Spanisches Blutgeld - Catalina Ferrera - E-Book
SONDERANGEBOT

Spanisches Blutgeld E-Book

Catalina Ferrera

0,0
9,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 9,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Im herbstlichen Barcelona werden ein toter Student und verbotene Traditionen zum 4. Fall für den deutschen Kommissar Karl Lindberg und seinen charmanten Schwager Sergent Alex Diaz Ein toter Student gibt Sergent Alex Diaz und seinem Schwager Karl Lindberg Rätsel auf: Dem jungen Mann wurden mehrere große Wunden zugefügt, die sich Gerichtsmedizinerin Chi nicht erklären kann. Am ehesten käme als Waffe ein angespitzter Pflock infrage, meint sie. Nur warum hätte jemand den allgemein beliebten Studenten auf so bestialische Weise ermorden sollen? Alex und Karl treten mit ihren Ermittlungen auf der Stelle, bis sich ein forensischer Experte mit einem ungeheuerlichen Verdacht meldet... In Ihren Urlaubs-Krimis fängt die in Barcelona lebende Autorin Catalina Ferrera wunderbar die Lebensart und Atmosphäre der katalonischen Hauptstadt ein. Neben einer spannenden Krimi-Handlung um das spanisch-deutsche Ermittler-Duo Alex Diaz und Karl Lindberg bieten ihre Kriminalromane so auch jede Menge Urlaubs-Feeling und ihren ganz eigenen liebevollen Blick auf die Eigenheiten und Zwistigkeiten der Katalanen und Spanier. Alle Bände der Barcelona-Krimis von Catalina Ferrera rund um das spanisch-deutsche Ermittler-Duo Alex Diaz und Karl Lindberg auf einen Blick: • »Spanische Delikatessen« • »Spanischer Totentanz« • »Spanischer Feuerlauf« • »Spanisches Blutgeld«

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 425

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Catalina Ferrera

Spanisches Blutgeld

Ein Barcelona-Krimi

Knaur e-books

Über dieses Buch

Ein toter Student gibt Sergent Alex Diaz und seinem Schwager Karl Lindberg Rätsel auf: Dem jungen Mann wurden mehrere große Wunden zugefügt, die sich Gerichtsmedizinerin Chi nicht erklären kann. Am ehesten käme als Waffe ein angespitzter Pflock infrage, meint sie. Nur warum hätte jemand den allgemein beliebten Studenten auf so bestialische Weise ermorden sollen? Alex und Karl treten mit ihren Ermittlungen auf der Stelle, bis sich ein forensischer Experte mit einem ungeheuerlichen Verdacht meldet ...

Inhaltsübersicht

PrologIIIIIIIVVVIVIIVIIIIXXXIXIIXIIIXIVXVXVIXVIIXVIII
[home]

Prolog

Es war heiß in dieser Nacht. So entsetzlich heiß. Barcelona war nach dem langen Sommer noch immer in dem Stadium, in dem es nicht richtig abkühlte. Viel zu spät in diesem Jahr. Selbst nachts oder bei Starkregen wurde es nicht besser. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis das allgemeine Schwitzen aufhörte.

In dem Flachbau, in dem er sich befand, war es besonders schlimm. Hier staute sich alles, das Kondenswasser lief die Wellblechwände hinunter. Sein ganzer Körper troff und klebte; die Schweißtropfen, die in jede noch so kleine Körperritze rannen, lenkten ihn ab. Dabei musste er sich konzentrieren, um zu tun, weshalb er gekommen war. Eine Ablenkung konnte böse Folgen haben, denn er war heute Nacht hier, um zu töten.

Sein Gegenüber wusste es nur noch nicht. Der Kerl wirkte eher ruhig, vielleicht sogar ein wenig neugierig. Betrachtete ihn aus großen, dunklen Augen, den Kopf mit dem dichten schwarzen Haar ein wenig zur Seite geneigt.

Er war noch jung und vielleicht deshalb ein wenig naiv. Kräftig und gutaussehend, mit muskulöser Brust und breiten Schultern. Ein Jammer eigentlich.

