metatheoretischen ‹Überzeugungen› und damit ihre spezielle Vorstellung von Aufbau und Funktion einer Theorie haben. Metatheoretisch strittig sind dabei vor allem die folgenden Fragen:

Wie lassen sich Erkenntnisse über soziale Wirklichkeit gewinnen? Was wird als ‹Datengrundlage› akzeptiert, was nicht?

Wie lassen sich Verallgemeinerungen vollziehen? Wann gilt eine theoretische Aussage als hinreichend abgesichert?

Ist es notwendig, ist es erlaubt, Wertungen und normative Setzungen in den Forschungs- und Theoriebildungsprozess einzubringen?

Welches Erkenntnisinteresse fließt in Forschung und Theoriebildung ein, welches gesellschaftliche Interesse soll (darf) damit verfolgt werden?

Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auch nur annähernd auf diese wissenschaftstheoretischen Probleme im Einzelnen einzugehen (vgl. dazu Geulen/​Veith 2004). Hier soll lediglich an einem Beispiel verdeutlicht werden, wie unterschiedlich die angesprochenen Fragen beantwortet werden können.

1.2.1Zur Theoriediskussion in den Sozialwissenschaften

Eine der bekanntesten – und nach wie vor bedeutsamsten – metatheoretischen Auseinandersetzungen um die Anforderungen an sozialwissenschaftliche Theoriebildung ist der «Positivismusstreit in der deutschen Soziologie». (vgl. Adorno u.a. 1972). Die eine Position in diesem Streit wird von den Sozialwissenschaftlern eingenommen, die sich dem positivistischen Wissenschaftsprogramm des Kritischen Rationalismus verpflichtet fühlen (vor allem Popper, Albert). Dieses metatheoretische Konzept ist auch für die Sozialisationsforschung von erheblicher Bedeutung (vgl. Beer/​Bittlingmayer 2008, S.63f.), weil einige der noch zu behandelnden Basistheorien (behavioristische Lerntheorie, struktur-funktionale Rollentheorie) sich eng daran orientieren. Die andere Position im Positivismusstreit wird von den Vertretern der Kritischen Theorie (vor allem Horkheimer, Adorno, Habermas) eingenommen. Auch dieses metatheoretische Konzept ist von erheblicher Bedeutung, weil es vor allem in interaktionistische und materialistische Sozialisationskonzepte Eingang gefunden hat.

Im Kritischen Rationalismus ist die Forschung vor allem auf die Ermittlung und Analyse von beobachtbaren Fakten, Ereignissen und Sachverhaltenangelegt. Eine solche wissenschaftstheoretische Grundhaltung, die davon ausgeht, die Quelle aller Erkenntnis seien allein die durch Beobachtung des Gegebenen gewonnenen ‹positiven› Tatsachen, wird seit Comte (1798–1857) als Positivismus bezeichnet (vgl. Klaus/​Buhr 1971, S.856f.). Positivistische Forschung der Gegenwart ist im strengen Sinn empirisch-statistisch angelegt, sie beginnt bei der Operationalisierung von Begriffen und der Formulierung von Hypothesen. Mit kontrollierten Messverfahren (z.B. Fragebogen, Verhaltensbeobachtungen) werden solche Hypothesen auf ihre Übereinstimmung mit der beobachtbaren Wirklichkeit getestet. Auf diese Weise entstehen als gesichert geltende Teilerkenntnisse, die auch als empirische Gesetze bezeichnet werden. Davon ausgehend wird als Theorie eine Menge von Gesetzen bezeichnet, die durch logische Ableitbarkeitsbeziehungen miteinander verbunden sind (vgl. Friedrichs 1983, S.60ff.). Ein solches empirisches Gesetz – und damit die Teilaussage einer positivistischen Sozialisationstheorie – könnte z.B. lauten: «Je größer der Alkoholkonsum in einer Familie ist, desto häufiger treten bei den Kindern Verhaltensstörungen auf.» Und weiter: «Je länger bei Erwachsenen Arbeitslosigkeit andauert, desto größer ist der Alkoholkonsum.» In diesem Sinn besteht eine Theorie aus einer Vielzahl von Sätzen, die ständig durch Forschung an der Erfahrung geprüft, d.h. entweder vorläufig angenommen oder aber falsifiziert (als falsch zurückgewiesen) werden. Diese Forschungs- und Theoriearbeit zielt darauf ab, mit der Zeit immer mehr empirische Gesetze zusammenzufügen und damit immer größere Bereiche der sozialen Realität abzubilden. Die Erarbeitung einer allgemeinen Theorie der Sozialisation scheint auf diesem Wege möglich. Ihre wissenschaftliche Erstellung ist an das Postulat der Werturteilsfreiheit geknüpft: Über den Gegenstandsbereich sind nur beschreibende oder analysierende, keinesfalls jedoch normative Aussagen gestattet. Über pädagogische Normen und ihre Wirkungen darf zwar geforscht werden, die Bejahung (oder Ablehnung) bestimmter Erziehungsziele ist im Rahmen der wissenschaftlichen Theorie jedoch nicht zulässig. Aufgabe einer so entwickelten Theorie ist die Erklärung (vergangener Ereignisse), die Prognose (künftiger Ereignisse) und der Hinweis auf Technologien (pädagogische Maßnahmen), um erwünschte Ereignisse herbeiführen und unerwünschte verhindern zu können. In diesem technologischen Verständnis hat eine Sozialisationstheorie Mittel zu liefern, um Subjekte möglichst wirksam und effektiv in eine vorgedachte Richtung (die wissenschaftlich aber nicht bewertet werden darf) beeinflussen zu können.

