Spanischer Feuerlauf - Catalina Ferrera - E-Book
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Spanischer Feuerlauf E-Book

Catalina Ferrera

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Beschreibung

Der dritte Barcelona-Krimi mit dem deutschen Kommissar Karl Lindberg und seinem charmanten spanischen Kollegen Alex Diaz: Jeder in Barcelona weiß um die Gefahren des Carrefoc, des traditionellen Feuerlaufs – was natürlich niemanden daran hindert, dem jährlichen Spektakel beizuwohnen. Auch Kommissar Karl Lindberg und sein katalanischer Schwager, Comisario Alex Diaz, sind unter den Zuschauern. Doch als ganz in ihrer Nähe die aufgekratzte Stimmung in Panik umschlägt, wird aus dem privaten Vergnügen schnell beruflicher Ernst: Mitten auf der Via Laietana liegt die Leiche einer verwahrlosten Frau. Was erst wie ein tragischer Unfall beim Feuerlauf aussieht, erweist sich schnell als kaltblütiger Mord. Karl und Alex müssen erneut hartnäckig-lässig zahlreichen Spuren folgen, die sie unter anderem zu den äußerst schweigsamen Bewohnern eines pyrenäischen Bergdorfes führen, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen. Catalina Ferrera, die selbst in Barcelona lebt, versteht es in ihren Urlaubs-Krimis wunderbar, Lebensart und Atmosphäre der Hauptstadt Kataloniens einzufangen. So bieten ihre Romane nicht nur eine heiter-spannenden Krimi-Handlung, sondern auch jede Menge Urlaubs-Feeling und ihren ganz eigenen liebevollen Blick auf die Eigenheiten und Zwistigkeiten der Katalanen und Spanier. »Spanischer Feuerlauf« enthält außerdem traditionelle spanische Rezepte und allerhand kulturelles Insiderwissen. Alle Bände der Barcelona-Krimis von Catalina Ferrera rund um das spanisch-deutsche Ermittler-Duo Alex Diaz und Karl Lindberg auf einen Blick: • »Spanische Delikatessen« • »Spanischer Totentanz« • »Spanischer Feuerlauf« • »Spanisches Blutgeld«

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Seitenzahl: 453

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Catalina Ferrera

Spanischer Feuerlauf

Ein Barcelona-Krimi

Knaur e-books

Über dieses Buch

Jeder in Barcelona weiß um die Gefahren des Carrefoc, des traditionellen Feuerlaufs – was natürlich niemanden daran hindert, dem jährlichen Spektakel beizuwohnen. Auch Kommissar Karl Lindberg und sein katalanischer Schwager, Comisario Alex Diaz, sind unter den Zuschauern. Doch als ganz in ihrer Nähe die aufgekratzte Stimmung in Panik umschlägt, wird aus dem privaten Vergnügen schnell beruflicher Ernst: Mitten auf der Via Laietana liegt die Leiche einer verwahrlosten Frau. Was erst wie ein tragischer Unfall beim Feuerlauf aussieht, erweist sich schnell als kaltblütiger Mord.

Karl und Alex müssen erneut hartnäckig-lässig zahlreichen Spuren folgen, die sie unter anderem zu den äußerst schweigsamen Bewohnern eines pyrenäischen Bergdorfes führen, um der Wahrheit auf den Grund zu gehen.

Inhaltsübersicht

Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. KapitelAnhangCorrefocs – Eine katalanische MutprobeRezeptePintxosPintxo mit Tapenade und gebratener ZucchiniPintxo mit weißem Spargel, Ziegenfrischkäse und SafransoßePintxo mit Pellkartoffeln und Mojo VerdeSauerteig-Pintxo mit Cherrypilzen und getrockneten FeigenPan Aceite mit gebratenen Salatherzen und eingelegter PaprikaLeseprobe »Spanisches Blutgeld«
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Prolog

Sie war so eine gottverdammte Idiotin. Die Leute hatten zwar noch andere, manchmal sogar schlimmere Namen für sie, aber sie selbst schimpfte sich schlicht Idiotin. Das war streng genommen keine große Neuigkeit, doch aus gegebenem Anlass fiel es ihr gerade wieder auf. Es war mitten in der Nacht, das Dorf schlief und lag im Dunkeln, die Tiere waren unterwegs. Und sie ebenfalls. Durchgeschwitzt, müde und am Rande einer Panik.

So was konnte auch nur ihr passieren; andere Leute gerieten einfach nicht in diese spezielle Art von Schlamassel. Doch sie beherrschte die Kunst wie keine Zweite, dabei achtete sie doch schon peinlich genau darauf, sich so weit wie möglich von anderen Menschen fernzuhalten. Klappte nur nicht immer. Denn oft fanden die Menschen sie und hingen an ihr wie Kletten. Und nun musste sie wieder einmal die Konsequenzen dafür tragen, dass sie so neugierig und weichherzig war. Was sie hier tat und noch zu tun gedachte, war brandgefährlich, verdammt! Sie hätte sich ohrfeigen können, wenn sie nur eine Hand frei gehabt hätte.

Hatte sie aber nicht.

Denn sie musste einen mindestens fünfzig Kilo schweren Sack auf einer Schubkarre zur Scheune transportieren. Mitten in der Nacht, über Stock und Stein, und ohne dabei beobachtet zu werden. Was hier oben nicht allzu schwer war. Die meiste Zeit war sie sowieso allein. Und jetzt noch mehr als je zuvor.

Der Sommer neigte sich dem Ende zu und die Handvoll Wandertouristen, die in diesem Jahr durchs Dorf gekleckert waren, hatte sich schon längst wieder in ihre beheizten Häuser in der Zivilisation verkrochen. Die Abwesenheit von fließendem Wasser war nur romantisch, solange die Sonne warm schien und Gebirgswasser als »erfrischend« und nicht als »lausig kalt« empfunden wurde. Das Quietschen und Kichern der Frauen, die sich am Brunnen wuschen, würde sie jedenfalls nicht vermissen.

Sie setzte die Schubkarre ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn. Dann bog sie den Rücken durch, um die Schmerzen zu lindern. Es knackte vernehmlich, und ein Schauer durchfuhr sie. So eine Plackerei ging nicht mehr spurlos an ihr vorüber; ganz neu war sie ja auch nicht mehr. Wohin die ganze Zeit verschwunden war, das würde sie auch gern mal wissen.

Eigentlich war es eine schöne, milde Nacht. Die Luft war erfüllt vom Duft des Rosmarins und vom Gesang der Grillen, die mächtigen Berge zeichneten sich vor dem sternenklaren Himmel ab wie Scherenschnitte. Ihre Profile waren der Frau besser bekannt als so manches Gesicht. Menschen kamen und gingen, doch die Berge waren immer da. Was auch der Grund war, warum sie Berge jederzeit den Menschen vorzog. Manch einer bekam in dem engen Tal Beklemmungen, sie hingegen fühlte sich geborgen. Was eine ihrer vielen Fehleinschätzungen war. Dieses Dorf war einer der gefährlichsten Orte der Welt. Das hatte sie ihr Vater schon früh gelehrt, und doch hatte sie es nie richtig verinnerlicht.

Sie überlegte, welche Aneinanderreihung von Fehleinschätzungen sie wohl an diesen Punkt in ihrem Leben gebracht hatte, doch sie konnte sich nicht entscheiden.

Ihr Herz klopfte wild und hart, und sie wusste genau, dass es nicht an der Anstrengung lag. Zumindest nicht ausschließlich. Sie hatte Angst, wie selten zuvor in ihrem Leben. Und es war nicht so leicht, ihr Angst zu machen. Doch im Gegensatz zu anderen Leuten mit ihren mickrigen Ängsten hatte sie allen Grund dazu. Sie steckte bis zum Hals in Schwierigkeiten.

Von hier aus konnte sie die Scheune nur erahnen. Ein dunkles Rechteck vor den ebenfalls dunklen Bergen, das sich nur davon abhob, weil das Mondlicht von den kargen Wiesen rundherum schwach reflektiert wurde. Stand das Tor etwa offen? Sie schüttelte den Kopf. Nein, das konnte nicht sein. Sie war die Einzige, die einen Schlüssel hatte, die anderen Dorfbewohner würden es niemals wagen, Hand an ihre Sachen zu legen. Seit der Geschichte mit Jorge hielten sie sich noch mehr voneinander fern, jeder blieb in seinem Haus, jeder achtete auf seine Habseligkeiten und ging seinen Geschäften nach. Mischte sich nicht ein. In gar nichts. Diese Regel hätte sie auch beherzigen sollen.

Doch während der ganzen Zeit hatte sie nie das Gefühl gehabt, tatsächlich eine Wahl zu haben. Gott sah schließlich alles, oder nicht? Sie war vielleicht kriminell, aber deshalb doch noch lange nicht vollkommen herzlos.