Es war nicht das erste Mal, dass er tötete. Manchmal hatte er das Gefühl, zu nichts anderem geboren worden zu sein. Töten war das, was er am besten konnte. Ein Talent, das lange im Verborgenen geschlummert hatte, bis er endlich darauf gestoßen war. Seitdem hatte sich viel verändert. Er hatte sich verändert. Nicht sehr schmeichelhaft vielleicht, aber wahr. Er konnte es nicht verleugnen.

Sie beobachteten einander abwartend. Einer von ihnen würde den ersten Schritt machen müssen. Er selbst reagierte lieber. Er hatte Zeit.

Und er freute sich schon auf das Hochgefühl danach. Sicher, auch für ihn war das Ganze nicht ungefährlich. Der andere sah aus, als wäre er durchaus in der Lage, sich zu verteidigen, auch wenn er jetzt noch völlig arglos war. Doch ohne Herausforderung machte das Töten keinen Spaß.

Er fasste die Waffe fester, die er hinter dem Rücken versteckt hielt. Auch seine Finger waren schweißnass, er musste aufpassen, dass ihm das Ding nicht aus der Hand rutschte. Es war sein Markenzeichen, noch nie hatte er mit etwas anderem getötet. Sie war etwas ganz Besonderes, und er musste gut auf sie aufpassen.

Schon der kleinste Fehler könnte ihm zum Verhängnis werden. Doch er machte keine Fehler. Er hatte noch nie einen Fehler gemacht und gedachte nicht, ausgerechnet heute damit anzufangen.

Der andere trat einen Schritt auf ihn zu. Dann noch einen.

Der Mann spürte, wie das Adrenalin durch seine Adern gepumpt wurde, und das bisschen Nervosität, das er verspürt hatte, verflog.

Einer von ihnen würde heute Nacht sterben. Und er würde es nicht sein. Ein Lächeln legte sich auf sein verschwitztes Gesicht, die salzigen Tropfen sickerten in seine Mundwinkel und liefen auf seine Zunge. Es ging los. Auf einmal fühlte sich das alles gut an. Lebendig. Da war es wieder, das Gefühl, das er so liebte. Er zog die Waffe hinter dem Körper hervor und rannte los.

[home]

I

Es gab momentan nur einen kurzen Tagesabschnitt, an dem Joggen möglich war, und zwar frühmorgens zwischen vier und halb sechs. Das war eine Zeit, in der Barcelona normalerweise fest schlief, von den paar unverbesserlichen Touristen einmal abgesehen, die sich die Nacht trinkend und kiffend am Strand um die Ohren geschlagen hatten, weil kein Hotelzimmer mehr frei gewesen war und sie dann von der Sperrstunde überrascht worden waren.

Es wurden immer mehr, wahrscheinlich auch, weil die Hotels immer teurer wurden. In seinen jungen Jahren hatte Carlos auch öfter am Strand geschlafen, allerdings aus gänzlich anderen Gründen. Heute ärgerte er sich über die weit verstreuten Bündel aus Decken und Rucksäcken, die wie bunte Tupfen auf dem Sand lagen, der sich in der Morgendämmerung langsam golden färbte. Insgeheim wünschte er sich, dass sie allesamt ausgeraubt werden würden und den Rest ihres Urlaubs mit nur einer Unterhose auskommen müssten. Nicht nett, aber seine Gedanken hörte ja niemand. Die jungen Leute störten seinen friedlichen, einsamen Morgen und den leeren Strand, den er so liebte. Wenn er schon so früh aufstand, wollte er wenigstens allein sein, Herrgott noch mal. Zum Glück wohnte er nicht hier unten; von seinen Freunden, die in Barceloneta lebten, hatte er mehr als nur eine Horrorgeschichte über Sauftouristen gehört. Er hätte niemals gedacht, dass es in ihrer Stadt so weit kommen konnte – sie waren hier doch nicht auf Mallorca. Barcelona war eine Metropole mit Kultur! Aber offenbar hatte auch seine Heimatstadt genug von dem zu bieten, das solche Leute magisch anzog. Sie konnten alle nur hoffen, dass diese Phase irgendwann vorbeiging. So wie eigentlich alles irgendwann vorbeiging. Franco hatten sie ja auch ausgesessen.

