Spanische Delikatessen - Catalina Ferrera - E-Book + Hörbuch

Spanische Delikatessen Hörbuch

Catalina Ferrera

5,0

Beschreibung

Eine Familien-Fehde, ein Schinken aus Menschenfleisch in einem spanischen Delikatessengeschäft auf der Rambla und ein deutsch-spanisches Ermittler-Duo: in diesem atmosphärischen und humorvollen Barcelona-Krimi von Catalina Ferrera wird es spannend delikat! Comisario Alex Diaz von der katalanischen Polizei, Mossos d`Esquadra, zieht seinen Schwager Karl Lindberg, einen beurlaubter Berliner Kriminalkommissar, zu Rate, als in Barcelonas traditionsreichstem Delikatessengeschäft ein Schinken mit der Prägung »100 % carne humana« – 100 % Menschenfleisch – auftaucht. Als »Praktikant« darf Karl seine Erfahrung beisteuern, wenn Alexʼ lässiger Charme mal nicht mehr weiterhilft. Der vertrackte Fall führt das ungleiche Ermittler-Paar tief in Familienstreitigkeiten und zeichnet gleichzeitig ein authentisches und höchst atmosphärisches Bild von Barcelona. Mit sicherem Gespür für kriminalistische Spannungsbögen sowie liebevollem Blick auf die Eigenheiten und Zwistigkeiten der Katalanen und Spanier führt die in Barcelona lebende Autorin Catalina Ferrera den Leser durch die faszinierende Hauptstadt Kataloniens. Alle Bände der Barcelona-Krimis von Catalina Ferrera rund um das spanisch-deutsche Ermittler-Duo Alex Diaz und Karl Lindberg auf einen Blick: • »Spanische Delikatessen« • »Spanischer Totentanz« • »Spanischer Feuerlauf« • »Spanisches Blutgeld«

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Zeit:9 Std. 38 min

Sprecher:Joachim Schönfeld
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Catalina Ferrera

Spanische Delikatessen

Ein Barcelona-Krimi

Knaur e-books

Über dieses Buch

Eine Familien-Fehde, ein Schinken aus Menschenfleisch in einem spanischen Delikatessengeschäft auf der Rambla und ein deutsch-spanisches Ermittler-Duo: in diesem atmosphärischen und humorvollen Barcelona-Krimi wird es spannend delikat!

Comisario Alex Diaz von der katalanischen Polizei , Mossos d`Esquadra, zieht seinen Schwager Karl Lindberg, einen beurlaubter Berliner Kriminalkommissar, zu Rate, als in Barcelonas traditionsreichstem Delikatessengeschäft ein Schinken mit der Prägung »100 % carne humana« – 100 % Menschenfleisch – auftaucht. Als »Praktikant« darf Karl seine Erfahrung beisteuern, wenn Alexʼ lässiger Charme mal nicht mehr weiterhilft. Der vertrackte Fall führt das ungleiche Ermittler-Paar tief in Familienstreitigkeit und zeichnet gleichzeitig ein authentisches und höchst atmosphärisches Bild von Barcelona.

Inhaltsübersicht

1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. KapitelJamón, des Spaniers liebste DelikatesseDie älteste »Tapa«RezeptePaella de Verduras – GemüsepaellaPan con Tomate – TomatenbrotChampiñones con Ajo – KnoblauchchampignonsTortilla de Patatas – Spanisches KartoffelomelettePatatas bravas con Salsa – »Mutige« Kartoffeln mit scharfer SoßeKatalanischer Einsteiger-WortschatzLeseprobe »Spanisches Blutgeld«
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1

Die Glocken der großen Kirche schlugen acht Uhr morgens, und es war bereits jetzt schon wieder entsetzlich heiß. Kein Wunder, im Hochsommer kühlte Barcelona nicht einmal nachts richtig ab. Vielmehr begleitete die Hitze der Sonnenstunden Nachtschwärmer und Frühaufsteher wie eine eifersüchtige Glucke auf ihren Wegen nach Hause oder zur Arbeit und legte sich als feuchter Film auf die Haut der Schlafenden. Und besonders gerne quälte sie, wie in diesem Augenblick, Karl Lindberg, der in Begleitung des alten Rüden Paco auf dem Weg zum Strand war.

Karl versuchte es jeden Tag aufs Neue, doch auch an diesem Samstagmorgen würden sie es nicht schaffen, sosehr er sich auch nach dem bisschen Wind sehnte, der einem am Strand von Barceloneta um die Nase wehte. Denn Paco war mit seinen vierzehn Jahren nicht mehr zur Eile zu bewegen und legte eine Langsamkeit an den Tag, die Karl ein ums andere Mal um den Verstand brachte. Beinahe hatte er den Eindruck, der kleine Kerl mache das nur, um ihn zu ärgern.

Das Straßenpflaster glänzte feucht, ganz so, als hätte es gerade erst geregnet. Doch der Schein trog: Wer länger in der Altstadt wohnte, wusste, dass die allgegenwärtige Straßenreinigung wieder einmal am Werk gewesen war. Tagtäglich putzte und wienerte sie den kompletten historischen Stadtkern, sodass man das Gefühl bekommen konnte, in einem Freilichtmuseum zu wohnen.

Karl nahm seinen altmodischen Strohhut vom Kopf und wischte sich den Schweiß von der Stirn, während er am Seitenportal der Santa Maria del Mar auf Paco wartete. Wenn er gerade nicht mit dem Hund unterwegs war, gönnte Karl sich morgens gerne eine Pause in der großen Kirche; am frühen Morgen und am Abend war der Eintritt in das imposante Bauwerk kostenlos, und obwohl er kein religiöser Mensch war, überkam ihn in dem kühlen Gebäude jedes Mal eine Ruhe, die er in den quirligen Gassen der Stadt eher selten fand. Früher hatte lediglich ein schmaler Vorplatz die Kirche vom Wasser getrennt, doch die Stadt hatte dem Mittelmeer Straßenzug um Straßenzug abgetrotzt, weshalb Karl nun deutlich weiter zum Strand laufen musste als die Menschen, die vor einigen Hundert Jahren in der Stadt lebten. Ein bisschen ärgerlich war das ja schon, dachte Karl. Vor allem, wenn man hundebedingt etwas langsamer unterwegs war.

Endlich schob sich der kleine Malteser seiner Schwiegermutter, dessen struppiges, gelblichweißes Fell eher an einen sehr alten Wischmopp als an einen Rassehund erinnerte, um die Ecke der gewaltigen Kirche, den Kopf konzentriert auf das buckelige Kopfsteinpflaster gesenkt.

»Paco, vamos!«, knurrte Karl, obwohl er genau wusste, dass seine Aufforderung nichts, aber auch gar nichts bewirken würde. Doch wenn er dem Hund Befehle erteilte, fühlte er sich ihm nicht ganz so ausgeliefert.

Er ließ seinen Blick über den Platz und die Gassen des Viertels streifen, das er sein Zuhause nannte, seitdem er ein paar Monate zuvor mit seiner Frau Alba und ihrem gemeinsamen Sohn Oliver in Albas Heimatstadt zurückgekehrt war. Für ihn war El Born der perfekte Stadtteil, zentral, nahe am Meer, mit engen Gassen und wunderschönen Geschäften, aber nur wenigen Sehenswürdigkeiten, weshalb die Bewohner dieses Viertels weniger in Touristenströmen ertranken als ihre Nachbarn in El Gòtic. Eigentlich liebte Karl Lindberg Barcelona, nur die Hitze machte dem rothaarigen Halbiren mächtig zu schaffen. Es half auch nicht, dass seine Frau nicht bereit war, sein Leiden anzuerkennen. Alba fand Karl melodramatisch – Karl fand Barcelona zu heiß.

Er zuckte zusammen, als sein Handy klingelte. Um diese Uhrzeit war es selbst im Hochsommer in den Gassen der Stadt noch so ruhig, dass es leicht war, sich gedanklich in mittelalterliche Zeiten zu versetzen, in denen Smartphones noch lange nicht existiert hatten. Karl kam nicht umhin, sich manchmal in handylose Zeiten zurückzuwünschen; es musste ja nicht unbedingt das Mittelalter sein. Die Achtziger täten es auch.

Das Display zeigte an, dass sein Schwager Alex versuchte, ihn zu erreichen. Augenblicklich begann Karls Herz, wie wild zu klopfen. Alex war ein Nachtschwärmer, der niemals ohne besonderen Grund um diese Uhrzeit auf den Beinen war, außerdem hatten er und Karl kein besonders inniges Verhältnis zueinander und telefonierten nur dann, wenn es unumgänglich war. Sofort wurde Karl von der sonderbaren Angst überfallen, dass etwas Schreckliches vorgefallen war.

»Ja, was gibt’s?«, fragte er schroffer, als es seine Absicht gewesen war.