Im Gegensatz zu diesem positivistischen Verständnis einer angeblich wertfreien Forschung und Theoriebildung beginnt für die Vertreter der Kritischen Theorie der wissenschaftliche Prozess mit der grundsätzlichen Kritik der bestehenden Verhältnisse: Während die ‹traditionelle›. (positivistische) Theorie lediglich die gesellschaftlichen Erscheinungen abbildet, ist es Aufgabe der Kritischen Theorie, hinter diesen Erscheinungen das ‹Wesen› der Gesellschaft zu erkennen. Während die traditionelle Theorie die «herrschenden Denkgewohnheiten (stützt), die zum Fortbestehen der Vergangenheit beitragen und die Geschäfte der überholten Ordnung besorgen». (Horkheimer 1968, S.37), zielt die Kritische Theorie auf eine Kritik dieser herrschenden Verhältnisse und der mit ihr verbundenen Ideologien. Die Kritische Theorie ist damit dem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse verpflichtet: Wissenschaft orientiert sich am

«Interesse des Menschen an der Erweiterung und Erhaltung der Verfügung über sich selbst… Es zielt auf die Aufhebung und Abwehr irrationaler Herrschaft, auf die Befreiung von Zwängen aller Art. Zwingend wirkt nicht nur materielle Gewalt, sondern auch die Befangenheit in Vorurteilen und Ideologien. Diese Befangenheit läßt sich wenn nicht völlig lösen, so doch vermindern, durch die Analyse ihrer Genese, durch Kritik und Selbstreflexion». (Lempert 1971, S.318).

Den Vertretern der Kritischen Theorie geht es also nicht um ‹wertfreie› Ergebnisse, sondern um Erkenntnisse, die auf Aufklärung über die herrschenden, unterdrückenden Verhältnisse zielen und dabei die Perspektive einer besseren, in Vernunft geordneten Gesellschaft wissenschaftlich mitreflektieren. Den Positivisten und ihrem Wissenschaftsverständnis wird vor allem vorgeworfen, zu einem solchen Prozess der Aufklärung nichts beizutragen, sondern – im Gegenteil – die bestehenden Verhältnisse zu stabilisieren. Diese Kritik lässt sich vor allem in vier Punkten konkretisieren (vgl. Keckeisen 1983, S.125f.):

Positivistische Wissenschaft tut so, als sei die naturwissenschaftliche Unterscheidung zwischen dem erkennenden Subjekt (dem Forscher) und dem zu erforschenden Gegenstand umstandslos auf die soziale Wirklichkeit zu übertragen. Auf diese Weise wird jedoch verhindert, dass der Entstehungs- und Wirkungszusammenhang der Wissenschaft selbst zum Gegenstand der Reflexion wird.

Positivistische Wissenschaft erhebt den Anspruch, zu einer rationalen Wirklichkeitserkenntnis zu gelangen. Sie hat metatheoretisch jedoch schon vorentschieden, was sie als Wirklichkeit akzeptiert: mess- und beobachtbare Faktoren, die sich in Wenn-dann-Beziehungen bringen lassen. Wirklichkeit erscheint wissenschaftlich allein in dieser Form, alle anderen, häufig tiefer liegenden Formen der Realität werden ausgeklammert.