Es brauchte schon ein gehöriges Maß an Disziplin, um sich gegen vier Uhr aus dem Bett zu quälen und Sport zu machen, doch Disziplin hatte er im Überfluss. Das Joggen war ihm seit einem Herzinfarkt vor acht Jahren heilig. Seitdem hatte er mit seiner Routine nicht einmal gebrochen. Nicht im Urlaub. Nicht an hohen Feiertagen. Nicht bei der Geburt seiner Enkel. Niemals. Es trieb seine Frau Rosa zur Raserei, dass er keine Ausnahmen machte, aber so war er eben. Wenn er einmal etwas geschworen hatte, dann hielt er sich auch daran. Sein Ehegelübde hielt er schließlich auch seit über dreißig Jahren, ohne Ausnahmen zu machen. Manchmal verstand er seine Frau nicht, doch er ging davon aus, dass er mit diesem Problem nicht allein dastand.

Carlos hatte sich an das Joggen gewöhnt wie an bittere Medizin. Er hatte dem Tod einmal ins Auge sehen müssen und gedachte nicht, da in naher Zukunft noch einmal hinzusehen. Sollten sie ruhig die Köpfe schütteln, er hatte seine Prinzipien. Locker, aber zügig joggte er in Richtung Jachthafen, auf den riesigen Fisch aus Messing zu, der die Partymeile am Meer bewachte. Das Kunstwerk glitzerte in der Sonne, und obwohl Carlos das gesamte Areal um das olympische Dorf und den Jachthafen nicht sonderlich schätzte, musste er zugeben, dass der Fisch eine Bereicherung war. Er war alt genug, sich noch gut daran zu erinnern, wie all das vor dreißig Jahren ausgesehen hatte. Manches war besser geworden, anderes schlechter. Aber so war es nun mal im Leben.

Zum Glück gab es die Sperrstunde, sonst lägen hier wahrscheinlich auch noch Touristen herum. Doch die Clubtüren waren geschlossen, der Strand war deutlich leerer. Je weiter er in Richtung Poblenou kam, desto schöner wurde der Morgen. Doch schon jetzt konnte er die aufkommende Hitze des Tages riechen.

Eigentlich war es viel zu spät ihm Jahr für solche Temperaturen. Im November war es normalerweise tagsüber in Barcelona vielleicht noch angenehm mild, doch nachts wurde es schon kühl, und abends brauchte man eine leichte Jacke. Nicht in diesem Jahr. Er hatte seine dicke Jacke noch nicht einmal aus dem Trastero geholt, dem kleinen Abstellraum oben auf dem Dach. Nicht einmal an sie gedacht hatte er. Wo das noch hinführen würde, wollte er sich gar nicht ausmalen. Er gedachte zwar, noch recht alt zu werden, aber wohl nicht alt genug, um das volle Ausmaß dessen mitzubekommen, das alle Leute »Klimawandel« nannten.

Carlos passierte Strandabschnitt um Strandabschnitt, und allmählich fiel ihm das Atmen immer schwerer. Er war vollkommen durchgeschwitzt, und auch sein Kreislauf meldete sich. Er überlegte, ob er umkehren sollte, doch dafür war er zu stur. Jeden Morgen lief er bis zum Parc del Fòrum. Der heutige Morgen würde keine Ausnahme bilden. Außerdem war er fast da.

Normalerweise joggte er auf dem Asphalt über dem Strand, heute jedoch entschied er sich, auf dem letzten Strandabschnitt vor dem Parc del Fòrum auf den Sand hinunterzulaufen, um den Kopf unter eine der Strandduschen zu halten. Eigentlich wurden die im Oktober außer Betrieb genommen, doch auch das war in diesem Jahr anders. Ein Glück.