Doch das, was sie nun tat, tat sie nicht für Gott. Sie tat es für Maria, dieses dumme, dumme Ding. Diese blöde Ziege. Diese zarte, weiche, kleine Pflanze, die hier oben nichts, aber auch gar nichts verloren hatte.

Vom ersten Tag an hatte sie gewusst, dass Maria nichts als Ärger brachte, und trotzdem stand sie jetzt hier. Tat etwas, das sie nicht tun wollte und das sie alle in Teufels Küche bringen konnte oder Schlimmeres.

Die anderen im Dorf durften niemals davon erfahren. Das war für alle am besten. Wahrscheinlich würden sie sowieso nicht fragen und einfach nur froh sein, dass die Fremde endlich fort war. Das hatten sie sich nämlich alle schon lange gewünscht, auch wenn es keiner gesagt hatte. Was auch nicht nötig war; nach so vielen Generationen musste man hier oben nicht mehr sprechen, um einander zu verstehen.

Sie atmete tief durch und schloss die Finger wieder um die Griffe der Schubkarre. Mit einem unterdrückten Stöhnen hob sie die Karre ein weiteres Mal an. Sie hätte sie gar nicht erst absetzen dürfen, das Anfahren war besonders unangenehm, gerade auf diesem Gelände und mit der schweren Fracht.

Wie zum Beweis kippte die Schubkarre zur Seite, und die Frau musste sich mit aller Kraft dagegenstemmen, damit der Sack nicht herausrutschte. Das hätte gerade noch gefehlt. Dass sie hier ihr Leben in Gefahr brachte und dann noch alles schiefging. Nein, sie musste sich jetzt zusammenreißen. Schließlich hatte sie ihre Entscheidung schon gestern Abend getroffen, und sie war kein Mensch, der Entscheidungen rückgängig machte. Wenn man einmal etwas beschlossen hatte, dann sollte man es auch durchziehen, und Schluss. Wozu waren Entscheidungen sonst gut?

Die Frau biss sich auf die Lippe und schmeckte Blut. Sie wollte das nicht tun. Jede Faser ihres Körper sträubte sich dagegen, doch es gab manchmal Wichtigeres als die eigene Sicherheit.

Merkwürdig, dass ihr immer nur dann auffiel, wie sehr sie an ihrem Leben hing, wenn es in Gefahr war.

So toll war es nämlich eigentlich gar nicht. Aber irgendwas musste doch dran sein.

Sie erreichte die Scheune, deren Tore ordnungsgemäß verschlossen waren. Also hatte ihr die Fantasie einfach nur einen Streich gespielt. Ihre Finger zitterten ein wenig, als sie den alten Schlüssel in das Schloss steckte und einmal drehte.

Früher hatte die Scheune ihrem Vater gehört. Hier hatten sie oft Schmuggelware aus Andorra gelagert, hatten sich mit Hehlern getroffen, und einmal hatte ihr Vater sogar einen Mann niedergeschossen, der versucht hatte, in die Scheune einzudringen. Seitdem war sie einer der sichersten Orte, die sie sich vorstellen konnte. Und genau das war es, was sie brauchte. Einen vollkommen sicheren Ort.

Sie zog das Tor auf und starrte in die Finsternis. Weil die Scheune so alt war, gab es hier kein Licht. Das hasste sie am meisten an diesem Ding.

Das alte Holzgebäude hatte schon viele schreckliche Geheimnisse bewahrt, ihres jedoch war mit Abstand das schrecklichste.

Es war ja nicht für lang, sagte sie sich. Morgen am frühen Abend würde sie aufbrechen, und dann war ruckzuck alles vorbei.

Wenn alles gut ging.

Wenn.

Das geöffnete Scheunentor erinnerte sie an das schwarze Maul eines riesigen Tieres. Das Tor zur Hölle. Ein Ort des Bösen und der Schmerzen. Sie wollte da wirklich nicht hineingehen, aber sie musste. Es ging nicht anders. Und sie war kein Feigling. Weiß Gott nicht.

Beherzt schob sie die Schubkarre über die Türschwelle und zog die Holztür hinter sich zu.

[home]

1

Karl war zu spät dran, und er hasste es. Bei sich selbst ebenso sehr wie bei anderen; vielleicht sogar noch ein bisschen mehr. Weil er wusste, dass er damit das Recht verwirkte, von anderen Pünktlichkeit zu verlangen, was in Spanien ohnehin eine Sache für sich war. Trotzdem.

Dabei war es nicht einmal seine Schuld. Er war auf dem Rückweg von der Aussage gegen den angeblichen Journalisten, den Alex und er vor wenigen Wochen hinter Gitter gebracht hatten. Dass dieser Gerichtstermin ausgerechnet heute stattgefunden hatte, war nun einmal nicht zu ändern gewesen. Wenn man vorgeladen wurde, konnte man schließlich nicht sagen, dass es einem gerade zeitlich nicht passte.

Außerdem war der deutsche Kriminalkommissar, der seit ein paar Monaten für die katalanische Polizei arbeitete, auch ein wenig stolz auf sich, da er den Termin ohne Übersetzer oder sonstige Hilfe auf Katalan gemeistert hatte. Unter Druck war das Gehirn in der Lage, erstaunliche Leistungen zu vollbringen, selbst eines, das schon mehr als vierzig Jahre alt und übernächtigt war.

Ohnehin war es für ihn ein aufregender und interessanter Tag gewesen. Er war sehr neugierig gewesen, zu erfahren, wie spanische Gerichte arbeiteten. Und er hatte vieles wiedergefunden, das er bereits aus Deutschland kannte. Karl war schon in seiner Zeit als Kommissar für die Berliner Mordkommission gerne zu Gerichtsverhandlungen gegangen, weil es ihm große Befriedigung verschaffte, zu sehen, wie die Geschichte eines Straftäters weiterging.

Als Polizisten arbeiteten sie schließlich sehr hart und zum Teil unter Einsatz ihres Lebens dafür, dass ein Verbrecher überhaupt vor Gericht kam. Viele Kollegen interessierten sich nicht für den gerichtlichen Teil der Strafverfolgung, was Karl nicht nachvollziehen konnte.

Gerade in dem Fall, den sie vor knapp zwei Monaten abgeschlossen hatten, wollte er unbedingt wissen, wie es ausging und welches Strafmaß am Ende verkündet wurde. Wenn er es einrichten konnte, würde er auch zur Urteilsverkündung fahren.

Der junge Angeklagte hatte erst seinen Vater, einen berühmten Politiker, erwürgt und anschließend selbst darüber in der Zeitung berichtet. Der Höhenflug, den ihm seine unverhoffte Berühmtheit eingebracht hatte, hatte ihn zu einem weiteren Mord sowie zu zwei Mordversuchen verleitet. Er selbst hatte sich auch den Spitznamen »Teufel von Barcelona« verpasst, unter dem er bald über die Stadtgrenzen hinaus bekannt geworden war.

Karl ahnte, dass es ein langer Prozess werden würde. Bereits der heutige Termin hatte deutlich länger gedauert als geplant, und nun versuchte er, durch die völlig verstopften Straßen wieder zurück nach El Born zu gelangen, ihr Wohnviertel in der Altstadt. Leider hatte er Alba heute das Auto überlassen und war mit den Öffentlichen unterwegs, was zur Folge hatte, dass er gerade mit viel zu vielen anderen Leuten in einen Bus gequetscht war. Seine Nase befand sich schon seit geraumer Zeit und sehr zu seinem Leidwesen genau auf Achselhöhe eines Mannes in einem ärmellosen Shirt, der offensichtlich nicht an Achselrasur glaubte.

Die neue »Stadt der Gerechtigkeit«, wie der riesige Komplex aus Gerichtsgebäuden, Büros und Kanzleien genannt wurde, der das große, altehrwürdige Gericht am Parc de la Ciutadella abgelöst hatte, lag streng genommen gar nicht mehr in Barcelona, sondern in L’Hospitalet de Llobregat und somit recht weit von der Altstadt entfernt. Selbst unter normalen Umständen hätte Karl für den Weg eine knappe Stunde gebraucht, doch dies waren keine normalen Umstände.

Das große Stadtfest La Mercè war seit sieben Tagen in vollem Gange und würde heute mit dem großen Feuerlauf, dem Correfoc der Teufelsgruppen, seinen Höhepunkt erreichen. Weshalb alle, wirklich alle Menschen in die Altstadt hinunterwollten. Allein in seinem Bus zählte Karl über zehn als Teufel verkleidete Jugendliche, die sich lautstark auf den Umzug freuten. Es wirkte schon ein wenig ironisch, dass er heute, am Tag der Teufel, den selbst ernannten »Teufel von Barcelona« wiedergesehen hatte.