Die Praxis wird von Positivisten ausschließlich als Beherrschung von (natürlichen, psychischen oder sozialen) Prozessen gedacht; die Theorie hat für diese Beherrschung die richtigen Mittel bereitzustellen. Pädagogisches Handeln wird damit als eine möglichst effektive Fremdbestimmung von Heranwachsenden definiert, deren Subjekthaftigkeit taucht in einem solchen technologischen Verständnis nicht mehr auf. Das positivistische Postulat der Werturteilsfreiheit schließt aus, dass mit wissenschaftlichem Anspruch über künftige Zustände (der Gesellschaft, des Einzelnen) nachgedacht werden darf. Damit wird das Denken auf das Reale, das Machbare, das Bewährte festgelegt. Zugleich wird gleichsam unter der Hand das effektive Verfahren, die funktionierende Technologie, als Wertorientierung eingeführt.

Während die Kritische Theorie eine differenzierte Kritik des Positivismus vorgelegt hat, ist das Wissenschaftsprogramm, das sie selbst verfolgt, methodisch weit weniger klar ausgearbeitet. Keckeisen beschreibt die hierzu in der Kritischen Theorie entwickelten Ansätze als erfahrungswissenschaftlich verfahrende Ideologiekritik (vgl. 1983, S.128) und skizziert, in welcher Weise sich danach Forschung und Theoriebildung ausrichten lassen. Dieses Wissenschaftsprogramm knüpft bei dem emanzipatorischen Erkenntnisinteresse an und beginnt mit einer metatheoretischen Vorstrukturierung des Gegenstandsbereichs: Auf der einen Seite wird die gesellschaftliche Objektivität (gesellschaftliche Klassen, Institutionen, Herrschaftsstrukturen) gesehen: Die Bedingungen des Sozialisationsprozesses werden «den erkennenden und handelnden Menschen als ein Ensemble äußerlicher Faktoren» gegenübergestellt. Diese gesellschaftlichen Bedingungen, so wird unterstellt, wirken «als Restriktionen, Barrieren oder Unterdrückungsmechanismen auf die Menschen» ein, sodass sie in ihrer «Subjektivität und Möglichkeit» eingeschränkt, behindert und benachteiligt werden (Keckeisen 1983, S.127). In einem solchen Verständnis hat Sozialisationsforschung die Aufgabe, den Prozess der Subjektwerdung unter den geschilderten entfremdeten und unterdrückenden Bedingungen zu rekonstruieren. Wie und wo werden Subjekte deformiert, wie und wo übernehmen sie dabei die herrschenden Ideologien? Eine solche Forschung kann sich nicht darauf beschränken, in positivistischer Manier Lebensäußerungen einfach abzubilden (und statistisch zu verrechnen). Vielmehr gilt es, in verstehender und interpretierender Weise hinter die «Fassade» ideologisch gefärbter Lebensäußerungen zu schauen und sie «als Momente des gesellschaftlichen Arbeits- und Gewaltzusammenhangs». (ebd.) sichtbar zu machen. Als Material für eine solche Forschung eignen sich vor allem umfassende Lebensäußerungen von Subjekten (narrative Interviews, biographische Materialien etc.), als Methode werden seit einiger Zeit dafür unterschiedliche hermeneutisch-interpretative Verfahren entwickelt (vgl. z.B. Friebertshäuser/​Prengel 1997).

Somit ist auch die Forschung auf dem Boden der Kritischen Theorie zu nicht unerheblichen Teilen ein empirisches Vorgehen: Zur Ermittlung der äußeren Bedingungen der Sozialisation lassen sich neben anderen auch empirisch-statistische Verfahren einsetzen, für die Erforschung von Subjektivität wird hingegen ein eigenes Methodenrepertoire entwickelt, das sich deutlich von positivistischen Methoden absetzt. Als Sozialisationstheorie im Rahmen dieses Wissenschaftsprogramms lässt sich damit ein Aussagesystem bezeichnen, das grundsätzlich von entfremdeten gesellschaftlichen Verhältnissen ausgeht und dabei in dialektischer Weise aufzeigt, wie einerseits diese entfremdeten Verhältnisse die Entwicklung von Subjektivität behindern oder gar zerstören, das andererseits aber deutlich macht, wie und wo Subjekte widerständig sind und wie sie die bewusste Verfügung über ihr Leben erweitern. Ein solches Aussagesystem ist in der Sicht der Kritischen Theorie gehaltvoll, weil es im emanzipatorischen Sinne dazu beitragen kann, die Aufhebung von Abhängigkeit und überflüssiger Herrschaft zu befördern. Ein Vertreter des Kritischen Rationalismus würde jedoch entgegnen, dass hier politische Wertungen und wissenschaftliche Aussagen in völlig unzulässiger Weise vermischt werden. Er würde darauf verweisen, dass die Grundthese von den ‹entfremdeten gesellschaftlichen Verhältnissen› weder empirisch bewiesen noch jemals beweisbar ist, sodass es sich um nichts anderes als um eine politische Behauptung handele. Dem Interesse der Kritischen Theorie an der Aufhebung von Abhängigkeiten schließlich würde (bzw. wird) entgegengehalten: «Wer Wissenschaft betreibt, will Erkenntnisse gewinnen, nicht die Welt gestalten oder Menschen beeinflussen. Er verhält sich theoretisch, nicht praktisch». (Brezinka 1972, S.21). Kurz, die metatheoretische Kritik zwischen Kritischem Rationalismus und Kritischer Theorie ist wechselseitig, jede Seite hält bestimmte Grundprinzipien der anderen Seite für grundfalsch und verteidigt zugleich das eigene Vorgehen.