Er erreichte die Dusche, zog Schuhe und Strümpfe aus und legte sein Handy dazu, da er unterwegs beschlossen hatte, sich komplett unter den Strahl zu stellen. Bis er zu Hause ankam, war er sicher wieder trocken. So ließ sich auch der Rückweg bestimmt besser bewältigen.

Er reckte den Kopf und genoss das Prasseln des kalten Wassers. Seine Haut nahm die Feuchtigkeit gierig auf, er konnte förmlich fühlen, wie sie sich wieder vollsog. Als tränken seine Zellen.

Es war erstaunlich angenehm, so dazustehen und sich in voller Sportmontur abzuduschen. Über Carlos’ Gesicht huschte ein kleines Lächeln. Er fühlte sich beinahe wieder wie fünfzehn. Während seines ersten Sommers mit Rosa hatte es viel geregnet, doch sie waren zu verliebt gewesen, um nach Hause zu gehen. Von seiner Mutter hatte es mehr als einmal Ohrfeigen gegeben, weil er mit nassen Klamotten nach Hause gekommen war. Und weil eine der Nachbarinnen ihn mit Rosa gesehen hatte. Seine Mama hatte befürchtet, dabei würde womöglich ein uneheliches Kind herauskommen, doch ihre Furcht war unbegründet gewesen. Rosa war streng katholisch. Alle ihre vier Kinder waren erst nach der Ausbildung und der Hochzeit gekommen, wie es sich gehörte. Auch wenn ihn damals ganz schön der Hafer gestochen hatte.

In Erinnerungen schwelgend, sah er sich am Strand um. Die letzte Strandbar Barcelonas war noch geschlossen, die Lampen schaukelten in der minimalen Brise, die am Wasser herrschte, hin und her. So was hatte es früher nicht gegeben. Da hatten sie sich an einem der Kioske am Hafen Limonade gekauft und sich damit auf die Kaimauer gesetzt. Jetzt gab es am Strand Paella und Xampagner.

Carlos stutzte. Vor dem Xiringuito lag etwas. Etwas Großes. Er kniff die Augen zusammen. Oder nein: Dort lag jemand. Er runzelte die Stirn, wischte sich das Wasser aus den Augen und versuchte, es genau zu erkennen. Doch, das war eindeutig ein Mensch. Aber etwas an dem Bild war merkwürdig.

Wer auch immer dort halb auf der Holzterrasse der Bambú Beachbar lag, war für diese Temperaturen auf jeden Fall zu warm angezogen. Außerdem stand ein Arm in einem merkwürdigen Winkel von dem reglosen Körper ab, und Carlos konnte sich eigentlich nicht vorstellen, dass man auf der harten Kante der Holzterrasse überhaupt einschlafen konnte. Gut, Besoffene merkten oft gar nichts mehr, aber der Anblick machte Carlos nervös. Da stimmte etwas ganz und gar nicht.

»Hola?«, rief er in Richtung des Liegenden, doch nichts regte sich.

Carlos wischte sich das Wasser aus dem Gesicht und ging langsam auf die Beachbar zu.

»Hola? Buenos días! Ist alles in Ordnung? Brauchen Sie Hilfe?«, rief er, diesmal lauter, doch noch immer rührte sich nichts.

Als er die dunkelroten Spuren im Sand bemerkte, rannte er los.

[home]

II

Es gab müde, es gab sehr müde, und es gab Karl Lindberg. Für seine Müdigkeit müsste ein neues Wort gefunden werden – irgendwo zwischen sehr müde und komatös. Seitdem seine Tochter Carla auf der Welt war, hatte der Kommissar nicht mehr anständig geschlafen. Volle fünf Wochen nicht, und ein Ende war nicht in Sicht. Es war jene Art Müdigkeit, die sich durch eine oder zwei gute Nächte nicht mehr würde beheben lassen. Die sich ins Knochenmark drückte und in jede Hautfalte sickerte; die Teil seiner Identität wurde, als wäre sie eine fünfte Extremität. Für die nächsten Jahre. Jah-re.