»Buenos, Flieger!«, erwiderte sein Schwager mit offensichtlich aufgesetzter Heiterkeit. »Wo steckst du?«

Karl runzelte die Stirn. Er konnte es nicht leiden, wenn Alex ihn Flieger nannte. Der jüngere Bruder seiner Frau hatte ihm diesen Spitznamen aufgrund seiner Namensähnlichkeit mit der Fliegerlegende Charles Lindbergh verpasst, mit der Folge, dass die gesamte Familie und beinahe das halbe Viertel ihn mittlerweile Flieger nannte und ihn somit täglich an seine immense Flugangst erinnerte.

»Ich bin mit Paco unterwegs zum Strand. Warum? Ist irgendwas passiert?«

»Nein, nein«, versicherte Alex hastig. »Aber ich könnte deine Hilfe gebrauchen. Wie schnell kannst du am Passeig del Born sein? Ich bin im ›Especialidades Molina‹.«

Karl war erleichtert und verärgert zugleich. Wenn es sich nicht um eine Familienangelegenheit handelte, wieso rief Alex ihn dann so früh am Morgen an? Er antwortete reserviert: »Warum das denn? Brauchst du ein Geschenk für eine von deinen Liebschaften?«

Alex zögerte. Karl konnte durch die Leitung förmlich spüren, dass er mit sich rang, und dachte nicht im Traum daran, es dem Jüngeren leicht zu machen. Sein Schwager fragte äußerst ungern um Hilfe, war er doch der Auffassung, dass er eigentlich alles am besten konnte, was es auf der Welt zu können gab. »Nein, das ist es nicht«, versicherte Alex und senkte die Stimme, sodass sie beinahe nur noch ein Flüstern war. »Ich brauche deinen fachlichen Rat.«

Nun verstand Karl. Natürlich, das hätte er sich denken können. Alex brauchte Karl Lindberg als Polizisten.

»Alex, ich bin beurlaubt.«

Alex’ Stimme nahm einen dringlichen Tonfall an. »In Deutschland vielleicht, nicht hier. Außerdem wissen wir alle, wie sehr du dich langweilst – du vermisst deinen Job, wenn du ehrlich bist. Komm schon, Kommissar!«

Albas Bruder war vor ein paar Wochen bei den Mossos d’Esquadra, der katalanischen Polizei, zum Sergent für Kapitalverbrechen aufgestiegen. Eine Tatsache, die der ganzen Familie Rätsel aufgab, war Alex’ Schulabschluss doch so miserabel gewesen, dass er gerade einmal für eine Ausbildung in niedrigen Dienstgraden gereicht hatte. Es war nicht so, dass Alex nicht das Zeug zu einem guten Abschluss gehabt hätte – aber er war ein rebellischer Partylöwe und hatte sich damit so einige Chancen verbaut. Barcelonas Nächte hielten für einen jungen Mann von Alex’ Temperament und Lebenshunger genug bereit, um ihn vom Lernen abzuhalten. Außerdem wurde Alex von allen Frauen geliebt, was seine Mutter und seine große Schwester mit einschloss, und so hatte es keine der beiden über sich gebracht, Alex zur Disziplin zu mahnen.

Angeblicher Personalmangel und eine berückend kurze Fortbildung hatten dem Schwager nun seinen rasanten Aufstieg ermöglicht, doch Karl konnte nicht so recht glauben, dass das die ganze Erklärung war. Die gesamte Familie hätte niemals auch nur im Traum daran gedacht, dass irgendjemandem die Idee kommen könnte, dem notorischen Draufgänger ein Dezernat zu übertragen. Besagte Fortbildung zeigte jedenfalls augenscheinlich keine nachhaltige Wirkung, schließlich kannte Karl Alex gut genug, um zu wissen, dass dieser sich lieber die Zunge abgebissen hätte, als seinen erfahrenen Schwager um etwas zu bitten.

»Hast du eine Leiche?«, fragte er deshalb.

»Ich glaube schon.«

»Was soll das heißen? Du glaubst schon?«

Alex verlor langsam die Geduld. »Maldito! Kannst du nicht einfach herkommen? Dann kann ich dir alles sehr viel besser erklären als am Telefon.«

Karl zögerte.

»Bitte«, presste Alex hervor, und ein kleines Lächeln huschte über Karls Gesicht. Eigentlich geschah es seinem großkotzigen Schwager ja recht, wenn er bei einem richtigen Kriminalfall ins Schwimmen geriet. Allerdings langweilte Karl sich tatsächlich schon seit Wochen beinahe zu Tode und wünschte sich im Stillen zur Berliner Mordkommission zurück. Seine Neugier siegte rasch über pädagogische Motive – außerdem war er tatsächlich direkt um die Ecke und hatte somit wenige echte Ausreden parat.

Mit einer flinken Handbewegung griff er nach Paco, der sich in der Zwischenzeit keinen Millimeter vorwärtsbewegt hatte, und klemmte sich den Hund unter den Arm. »Ich bin in zwei Minuten bei dir!«, sagte Karl und ließ das Telefon in die Tasche seines Leinensakkos gleiten.

Auf dem kurzen Weg zum stadtbekannten Delikatessenladen musste Karl an sich halten, nicht in den Laufschritt zu verfallen. Sein Schwager sollte auf keinen Fall denken, er hätte sich allzu sehr beeilt. Tatsächlich jedoch hatte ihn die Aussicht auf einen Kriminalfall merklich beflügelt; seine Laune hob sich mit jedem Schritt. Er war nun einmal Polizist und liebte seinen Beruf, auch wenn er sich die größte Mühe gab, genau das zu vergessen. Alba zuliebe.

Schon nach einer knappen Minute kamen die ausladenden, dunklen Schaufensterverkleidungen des Spezialitätengeschäftes in Sicht. Offensichtlich hatte der Laden noch geschlossen, die Metalljalousien vor der Eingangstür waren nur einen Spaltbreit geöffnet. Durch die gehäkelten Vorhänge konnte Karl die Umrisse zweier Personen im Verkaufsraum erkennen, einer davon war Alex’ breitschultrige Silhouette. Karl klopfte an die Scheibe und winkte seinem Schwager zu.

Kurz darauf wurde der Rollladen mit jenem charakteristischen Quietschen und Ratschen, das die Altstadt jeden Morgen und jeden Abend erfüllte, nach oben geschoben. Aus irgendeinem Grund liebte Karl dieses Geräusch, es hatte etwas beruhigend Alltägliches. Er trat auf seinen Schwager zu, dem am Gesicht abzulesen war, dass er eine sehr kurze Nacht hinter sich hatte. Streng genommen sah er aus, als hätte er gar nicht geschlafen – und er roch auch so. Mit dem fleckigen T-Shirt und den dunklen Ringen unter den Augen sah er aus, als gehöre er eher in eine Ausnüchterungszelle als hinter das Lenkrad eines Einsatzwagens. Alex schien seine Gedanken zu lesen. »Guck nicht so, Mann. Ich hab heute keinen Dienst. Die Señora hat mich angerufen, weil sie weiß, dass ich bei der Polizei arbeite, okay?«

»Du hast ’ne Fahne«, knurrte Karl und schob sich in den Verkaufsraum des traditionsreichen Geschäfts. Obwohl er schon viel von »Especialidades Molina« gehört hatte, war Karl noch nie über die Schwelle des Ladens getreten. Meist war er ihm schlichtweg zu voll gewesen; wahrscheinlich stand er als Geheimtipp im Lonely Planet. Es war ein regelrechtes Privileg, ihn außerhalb der Öffnungszeiten betreten zu dürfen. Schwere, dunkle Holzregale mit Weinflaschen, Ölen, Gewürzen, Konserven, Gläsern, Tuben, Tiegelchen und Töpfchen säumten die Wände. Ein moderner Rechner stand wie ein Objekt aus ferner Zukunft auf der wuchtigen Verkaufstheke neben einer sehr altmodischen Kaufmannskasse, die offenbar nur noch als Dekoration diente. In der linken hinteren Ecke des Ladens gab es eine hübsche, kleine Käsetheke, in der sich Dutzende verschiedene Käsesorten stapelten. Von der Decke hingen die für Spanien so charakteristischen Schinkenbeine; kleine Papierhütchen an den Schinkenenden hielten austretendes Fett davon ab, interessierten Kunden in den Nacken zu tropfen. In der Mitte des Raumes standen zwei große, massive Holztische; einer davon war mit verschiedenen Schinken bestückt, die in entsprechende Vorrichtungen gespannt waren.

Auf dem anderen Tisch herrschte ein gewisses Durcheinander. Sorgsam aufeinandergestapelte Keks- und Pralinenpackungen waren achtlos zur Seite geschoben worden, um einer angebrochenen Flasche Hierbas de Ibiza sowie einem dickwandigen Glas Platz zu machen. Auf einem Stuhl saß eine rundliche Frau und sah die Flasche an. Sie mochte Anfang siebzig sein und trug eine Schürze mit dem Emblem des Ladens. Ihr auffallend schwarzes Haar, das nicht eine Spur Grau aufwies, hatte sie zu einem strengen Knoten gewunden, der allerdings deutlich aus der Form geraten war; ihre von Falten durchzogene Gesichtshaut wirkte blass und brüchig. Sie schien Karls Eintreffen kaum zur Kenntnis zu nehmen.