Nun ist der Positivismusstreit wohl der bekannteste, aber keineswegs der einzige wissenschaftstheoretische Streit in den Sozialwissenschaften. In ähnlicher Weise ließe sich über prinzipielle metatheoretische Dispute zwischen Marxisten (vgl. Kap. 3.4) und Interaktionisten (vgl. Kap. 3.3) oder zwischen Behaviorismus (vgl. Kap. 2.3) und Psychoanalyse (vgl. Kap. 2.2) berichten. Schließlich haben seit den 1990er Jahren Konzepte einer konstruktivistischen Sozialisationstheorie erhebliche (meta)theoretische Debatten ausgelöst (vgl. Grundmann 1999). Die Frage nach den Ansprüchen an eine Theorie ist somit ein weites, komplexes und äußerst strittiges Feld, das hier nur in Ansätzen angesprochen werden konnte. Der beispielhafte Bericht über den Positivismusstreit hat gezeigt, wie solche Streitlinien verlaufen können, welche wissenschaftstheoretischen Probleme dabei angesprochen und welch unterschiedliche Theoriebegriffe dabei vertreten werden.

1.2.2Anforderungen an eine Sozialisationstheorie

In einem einführenden Buch kann es nicht darum gehen, zwischen solchen Streitpositionen entscheiden zu wollen: Solange die sozialisationstheoretische Diskussion von konkurrierenden Konzepten bestimmt wird (vgl. Veith 2008), muss das hier gewählte Verständnis von Theorie so umfassend sein, dass keiner dieser Ansätze über metatheoretische Vorentscheidungen ausgeschlossen wird. Gleichzeitig bedarf es einer eingrenzenden Begriffsbestimmung, damit alltägliche Meinungsbekundungen begründet von einer Theorie unterschieden werden können. Dabei ist das von Th. Schulze vorgeschlagene Verfahren hilfreich. Er fragt nicht nach den Unterschieden zwischen den verschiedenen metatheoretischen Ansprüchen an eine Theorie, sondern – im Gegenteil – nach Gemeinsamkeiten eines wissenschaftlichen Vorgehens. In mehreren Punkten formuliert er grundlegende Merkmale einer wissenschaftlichen Theorie im sozialen Feld. Es handelt sich damit um eine Art Minimalkatalog von Anforderungen, jede wissenschaftstheoretische Richtung wird darüber hinaus ihre spezifischen Ansprüche erheben. Die Formulierungen von Schulze helfen, die Behandlung eines äußerst komplexen Problems in einer vorläufigen Weise abzuschließen. Im Rahmen dieses Buchs wollen wir als wissenschaftliche Aussagesysteme – als Theorien – solche Konzepte akzeptieren, die die meisten der folgenden Kriterien erfüllen:

(1) «Daten: Sie berufen sich nicht allein auf persönliche Eindrücke und Erfahrungen. Sie versuchen, ihre Annahmen und Aussagen auf systematisch gesammelte, empirische Daten zu stützen.»

(2) «Konzepte: Sie versuchen, für den Gegenstandsbereich ein umfassendes Konzept zu entwerfen, ein Modell zu konstruieren, das einen logischen Zusammenhang herstellt zwischen den einzelnen Erscheinungen und in vernünftiger Weise erklärt, was in diesem Bereich geschieht. Sie geben darüber hinaus zu verstehen, daß solche Konzepte nur Konstruktionen der Wirklichkeit sind und nicht diese Wirklichkeit selbst.»