Dank seines Jobs kannte er durchwachte Nächte und Phasen mit insgesamt zu wenig Schlaf nur zu gut. Die meisten Mordermittlungen gingen mit einem erheblichen Schlafdefizit einher, doch das hier war etwas völlig anderes. Es füllte ihn komplett aus.

Er hatte die vollen fünf Wochen Vaterschaftsurlaub in Anspruch genommen, die man in Spanien bekommen konnte, und er hatte es mit großer Selbstverständlichkeit getan. Carla war eine Herausforderung, der Alba vor allem gleich nach der Entbindung allein niemals gewachsen gewesen wäre. Karl mochte Polizist sein, aber ein Macho war er nicht.

Doch sie konnten es sich nicht leisten, dass er noch länger zu Hause blieb. Seiner Frau standen noch elf weitere Wochen Elternzeit zu, dann war Schluss. Und da sie mit der Apotheke auf den Ramblas deutlich mehr Geld verdiente als Karl bei den Mossos, würde auch sie bald wieder arbeiten müssen. Auch wenn Karl noch keine Ahnung hatte, wie das gehen sollte. Es hatte schon Gründe, warum in Deutschland vierzehn Monate Elternzeit vorgesehen waren. Doch Alba gegenüber verkniff er sich, darauf herumzureiten, dass sie es in Berlin in ihrer jetzigen Situation deutlich leichter hätten. Sie war auch so schon dünnhäutig genug.

Alba und er waren sich in den vergangenen Wochen gegenseitig mehr als einmal fürchterlich auf den Geist gegangen, so aufeinander zurückgeworfen, mit blanken Nerven und gigantischen Augenringen. Doch insgeheim hatten sie gehofft, dass es mit Carla einfacher werden würde, jeden Tag, den sie mit dieser Welt bekannt wurde, ein bisschen mehr. Kurz: dass Karl seine beiden Frauen mit ruhigem Gewissen allein zu Hause lassen konnte.

Da hatten sie die Rechnung aber leider ohne ihre Tochter gemacht. Dieses kleine Wesen hatte in den paar Wochen, die es auf der Welt war, das Beste und das Schlimmste in seinen Eltern zum Vorschein gebracht. Karl und Alba hatten sich angeschrien, dass die Tauben auf dem Dach aufgestoben waren, hatten einander in den Armen gehalten und zusammen geweint, wenn es nicht mehr ging. Hatten Carlas erstes Lächeln gefeiert wie ein hohes Fest.

Wo ihr älterer Sohn Oli ein stiller See war, war Carla ein reißender Fluss. Sie schrie und weinte, sie quengelte und greinte, schimpfte und protestierte mit allem, was sie hatte, bis sie blau anlief und Karl ihr einen kalten Waschlappen ins Gesicht drücken musste, damit sie Luft holte und sich ihre geballten Fäustchen etwas entspannten.

Wenn sie müde war. Wenn ihr etwas wehtat. Die Windel, ein Pups, zu heiß, zu kalt, zu viel, zu langweilig, zu eng, zu einsam. Aber vor allem: zu langsam. Ihre kleine Princesita schätzte es überhaupt nicht, wenn ihre Welt stillstand. Am glücklichsten – und am ruhigsten – war sie, wenn sie bewegt wurde. Deshalb gab es in Karls Leben auch ein neues Hasswort: Pezziball. Der blaue Gymnastikball in ihrem Wohnzimmer war zum Mittelpunkt seines Daseins geworden. Auf und ab und auf und ab. Wie viele Stunden er schon auf dem Ding zugebracht hatte, wollte er gar nicht wissen. Mit Carla auf dem Arm oder in der Trage. Oder über der Schulter. Damit wenigstens Alba ein bisschen Schlaf abbekam, wippte und wippte und wippte er. Manchmal wurde er dabei von Oli oder dessen Freund Rafa abgelöst, doch er hatte Verständnis dafür, dass die beiden es meistens vorzogen, in der kleinen Wohnung unten im Haus zu bleiben, in die sie vor ein paar Wochen gezogen waren. Sie waren ohnehin derart vernünftig und erwachsen, dass es Karl bisweilen beunruhigte. Oli vergötterte seine kleine Schwester, so wie sie alle, doch Karl konnte es ihm nicht verdenken, dass sie ihn bisweilen zur Verzweiflung trieb. So wie sie alle.