La Mercè war früher Karls liebste Zeit des Jahres gewesen. Eine Woche lang war die gesamte Stadt auf den Beinen und feierte zu Ehren der Stadtheiligen sich selbst. Täglich gab es Konzerte und Umzüge mit Tänzern, Feuerläufern, Sambagruppen und natürlich mit Gigantes, den riesigen Figuren aus Holz und Pappmaschee, die von Freiwilligen auf den Schultern getragen wurden. Es war eine besondere Ehre, Gigantes tragen zu dürfen, und Karl wurde nicht müde, zu staunen, wie die Leute es schafften, mit den riesigen Dingern nicht nur sicher voranzukommen, sondern teilweise sogar über Straßen und Plätze zu tanzen. Denn so eine Figur war auch gerne mal vier Meter hoch und vierzig Kilo schwer. Für so etwas musste man schon gemacht sein.

Auch die für Katalonien so typischen Castells wurden während der Festivitäten mehrfach errichtet; Menschentürme mit bis zu zehn »Stockwerken«, deren Entstehung Karl ein ums andere Mal den Atem verschlug. Während des Mercè fanden zahlreiche Wettbewerbe der verschiedenen »Castelleres« statt, bei denen sich die besten Gruppen auf dem Plaça de Sant Jaume miteinander maßen. Die menschlichen Türme waren so konstruiert, dass die älteren Mitglieder die Basis bildeten – ein Plateau aus Männern und Frauen, die Hände und Füße ineinander verschränkten und die Köpfe einzogen, um den anderen Mitgliedern der Gruppe einen festen Stand zu ermöglichen. Darauf kletterten junge Erwachsene, darauf Jugendliche, und schließlich kamen die Kinder. Ganz am Ende kletterte ein Kind von ungefähr sechs Jahren den gesamten Turm empor, um sich an die Spitze zu setzen. Erst wenn der kleine Wurm die Hand hob, galt der Turm als vollständig und der Castellbau als geglückt.

Karl fiel es immer schwer, hinzusehen, wenn die Kinder ohne Sicherung wie kleine Affen die rund fünfzehn Meter bis ganz nach oben kletterten. Dabei fanden ihre Füße Halt in den Kniekehlen, auf den breiten Gürteln und den Schultern ihrer Vereinsmitglieder.

Zwar wusste Karl genau, dass so gut wie nie etwas passierte, da die Kinder Schutzhelme trugen und selbst bei einem Absturz weich auf dem Fundament aus Erwachsenen landeten, doch trotzdem blieb ihm jedes Mal fast das Herz stehen. Vor allem, wenn einer der Türme zusammenbrach, was nicht gerade selten vorkam.

Kurz: Manchmal fühlte er sich nervlich den Traditionen Kataloniens nicht gewachsen. Das Ereignis, dem er gerade entgegenhetzte, war da keine Ausnahme. Der Correfoc war ein einziger Wahnsinn aus Trommeln, Feuer und Feuerwerkskörpern. Ein riesiger Zug aus Feuertänzern, der sich die Via Laietana hinabschlängelte und mit jedem Meter anwuchs, weil er tanzende Zuschauer verschluckte, die sich dem Feuerlauf anschlossen.

Im Gegensatz zu ihm liebten seine Frau Alba und ihr gemeinsamer Sohn Oliver gerade die Traditionen besonders, die für Leib und Leben gefährlich werden konnten. Karl hatte seine Frau sogar sagen hören, dass es doch schön wäre, ihre kleine Tochter, die zurzeit noch in Albas Bauch auf die Geburt wartete, bei den Castellers anzumelden. Bei dem Gedanken daran, ihre Nena könnte im weißen Hemd und mit bunten Hosen einen riesigen Turm aus Beinen, Hüften, Köpfen und Schultern emporklettern, hatten Albas Augen regelrecht geleuchtet. Karl hatte nur verächtlich geschnaubt und heimlich die Augen verdreht, aber nichts dazu gesagt. In den letzten Wochen war seine Frau ganz besonders reizbar gewesen, also hatte er die Diskussion lieber vertagt, bis das Thema konkret wurde. Was hoffentlich niemals eintrat. Weil seine Tochter vernünftig und gescheit genug sein würde, überhaupt kein Bedürfnis danach zu verspüren, mit nackten Füßen über andere Menschen hinweg himmelwärts zu klettern.

Doch Albas fortgeschrittene Schwangerschaft hatte auch ihre guten Seiten, denn selbst seine Frau war nicht so verrückt, sich beim anstehenden Feuerlauf wie früher ins Getümmel zu stürzen und im Funkenregen zu tanzen. Das war sogar ihr zu gefährlich, auch wenn er sie hatte sagen hören, dass sie im nächsten Jahr ganz sicher wieder dabei sein würde. Es schmerzte Alba, dass sie ihr erstes Mercè seit ihrer Rückkehr aus Berlin gar nicht richtig genießen konnte, weil es mit dem riesigen Bauch in den Menschenmengen, die sich bei den großen Attraktionen immer in Windeseile bildeten, schnell unangenehm wurde. Karl war das nur recht.

Und so hatten sie vereinbart, sich den Feuerlauf auf dem Balkon ihrer Freunde Javier und Anna anzusehen, deren Wohnung sehr günstig in der Via Laietana und somit direkt an der Strecke des Umzugs lag.

An der Plaza d’España musste er auf ein Fahrrad umsteigen, weil der Bus keinen Meter mehr vorankam. Wenigstens gab es dort noch ein paar der klapprigen, rot-weißen Leihräder, die von der Stadt zur Verfügung gestellt wurden, sonst hätte er laufen müssen und sicher einen Teil des Umzugs verpasst. Schon nach wenigen Metern war Karl endgültig durchgeschwitzt. Er musste zahlreichen Menschen ausweichen, die in Feierlaune die kleinen Gassen des Raval bevölkerten, in den er wenig später einbog. Im Stillen betete er darum, dass ihn keiner seiner Kollegen auf diesem Fahrrad sah. Ihre Dienststelle, die Comisaría, war nicht weit entfernt. Karl musste mit seinem guten weißen Leinenanzug, dem Strohhut und den teuren Schuhen auf dem rostigen Leihfahrrad besonders amüsant aussehen, zumal er seine Aktentasche in den schmalen Lenkerkorb gestopft hatte, aus der sie halb heraushing.

Das erste Glas Wein des Tages hatte er sich auf jeden Fall mehr als verdient.

In der Leihstation am Hafen ergatterte er gerade eben noch den letzten Stellplatz für sein Fahrrad, und als er endlich völlig erledigt bei Javier und Anna ankam, stellte er mit Erstaunen fest, dass er gar nicht so viel zu spät war. Der Umzug für die kleineren Kinder, der immer vor dem großen Correfoc abgehalten wurde, musste gerade erst die Straße entlanggezogen sein. Dicker Rauch von den zahlreichen Böllern und der scharfe Geruch von Schwarzpulver hingen in der Luft und vernebelten alles so sehr, dass es unmöglich war, den Hausberg Tibidabo am Ende der Straße zu erkennen, obwohl es ansonsten ein klarer Tag war. Viele Eltern mit kleinen Kindern verließen gerade die breite Via Laietana in alle Richtungen, um Platz für die Schaulustigen zu machen, die für den zweiten Umzug gekommen waren und jetzt die Bürgersteige verstopften, sodass Karl nichts anderes übrig blieb, als sich vom langsamen Strom der Ankommenden mittragen zu lassen, um nicht im »Gegenverkehr« stecken zu bleiben. Sich geduldig von der Menschenmenge voranschieben zu lassen, war eines der ersten Dinge, die man in Barcelona lernen sollte, um nicht verrückt zu werden.

Die anderen, die auf dem Balkon ihrer Freunde standen und schwatzten, entdeckten ihn sofort und winkten ihm ausgelassen zu – er war in seinem hellen Anzug wirklich gut zu erkennen.

»Wo hast du denn so lange gesteckt?«, begrüßte ihn Alba, sobald er die Wohnung betrat. Er konnte ihr ansehen, dass sie wahnsinnig gerne sauer auf ihn gewesen wäre, aber genau wusste, dass es nicht seine Schuld war.

»Im Stau«, brummte er, während er Anna die obligatorischen Küsschen auf die Wangen hauchte und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, als Silvia und Pedro, die beiden kleinen Kinder des Paares, zur Begrüßung vor Freude quietschend gegen seine Beine prallten. Karl hatte sie in Verdacht, ihn umwerfen zu wollen wie eine schlafende Kuh.

»Der Bus ist ab España nicht mehr vorwärtsgekommen, also habe ich mir für den Rest ein Fahrrad geliehen. Schneller ging es wirklich nicht, es ist völlig verrückt da draußen.«

»Ich persönlich finde es ja sowieso unsinnig, Termine in die Mercè-Woche zu legen. Das ist sadistisch«, warf Javier gut gelaunt ein.