Ihr abwesender, leicht verwirrter Gesichtsausdruck war der einzige Hinweis darauf, dass in dem Laden irgendwas nicht in Ordnung war. Karl war lange genug Polizist, um zu wissen, dass ein schwerer Schock das Gesicht der Frau gezeichnet hatte, doch er fragte sich, was sie so erschreckt haben könnte. Nichts an diesem Ort deutete auf ein Verbrechen hin, alles schien in einem tadellosen Zustand zu sein, und auch eine Leiche war nicht zu sehen. Karl räusperte sich und riss Alex damit aus seiner Untätigkeit.

»Karl, darf ich dir Señora Dolores Ortega vorstellen? Ihr gehört der Laden«, sagte er und wies auf die Frau am Tisch.

Karl setzte den Hund etwas unsanft ab und streckte der Frau die Hand hin. Diese erwiderte den Händedruck nur schwach, sodass Karl das Gefühl hatte, ein totes Vögelchen zwischen den Fingern zu halten. »Encantado«, sagte er lächelnd. »Ich bin …«

Sein Schwager war mit einem Satz hinter ihm und schnitt ihm das Wort ab. »Das ist Karl Lindberg, Señora Ortega, ein erfahrener Ermittler aus Deutschland. Er macht gerade ein Praktikum bei mir. Sie haben doch nichts dagegen, dass er dabei ist?«

Karl traute seinen Ohren kaum. Praktikum? Sofort spürte er, wie seine Wangen zu glühen begannen. Er hatte wesentlich mehr Dienstjahre auf dem Buckel als sein Schwager, und nun sollte er für Alex den Praktikanten spielen? Wütend wirbelte er herum und holte Luft, um Alex seine Empörung entgegenzuschleudern, aber dessen flehender Blick hielt ihn zurück. Ein Gesichtsausdruck zum Steinerweichen, und gleichzeitig zum Ausrasten. Wenn Alex den aufsetzte, sah er aus wie ein kuscheliger kleiner Welpe – und wer schrie schon einen Welpen an? Karl riss sich zusammen. Es hatte keinen Sinn, vor Señora Ortega zu streiten, das hatte Zeit.

Der Kommissar rang sich ein Lächeln ab und wandte sich wieder der Ladeninhaberin zu.

»Ja … stimmt. Richtig.« Er räusperte sich. »Und nun würde ich natürlich gern erfahren, was hier vorgefallen ist.«

Señora Ortega seufzte vernehmlich und schenkte sich einen weiteren großzügigen Schluck Kräuterlikör ein. Ihr Schock musste sehr groß sein, wenn sie schon so früh am Morgen trank. Sie sah nicht aus wie eine Frau, die sich derlei zur Gewohnheit gemacht hatte. Mit ungewöhnlich tiefer, ausdrucksloser Stimme sagte sie zu Alex: »Das habe ich Ihnen doch schon erzählt, Sergent.«

Alex lächelte freundlich. »Ich weiß, Dolores. Aber es ist immer besser, alles aus erster Hand zu erfahren. Am Ende gebe ich vielleicht etwas nicht richtig wieder. Also seien Sie so gut und erzählen meinem Kollegen noch einmal, was heute Morgen geschehen ist.«

Dolores Ortega fügte sich in ihr Schicksal. Sie nahm einen kräftigen Schluck und berichtete. »Samstag gehe ich immer schon um halb acht in den Laden, um alles vorzubereiten. Es ist der anstrengendste Tag der Woche; besonders im Sommer ist hier die Hölle los, müssen Sie wissen. Erst kommt die Nachbarschaft, um fürs Wochenende einzukaufen, danach kommen die Touristen. Die Kreuzfahrtschiffe spucken die Leute tausendfach zu uns in die Altstadt, und hier verstopfen sie dann meinen Laden, fassen alles an und kaufen so gut wie nichts!« Sie bedachte Karl mit einem strengen Blick, der ihm zu verstehen geben sollte, was sie von Kreuzfahrttouristen hielt und dass sie ihn insgeheim verdächtigte, ebenfalls einer zu sein. Karl kannte das schon. Einzig sein nahezu akzentfreies Kastilisch bewahrte ihn davor, als Guiri angesehen zu werden, als gewöhnlicher Tourist. Er lächelte. »Ich wohne hier um die Ecke und kenne das Problem. Meiner Frau gehört eine Apotheke auf den Ramblas. Unser Bestseller ist ein Mittel gegen Reiseübelkeit.« Bei dem Wort »Ramblas« rollte er das R besonders professionell. Offensichtlich erzielte er damit die gewünschte Wirkung, denn die Frau nickte ihm wissend und ein wenig komplizenhaft zu. Sie fuhr fort: »Wenigstens machen sie schöne Fotos und stellen die überall ins Internet. Das ist eine gute Werbung für den Laden.«

»Damit noch mehr Touristen kommen können, um Ihre Sachen anzufassen und nichts zu kaufen?«, fragte Karl scherzhaft, und auf Dolores Ortegas Gesicht erschien ein winziges Lächeln. »Eigentlich verrückt, nicht wahr? Jedenfalls habe ich es mir zur Gewohnheit gemacht, jeden Samstagmorgen einen neuen Schinken in die vorderste Vorrichtung zu spannen. Die Schinken der Woche sind meist schon ziemlich runtergeschnitten, was nicht sehr hübsch aussieht, und ein frischer Schinken macht einfach mehr her. Also bin ich wie immer auf die Leiter rauf und hab mir einen ausgesucht. Aber als ich ihn abnahm, habe ich sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Der Schinken war viel schwerer als normal. Ich habe ihn auf den Tisch gelegt, um ihn mir genauer anzusehen, und war sehr verwundert.«

»Warum das?«, fragte Karl, als Señora Ortega nicht weitersprach.

»Weil der Fuß fehlt.«

Karl zog die Augenbrauen in die Höhe. Er begriff nicht sofort, was die Feinkosthändlerin meinte. »Wie bitte?«

»Na, der Schweinefuß. Er ist nicht da. Der Schinken ist oben zusammengenäht und hing einfach mit der Naht am Deckenhaken. Er ist überhaupt nicht zu gebrauchen!«

»Merkwürdig«, murmelte Karl. Sein Blick wanderte zu den Schinken, die auf dem benachbarten Tisch in die Vorrichtungen gespannt waren – mitsamt Füßen. Dabei bemerkte er mit Unbehagen, dass sich Paco, vermutlich von den Gerüchen angelockt, in Bewegung gesetzt hatte und im Begriff war, hinter der Theke zu verschwinden. Alex hatte es offensichtlich auch bemerkt, denn er nahm soeben die Verfolgung auf.

»Sie sagen es!« Dolores Ortega schien in Fahrt zu kommen. Der Hierbas hatte ihre Wangen zum Glühen gebracht, ein Leuchten wurde in ihren bislang eher stumpfen Augen sichtbar. »Natürlich wollte ich wissen, wer es gewagt hatte, mir so einen Schinken zu verkaufen. Ich habe ihn also umgedreht, um das Siegel in Augenschein nehmen zu können, und dann …« Die alte Frau brach ab. Sie schluckte merklich, und ihr Blick wanderte zu der Verkaufstheke, auf der ein weiterer Schinken lag.

»Was ist dann passiert?«, fragte Karl geduldig, doch Dolores machte nur eine auffordernde Handbewegung. Sie wollte offensichtlich, dass er es sich selbst ansah.

Karl trat zur Theke. Schnell hatte er das charakteristische Prägesiegel ausgemacht, das über die Herkunft eines echten Jamón Ibérico Auskunft gibt. Während billige Schinken einfach mit einer Papiermanschette ausgestattet werden, weisen teurere Exemplare noch immer das traditionelle Brandsiegel in der Schwarte auf. Normalerweise ist dort Teruel, Beher oder Ähnliches zu lesen, doch was Karl auf diesem speziellen Exemplar erblickte, ließ ihn instinktiv einen Schritt zurückweichen. Dabei prallte er gegen das hinter ihm stehende Regal, sodass die darin befindlichen Flaschen bedrohlich klirrten, doch er achtete nicht darauf. Seine Aufmerksamkeit galt einzig und allein dem ungewöhnlichen Schriftzug: »100% Carne humana«. Menschenfleisch.