Sein Schwager und Kollege Alex, mit dem er bei den Mossos d’Esquadra zusammenarbeitete, glänzte seit einiger Zeit meist mit Abwesenheit. Auch er war von der geballten Wut und Kraft seiner kleinen Nichte überfordert.

Und so wippte er meist allein. Karls Schultern waren aus Beton, seine Waden ebenfalls, und die Kilos, die er sich vor Carlas Geburt angefuttert hatte, waren schon beinahe alle wieder verschwunden. Weggewippt. Außerdem hatte er gar keine Zeit, zu essen.

Und es war immer noch so entsetzlich heiß; es wurde und wurde einfach nicht besser. Ihre Wohnung unterm Dach glich einem Brutkasten, die Klimaanlage lief Tag und Nacht. Noch ein Grund dafür, dass Karl sich lieber im Wohnzimmer aufhielt – obwohl dort auch der Pezziball lauerte. Die Schlafzimmer waren, sehr zu seinem Leidwesen, nicht klimatisiert. Rein intellektuell und aus Umweltsicht fand er das natürlich vernünftig, doch er steckte Hitze einfach nicht so gut weg. Hatte er noch nie.

Carla gefiel die Hitze auch nicht. Sie hatte das Temperament und das Aussehen ihrer Mutter geerbt, das Temperaturempfinden jedoch offenbar von ihrem halb irischen Vater, der gerade schwitzte wie ein Schwein. Sie klebten förmlich aneinander.

Die Tür zum Schlafzimmer quietschte, und Alba kam gähnend ins Wohnzimmer geschlichen. Sie hob den Blick, und Karl konnte sehen, dass ihre Augenringe heute drei Lagen hatten. Tripelringe. Sie lächelte matt, und er lächelte zurück.

»Und?«, fragte sie wie jeden Morgen.

»Alles okay«, erwiderte er. »Sie hat fast die ganze Zeit geschlafen. Mach uns einen Kaffee, ja? Mit Eiswürfeln, wenn wir haben.«

Alba nickte schwach und verschwand in der Küche.

Obwohl Karl ganz froh darüber war, dass sich Alex nach Carlas Geburt schlagartig wieder daran erinnert hatte, dass er ja auch noch ein eigenes Zuhause hatte, und er Gott für jede Sekunde dankte, die seine Tochter schlief, behagte ihm die Stille nicht. Sein Alltag kannte nur noch ohrenbetäubendes Geschrei und gespenstische Ruhe. Dazwischen gab es nichts. Nur das sanfte Brummen der Kaffeemaschine. Er vermisste es, die Küche morgens voll zu haben, obwohl seine Familie ihm so früh am Tag eigentlich immer nur auf die Nerven gegangen war. Aber es war ihm deutlich lieber, jemanden zum Anschweigen zu haben.

Er hatte zwar ein schlechtes Gewissen, aber er freute sich wie ein Kind darauf, heute wieder arbeiten gehen zu dürfen. Ohne einen Fall, an dem er tüfteln konnte, fühlte Karl sich nur wie ein halber Mensch. Und er wusste, wenn er sogar seinen Schwager Alex vermisste, dann musste es sehr schlimm um ihn bestellt sein.

Alba stellte ihm einen Kaffeebecher auf den Couchtisch und ließ sich aufs Sofa fallen.

»Hast du noch ein bisschen schlafen können?«

»Schlaf ist nicht das richtige Wort«, murmelte sie. »Bewusstlosigkeit trifft es schon eher.«

Karl angelte sich seinen Kaffee und trank einen Schluck. Er hatte gelernt, sehr viele Dinge mit nur einer Hand zu machen.