(3) «Reflexion: Sie suchen die einzelnen Schritte, die zu der Konstruktion geführt haben, zu kontrollieren und für andere nachvollziehbar zu machen. Sie enthalten Reflexionen über das methodische Vorgehen, über die Voraussetzungen, auf denen sie beruhen und über die Reichweite und Geltung der gemachten Annahmen und Aussagen.»

(4) «Diskussionen: Sie setzen ihre Annahmen und Aussagen Einwänden und widersprechenden Tatsachen und Erfahrungen aus. Sie bringen sie in einen Diskussionszusammenhang ein, beziehen sich auf vorausgegangene Untersuchungen und Überlegungen.»

(5) «Fragen und Kritik: Sie gehen von einer Fragestellung aus, wollen etwas herausfinden, zu neuen Erkenntnissen gelangen, die ihrerseits neue Handlungsmöglichkeiten eröffnen oder gewohnte Handlungsweisen besser verstehbar machen. Sie betrachten ihren Gegenstand kritisch, aber im Sinne einer neugierigen, konstruktiven Kritik, die noch offen und auf eine Erweiterung unserer Vorstellungen und Pläne gerichtet ist». (Schulze 1980, S.40).

Vor diesem Hintergrund lässt sich nun auch festlegen, was unter einer Sozialisationstheorie verstanden werden soll: ein nach solchen wissenschaftlichen Kriterien erstelltes Gefüge von Begriffen, Annahmen und Aussagen, das sich auf den Gegenstandsbereich Sozialisation (wie er zuvor definiert wurde) bezieht. Eine solche Sozialisationstheorie muss in verallgemeinernder und modellhafter Weise die real ablaufenden Sozialisationsprozesse beschreiben und ihre Wirkzusammenhänge erklären.

Diese allgemeinen Anforderungen an eine sozialwissenschaftliche Theoriebildung sind zu ergänzen durch die spezifischen Ansprüche, die sich aus dem Gegenstandsbereich Sozialisation und aus dem damit verbundenen Verständnis des Sozialisationsprozesses ergeben. Diese Ansprüche an eine Sozialisationstheorie wurden weiter vorn bereits begründet; sie sollen hier noch einmal zusammenfassend aufgeführt werden, weil sie für die Bewertung der in den folgenden Kapiteln vorzustellenden Theoriekonzepte von erheblicher Bedeutung sind:

(1) Eine Sozialisationstheorie muss von einem umfassenden Verständnis von ‹Persönlichkeit› ausgehen und in modellhafter Weise auch innerpsychische Prozesse beschreiben können. Sozialisationstheoretische Konzepte dürfen nicht hinter die Erkenntnisse zurückfallen, die dazu in der Psychologie erarbeitet wurden.

(2) Eine Sozialisationstheorie muss von einem aktiv handelnden Subjekt ausgehen, das von den Umständen nicht einfach ‹geprägt› oder überwältigt wird, sondern sich seine Umwelt aneignet und sich dabei selbst verändert.

(3) Eine Sozialisationstheorie muss erklären können, wie die aktive Auseinandersetzung mit der Umwelt auf die innerpsychischen Persönlichkeitsmerkmale wirkt – und wie Persönlichkeitsmerkmale das aktive Handeln beeinflussen.

(4) Eine Sozialisationstheorie hat zu berücksichtigen, dass Sozialisation als Prozess zugleich zur Vergesellschaftung und Individuierung führt. Dies vollzieht sich in Phasen und Sequenzen, die in biographischer Abhängigkeit zueinander stehen. Aufgabe der Theorie ist es, diese Abhängigkeiten aufzuklären.

(5) Eine Sozialisationstheorie hat zu erklären, wie die verschiedenen Bedingungen der sozialen Umwelt den Prozess der Persönlichkeitsentwicklung beeinflussen. Dazu ist es erforderlich, das Bedingungsgefüge zu strukturieren und die Abhängigkeit der verschiedenen Ebenen voneinander zu erklären.

Mit diesen fünf Punkten haben wir die Ansprüche formuliert, die gegenwärtig an sozialisationstheoretische Konzepte gerichtet werden: Wir haben damit den ‹entwickelten› Stand der sozialisationstheoretischen Diskussionen referiert, der sich von früheren Phasen durchaus unterscheidet.3 Diese Ansprüche werden in der Gemeinschaft der Sozialisationsforscher relativ konsenshaft vertreten, ohne dass damit bereits ein bestimmter Theorieentwurf präferiert wird; vielmehr handelt es sich um metatheoretische Anforderungen, der sich alle theoretischen Entwürfe zu stellen haben. Weil diese Anforderungen äußerst anspruchsvoll formuliert sind, liegt gegenwärtig kein Theorieentwurf vor, der all diese Kriterien erfüllt. Allerdings wird mit diesen Kriterien die Richtung angegeben, in die sich die künftige Theoriearbeit bewegen muss, um zu der angestrebten umfassenden Sozialisationstheorie zu gelangen.