Der Kommissar schnappte nach Luft und suchte den Blick seines Schwagers. »Jetzt weiß ich, warum du mir nicht sagen konntest, ob du es mit einer Leiche zu tun hast oder nicht. Diese Frage kann uns nur das Labor beantworten.«

Alex nickte und trat dicht an ihn heran. Im Flüsterton fragte er: »Hältst du es wirklich für möglich, dass es sich um ein Menschenbein handelt?«

»Natürlich«, erwiderte Karl. »Menschen und Schweine sind einander anatomisch sehr ähnlich. Ich bin zwar kein Arzt, aber …«

Señora Ortega stöhnte leise auf. Alex murmelte: »Und was ist, wenn sich jemand nur einen blöden Scherz erlaubt hat?«

Zugegeben, der Gedanke war nicht ganz abwegig, aber Karl wollte nicht recht glauben, dass es sich um einen Scherz handelte. »Wer würde sich denn so viel Mühe mit einem Scherz geben?«, fragte er. »Einen Schinken kaufen, ihn derart verändern, extra ein Prägesiegel anfertigen und so weiter. Nein, ich glaube nicht, dass es sich hier um einen Scherz handelt.«

»Aber wenn es tatsächlich ein Leichenteil ist, wieso sollte man das denn für jeden sichtbar draufschreiben, das ergibt doch keinen Sinn!« Alex’ Ratlosigkeit stand ihm ins Gesicht geschrieben.

»Eins nach dem anderen«, sagte Karl und kam sich beinahe schon wieder vor wie ein Polizist im Einsatz und nicht wie ein Kommissar, der sich vor einem halben Jahr auf unbestimmte Zeit hatte beurlauben lassen, um seiner Frau nach Spanien folgen zu können. Polizeiarbeit lag ihm im Blut, er konnte nicht verhindern, dass sein Gehirn die Arbeit bereits aufgenommen hatte. Er wandte sich an Dolores Ortega. »Señora, können Sie sich erklären, wie dieses … dieser Schinken hier in Ihren Laden gekommen ist?«

Die alte Frau schüttelte heftig den Kopf. »Das ist es ja gerade, ich habe keine Ahnung! Wir arbeiten mit unserem Lieferanten schon seit einer Ewigkeit zusammen – er hat die besten Erzeuger unter Vertrag; die Firma gibt es schon seit Generationen. Er liefert immer direkt nach Bestellung. Wenn wir ihn erwarten, nimmt mein Sohn die Schinken entgegen und hängt sie an der Decke auf. Es wäre ihm aufgefallen, wenn etwas nicht gestimmt hätte.«

Karl nickte bedächtig. »Und könnten Sie sich vorstellen, dass sich jemand einen geschmacklosen Scherz mit Ihnen erlaubt hat? Haben Sie vielleicht Streit mit jemandem aus dem Viertel? Oder wollen Spekulanten Ihren Laden kaufen?«

Dolores Ortega setzte sich kerzengerade auf und straffte die Schultern. »So etwas sollten Sie nicht einmal denken!«, rief sie mit heftiger Empörung. »Mein Laden ist eine Institution in diesem Viertel, und ich darf sagen, dass das auf mich ganz genauso zutrifft. Ich werde von allen hier hoch geachtet! Der Laden und das gesamte Haus sind mein Eigentum; mein Sohn José wird eines Tages all das hier erben. Selbst wenn jemand meinen Laden kaufen wollte, er würde bei mir auf Granit beißen. Jeder weiß das!«

Karl wusste ganz genau, dass es niemanden auf der ganzen Welt gab, der von allen Menschen hoch geachtet wurde. Vor allem dann nicht, wenn es sich um eine wohlhabende Person handelte. Doch da er an die Theorie mit dem Scherz ohnehin nicht glaubte, beließ er es dabei.

»Natürlich, Señora, selbstverständlich. Können Sie mir sagen, ob Ihnen in den letzten Wochen etwas Ungewöhnliches oder Verdächtiges aufgefallen ist? Ist jemand unbefugt in den Laden eingedrungen, oder haben Sie Kratz- oder Einbruchsspuren an der Tür bemerkt, etwas in der Art?«

Dolores war wieder in sich zusammengesackt. Sie wirkte mit einem Mal sehr müde. »Nein, nichts dergleichen. Ich habe keine Erklärung, Sergent.«

Karl musste schmunzeln. Zugegeben, Sergent genannt zu werden fühlte sich ziemlich gut an.

»Wie soll das Ding denn sonst hier reingekommen sein?«, zischte Alex ihm ins Ohr.

»Das müssen wir herausfinden, Alex«, gab Karl zurück. »So was nennt man Ermittlungsarbeit.«

Alex bedachte seinen Schwager mit einem säuerlichen Blick, sagte aber nichts weiter dazu.

Karl klatschte in die Hände. »Also, ab mit dem Schinken ins Labor!«

»Soll ich nicht lieber die Spurensicherung rufen? Was ist, wenn Fingerabdrücke oder andere Spuren auf dem Schinken oder im Laden sind?« Auf Alex’ Gesicht breitete sich kindlicher Eifer aus. Ganz offensichtlich bereitete ihm die Vorstellung eines Großaufgebots Riesenfreude.

»Um Himmels willen!«, rief die Señora hinter ihnen. »Wissen Sie, was dann hier los ist? Das kann ich mir auf keinen Fall leisten. Nicht an einem Samstag!«

Karl lächelte nachsichtig. »Ich verstehe Sie voll und ganz, Señora. Das wird auch gar nicht nötig sein, immerhin haben wir es wohl kaum mit einem Tatort zu tun. Aber um eins muss ich Sie dennoch bitten.«

»Ich höre!«

»Wir brauchen eine Spannvorrichtung.«

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2

Trotz des fehlenden Schweinefußes gelang es Alex und Karl gemeinsam, den merkwürdigen Schinken in die Spannvorrichtung zu klemmen. Um zu verhindern, dass ihre eigenen Fingerabdrücke auf die Oberfläche gelangten, nahmen sie die kleinen Plastiktüten zu Hilfe, die Karl immer für Pacos Hinterlassenschaften in der Jackentasche bei sich trug. Das war zwar nicht sonderlich professionell, erfüllte jedoch seinen Zweck. Und in der Spannvorrichtung war der Schinken besser vor eventueller Kontamination geschützt als beispielsweise in einer Plastiktüte.

»Jetzt werden wir erst einmal klären, ob es sich hierbei wirklich um … ähm … ein Menschenbein handelt, oder ob sich jemand lediglich einen geschmacklosen Scherz mit Ihnen erlaubt hat, Señora«, sagte Alex, und Karl sah ihm an, dass er sich in seiner Rolle als Sergent mächtig gut gefiel.

»Wir informieren Sie selbstverständlich, wenn die Ergebnisse vorliegen«, ergänzte er und setzte hinzu: »Je nachdem, was dabei herauskommt, müssen Sie sich auf weitere Besuche von uns einstellen.«

Dolores Ortega nickte schwach. »Ich bete, dass es nicht dazu kommt.«

Das glaubte Karl ihr sofort. Nichts war geschäftsschädigender als Ermittlungen in einem Todesfall. Die Leute würden glotzen, die Leute würden tuscheln – aber kaufen würden sie wohl nichts mehr.

Nachdem sie sich von der Feinkosthändlerin verabschiedet hatten, schoben sie sich umständlich hintereinander aus der Tür auf die mittlerweile deutlich belebtere Straße hinaus – der eine mit einem Hund unterm Arm, der andere mit einem Schinken.

Kaum war die Tür hinter ihnen zugefallen, kam Karl in Fahrt.

»Was fällt dir eigentlich ein, Alex? Kannst du mir das mal verraten?«, polterte er.

»Wieso?«, fragte Alex sichtlich verdutzt. Er schien völlig vergessen zu haben, was er sich im Laden geleistet hatte.

»Ich soll dein Praktikant sein? Ich, Kriminalkommissar mit jahrelanger Erfahrung, ein Praktikant?« Karl wurde lauter, und einige Passanten drehten sich neugierig nach den beiden Streithähnen um. Obwohl der Kommissar es hasste, Aufmerksamkeit zu erregen, dachte er nicht im Traum daran, die Stimme zu senken. Stattdessen legte er noch eine Schippe drauf und schrie: »Du hast sie doch nicht mehr alle!«

Alex verdrehte die Augen. »Meine Güte! Jetzt krieg dich mal wieder ein. Wie hätte ich denn sonst erklären sollen, warum du bei den Ermittlungen dabei bist? Ohne mich dürftest du doch noch nicht einmal mit den Leuten reden.«

»Soll ich dir jetzt auch noch dankbar sein? Du hast mich angerufen und um Hilfe gebeten, Alex. Hast du das etwa schon wieder vergessen? Ich hab auch noch andere Dinge zu tun, als dir bei deinem ersten Fall Händchen zu halten.«

Alex wurde rot. Langsam schienen ihm Karls Worte an die Substanz zu gehen. »Niemand muss mir Händchen halten, auch du nicht!«

»Na wunderbar!« Karl drehte sich auf dem Absatz um und schickte sich an, seinen unterbrochenen Spaziergang in Richtung Barceloneta fortzusetzen. »Dann können Paco und ich ja jetzt gehen. Ich wünsche dir viel Glück mit deinem Fall.«

Damit setzte Karl sich in Bewegung und ließ seinen Schwager mitten auf dem Passeig del Born stehen.