»Sag das mal der Stadtverwaltung!«, entgegnete Karl lachend.

Er küsste Alba und strich ihr mit der Hand über den kugelrunden Bauch.

»Wo sind Rafa und Oli?«, fragte er, während er sich im Raum umschaute, um zu sehen, wer noch alles da war. Und natürlich, um sich wieder einmal dem stummen Neid hinzugeben.

Javier und Anna hatten es mit ihrer Wohnung wirklich gut getroffen. Sie hatten sie als junge Studenten gekauft und alles in jahrelanger Kleinarbeit selbst saniert. Nun sah sie aus wie ein Palast. Eine Wohnung, die als Filmkulisse herhalten könnte und die manchmal tatsächlich für Werbespots oder Fotoshootings gebucht wurde. Angeblich ließ sich damit ein ordentliches Zubrot verdienen. Schon allein die Lage auf der prächtigen Via Laietana, die die beiden Bezirke El Born und El Gotico voneinander trennte und kerzengerade bis nach Gràcia hinaufführte, war prestigeträchtig. Doch das Innere konnte das noch toppen.

Wände hatten weichen müssen, um einen großen, lichtdurchfluteten offenen Wohnraum zu schaffen, in dem die zahlreichen historischen Details dennoch weiterhin sichtbar waren. Die alten Deckenbalken glänzten dunkel, und der wunderschöne antike Mosaikfliesenboden zeugte davon, dass hier früher reiche Bürger residiert hatten. Obwohl Karl wusste, wie viel Arbeit, Geld und Nerven die Sanierung gekostet hatte, war er trotzdem im Grunde seines Herzens eifersüchtig auf Javier und Anna, weil sie solch ein Zuhause hatten. Diese Wohnung war einfach perfekt. Und doch – wahrscheinlich auch dank der beiden Kinder, die das nötige Maß an Unordnung verbreiteten – sehr einladend und gemütlich. Das war es ja, was Karl so daran faszinierte.

»Die sind unten«, beantwortete Alba seine Frage. »Oli meint, das hier sei eher eine ›Alte-Leute-Party‹!«

Karl lachte ungläubig auf und versuchte, Pedro abzuschütteln. »Ach ja, und was sind dann die zwei hier? Geschrumpfte Hundertjährige?«

»Ich bin hundertundeins!«, krähte Pedro und begann, sich vor Lachen auf dem Boden herumzukugeln. Karl kniete sich hin und kitzelte den Jungen kräftig durch, der vergeblich versuchte, sich ihm zu entziehen, während das Knie des Kommissars schmerzlich zu pochen begann. Alba warf ihrem Mann einen Blick zu, und er wusste, dass sie beide in diesem Moment genau dasselbe dachten: Würden sie das noch einmal hinbekommen?

Für einen Rückzieher war es jetzt ohnehin zu spät; Alba stand kurz vor dem Entbindungstermin.

Javier kam aus der offenen Küche und hielt Karl ein Glas Cava hin.

»Danke, das habe ich mir echt verdient.« Karl lächelte seinem Freund zu, und die beiden stießen an.

Javier war Albas Jugendliebe, und Karl hatte ihn anfangs, also vor rund achtzehn Jahren, aus Prinzip nicht ausstehen können. Doch seine Frau, dickköpfig, wie sie nun einmal war, hatte sich den Umgang mit Javier nicht verbieten lassen, und seitdem er Anna an seiner Seite hatte, war aus den beiden Paaren ein Vierergespann geworden. Neben Albas Familie hatten sich Javier und Anna am meisten über den Entschluss von Karl und Alba gefreut, wieder nach Barcelona zu ziehen.

»Wie war’s denn?«

Karl nahm einen Schluck und seufzte wohlig. »Lang. Mit Hin- und Rückweg hat mich das den ganzen Tag gekostet. Wer ist bloß auf die Schnapsidee mit dem neuen Gericht gekommen? Das alte am Arc de Triomf war doch auch ganz schön!«

Javier zuckte die Schultern. »Ist ein Prestigeprojekt der Stadt. Wahrscheinlich hatten sie irgendwo Geld zu viel, das sie dringend versenken mussten.«

Karl schnaubte. »Da wären mir tausend wichtigere Dinge eingefallen. Die Brache in der L’Arc de Teatre zum Beispiel. Oder mein Büro.«

Draußen waren von fern die ersten Trommeln und das Krachen von Böllern zu hören, was die Kinder auf dem Balkon verzückt kreischen ließ.

»Wo bleibt ihr denn alle, es geht lohoooos!«, rief Silvia, die sich auf den Balkonboden setzte und ihre kleinen Beine durch die alten, schmiedeeisernen Gitterstäbe steckte.

»Sind deine Schuhe auch fest zugebunden?«, fragte Anna, doch Silvia legte nur den Kopf in den Nacken und lachte vergnügt. Anna rollte die Augen.

»Kann so ein Kinderschuh jemanden erschlagen?«

Javier lachte. »Bestimmt nicht aus dieser Höhe, mein Engel.«

Die Gruppe begab sich zum Balkon, wo neben den Kindern nur noch die schwangere Alba und Anna Platz hatten, Karl und Javier mussten im offenen Wohnzimmer zurückbleiben.

Für Karl war das in Ordnung. Es reichte ihm völlig, durch die Wohnzimmerfenster und über Albas Schulter hinweg ab und zu einen Blick auf das Treiben unten auf der Straße zu erhaschen. Für heute hatte er schon genug Trubel und Menschenmengen erlebt. Außerdem machte ihn das Geballer nervös. Wie die meisten Polizisten schätzte er plötzliche Knallgeräusche nicht besonders. In einem Correfoc oder an Silvester konnte jemand erschossen werden, ohne dass es jemand hörte. Dieser Gedanke machte Karl unruhig. Er konnte Feuerwerk generell nichts abgewinnen; das war eine Polizistenkrankheit.

Die Prozession schlängelte sich langsam die Via Laietana hinab auf sie zu. Karl hatte das Gefühl, dass sie von Jahr zu Jahr größer wurde. Auch die Absperrgitter an den Seiten waren neu; früher hatte man vom Gehsteig nach Belieben auf die Straße springen können, um mitzumachen, doch das war jetzt nicht mehr möglich. Der Correfoc hatte sich zum Massenphänomen entwickelt, das ihm schon aus sicherer Distanz auf den Magen schlug. Mittlerweile war auf dem ersten Wagen sogar ein riesiger Flachbildschirm angebracht, der die Umstehenden darüber informierte, dass sie auf eigene Gefahr teilnahmen und die Stadt für Schäden an Besitz, Leib und Leben keine Haftung übernahm. Sehr ermutigend. Hoffentlich hatten Oli und Rafa genug Verstand, sich vom schlimmsten Trubel fernzuhalten. Die Laietana konnte zur tödlichen Falle werden, wenn eine Panik ausbrach. Die vierspurige Straße mit den hohen Prachtbauten wies zumindest hier nur wenige und nur schmale Seitenstraßen auf, in die sich die Leute bei einer Massenpanik retten könnten.

Darüber durfte er nicht zu lange nachdenken.

Hinter dem ersten Wagen folgten die ersten Teufelsgruppen. Karl konnte sie durch die Funken und den dichten Rauch der Feuerwerkskörper kaum erkennen, doch er wusste auch so, was sich da unten abspielte. Die Menschen trugen verschiedene Teufelsmasken und Capes in den Farben ihrer Vereine und hielten Mistgabeln in der Hand, auf deren Zacken große Böller gespießt waren, die sich drehten und Funken in alle Richtungen sprühten – was in der sich langsam herabsenkenden Dunkelheit zugegeben besonders schön aussah. Dabei rannten und hüpften sie in wildem Zickzack über die Straße, um den Eindruck zu erwecken, direkt der Hölle entsprungen zu sein. Unmittelbar dahinter schlängelten sich große Drachen aus Pappe und Holz, aus deren Nasen und Mäulern ebenfalls Funken stoben. Die ersten Schaulustigen fingen bereits an, im Takt der Sambatrommeln zu tanzen, und auch Karl konnte sich dem Rhythmus nicht ganz entziehen und wippte mit der Fußspitze im Takt. Javier fing seinen Blick auf und lachte gut gelaunt. Auf dem Balkon plapperten die Kinder vergnügt durcheinander. Noch war der Zug weit genug weg, und man konnte sich relativ problemlos unterhalten. Wenn er erst mal hier angekommen war, am unteren Ende der Straße, würde niemand mehr sein eigenes Wort verstehen.

Kurz darauf traf Alex ein, ein Sixpack Estrella Galicia unterm Arm und ein breites Grinsen auf dem Gesicht.

»Meine Güte, da unten ist ja was los!«, stellte er fest, während er sich ein Bier aufmachte und die anderen wie selbstverständlich in den überfüllten Kühlschrank quetschte. Er trug wie immer verschlissene Jeans und ein Festival-Shirt sowie Sneakers, ein wenig zu lange Haare und einen selbstsicheren Gesichtsausdruck.