1.2.3Zur Methodendiskussion in der Sozialisationsforschung

Mit dieser Beschreibung der Anforderungen an eine Sozialisationstheorie wird zugleich auch deutlich, welche Rolle der Sozialisationsforschung zufällt: Sie ist als ein geregeltes methodisches Verfahren zu verstehen, durch das die soziale Wirklichkeit so analysiert wird, dass die unmittelbar nicht sichtbaren Sozialisationsvorgänge aufgedeckt und in ihren Zusammenhängen erkennbar werden. Sozialisationstheorie und Sozialisationsforschung stehen dabei in einem dauerhaften Wechselverhältnis: Im Kontext der theoretischen Modellvorstellungen werden Fragestellungen entwickelt, die zu einer methodisch angeleiteten Analyse ausgewählter Sozialisationsvorgänge führen. Die Forschungsergebnisse wiederum sollen dazu beitragen, dass Modellvorstellungen präzisiert, modifiziert, erweitert oder auch verworfen werden, um dann wieder den Ausgangspunkt für den nächsten Forschungsschritt zu bilden. Dabei ergeben sich aus dem zuvor entwickelten Verständnis von Sozialisation grundsätzlich Anforderungen an das methodische Vorgehen: Die Bedingungen der äußeren Realität (Umwelt) und die psychischen Zustände der inneren Realität (Persönlichkeit) müssen in ihren Veränderungsprozessen so erfasst werden, dass eine Analyse des Wechselspiels zwischen diesen beiden Größen möglich wird (vgl. Boehnke/​Hadjar 2008).

Inzwischen haben sich wissenschaftshistorisch sehr unterschiedliche methodische Konzepte zur Erfassung der empirischen Realität herausgebildet: Mit welchen Methoden/​Instrumenten/​Verfahrensweisen kann man Zugang zur inneren Realität der Menschen finden? Wie lassen sich Veränderungen von Persönlichkeitsstrukturen erfassen? Welche Methoden ermöglichen es, die Interaktion zwischen Subjekten und ihren Umweltbedingungen zu analysieren? Die Antworten hierauf können sehr unterschiedlich ausfallen, und auch sie sind stark von wissenschaftstheoretischen Grundpositionen abhängig; denn der Positivismusstreit schlägt sich in der Methodendiskussion mindestens genauso stark nieder wie in der Diskussion um die ‹bessere› Theoriebildung. Daher findet sich in der Sozialisationsforschung gegenwärtig auf der einen Seite eine Methodenkonzeption, die sich stark an positivistischen Vorgaben orientiert und die ihre Untersuchungen vor allem als standardisierte Erhebung und quantitativ-statistische Datenanalyse durchführt (vgl. z.B. Schneider 1994). Den Gegenpol bildet eine Methodenkonzeption, die sich an hermeneutisch-sinnverstehenden Vorgaben orientiert und die ihre Forschung vor allem in Form der ausführlichen Gespräche und deren anschließender systematischer Interpretation vornimmt (vgl. z.B. Böhme 2008). Beide methodischen Konzeptionen sollen an einem Beispiel verdeutlicht werden: Wir unterstellen, zwei Sozialisationsforscherinnen würden sich für die Frage interessieren, wie sich zwischen dem 10. und dem 14.Lebensjahr das Selbstvertrauen der Heranwachsenden entwickelt und welchen Einfluss darauf unterschiedliche schulische Erfahrungen nehmen. Während Forscherin A diese Frage mit dem quantitativ-statistischen Methoden-Set bearbeiten will, fühlt sich Forscherin B dem interpretativ-hermeneutischen Ansatz verpflichtet. Was dies bedeutet, soll im Folgenden idealtypisch beschrieben werden:

Forscherin A ermittelt zunächst, ob es eingeführte psychologische Instrumente zur ‹Messung› von Selbstvertrauen gibt. Daraus stellt sie für ihre Untersuchung ein Erhebungsinstrument zusammen: einen Fragenkatalog, der von Schulkindern durch ‹Ankreuzen› zu beantworten ist. Auf gleiche Weise wird nach der jeweiligen schulischen Situation (z.B. Schulform, Zeugnisnoten, Hausaufgabenbelastung etc.) gefragt. Dann sucht Forscherin A in einem systematischen Verfahren die Schülerinnen und Schüler aus, die befragt werden sollen; weil darunter Jungen und Mädchen, Stadt- und Landkinder, Hauptschüler, Realschüler, Gymnasiasten etc. sein sollen, wird dies eine große Zahl – mindestens mehrere hundert – sein müssen. Die in dieser Weise ausgewählte ‹Stichprobe› stellt in ihrer Zusammensetzung ein verkleinertes Abbild der Schulkinder eines Bundeslandes (z.B. Bayern) dar. Nun führt Forscherin A in vielen Schulklassen des Landes ihre Befragungen durch – und zwar als Längsschnittstudie in Jahresabständen viermal hintereinander: Die ausgewählten Schulkinder der Stichprobe füllen den Fragebogen zum ersten Mal im Alter von zehn Jahren aus, die Befragung wird dann bei den gleichen Kindern jährlich wiederholt. Auf diese Weise ist es möglich, den Zuwachs, aber auch den Rückgang des Selbstvertrauens sowohl bei Einzelnen wie auch in bestimmten Gruppen (z.B. bei Hauptschülern) zu messen. Nach Abschluss der letzten Befragung werden die Daten mit komplizierten (multivariaten) statistischen Verfahren im Computer ausgewertet. Im Ergebnis könnte sich z.B. zeigen, dass in dieser Altersphase bei Jungen das Selbstvertrauen im Durchschnitt stärker zunimmt als bei Mädchen. Ob auf diesen Prozess die Schulnoten, das ‹Sitzenbleiben› oder auch die Sozialschichtzugehörigkeit einwirkt, lässt sich ebenfalls statistisch ermitteln. Am Ende der Forschung stehen quantitativ abgesicherte Aussagen über den Zusammenhang zwischen Faktoren, die für eine angebbare Grundgesamtheit (alle Schulkinder in Bayern) verallgemeinerbar sind.

Sozialisationsforscherin B geht die Sache methodisch ganz anders an: Sie bemüht sich zunächst, in Kontakt zu etwa 20Schülerinnen und Schülern im Alter von etwa 14Jahren zu gelangen. Im Einzelnen erläutert sie ihr Forschungsvorhaben und erklärt ihnen, was sie warum von ihnen wissen will. Wenn auf diese Weise ein Vertrauensverhältnis hergestellt werden konnte, erfolgt die Verabredung zu einem ausführlichen Gespräch, das die Forscherin als biographisches bzw. narratives Interview versteht. Dazu hat sie sich vorher Gedanken gemacht: Wie kann ein 14-Jähriger über seine Schulerfahrungen, wie kann er über sein Selbstvertrauen Auskunft geben? Welche Situationen sollte sie ansprechen, welche Stichworte könnten helfen? So vorbereitet geht die Forscherin in jedes Gespräch. In diesen Gesprächen, die bis zu drei Stunden dauern können und die auf Tonbänder aufgezeichnet werden, berichten die jungen Menschen über ihre bisherigen Erfahrungen in und mit der Schule, über selbstvertrauensbedeutsame Situationen, auch über Ängste und Selbstzweifel. Diese Gespräche werden später transkribiert, sodass der Forscherin als Grundlage ihrer anschließenden Analyse 20Texte von jeweils etwa 20 bis 50Seiten zur Verfügung stehen. Die Auswertung erfolgt nicht quantitativ (durch Computer), sondern qualitativ in Form einer systematischen Interpretation durch die lesende, systematisierende, ergebniskonstruierende Forscherin. Eine solche interpretierende Arbeit, die in der Regel diskutierend in einem Forschungsteam vorgenommen wird, konzentriert sich darauf, «die subjektiven Deutungen der befragten und beobachteten Personen zu rekonstruieren, um den Zusammenhängen zwischen Handlungen und ihrem sozialen Kontext auf die Spur zu kommen». (Hurrelmann 2006, S.41). Im Ergebnis stehen z.B. typologische Beschreibungen über die (unterschiedlichen) Verarbeitungen von Schulerfahrungen, über Herangehensweisen von ‹guten› und ‹schlechten› Schülern, über unterschiedliche Inhalte des Selbstvertrauens bei Jungen und Mädchen.