Schon nach wenigen Schritten hörte er Alex rufen: »Jetzt warte doch mal, Flieger!«

Karl wandte sich um, den Hund noch immer unterm Arm. »Nenn mich nicht so!«, grollte er.

Alex seufzte, während er augenscheinlich versuchte, eine bequeme Position für den höllisch schweren Schinken mitsamt Gestell zu finden. Fast tat er Karl ein bisschen leid – aber nur fast.

»Ist dir eigentlich schon einmal der Gedanke gekommen, der Spitzname könnte nett gemeint sein, Karl? Ich mache das nicht, um dich zu ärgern. Dein Name ist viel zu altmodisch – du bist doch noch keine siebzig! Obwohl du dich ja so anziehst … Außerdem hat jeder bei uns einen Kosenamen. Das ist ein Familiending!«

Karl verzog das Gesicht, sagte aber nichts dazu. Schließlich war es möglich, dass der Jüngere ihm gerade so etwas wie ein Kompliment gemacht hatte. Gut verpackt in eine Beleidigung, aber immerhin. Da er dennoch nicht wusste, was er erwidern sollte, gab er ein besänftigtes Brummen von sich.

Alex’ Schultern sackten herab. »Hör mal, können wir nicht vielleicht in Ruhe bei einem Kaffee über die ganze Sache reden? Das Ding hier ist wirklich schwer, und ich hab eine lange Nacht hinter mir.«

»Okay«, lenkte Karl ein. »Aber erst müssen wir den Schinken zur Kriminaltechnik bringen.«

»Können wir ihn nicht einfach zwischendurch ins Auto legen? Wen interessiert es denn, ob er eine halbe Stunde früher oder später bei den Kollegen ankommt? Die werden sich ohnehin bedanken.«

Allein diese Frage zeigte Karl, dass es nicht weniger als grobe Fahrlässigkeit wäre, Alex mit dem Schinken allein zu lassen. Wenn es sich dabei wirklich um den Teil eines Toten handelte, dann konnte Achtlosigkeit erheblichen Schaden anrichten. »Im Auto ist es viel zu heiß für den Schinken, er könnte zu schwitzen anfangen, und das kann eventuelle Spuren zunichtemachen.«

Als er Alex’ erschöpfte Miene sah, klopfte er ihm aufmunternd auf die Schulter. »Willkommen bei den Kapitalverbrechen, Junge. Wo steht dein Wagen?«

Alex’ Auto, ein Dienstwagen der Mossos, stand nur wenige Meter entfernt im absoluten Halteverbot. Karl war erleichtert, dass sie eine relativ kurze Fahrt vor sich hatten, da er, während er das Beweisstück auf dem Schoß balancierte, mit einer Hand Paco dazu bewegen musste, im hinteren Teil des Wagens zu bleiben. Der Schinken hatte das Tier richtig hektisch werden lassen – im Rahmen seiner Möglichkeiten. Irgendwie schaffte Karl es sogar, zwischendurch Alba eine SMS zu schreiben, in der er ihr mitteilte, dass er es wahrscheinlich nicht zum Mittagessen schaffen würde.

Die für die Ciutat Vella – also die Altstadt – zuständige Dienststelle der Mossos d’Esquadra lag in einem ziemlich großen Zweckbau im westlichen Altstadtviertel El Raval. Höchstwahrscheinlich hatte die Ortswahl historische Gründe, war der Raval noch bis vor einigen Jahren die No-go-Area der Stadt gewesen. Hier waren die Huren zu Hause, hier teilten sich über vierzig Nationen den ohnehin begrenzten Platz, hier fand der Drogenhandel statt. Doch seit Studenten und Künstler das Viertel entdeckt hatten, war es in Mode gekommen, hier zu wohnen. Und so war eine einzigartige Mischung aus Altem und Neuem entstanden. Hippe Restaurants säumten nun den Straßenstrich, in denen sich wohlhabende Bürger beim Essen ein bisschen vor all der Verruchtheit gruseln konnten; und wo immer eine türkische Teestube ihre Pforten schloss, eröffnete an gleicher Stelle ein Geschäft, in dem man Möbel, Kleidung oder Accessoires erwerben konnte, die »100% vintage« waren. Karl wusste zwar nicht genau, was er von dieser Entwicklung halten sollte, war jedoch froh, zu wissen, dass er sich keine allzu großen Sorgen um seinen Sohn machen musste, wenn dieser mit Freunden durch die Gassen zwischen Las Ramblas und Poble Sec zog.

Sie fuhren auf den Hof des Gebäudes und ließen Paco im Auto zurück. Alex ging festen Schrittes in Richtung Eingang, doch Karl entgingen die teils belustigten, teils argwöhnischen oder gar verächtlichen Blicke nicht, die sein Schwager von entgegenkommenden Kollegen erntete. Es war mehr als offensichtlich, dass Alex in der Dienststelle keinen besonders guten Ruf hatte. Er selbst erntete eine Reihe neugieriger Blicke.

Sie betraten das Gebäude, und Alex führte Karl mit den Worten »Die Technik sitzt im Keller« eine große Treppe hinab.

Klar, dachte Karl. Die Technik sitzt immer im Keller. Das war wohl überall auf der Welt gleich. Natürlich hatte das gute Gründe. Hier hatten die Techniker genug Platz, um auch große Beweisstücke untersuchen zu können. Meist gab es auch ein separates Belüftungssystem, das Kontaminierungen vorbeugen sollte. Doch die separate Unterbringung hatte nicht selten zur Folge, dass die Techniker Ticks und Eigenarten entwickelten, sprich: mit der Zeit etwas wunderlich wurden. In Berlin hatten sie die Kollegen aus der Kriminaltechnik immer »die Kellerkinder« genannt. Er war gespannt, wer und was ihn hinter der doppelflügeligen Metalltür erwartete, auf die sie nun zusteuerten.

Alex hielt Karl die Tür auf, und dieser ging mit dem Schinken hindurch. »Du weißt ja, was zu tun ist, nicht wahr, Karl?«, hörte er die Stimme seines Schwagers dicht an seinem Ohr. »Ich hab nämlich noch was Dringendes zu erledigen.«

Mit diesen Worten schlüpfte Alex durch die Tür, die kurz darauf krachend ins Schloss fiel. Karl unterdrückte einen Fluch. Was sollte das denn jetzt schon wieder? Wieso verdrückte sich dieser Kerl und ließ ihn hier einfach stehen, in einer fremden Abteilung auf einer fremden Dienststelle? Das war nun wirklich nicht in Ordnung. Eine leise Stimme sagte ihm, dass Alex ihn noch den letzten Nerv kosten würde. Und dass, sollte er jemals in seinem Leben einen Mord begehen, Alex das Opfer sein würde.

Der Kommissar schaute sich in dem großen Raum um, in dem er stand. Alles in allem bot sich ihm ein vertrautes Bild. In der Mitte standen große Tische, die ihn an den Chemieraum seiner Schule erinnerten. Werkzeuge lagen darauf herum, auf einem Tisch erkannte Karl eine elektrische Gitarre, auf dem anderen lag eine zerbeulte Autotür. Hinter Glasscheiben und einer großen Glastür lag das separate Labor. Hocker, Kaffeetassen und ein altmodisches Radio komplettierten das Ensemble. Eigentlich alles ganz normal, nur eines war merkwürdig: dass Karl sich vollkommen allein in dem Raum befand. Niemand saß an seinem Platz, niemand arbeitete. Karl schaute auf die Uhr und stellte fest, dass es noch lange nicht Zeit für die Siesta war. Wo konnten die denn alle sein?

Er spitzte die Ohren und hörte Gemurmel. Das Geräusch führte ihn ans andere Ende des großen Raumes, zu einer weiteren Metalltür, die er umständlich öffnete. Mit dem Anblick, der sich ihm nun bot, hatte er nicht gerechnet: Er stand in einer kleinen Küche, in der sich ungefähr zehn Männer und Frauen in weißen Kitteln um eine große Torte versammelt hatten, auf der zahlreiche Kerzen brannten. Hinter der Torte war ein großer Mann in gebückter Haltung augenscheinlich drauf und dran, die Kerzen auszublasen. Bei Karls Eintreten schaute er auf, um Sekundenbruchteile später selig grinsend eine eindrucksvolle Reihe strahlend weißer Zähne zur Schau zu stellen.