»Wie war’s bei Gericht?«

Alex stieß mit dem Hals der Bierflasche gegen Karls Glas, und Karl begann zu berichten.

Alex hatte seine Aussage noch vor sich und war ein klein wenig nervös, was er natürlich zu überspielen versuchte. Karl verstand das gut; ein Gerichtssaal konnte einen schon einschüchtern, selbst wenn man nicht auf der Anklagebank saß. Schließlich kannte wohl jeder den Albtraum, wegen eines Verbrechens verurteilt zu werden, das man nicht begangen hatte. Und obwohl er es schon so oft gemacht hatte, kam Karl sich dabei immer wieder vor wie bei einer Prüfung, auf der verzweifelten Suche nach der richtigen Antwort. Er verstand nicht, wie Anwälte das aushielten.

»Nervtötend lang, aber das bin ich nicht anders gewohnt«, antwortete er. »Fernando hat während des gesamten Termins nichts gesagt und mich auch nicht angesehen. Hat immer nur auf seine Hände gestarrt.«

Alex grinste. »Jetzt ist er nicht mehr so arrogant, was?«

»Ehrlich gesagt, tut er mir ein bisschen leid«, entgegnete Karl, wobei er die Stimme schon merklich heben musste. Es wurde immer lauter. »Ehrlich gesagt, mir nicht«, schrie Alex förmlich zurück. »Er hat mehrere Menschen auf dem Gewissen und hätte uns beinahe um unsere Assistentin gebracht.«

Das stimmte natürlich. Marla, die schöne und geheimnisvolle Assistentin der Mordkommission, die mit Alex und Karl in einem Büro saß, war bei der Verhaftung des Täters von diesem heftig gewürgt worden und hatte ein paar Tage den Kopf nicht drehen können. Fernando Perez hatte zwei Menschenleben auf dem Gewissen, doch für Karl war er auch eine traurige Gestalt. Er trank noch einen Schluck Cava und hoffte, der Schaumwein würde die düsteren Gedanken gleich mit davonspülen. Heute war ein Feiertag und nicht der richtige Moment für Grübeleien.

Die beiden Mossos erzählten ihrem Freund so gut es ging von dem Fall, den sie vor ein paar Wochen abgeschlossen hatten. Dabei mussten die drei die Köpfe dicht zusammenstecken. Karl bekam von dem Geschrei allmählich Kopfschmerzen, doch den anderen beiden schien es nichts auszumachen; sie bemerkten es kaum. Javier stellte immer wieder neugierige Fragen. Wie viele Freunde und Verwandte konnte er gar nicht genug bekommen von den Erzählungen aus dem »spannenden Alltag der Mossos d’Esquadra«. Und wie die meisten vergaß auch Javier, dass dieser Arbeitsalltag meistens nicht aus Nervenkitzel, sondern aus Schreibarbeit bestand. Aber besonders Alex erzählte gerne von ihren Ermittlungen. Zwar hatte er erst zwei Fälle gemeinsam mit Karl gelöst, doch bei ihm klang es so, als hätten sie schon mehrfach die Welt gerettet.

Normalerweise nervte Karl das Gehabe seines Schwagers, doch heute amüsierte er sich eher über die roten Wangen und die leuchtenden Augen, die Alex während seiner Schilderungen bekam. Mangelnden Enthusiasmus konnte man ihm kaum vorwerfen.

Es war schon relativ dunkel, und Javier knipste ein paar kleine Lampen an. Mittlerweile hatte sich der Lärm derart gesteigert, dass man sein eigenes Wort kaum noch verstand. Die Sambatrommeln vermischten sich mit den vergnügten Schreien der Touristen und den Jubelrufen der Anwohner. Böller krachten, zischten und heulten, und die Luft war mittlerweile ganz und gar vom dichten Rauch der Feuerwerkskörper erfüllt. Und das obwohl die Spitze des Zuges sie noch immer nicht ganz erreicht hatte. Das wurde wirklich von Jahr zu Jahr wilder.

»Ich kann gar nichts mehr sehen«, heulte Pedro aus vollem Hals, und Karl warf einen Blick auf die Straße. Der Junge hatte recht, bis auf ein paar Funken war durch den dichten, grauen Nebel kaum noch etwas zu erkennen. Nur der Krach fand den Weg nach oben.

Plötzlich hörte Karl, wie die Stimmung auf der Straße kippte, und die Härchen auf seinen Armen stellten sich auf. Bei einem Correfoc gab es immer Geschrei, doch das hier war etwas anderes. Sein Herz fing an zu rasen, und Schweiß trat auf seine Stirn. Karls Körper merkte, dass etwas faul war, noch bevor sein Verstand hinterherkam. Aus vergnügtem, überraschtem Gebrüll waren von einer Sekunde auf die andere Schreckensschreie geworden. Die Leute hörten sich panisch an. Die anderen im Raum bemerkten es ebenfalls.

»Großer Gott, was ist da los?«, brüllte er.

Javier riss ein Fenster auf und beugte sich hinaus, Karl drängte sich ein wenig rüde neben ihn. Alex scheuchte seine Schwester vom Balkon und versuchte, von dort aus herauszufinden, was passiert war.

Doch es war schwer, etwas zu erkennen. Die Leute schrien wild durcheinander, die Sambagruppen hatten aufgehört zu spielen, und auch die Teufel zündeten keine Feuerwerkskörper mehr, was den Freunden in der Dunkelheit die Sicht erschwerte. Doch die Schreie allein waren genug.

Karl fühlte, dass dort unten etwas Schreckliches im Gange war, und schauderte. Bilder vergangener Anschläge drängten sich in sein Bewusstsein, und er musste sie mit aller Macht beiseiteschieben, um einen klaren Kopf zu behalten. Was nicht so leicht war – schließlich waren Oli und Rafa da unten!

Hektisch drehte er sich um und fing Alex’ Blick auf, der ihm kurz zunickte. Ohne noch länger nachzudenken oder sich mit den anderen abzusprechen, rannten sie aus der Wohnung.

Während sie aus dem vierten Stock des Hauses die Treppen hinunterhasteten, versuchte Karl, nicht daran zu denken, dass seine Dienstwaffe wenige Meter von hier entfernt im Tresor seiner Wohnung lag. Sicher und vollkommen nutzlos. Er hatte sie nicht zum Gerichtstermin mitnehmen wollen; nun bereute er diese Entscheidung. Zum Glück war wenigstens sein Schwager bewaffnet.

Alex riss die Haustür auf, und sie prallten gegen eine Wand aus Menschen wie gegen eine Ziegelmauer. Die Leute bewegten sich nicht; sie schubsten und drängelten nicht, rannten nicht weg, sondern standen einfach nur da und reckten die Köpfe. Manche versuchten, einen Blick auf die Straße zu erhaschen, andere schauten irritiert nach oben, als hätte es mitten im Sommer zu schneien begonnen. Der gesamte untere Abschnitt der Via Laietana wirkte wie ein bizarres Standbild, während vom hinteren Teil des Festzuges her immer noch Trommeln und wildes Geschrei zu hören waren.

Alex ging mit gezückter Waffe voran; Karl hatte seinen Dienstausweis in der Hand.

»Polizei, lassen Sie uns bitte durch. Entschuldigung, machen Sie Platz!«

Die Menschen reagierten sehr langsam; das Meer aus Rücken und Köpfen teilte sich nur schwerfällig.

Sie kamen kaum voran und konnten sich nur mit Mühe durch die enge Gasse quetschten, die ihnen eher widerwillig frei gemacht wurde. Als sie endlich über eines der Absperrgitter kletterten, musste Karl blinzeln, weil das Bild vor seinen Augen zu bizarr war.

Die Kolonne aus Festwagen war zum Stehen gekommen. Pappmascheedrachen sowie Männer, Frauen und Kinder mit Teufelsmasken und -kostümen standen mit gesenkten Feuerstäben mitten auf der breiten Straße und starrten zu Boden. Der Rauch hielt sich hartnäckig; er waberte über der Straße wie Nebel über der Themse Londons, und die Straßenlaternen tauchten alles in orangefarbenes Licht.

Es sah aus wie ein Traumbild oder eine Drogenvision. Etwas, das in eine Shakespeare-Inszenierung gehörte, aber nicht ins wahre Leben. Ein bisschen erinnerte das Ganze Karl an das Thriller-Video von Michael Jackson. Unwirklich und gestellt, von einem talentlosen Requisiteur ausgestattet.

Mehrere Menschen knieten am Boden. Karl und Alex rannten auf sie zu.