»Ich habe ein richtig schlechtes Gewissen, dich hier allein zu lassen.«

»Ich bin nicht allein«, erwiderte Alba. »Das ist ja das Problem.«

Karl verzog das Gesicht. »Es wird besser werden. Ganz bestimmt.« Es klang wie ein Mantra.

»Hm. Und wenn sie dann groß ist und ihr eigenes Geld verdient, werde ich alt und tatterig ständig bei ihr auf der Matte stehen und sie mit irgendwelchen Belanglosigkeiten nerven.« Sie grinste schief. »Ich werde über ihre Haare schimpfen. Über das Wetter. Über die Unordnung in ihrer Wohnung, selbst wenn alles blitzblank geputzt ist. Über ihre Klamotten. Über die Auswahl ihrer Männer, ihres Berufes, ihrer Schnürsenkel. Das wird super.«

Karl kicherte leise. »Oh ja. Aber vorher rufst du sie ständig an, um ihr zu erzählen, wer gestorben und wer krank geworden ist, wer sich die Haare gefärbt hat und was die schreckliche Nachbarin von unten jetzt schon wieder angestellt hat. Dann fährst du zu ihr nach Hause und erzählst ihr alles noch mal.«

Alba zuckte die Schultern. »Ich bin eine spanische Mutter. Also werde ich tun, was man von mir erwartet.«

Sie lachten beide, und Carla begann, sich in Karls Armen unbehaglich zu räkeln. Schlagartig verstummten sie und starrten ihr Kind mit angehaltenem Atem an. Karl hatte manchmal das Gefühl, bei ihnen wäre kein Baby eingezogen, sondern eine Landmine.

Das Display seines Telefons leuchtete auf. Er hatte eine Nachricht von Alex, doch von seinem Platz aus konnte er sie nicht lesen.

Alba angelte nach dem Gerät und blickte auf den Bildschirm.

Dann seufzte sie. »Tja. Ich schätze, du musst los.«

Karl runzelte die Stirn. »Es ist doch erst kurz vor sechs.«

»Ja. Aber vor der Bambú Beachbar liegt eine Leiche.«

 

Karl hatte sich in Windeseile geduscht und angezogen. Eine weitere Kunst, die er meisterhaft beherrschte, seit sie Carla hatten. Wenn sie nicht im Turbomodus duschten, gingen sie verkrustet ins Bett. Und das war bei diesen Temperaturen nun wirklich kein Vergnügen.

Er lieh sich eines der städtischen Fahrräder, um am frühen Morgen den Passeig Marítim entlangzufahren und buchstäblich die Freiheit zu genießen. Und das bisschen Fahrtwind, das ihm um die Nase wehte.

Normalerweise kam man mit so einem Gefährt auf dem Passeig nur voran, wenn man absolute Todesverachtung an den Tag legte, weil der Fußgängerweg am Meer chronisch überfüllt war, doch um diese Uhrzeit ging es ganz hervorragend. Karl erfreute sich am weiten Blick und am Licht des frühen Morgens, das vom ruhig daliegenden Mittelmeer glitzernd zurückgeworfen wurde.

Er bildete sich sogar ein, dass es nach Neuanfang roch, auch wenn das pathetisch und absolut bescheuert war. Neuanfänge hatten keinen Geruch.

Die Bambú Beachbar war die letzte Beachbar Barcelonas, danach endete der Strand sehr unprätentiös an einer Betonmauer. Um dort hinzugelangen, musste Karl vier Kilometer lang immer geradeaus fahren, vorbei an Poblenou und immer in Richtung Badalona. Die Bars standen in zunächst sehr engem, später in weiterem Abstand zueinander auf dem Strand und wurden nur in den warmen Monaten aufgebaut. Im Herbst wurden sie normalerweise eingelagert, doch die Stadt hatte beschlossen, ihre Organisation dem Wetter anzupassen und sowohl die Xiringuitos als auch die Duschen noch eine Weile in Betrieb zu lassen. Das war doch alles verrückt.