»Ein ganzer Ibérico. Das wäre doch nicht nötig gewesen!«, rief er und schickte sich an, Karl den Schinken aus den Händen zu nehmen. Dieser wich einen Schritt zurück. »Ich fürchte, da liegt ein Missverständnis vor«, sagte Karl und schob eilig ein »Trotzdem alles Gute zum Geburtstag!« hinterher. Der Mann ließ die Mundwinkel sinken. »Wenn das so ist: Was machen Sie dann hier? Ich hab Sie noch nie gesehen. Und wieso haben Sie einen Schinken dabei?«

Sämtliche Augenpaare im Raum waren auf Karl gerichtet. Er hasste solche Situationen; dabei hatte er immer das Gefühl, zu schrumpfen, während alle anderen gen Himmel wuchsen. Er räusperte sich. »Nun ja, der Schinken ist das potenzielle Opfer in einem potenziellen Mordfall.«

Das Geburtstagskind zog die Augenbrauen hoch; aus der hinteren Ecke der Küche war leises Kichern zu hören.

»Ein potenzielles Opfer, sagen Sie?«

Karl nickte. »Wenn Sie mir ein bisschen Platz auf dem Tisch dort machen könnten, erkläre ich es Ihnen gern.«

Der Angesprochene zögerte ein wenig, dann pustete er hastig die Kerzen aus und schob die Torte ein Stück beiseite. Erleichtert legte Karl seine schwere Fracht auf dem Tisch ab. »Vielen Dank! Die sind schwerer, als sie aussehen. Also, es ist so: Diesen Schinken hat die Feinkosthändlerin Dolores Ortega heute Morgen von der Decke ihres Ladens genommen. Aber es handelt sich keineswegs um einen gewöhnlichen Schinken. Sehen Sie selbst!«

Karl deutete auf das Siegel, und die Kriminaltechniker beugten sich über den Schinken, um es in Augenschein zu nehmen.

»Das ist interessant. Aber bevor wir weiterplaudern, würde mich doch brennend interessieren, wer Sie sind und wie Sie auf den Gedanken kommen, Sie könnten hier einfach so reinspazieren.«

Seufzend nahm Karl den Hut ab und streckte dem Mann seine Rechte entgegen, die dieser auch sogleich ergriff. »Karl Lindberg, Kriminalkommissar der Kap II in Berlin-Pankow. Angenehm.«

»Javier Guardiola, Chef der Kriminaltechnik Barcelona.« Guardiola hatte einen festen Händedruck. Im Stillen amüsierte es Karl, dass der Kriminaltechniker den Namen eines berühmten Fußballtrainers trug; er sah nämlich auch so aus. Sein ebenmäßiger Kopf war kahl geschoren, ein grauschwarzer Dreitagebart zeichnete Schatten um den schmalen Mund, und die grauen Augen blickten streng und herausfordernd in die Welt. Javier Guardiola machte den Eindruck eines Mannes, der regelmäßig ins Fitnessstudio ging und es gewohnt war, dass man schwieg, während er sprach.

»Sind Sie mit dem berühmten Piloten verwandt?« Guardiolas Stimme riss Karl aus seinen Gedanken. Wie oft hatte er diese Frage eigentlich schon gehört? »Nein«, antwortete er höflich. »Lindbergh war Amerikaner schwedischer Herkunft. Ich bin halb Deutscher, halb Ire und lebe in Spanien. Und ich habe Flugangst. Und Sie?«, setzte er hinzu. »Sind Sie mit dem berühmten Fußballtrainer verwandt?«

»Nein.« Guardiola schüttelte lachend den Kopf. »Und warum sprengen Sie nun mit einem potenziell ermordeten Schinken meine Geburtstagsparty, anstatt an Ihrem Berliner Schreibtisch zu sitzen?«

Karl trat von einem Bein aufs andere. Er konnte kaum glauben, was er tatsächlich im Begriff war, zu sagen. »Ich mache hier ein Praktikum bei der Mordkommission.«

»Was sagt man dazu?« Guardiolas Stimme klang sarkastisch. »Wir kommen mit unserer Arbeit kaum hinterher, und die Mordkommission leistet sich Praktikanten.« Dann wandte er sich wieder an Karl. »Wem sind Sie denn zugeteilt?«

»Ich arbeite mit Alexander Diaz.«

Einen Moment lang hätte man eine Stecknadel fallen hören können, was in einem Raum voller Spanier eine echte Seltenheit war. Dann lachte Guardiola aus vollem Hals los. Einige seiner Kollegen stimmten mit ein, und Karl musste seine ganze Willenskraft aufbringen, um nicht hinauszurennen. »Sie Armer!«, rief der Kriminaltechniker. »Wissen Sie eigentlich, was Sie sich da eingebrockt haben?«

»Ich habe so eine Ahnung«, knurrte Karl. »Alex ist mein Schwager.«

Jetzt lachte Guardiola noch lauter. Er schien sich gar nicht mehr fangen zu können. Nach einer halben Ewigkeit wischte er sich mit dem Handrücken ein paar Tränen aus den Augenwinkeln und klopfte Karl auf die Schulter. »Ich sehe schon, mein Freund, Sie brauchen jede Hilfe, die Sie bekommen können. Also, was genau kann ich für Sie tun?«

»Ich möchte gerne wissen, ob es sich hierbei um den Körperteil eines Menschen handelt. Falls der Test positiv ausfällt, wäre eine Spurenuntersuchung natürlich ebenfalls sinnvoll.« Guardiola musterte den Schinken, dann schnippte er mit den Fingern. »Ramirez!« Eine zierliche, sehr jung wirkende Frau mit einer absurd großen Brille auf der Stupsnase trat vor. Sie schaute ihren Chef abwartend an, sagte aber nichts.

»Was schlägst du vor?«, fragte Guardiola.

»Nun, am einfachsten ist das durch einen genetischen Fingerabdruck zu klären. Das dürfte hier kein Problem sein.« Sie schielte auf den Schinken. »Material ist ja genug da.« Ramirez sprach so leise, dass es Karl schwerfiel, sie zu verstehen. »Dann das Übliche. Fingerabdrücke, Fasern und so weiter.«

Guardiola nickte. »In Ordnung. Bring das Teil schnell ins Labor, damit wir hier weiterfeiern können.«

Die kleine Frau schickte sich an, den Schinken hochzuheben, doch Karl sprang ihr bei. »Lassen Sie mich das machen!«

Guardiola lachte. »Und Kavalier ist er auch noch. Ich wünsche Ihnen viel Glück, Mann. Sie können es brauchen!«

Karl war heilfroh, als die Küchentür hinter ihm zufiel. Dahinter brachen die Kriminaltechniker in schallendes Gelächter aus. Ein wunderbarer Start.

»Das machen die immer, sobald ich den Raum verlasse«, murmelte Ramirez. »Das hat nichts mit Ihnen zu tun.«

Karl fragte sich sofort, ob sie das ernst meinte. Als er den Schinken im separaten Labor auf einem der Arbeitstresen abgesetzt hatte, wandte er sich an die Laborantin: »Ihr Chef ist ja ein richtiger Charmeur.«

Auf den Wangen der jungen Frau zeigten sich zwei kirschrote, perfekt geformte Kreise. Sie strich sich eine mittelblonde Haarsträhne aus der Stirn und lächelte. »Er ist der beste Kriminaltechniker, den wir haben.« Dann hielt sie Karl die Hand hin. »Luisa.« Karl ergriff die Hand und hauchte Luisa die obligatorischen Küsschen auf die Wangen. »Encantado.« Dann fragte er: »Wie lange brauchst du für die Analyse?«

Luisa zuckte die Schultern. »Nicht besonders lange. Vierundzwanzig Stunden. Höchstens.«

Karl war beeindruckt. »So schnell?«

Ein kleines Lächeln umspielte Luisas Mundwinkel. »Das hättest du nicht erwartet, oder?«

Stimmt. Das hatte Karl nicht erwartet.

 

Als er das Reich der Kriminaltechnik verließ, fand er Alex auf dem Flur vor, lässig gegen die Wand gelehnt. Offensichtlich wartete er schon eine Weile und war nicht auf die Idee gekommen, ihm im Labor Gesellschaft zu leisten. Karl hatte so eine Ahnung, warum. Guardiola war ganz bestimmt kein Typ, der mit seinen Abneigungen hinterm Berg hielt.

Als er seinen Schwager erblickte, zückte Alex sein Smartphone und rief: »Bitte lächeln!« Dann klickte auch schon der Auslöser, und ein greller Blitz bohrte sich in Karls Netzhaut. »Verdammt, wofür war das denn jetzt?«, schimpfte er.

»Gute Nachrichten, Flieger! Ich war oben beim Chef, jetzt ist es offiziell. Du bist ab heute Praktikant der Mossos d’Esquadra. Wir sind ein Team!«

Karl war von dieser Neuigkeit ein wenig überrumpelt und hatte ein flaues Gefühl in der Magengegend. Schließlich hatte er noch keine Zeit gehabt, darüber nachzudenken, ob er mit Alex zusammenarbeiten wollte. Auf unbestimmte Zeit. »Ich hab doch noch nicht mal mit Alba gesprochen!«, versuchte er einen lahmen Protest.