»Mossos d’Esquadra. Bleiben Sie zurück!«, rief Alex, während er die Waffe wieder ins Holster steckte. Auch Karl atmete erleichtert aus. Was immer hier geschehen war, war bereits vorüber und stellte offenbar keine unmittelbare Gefahr dar.

Die Gruppe stand auf und gab den Blick auf das frei, was die Ursache für den ganzen Tumult gewesen sein musste.

Mitten auf der Via Laietana und nur einen Meter vom ersten Festwagen entfernt lag eine Tote.

 

Es war ein vollkommen unwirkliches Bild. Ihr schmaler Körper steckte in dreckigen Jeans, einem abgetragenen Wollpullover und groben Arbeitsschuhen. Die Haare sahen ungekämmt aus, sie umrahmten ihren Kopf wie rotbraune Stahlwolle. Ihre Gliedmaßen waren völlig verdreht und der Schädel zur Hälfte eingedrückt. Sie musste aus großer Höhe gefallen sein. Instinktiv blickten Karl und Alex gleichzeitig nach oben, als hofften sie, am Himmel ausmachen zu können, wo die Frau hergekommen war. Doch dort oben gab es nichts zu entdecken.

Karl ging in die Hocke, atmete einmal tief durch und legte zwei Finger an den Hals der Frau. Er wollte sichergehen, auch wenn er sich nicht vorstellen konnte, dass irgendjemand solche Verletzungen überleben konnte. Der Körper der Frau war kalt, und sie war eindeutig tot.

Als hätte die Ankunft der Polizisten die Starre der Umstehenden gelöst, zogen sich die »Teufel« die Masken von den Köpfen, und Gemurmel machte sich breit.

»Sie ist tot«, hörte er die Leute raunen. »Madre mia!«, »Por dios.« »Wo ist sie hergekommen?« »Sie ist auf die Straße gefallen!« »Dios mio!« »Sie kam von oben!« »Die hat sich umgebracht!« Immer wieder: »Sie muss gesprungen sein!«

Mittlerweile war die Sambamusik komplett verstummt. Es war wohl bis zum hinteren Ende des Zuges durchgedrungen, dass hier etwas Schreckliches passiert war. Dafür nahm die Unruhe zu, und es wurde lauter und lauter.

Karl blickte auf und sah, dass sich einige der Umstehenden bestürzt bekreuzigten. Die Menge geriet in Bewegung; die Leute fingen an, in alle Richtungen zu drängeln. Manche wollten anscheinend besser sehen, andere versuchten, die Straße zu verlassen.

»Was ist passiert?«, fragte er einen älteren Mann, der eben neben der Leiche gekniet hatte.

»Ich weiß auch nicht, Sergent.« Die Stimme des Mannes klang belegt und brüchig. Es fiel ihm sichtlich schwer, das Geschehene in Worte zu fassen.

»Sie ist einfach vom Himmel gefallen!«, schaltete eine junge Frau sich ein, die neben einem Festwagen stand.

Alex legte erneut irritiert den Kopf in den Nacken und schaute sich um. »Hat jemand gesehen, wo sie hergekommen ist?«, fragte er, während er die Fenster und Balkone der umliegenden Häuser nach Hinweisen absuchte.

»Habe ich doch gerade gesagt«, erwiderte die junge Frau ungehalten. »Von oben!«

Alex hockte sich neben Karl.

»Meinst du, sie ist gesprungen?«, raunte er.

Karl schüttelte den Kopf. »Wie hätte sie das denn machen sollen? Sie hätte über die Leute und die halbe Straße hinwegspringen müssen. So weit kommt doch keiner. Wenn sie aus einem Haus oder von einem Dach gesprungen wäre, hätte sie mit Sicherheit noch jemand anderen mit in den Tod gerissen. Es ist sowieso ein verdammtes Glück, dass sie niemanden erschlagen hat. Eine Minute später, und sie wäre mitten in den Festzug gekracht.«

»Aber wie …«

»Was ist hier los?«, hörten sie eine schneidende Stimme hinter sich fragen. Drei Beamte der Guardia Urbana hatten sich durch die Menge gekämpft und erreichten Karl und Alex mit hochroten Köpfen.

»Sie da!«, brüllte der Älteste, der offensichtlich der Anführer der kleinen Truppe war, Karl an. »Nehmen Sie Ihre Finger weg und treten Sie von der Frau zurück!«

Alex seufzte und zog seinen Dienstausweis aus der Hosentasche.

»Mossos d’Esquadra, meine Herren, kein Grund zur Aufregung.«

»Wenn das so ist.« Die Stadtpolizisten verlangsamten ihre Schritte. »Wie sind Sie denn so schnell hergekommen?«, verlangte der ältere Beamte zu wissen.

Karl zeigte auf den Balkon, auf dem er jetzt nur noch Anna, Alba und Javier stehen sah. Offensichtlich hatten sie die Kinder in die Wohnung geschickt.

»Wir haben uns mit Freunden die Parade angesehen und waren zufällig als Erste hier.«

Eine junge Beamtin der Guardia Urbana sog scharf Luft durch die Zähne, als sie den Leichnam entdeckte.

»Großer Gott!«, keuchte sie. »Was …«

Doch jetzt kam noch mehr Bewegung in die Menge. Der erste Schock war endgültig verflogen, und die Leute begannen, Fotos von der toten Frau zu machen und die Szene sogar zu filmen.

»Meine Güte, haben die denn vor überhaupt nichts Respekt?«, schimpfte Alex, und die Kollegen der Guardia Urbana versuchten, die Gaffer am Fotografieren zu hindern. Einer von ihnen hatte ein Megafon bei sich und forderte die Leute auf, ruhig zu bleiben, sich nicht vom Fleck zu rühren und die Handykameras aus zu lassen. Der Mann schritt die Absperrgitter entlang und wiederholte seine Aufforderungen mehrere Male lautstark. Doch es hatte keinen Zweck. Immer wieder blitzten in allen Richtungen Handykameras auf. So eine Menge Menschen ließ sich mit einer Handvoll Polizisten kaum bändigen; es war ein einziges Chaos.

»Wir brauchen eine Decke. Schnell!«, forderte Karl von niemand Bestimmtem, und die Umstehenden sahen einander ratlos an.

»Mierda«, schimpfte er und zog sein Sakko aus. Zwar hatte er den Anzug erst vor ein paar Wochen gekauft, weil ihm seine alten Anzüge leider zu eng geworden waren, doch er konnte es nicht ertragen, die Frau hier so schutzlos auf der Straße liegen zu lassen. Bei dem Gedanken daran, dass die Bilder wahrscheinlich gerade jetzt, in diesem Augenblick, in den sozialen Netzwerken verbreitet wurden, drehte sich ihm der Magen um.

»Wir brauchen mehr Leute! Und Chi soll machen, dass sie hier runterkommt«, schrie er unnötigerweise, denn Alex hatte bereits sein Telefon am Ohr. Auch der Kollege von der Guardia Urbana telefonierte lautstark.

Der Kommissar ließ sich etwas ratlos neben der toten Frau nieder. Bei dem Verkehr würde es eine halbe Ewigkeit dauern, bis die Kollegen hier waren, von der Rechtsmedizinerin ganz zu schweigen. Sie arbeitete in der Medizinischen Fakultät in Sant Gervasi, ein gutes Stück nördlich der Altstadt, und der Verkehr war sicher immer noch eine Katastrophe. Journalisten jedoch würden sicher binnen weniger Minuten hier sein, da viele Reporter in der Menge standen, um von den Feierlichkeiten zu berichten.

»Die Kriminaltechnik auch?«

»Natürlich. Bei dem Aufprall könnte sie etwas verloren haben. Wir müssen dafür sorgen, dass hier keiner mehr durchrennt.«

»Wie denn, mit den paar Leuten?«, fragte Alex sichtlich gereizt.

»Wir können helfen!«, hörte er die junge Frau im Teufelskostüm sagen, die noch immer neben dem Festwagen stand.

»Ja, natürlich!«, bekräftigte ein junger Mann neben ihr. »Das ist eine hervorragende Idee«, antwortete Karl nach kurzem Zögern und lächelte. »Bitte bilden Sie einen Kreis um uns. Möglichst groß, damit wir anständig arbeiten können. Und lassen Sie niemanden durch.«

Die Frau tippte sich an eine imaginäre Mütze. »Wird gemacht, Chef!«

Sie rief etwas, und kurz darauf kletterten mindestens zwanzig weitere »Teufel« vom Festwagen. Eigentlich war es nicht richtig, Zivilisten in eine polizeiliche Aktion einzubinden, doch in diesem Fall blieb ihnen keine Wahl, wenn sie Schlimmeres verhindern wollten. Hier waren einfach viel zu viele Menschen.