Mit diesen idealtypischen Beschreibungen wurden gleichsam die Extrempole des methodischen Vorgehens skizziert, wie sie gegenwärtig in der Sozialisationsforschung vorzufinden sind. Über viele Jahre hinweg haben sich die Vertreter beider methodischer Konzeptionen scharfe Auseinandersetzungen geliefert, sodass zeitweise der Eindruck entstehen konnte, man käme entweder nur mit dem einen oder nur mit dem anderen Ansatz der empirischen Realität näher. Während auf der einen Seite wie selbstverständlich mit ‹Forschungsmethoden› allein ein quantitativ-statistisches Vorgehen bezeichnet wurde, ohne qualitativ-biographische Methoden auch nur zu erwähnen (vgl. z.B. Wottawa 1977), wurden auf der anderen Seite quantitative Verfahren prinzipiell abgelehnt, weil ihre Anwendung «eine Rückkehr zu dem auf theoretischer Ebene längst überwundenen Prägungs- und Trichterkonzept von Sozialisation» bedeute (Köckeis-Stangl 1980, S.343). Die Kontroverse zwischen diesen beiden Positionen hat in den letzten Jahren in dem Maße nachgelassen, in dem deutlich wurde, dass jedes Verfahren, einseitig angewandt, sehr bald an seine Erkenntnisgrenzen stößt.

Die Konsequenz, die sich aus dieser Situation aufdrängt, ist in den letzten Jahren von vielen Sozialisationsforschern gezogen worden: Fragestellungen werden nicht entweder mit dem einen oder dem anderen Methoden-Set bearbeitet, sondern es werden Kombinationen aus beiden Bereichen gewählt (vgl. Hurrelmann 2006, S.41ff.). So hat es sich als erkenntnisträchtig erwiesen, zunächst eine quantitative Übersichtsstudie durchzuführen, um auf dieser Basis Gesprächspartner für qualitative Interviews auszuwählen (vgl. z.B. Tillmann u.a. 1999). Nicht weniger interessant ist der Ansatz, einen Problembereich zugleich in einer standardisierten Stichprobenbefragung und in qualitativen Fallstudien zu untersuchen und die Ergebnisse dann wechselseitig aufeinander zu beziehen (vgl. z.B. Wischer 2003).

Mit dieser Skizzierung ist die Methodendiskussion der Sozialisationsforschung lediglich angerissen worden. Sie wird im Verlauf des Buchs immer dann wieder aufgenommen, wenn bestimmte Theoriekonzepte eng mit bestimmten Methoden-Sets verknüpft sind, sodass methodische Probleme als Theorieprobleme auftauchen. Dies gilt z.B. für die experimentelle Forschung im Rahmen der Lerntheorie, aber auch für Interaktionsanalysen im Rahmen des Symbolischen Interaktionismus. Diese eher sporadische Thematisierung ersetzt jedoch keine systematische Behandlung, für die hier nur auf Spezialliteratur zur Methoden- und Methodologieproblematik verwiesen werden kann (vgl. Friebertshäuser/​Prengel 1997; Boehnke/​Hadjar 2008).

Nachdem wir auf diese Weise über den aktuellen Stand der sozialisationstheoretischen Diskussion informiert haben, wird im Folgenden knapp auf die bisherige Geschichte von Sozialisationstheorie und -forschung eingegangen. Dabei soll zumindest in Umrissen erkennbar werden, aus welch unterschiedlichen geistes- und sozialwissenschaftlichen Quellen sich die gegenwärtige Diskussion speist.

1.3Zur Geschichte der Sozialisationstheorie

Die Beschäftigung mit der Frage, wie Menschen sich entwickeln und welchen Einfluss darauf die Umwelt hat, ist so alt wie die Wissenschaftsgeschichte selbst. Insofern lässt sich fast die gesamte Ahnengalerie der abendländischen Geistesgeschichte zu den Vordenkern der Sozialisationsproblematik rechnen (vgl. Geulen 2005, S.15ff.). Der Begriff Sozialisation wird in wissenschaftlichen Abhandlungen erstmals im beginnenden 19.Jahrhundert benutzt. In dem Oxford Dictionary von 1828 meint er «to make fit for living in society». (zit. nach Grundmann 2006, S.17), und 1896 beschreibt der amerikanische Soziologe E.A.Ross in einem Aufsatz über «soziale Kontrolle» die Sozialisation als einen Mechanismus, durch den die Gesellschaft die schwierige Aufgabe bewältigt, «die Gefühle und Wünsche der Individuen so zu formen, daß sie den Bedürfnissen der Gruppe entsprechen».