Alex lachte. »Die freut sich eher. Erst letzte Woche hat sie gesagt, du würdest dich schon wie ein richtiger Rentner benehmen!«

Dieser Satz traf Karl hart. »Das hat sie gesagt?« Während er noch versuchte, die Neuigkeiten zu verdauen, beobachtete er, dass Alex das Foto von ihm auf eine Plattform hochlud. »Was genau machst du da?«

»Ich verkünde die frohe Botschaft!«, grinste Alex und zeigte Karl sein Telefon. Dort entdeckte dieser entsetzt ein wenig schmeichelhaftes Foto von sich selbst mit verrutschter Knopfleiste. Darunter stand: »Die Mossos begrüßen ihren Neuzugang: Karl Lindberg von der Kriminalpolizei Berlin.« Das Foto war auf Instagram hochgeladen, auf dem offiziellen Feed der Polizei.

»Was zum Teufel …?« Karl konnte nur hoffen, dass sein Chef in Berlin sich nicht auf dieser Plattform herumtrieb. Er war sich nämlich nicht sicher, ob es ihm überhaupt erlaubt war, ein Praktikum anzutreten.

Alex kratzte sich am Kopf. »Sorry, Flieger. Ich bin für die Social-Media-Kanäle der Mossos zuständig. Und mir fällt so selten was ein, das ich posten kann.«

Karl schloss die Augen, atmete durch und zählte langsam bis drei. Dann sah er seinen Schwager streng an. »Du wirst mir jetzt auf der Stelle erklären, was dieser ganze Zirkus soll, Alex. Oder du kannst dir einen anderen Praktikanten suchen.«

 

Sie holten Paco aus dem Auto, gingen in eine nahe gelegene Bar und setzten sich an einen Ecktisch. Um diese Uhrzeit saßen nur ein paar Nachbarn an der Theke, trotzdem blickte Alex sich mehrmals nervös um, als fürchte er, heimlich belauscht zu werden. Karl war die Nervosität seines Schwagers nicht entgangen, dabei bestand seiner Meinung nach überhaupt keine Gefahr, da zwei Männer an der Bar lauthals darüber stritten, welche Hosenlänge nun für das herrschende Wetter optimal war. Ihre Stimmen füllten den gesamten Raum aus, und sie hatten ein paar interessierte Zuhörer. Karls Erfahrung nach würde es nicht lange dauern, bis sich die anderen Männer an der Diskussion beteiligten. In Barcelona hatte eigentlich jeder eine Meinung zu allem – und diese wurde auch unaufgefordert kundgetan. Der Wirt kam zu ihnen an den Tisch und nahm ihre Bestellung auf. Einen Café solo mit zwei Päckchen Zucker für Karl, einen Cortado und ein Bocadillo mit Schinken für Alex. Abgesehen von der Tatsache, dass Karl die Vorliebe der Spanier für diese unerfreulich weißen und trockenen belegten Baguettes noch nie geteilt hatte, konnte er es nicht fassen, dass sich Alex ausgerechnet ein Bocadillo con Jamón bestellt hatte.

»Du kannst jetzt Schinken essen?«, fragte Karl verwundert.

»Klar, wieso nicht?«, gab Alex zurück. Karl fielen so viele Antworten auf diese ungeheuerliche Frage ein, dass ihm keine davon über die Lippen wollte. Die schier grenzenlose Unbekümmertheit, die Alex durch sein Leben trug, war dem grüblerischen Kommissar immer wieder ein Rätsel. Eine Weile kaute Alex schweigend auf seinem Brot herum, bis es Karl nicht mehr aushielt.

»Jetzt mach schon, Alex, oder muss ich dir alles aus der Nase ziehen? Erklär mir, warum ich auf einmal Praktikant bei der katalanischen Polizei bin!«

Alex verdrehte die Augen und ließ den Rest seines Brötchens geräuschvoll auf den Teller fallen. »Also gut, wenn du es unbedingt hören willst …« Er beugte sich vor und sagte mit gesenkter Stimme: »Weil ich es nicht allein schaffe.« Und mit einem Seitenblick auf Karl setzte er hinzu: »Das wolltest du doch hören, oder?«

»Eigentlich nicht«, erwiderte Karl gereizt. »Ich würde gerne wissen, warum du es nicht allein schaffst. Und wieso du überhaupt Sergent geworden bist, wenn du die Position nicht ausfüllen kannst.«

»So hart musst du es ja nicht gerade ausdrücken, oder?«

Karl runzelte die Stirn. »Verarsch mich nicht, Alex.«

Alex lehnte sich zurück. Dabei hatte er jenen arroganten Gesichtsausdruck aufgesetzt, der Karl so vertraut war und der ihn immer wieder in Rage versetzte. So als wüsste Alex schon vorher ganz genau, dass er mit dem, was er gleich sagen oder tun würde, durchkommen würde. »Der Chef kann mich eben gut leiden. Er glaubt, dass ich ein außergewöhnlich guter Polizist bin, und will mir eine Chance geben.«

Wenn es eines gab, das man über Karl Lindberg sagen konnte, dann dass er ein Mann mit vielen zum Teil sehr unterschiedlichen Stärken war. Und dass Geduld eindeutig nicht dazu zählte. Er hatte keine Lust, den Halbwahrheiten seines Schwagers noch länger zu lauschen. Wenn der nicht bereit war, ihn einzuweihen, dann sollte er es eben bleiben lassen. »Das kannst du vielleicht deinen Bettmiezen erzählen, Cuñado, aber nicht mir«, erklärte er daher schroff und machte Anstalten aufzustehen. Doch er wurde von Alex am Ärmel wieder auf den Stuhl gezogen.

»Du bist echt anstrengend, Flieger, weißt du das?«

»Das ist mir egal. Ich kann es nicht leiden, wenn mich jemand für dumm verkaufen will. Wenn wir zusammenarbeiten sollen, dann müssen wir einander vertrauen, Alex.«

Karls Schwager setzte eine gequälte Miene auf, lenkte aber ein. »Okay, okay. Madre mía! Ich erzähl dir ja alles. Aber das muss unter uns bleiben! Ich riskiere meinen Kopf, und das meine ich wörtlich.«

Karl nickte. »Ich kann schweigen.«

Alex beugte sich so weit über den Tisch, dass er mit der Nase über Karls leerer Kaffeetasse hing. Mit weit aufgerissenen Augen flüsterte er: »Vor ein paar Monaten habe ich Garcia de Torres mit einem kleinen Stricher erwischt.«

Karl wusste nicht, was er erwartet hatte, aber das sicher nicht. Er schnappte nach Luft. »Den Polizeichef?«

»Genau den«, bestätigte Alex grinsend. »Und glaub mir, er kann froh sein, dass nur ich ihn gesehen habe, so, wie die beiden übereinander hergefallen sind. Immerhin ist er Lokalprominenz.«

Es fiel Karl schwer zu glauben, was er da hörte. Die Mossos waren durch diverse Skandale in Verruf geraten, vor allem, nachdem hintereinander zwei Menschen bei brutalen Festnahmen gestorben waren. Der Saubermann Garcia de Torres war angetreten, um das ramponierte Image der Truppe aufzupolieren. Karl konnte sich ungefähr ausmalen, was passieren würde, wenn Alex’ Entdeckung an die Öffentlichkeit geriet. Es fiel ihm nicht schwer, eins und eins zusammenzuzählen.

»Und jetzt erpresst du ihn«, schlussfolgerte er.

Alex schüttelte den Kopf. »Du hältst mich echt für ein Arschloch, oder?«

Als Karl diese Frage nicht kommentierte, erklärte Alex: »Das war gar nicht nötig. Gleich am nächsten Tag hat er mich in sein Büro zitiert und mir diesen Posten angeboten. Bei der Gehaltserhöhung hätte niemand Nein gesagt, und ein weicher Bürostuhl ist angenehmer, als den ganzen Tag auf Streife zu gehen! Natürlich habe ich sein Angebot angenommen. Außerdem: Wieso sollte ich ihn verpfeifen? Von mir aus kann er ins Bett gehen, mit wem er will. Ist doch Privatsache.«

Karl zog innerlich den Hut vor dem Polizeichef. Die Lösung war schlicht genial. So sicherte er sich nicht nur Alex’ Verschwiegenheit, sondern auch dessen Loyalität, ohne auf unsaubere Mittel zurückgreifen zu müssen. Mehr noch: Der junge Polizist würde alles tun, um sich des Vertrauens würdig zu erweisen. Und wenn er Ärger machte, musste sich der Kommissariatschef mit ihm herumschlagen, Garcia de Torres würde nichts davon mitbekommen. Blöd nur, dass Barcelonas Polizeichef in dieser Hinsicht für Karls Geschmack anscheinend ein wenig zu optimistisch war.