Es war schon ungünstig genug, dass hier nur fünf Beamte vor Ort waren. Auch wenn die Kollegen der Guardia Urbana ihr Bestes taten, die Menge im Zaum zu halten und einzelnen Personen Fragen zu stellen, so war dieses Vorgehen von einer ordentlichen Befragung meilenweit entfernt. Wie viele Menschen standen allein in diesem Abschnitt der Laietana am Straßenrand. Hunderte? Tausend? Sie konnten nur hoffen, dass die Leute den Beamten ihre Beobachtungen mitteilen würden, bevor sie sich für ein Bier in die Altstadt verzogen. Sein Magen krampfte sich bei dem Gedanken an die schiere Menge an Arbeit zusammen, die da auf sie zurollte. Solch ein Szenario war zu ungewöhnlich, als dass man sich als Polizist darauf vorbereiten könnte. Das Einzige, was ihnen blieb, war, Schadensbegrenzung zu betreiben.

»Wo bist du nur auf einmal hergekommen?«, fragte er die tote Frau leise und betrachtete sie noch eine Weile. Dabei blieb sein Blick an ihren Händen hängen.

Obwohl die Frau zart gebaut war, konnte man sehen, dass sie harte Arbeit verrichtet hatte. Ihre Hände waren schwielig, die Fingerkuppen starrten vor Dreck und etwas, das verdächtig nach getrocknetem Blut aussah.

Am rechten Ringfinger blitzte ein sehr teuer aussehender Ring mit Stein, der den Sturz schadlos überstanden hatte. Wenn Karl nicht alles täuschte, zierte ein echter Diamant das Schmuckstück. Er runzelte die Stirn. Das Ganze erschien ihm mehr als rätselhaft. Die äußere Erscheinung der Frau ergab kein stimmiges Bild.

Alex hockte sich neben ihn.

»Okay, sie kommen. Aber es könnte eine Weile dauern.«

»Erzähl mir was Neues«, brummte Karl.

»Was sollen wir jetzt machen?« Alex wirkte einigermaßen verunsichert, und Karl konnte es ihm nicht verdenken.

»Ohne die anderen können wir nicht viel tun. Jemand muss bei der Leiche bleiben, und wir haben nicht mal die nötigen Formulare für ordentliche Befragungen oder erkennungsdienstliche Maßnahmen bei uns.« Er tastete seine Hosentaschen ab. »Und mein Handy habe ich oben liegen lassen.« Karl fuhr sich mit der flachen Hand übers Gesicht. »Ermittlungstechnisch ist das hier jetzt schon ein Albtraum.« Er sah sich um und musste feststellen, dass er sich gerade in der merkwürdigsten Szenerie seines Lebens befand. Neben einer Toten, die vom Himmel gefallen war, von Teufeln umringt und von der halben Stadt beobachtet.

Wirklich wie bei Shakespeare, dachte er.

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2

Alex hatte ihre Chefin Maria Arbol telefonisch informiert, und sie war auch die Erste, die auf der Via Laietana eintraf. Es war das erste Mal, seit Karl für die Mossos arbeitete, dass sie tatsächlich zum Fundort einer Leiche kam, auch wenn das Wort »Fundort« hier ein wenig irreführend war. Die Frau war schließlich nicht gefunden worden, sondern ihnen buchstäblich vor die Füße gefallen.

Maria Arbol wirkte ein wenig gehetzt, aber auf merkwürdige Weise auch seltsam gelöst. Ihr mittelblonder Bob sah ein wenig unordentlich aus, und ihre Wangen glühten. Außerdem trug sie, sehr zu Karls Verwunderung, ein schwarzes Kleid mit rotem Blumendruck. Die festen Schuhe an ihren Füßen und der Kapuzenpullover in ihrer Hand deuteten darauf hin, dass Maria Arbol mit den Teufeln getanzt oder es zumindest vorgehabt hatte. Karl hatte fälschlicherweise immer gedacht, die Frau würde nichts anderes als Hosenanzüge tragen.

Alex, der die Wartezeit damit verbracht hatte, die Teilnehmer des Festzuges zu befragen, gesellte sich zu ihnen. Karl warf ihm einen fragenden Blick zu, doch Alex schüttelte nur ganz leicht den Kopf. Dann wandte er sich an ihre Vorgesetzte. »Buenas tardes, jefa. Wie sind Sie denn so schnell hergekommen?«

»Ich habe mit meinen älteren Töchtern an der Kathedrale gestanden«, erklärte sie und begrüßte die beiden. »Und Sie?«

Alex zeigte abermals nach oben. »Wir waren mit Freunden dort oben auf dem Balkon.«

»Tatsächlich?« Maria Arbol schnalzte mit der Zunge und musterte die beiden Beamten nachdenklich.

»Warum nur sind es immer Sie beide?«, fragte sie, halb erstaunt und halb belustigt, den Anflug eines Lächelns auf den Lippen. »Es scheint fast, als hätten Sie einen eingebauten Radar für ungewöhnliche Fälle!«

»Reiner Zufall«, erwiderte Karl lächelnd. Er hielt dem scharfen Blick der Cap de Unitat mittlerweile mühelos stand, hatte er doch inzwischen gelernt, dass unter der harten Schale dieser Frau ein weicher und durchaus vernünftiger Kern verborgen lag. Die Kunst bestand lediglich darin, bis zu diesem Kern vorzudringen.

Zu Beginn war Maria Arbol sehr skeptisch gewesen, was die Zusammenarbeit von Karl und Alex betraf, da sie besonders von Alex keine hohe Meinung hatte. Aber mittlerweile hatte sie sich, wie die meisten in der Comisaría, an das Duo gewöhnt. Sie brüllte nur noch halb so oft wie zu Beginn.

»Was meinen Sie?«, fragte Alex, der noch immer wild auf seinem Handy herumtippte und nur mit einem Ohr zuzuhören schien. Er versuchte fieberhaft, ihr Team zusammenzutrommeln, das über die ganze Stadt verteilt war.

»Nun, Ihnen beiden scheinen die spektakulären Fälle vor die Füße zu fallen.«

Karl zog die Brauen hoch. »Eine sehr passende Umschreibung, ich muss schon sagen.«

Die Chefin der Comisaría riss die Augen auf und legte betroffen die Hand auf die Brust.

»Ich … ich wollte nicht … Nein, Sie haben vollkommen recht, Lindberg. Das war taktlos.«

Karl lächelte. »Das haben Sie gesagt.«

Maria Arbol verzog säuerlich das Gesicht, sagte jedoch nichts weiter, sondern betrachtete die tote Frau.

»Meine Güte«, flüsterte sie, als ihr Blick an dem deformierten Kopf der Toten hängen blieb. »Die sieht ja aus wie eine kaputte Puppe. Wer springt denn ausgerechnet beim Correfoc auf die Via Laietana?«

»Bei allem Respekt, Jefa«, bemerkte Karl. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie gesprungen ist.«

»Aber …«

»Schauen Sie doch mal, welche Distanz sie hätte überwinden müssen. Es sind mindestens fünf Meter bis zum nächsten Haus. Selbst wenn sie mit Anlauf gesprungen wäre, dürfte sie nur zwei Meter vom Gebäude weg liegen, maximal drei. Glauben Sie mir, in Berlin ist der Sprung von einem Gebäude eine recht beliebte Freitodmethode; ich habe mehr als einen Menschen gesehen, der auf diese Weise umgekommen ist. Wenn diese Frau selbst gesprungen wäre, dann wäre sie nicht hier aufgekommen, sondern einem der Zuschauer auf den Kopf gekracht. In dem Fall hätten wir zwei Leichen zu bearbeiten und nicht nur eine.«

Maria Arbol schüttelte irritiert den Kopf und schaute an den Gebäuden hinauf, die links und rechts in die Dunkelheit emporragten. Die meisten Leute hatten in ihren Wohnungen das Licht ausgemacht, um besser sehen zu können, was auf der Straße vorging. Sie standen als dunkle Silhouetten auf Balkonen und an Fenstern. Das Ganze wirkte wie ein Bühnenbild.

»Aber wo könnte sie denn sonst hergekommen sein?«

Alex trat zu ihnen und zuckte die Achseln. »Angeblich ist sie direkt vom Himmel gefallen.«

»Das ist doch absurd«, murmelte Maria Arbol gedankenverloren.

Die junge Frau, die ihnen vorher berichtet hatte, drehte sich von ihrem Platz im »Teufelskreis« aus zu ihnen um.

»Was heißt hier angeblich? Sie ist mir direkt vor die Füße gekracht. Wenn sie mich erwischt hätte, wäre ich jetzt auch tot!« Mit vorwurfsvollem Gesichtsausdruck wandte sie sich an Alex. »Ihr ›angeblich‹ können Sie sich sparen, Sergent.«

»Perdona«, erwiderte Alex mit einem Lächeln.

»Und Sie haben nicht gesehen, wo die Frau herkam?«, fragte Maria Arbol.

»Nein. Ich war auf den Correfoc konzentriert. Es ist ziemlich anstrengend, niemandem die Haare anzukokeln. Außerdem ist sie sehr schnell gefallen. Ich habe einen schwarzen Schatten registriert, und im nächsten Augenblick lag sie auch schon auf der Straße.«

»Fallende Körper können eine Geschwindigkeit von über hundert Stundenkilometern erreichen, manchmal auch zweihundert«, bemerkte Alex mit fachmännischem Blick und wippte auf den Fußspitzen.

»Woher weißt du das?« Karl war überrascht.

»Hab mal einen Fallschirmkurs mitgemacht. Jedenfalls ist es logisch, dass man einen Sturz aus großer Höhe nicht mitbekommt. Vor allem nicht, wenn man sich auf etwas anderes konzentriert.«

Maria Arbol nickte nachdenklich, dann wischte sie sich die Hände an ihrem Kleid ab, als wären sie schmutzig.

»Sie haben gut reagiert«, sagte sie zu Karl und Alex. »Ein Glück, dass Sie gerade in der Nähe waren. Betrachten Sie die Fallakte als eröffnet. Finden Sie heraus, was dahintersteckt. Und im Falle eines Selbstmordes oder Unfalls geben Sie an die Kollegen ab.«

Karl und Alex nickten wie brave Schuljungen.

»Einen schönen Abend noch. Wir sprechen uns dann morgen.«

»Ihnen auch, Jefa«, erwiderten sie wie aus einem Mund. Nachdem die Schritte ihrer Chefin verklungen waren, tauschten sie fragende Blicke. So sanftmütig und wohlwollend hatten sie die Cap de la Unitat noch nie erlebt. Normalerweise beendete sie eine Unterredung mit ihnen immer mit einer Drohung, nicht mit einem aufrichtigen Lob.

»Was ist denn mit der los?«, fragte Alex verwirrt.

Karl kratzte sich nachdenklich am Kopf. »Ich weiß auch nicht. Vielleicht ist sie ja betrunken.«

Er warf einen traurigen Blick auf die Leiche. »Keine Sorge. Wenn sich herausstellt, dass die Frau eine Politikerin, Schauspielerin, Millionärsgattin oder Fußballerfrau ist, findet sie schon schnell zu ihrer alten Gereiztheit zurück.«

»Worauf du dich verlassen kannst.«

 

Es dauerte noch eine ganze Weile, bis die anderen zu ihnen stießen. Karl kam das Warten und die gesamte Situation vollkommen bizarr vor; auch, weil sich alles so in die Länge zog.

Das war er nicht gewöhnt, normalerweise gab es in so einer Situation immer reichlich zu tun. Wenn es mal vorkam, dass die Kommissare vor der Spurensicherung und der Rechtsmedizin bei einer Leiche eintrafen, dauerte es meist nur wenige Minuten, bis die Kavallerie anrückte – und die nutzte er gern, um seine Gedanken zu sortieren und sich auf den neuen Fall einzustellen. Doch bei dem Verkehr, der durch »die Frau, die vom Himmel gefallen war«, noch verschlimmert wurde, lief es heute nicht wie sonst. Das passte ja auch zu diesem Fall, der sich bereits in der ersten Stunde so sehr von anderen unterschied. In seiner vierzehnjährigen Karriere bei der Kriminalpolizei war Karl noch nie eine Leiche begegnet, die vom Himmel gefallen war. Selbstmörder, ja. Auch passierte es bei heftigen Familienstreitigkeiten schon einmal, dass jemand in der Hitze des Gefechts aus dem Fenster oder vom Balkon »gefallen wurde«, und einmal hatte er es mit einem manipulierten Fallschirm zu tun gehabt, aber einen solchen Aufprallschaden hatte er noch nie gesehen – ganz zu schweigen von der ungewöhnlichen Position.

Die Kollegen von der Guardia Urbana, deren Verstärkung deutlich früher eingetroffen war, hatten die Befragung der Umstehenden sowie die Räumung des Straßenabschnitts übernommen und alle Zugänge abgesperrt, sodass auch die teuflische Gruppe aus Hospitalet, die ihnen die ganze Zeit über Schutz gewährt hatte, ihren Posten verlassen durfte. Alex nahm gerade ihre Personalien auf, während Karl ihm gedankenverloren dabei zusah. Er wollte den Platz an der Seite der toten Frau aus irgendeinem verrückten Grund nicht aufgeben, und Alex ließ ihn zum Glück in Frieden. Es kam ihm nicht richtig vor, die Frau einfach so hier liegen zu lassen.

»Hey, Flieger, träumst du etwa?«

Karl zuckte zusammen, hob den Kopf und blickte direkt in das strenge Gesicht der Rechtsmedizinerin Chi Yung, die aus einer völlig anderen Richtung kam, als er vermutet hatte. Sie war für ihre Verhältnisse sehr sportlich gekleidet, in Jeans, ein schlichtes weißes T-Shirt und Sneakers; die glänzenden schwarzen Haare hatte sie wie so oft zu einem unordentlichen Dutt gewunden, aus dem sich an einigen Stellen widerspenstige Strähnen lösten.

Die winzige, hochintelligente Chinesin hatte leider ebenfalls angefangen, ihn Flieger zu nennen, seitdem sie mit seinem Schwager ausging.

»Hallo, Chi«, begrüßte Karl sie lächelnd. »Gut, dass du es geschafft hast!«

Die Rechtsmedizinerin nickte knapp. »Ich bin über Badalona gefahren. Doppelte Strecke, halbe Fahrzeit. Und jetzt steh auf, ich will mir das in Ruhe ansehen.« Sie stellte ihren Koffer ab, holte einen eingeschweißten Ganzkörperanzug hervor und zog ihn an. Binnen weniger Augenblicke sah sie aus wie ein kleiner Astronaut. Dann wedelte sie noch einmal mit der Hand, bevor sie sich Latexhandschuhe überstreifte, um Karl von seinem Platz zu vertreiben. Dieser verkniff sich ein Schmunzeln. Die herrische Art, mit der Chi andere Leute herumkommandierte, amüsierte ihn immer wieder. Das hatte der jungen Frau auch den Spitznamen »Die kleine Vorsitzende« eingebracht.

Karl erhob sich, wobei seine Glieder heftig protestierten. Er fühlte sich wie ein rostiger Wäscheständer und verzog das Gesicht.

»Du solltest es mal mit Yoga versuchen«, bemerkte Chi leichthin. »Immerhin bist du auch nicht mehr der Jüngste.«

Karl warf ihr einen giftigen Blick zu, den sie ignorierte.

Nun hatte auch Alex Chi bemerkt und kam betont lässig herübergeschlendert. Obwohl die beiden sich schon ein paar Wochen privat trafen, liefen Alex’ Ohren noch immer hochrot an, wenn Chi in der Nähe war. Karl wertete das als gutes Zeichen. Sowieso war es eine erfrischende Abwechslung, wenn eine Frau seinen Schwager aus dem Konzept brachte, normalerweise war das eher umgekehrt. Alex wurde von beinahe allen Frauen angehimmelt, die ihm begegneten, was manchmal ganz nützlich sein konnte, Karl aber meistens an den Rand des Wahnsinns trieb. Die Rechtsmedizinerin dagegen war völlig immun gegen diesen ganz speziellen Charme, das war wahrscheinlich der Grund, weshalb Alex ihr hoffnungslos verfallen war.

»Erzählt mal!«, forderte Chi, während sie sich neben die Leiche hockte und vorsichtig Karls Sakko anhob.

Karl zuckte abermals zusammen, als der eingedrückte Kopf der Frau sichtbar wurde.

Chi reichte ihm ungerührt das Jackett nach hinten, und er nahm es an sich, zog es aber nicht über. Wahrscheinlich würde er es nie wieder anziehen können. Er konnte sich gerade eben noch davon abhalten, den teuren Stoff auf Gehirnreste zu untersuchen.

»Wir haben selbst nicht gesehen, was passiert ist, aber diejenigen, die dabei waren, sagen, sie ist einfach vom Himmel gefallen.«

Chi legte den Kopf in den Nacken, so wie jeder, der diese Geschichte heute Abend gehört hatte. Mittlerweile war es stockfinster, und der Lärm der nahen Feiern, die heute Nacht ihren Höhepunkt erreichen würden, machte die Szenerie besonders bizarr.

»Und die Leiche ist nicht bewegt worden?«

Alex schüttelte den Kopf. »Wir waren zwei Minuten später hier. Keiner hatte gewagt, sie anzufassen.«

»Selbstmord kann es also schon mal nicht gewesen sein«, folgerte Chi und fischte einen Kugelschreiber aus ihrer Handtasche, mit dem sie die Haare der Frau anhob.

»Alex, gib mir mal die Taschenlampe!«, forderte sie und streckte eine Hand nach hinten, ohne den Blick von der toten Frau abzuwenden.