»Und die Fortbildungen?«, fragte Karl.

»›Erweiterte Verhörtechniken‹, ›Die Geschichte der Mossos‹ und ›Terrorprävention‹«, antwortete Alex ungewöhnlich zurückhaltend. Der herausfordernde Unterton in seiner Stimme war verschwunden.

Karl seufzte und massierte sich die Schläfen. Was sein Schwager ihm gerade erzählte, war auf so vielen Ebenen nicht korrekt, dass sich sein deutsches Beamtenherz schmerzlich zusammenzog. Natürlich war bei der Berliner Polizei auch nicht immer alles überkorrekt abgelaufen, natürlich hatte es Mauscheleien gegeben, aber nicht in diesem Ausmaß.

»Was hast du dir denn vorgestellt?«, fragte er etwas verzweifelt. »Dass sich die Mörder, mit denen du es zu tun bekommst, einfach alle selbst stellen? Dass deine Kollegen nicht merken, wie ahnungslos du bist? Dass sich einfach alles von selbst regelt und wieder mal jemand kommt, der die Arbeit für dich macht? Dass du dir eine Dezernatsleitung genauso einfach abgucken kannst wie früher deine Hausaufgaben?«

Karl hatte sich in Rage geredet und war zum Schluss hin immer lauter geworden. Sehr zu seinem Unmut blickten nun einige Männer interessiert zu ihnen herüber. Alex war während der Standpauke merklich zusammengeschrumpft; offenbar hatten Karls Worte den jungen Polizisten alles andere als kaltgelassen. Hilflos zuckte er die Schultern. Nach einem kurzen Schweigen sagte er schließlich: »Du hast ja recht, Cuñado, aber was soll ich denn deiner Meinung nach jetzt tun? Es gefällt dir vielleicht nicht, aber ich brauche dich wirklich.«

Karl seufzte. Er sah seinen Schwager an, der mit seinen Heavy-Metal-Shirts, den Festivalbändchen am Handgelenk und der gebrochenen, schief zusammengewachsenen Nase wie ein ungezogener Schuljunge wirkte. Wenn Karl dem kleinen Bruder seiner Frau nicht aus der Klemme half, würde Alba ihn mit hundertprozentiger Sicherheit umbringen. »Das ist nicht von der Hand zu weisen«, bestätigte er.

Das vertraute Grinsen kehrte zurück. Beinahe förmlich hielt Alex Karl die rechte Hand hin. »Also, abgemacht?«

Karl Lindberg schüttelte den Kopf, halb aus Verwunderung über diese verrückte Welt, halb aus Verwunderung über sich selbst. Dann schlug er ein. »Abgemacht.«

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3

Als Karl endlich zu Hause ankam, fühlte er sich, als hätte er einen ganzen Arbeitstag hinter sich gebracht, dabei war es erst halb zwei. Vor der Haustür saß wie immer zu dieser Tageszeit seine Nachbarin Doña Clara auf ihrem Klappstuhl. Die alte Dame wohnte im Erdgeschoss und ließ sich auch von den Touristenströmen, die durch die Gassen schwappten, nicht daran hindern, ihre Küchen- und Näharbeiten vor der Tür zu erledigen und das Treiben der Nachbarschaft zu kommentieren. Etwas, das Karl ein ums andere Mal in Erstaunen versetzte, schließlich wohnten sie in einer der engen Gassen, die die Carrer de la Princesa mit der Santa Maria del Mar verbanden und deshalb zuweilen von Menschen regelrecht verstopft wurden. Aber Doña Clara schien es zu gefallen, den Verkehr zu behindern – sie saß auf ihrem Plastikstuhl und rührte sich nicht vom Fleck. Wie ein trotziges Mahnmal für das alte Barcelona.

»Buenas, Doña Clara«, grüßte Karl. »Was gibt es denn heute?«

Die alte Dame blickte auf und lächelte ihren Nachbarn freundlich an. »Buenas, Flieger. Die Enkel kommen, also gibt es Tortilla!«

»Ihr Lieblingsessen?«, erkundigte sich Karl, doch Doña Clara schüttelte nur amüsiert den Kopf.

»Ganz im Gegenteil. Die kommen immer nur, wenn sie Geld wollen. Und eine Tortilla sagt: ›Vergesst es, Kinder. Bei eurer Großmutter ist nichts zu holen!‹«

Karl lachte. »Das muss ich mir merken. Wenn Oliver das nächste Mal nach einem iPhone fragt, bekommt er eine ganze Woche nichts anderes.«

Doña Clara nickte und zwinkerte dem Kommissar verschwörerisch zu. »Essen erzieht.«

Karl gab ein zustimmendes Brummen von sich und schickte sich an, im Treppenhaus zu verschwinden, da hörte er Doña Clara hinter sich fragen: »Apropos Erziehung. Wann möchtest du deine nächste Katalanischstunde nehmen?« Karl hatte befürchtet, dass sie irgendwann fragen würde, und dennoch gehofft, er würde noch einmal davonkommen. In einem Anflug von Wahnsinn hatte er das Angebot der Nachbarin angenommen, bei ihr Katalanischunterricht zu nehmen. Zugegeben, Karl wäre froh, die eigentliche Sprache der Stadt zu beherrschen, um irgendwann nicht mehr als Fremder aufzufallen, doch Doña Clara war eine grauenvolle Lehrerin. In den immerhin bereits zehn Unterrichtsstunden hatte Karl rein gar nichts gelernt. Er setzte eine bedauernde Miene auf und drehte sich um. »Daraus wird wohl erst mal nichts, Doña Clara, leider. Ich bin die nächsten Wochen sehr beschäftigt.«

Die Nachbarin zog ihre Augenbrauen hoch. »Beschäftigt? Womit denn?« Karl senkte die Stimme zu einem bedeutungsschwangeren Raunen. »Versprechen Sie mir, es für sich zu behalten, Doña Clara?«

»Natürlich, wofür hältst du mich? Ich bin die Diskretion in Person!«, empörte sich die alte Frau.

Karl wusste genau, dass dies eine schamlose Lüge war – es war sicherer, ein Geheimnis im Radio senden zu lassen, als es Doña Clara anzuvertrauen. Doch er würde seiner Nachbarin ohnehin keine verwertbaren Informationen geben.

»Die Polizei von Barcelona hat mich um Hilfe gebeten.«

Die Nachbarin lachte. »Der kleine Alex hat wohl mehr abgebissen, als er kauen kann, wie?«

Karl lächelte gequält. Wie konnte eine beinahe Neunzigjährige eine so messerscharfe Auffassungsgabe haben? Doch er kommentierte ihre Frage nicht weiter, sondern sagte: »Es geht um einen Fall hier im Barrio.«

Seine Nachbarin riss die Augen auf. Ein sensationslüsternes Glitzern tauchte darin auf. »Ein Verbrechen, sagst du?« Sie ließ ihr Schälmesser mit der Zwiebel auf das Brettchen sinken, das sie auf ihrem Schoß balancierte. Dann sah sie Karl forschend an. »Doch nicht etwa Mord?«

Karl zwinkerte ihr verschwörerisch zu. »Wer weiß?«

Doña Clara schnappte nach Luft und fasste sich ans Herz. »Dios mío!«

Karl nutzte ihre Überraschung aus, wünschte seiner Nachbarin hastig einen schönen Tag und schlüpfte ins Treppenhaus. Zwar war der Aufstieg zu ihrer Wohnung im sechsten Stock jedes Mal aufs Neue eine Herausforderung für die Familienmitglieder, aber es war einfach großartig, so weit oben zu wohnen. In den engen Gassen der Altstadt war eine Wohnung im Dachgeschoss die einzige Möglichkeit, in lichtdurchfluteten Räumen zu leben. Den dunklen Löchern, in denen viele Menschen in dieser Stadt wohnten, konnte Karl beim besten Willen nichts abgewinnen.

Bereits im dritten Stock konnte er deutlich hören, dass Alba zu Hause war. Dumpfe Heavy-Metal-Klänge hallten ihm entgegen. Unglücklicherweise hatte seine Frau denselben Musikgeschmack wie ihr jüngerer Bruder. Ohnehin war Alba kein leiser Mensch. Was ihr an Körpergröße fehlte, glich sie spielend durch Lautstärke aus. Karl schloss die Wohnungstür auf, setzte den Hund auf den Boden und drehte die große Stereoanlage im Wohnzimmer leiser. Das lockte seine Frau aus der Küche. Wie immer trug sie verschlissene Jeans und ein ebenso verschlissenes T-Shirt aus ihrer schier unerschöpflichen Sammlung aus Band- und Festivalshirts. Da sie in der Apotheke ohnehin immer einen weißen Kittel anhatte, konnte sie darunter tragen, was sie wollte; sehr zu Karls Leidwesen. Wenn sie nur wüsste, wie wunderschön sie in einem Kleid aussah.