Als er den Leichenfundort erreichte, stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Schon von Weitem konnte er sehen, dass die anderen schon da waren, und er freute sich aufrichtig auf seine Kollegen.

Er stellte das Rad ab und nahm den nächstgelegenen Übergang zum Strand.

Es war ein irgendwie bizarres Bild. Mehrere Erwachsene in weißen Schutzanzügen standen in loser Formation am Strand herum und wirkten beinahe wie Außerirdische, die gerade erst auf der Erde gelandet waren und sich nun verwirrt und milde interessiert umblickten – als hätten sie mehr erwartet.

Personen in Schutzkleidung gehörten nicht an den Strand, schon gar nicht bei diesem Wetter. Hier tummelten sich normalerweise nur Menschen, die lediglich mit dem Allernötigsten bekleidet waren. Wenn überhaupt. In Barcelona nahm man das nicht so genau.

»Bon dia!«, rief Karl fröhlich und konnte sich gerade noch davon abhalten, zu winken.

Er sollte sich nicht über den Tod eines Menschen freuen. Tat er ja auch nicht; er hätte seinen Schreibtisch mit einem Aktenberg genauso begrüßt. Karl war einfach nur froh, wieder arbeiten zu können.

Sein Schwager Alex war der Erste, der sich grinsend zu ihm umdrehte. Karl war erstaunt, wie sehr er sich in den Wochen, in denen sie einander nicht gesehen hatten, verändert hatte. Es war immer noch derselbe Alex, doch das halbe Jahr, das er nun schon als Sergent für Kapitalverbrechen arbeitete, hatte ihn merklich reifer werden lassen. Zwar ragte seine schiefe, mehrfach gebrochene Nase noch immer unter einem Schopf aus dunklen, zu langen Haaren und unter dichten Augenbrauen hervor, doch insgesamt wirkte er aufgeräumter, als hätte ihn jemand von oben bis unten abgebürstet und kräftig ausgelüftet. Und Karl wusste auch genau, wer dieser Jemand war.

»Hey, Flieger!« Alex kam auf Karl zugestapft, was anscheinend in dem weißen Schutzanzug nicht so einfach war. »Gut, dich zu sehen!«

Er hielt Karl einen Take-away-Kaffeebecher hin und klopfte ihm auf die Schulter.

»Schleimer«, knurrte Karl, doch er lächelte und nahm den Becher dankbar entgegen.

»Was ist hier los?«

»Männliche Leiche. Wurde heute früh von dem Jogger da drüben gefunden.« Alex zeigte auf den älteren Mann, der etwas abseits in Laufklamotten auf einem der wenigen Schattenplätze vor der Strandbar saß.

»So viel weiß ich auch noch nicht, Chi ist gerade dran. Und du trinkst da übrigens meinen Kaffee, wenn ich das mal bemerken darf.«

»Danke. Ich habe ihn sicher nötiger als du.«

»Wie geht’s zu Hause?«, fragte Alex mit mitleidigem Blick.

»Unverändert«, vermeldete Karl. »Ich fühle mich überhaupt nicht wohl dabei, Alba mit Carla allein zu lassen.«

Alex nickte. »Kann ich verstehen. Aber wenn ihr so weitermacht, reißt ihr euch noch gegenseitig die Köpfe ab. Und das wäre doch auch irgendwie schade.«

Karl knuffte seinen Schwager in die Seite. »Mal was anderes, Cuñado«, sagte er und trank den Rest des Kaffees in großen Schlucken aus. Besser wurde das Zeug vom Warten auch nicht. »Wo sind die anderen? Nadal, Gomez, Ramirez und Moix? Sollten die nicht längst hier sein?«

Alex verzog das Gesicht. »Die Arbol hat alle jungen Beamten auf einen Lehrgang nach Pamplona geschickt. Sie kommen erst übermorgen zurück.«

Karl verdrehte die Augen. »Das passt ja prima.«

Alex grinste. »Olivia wird fuchsteufelswild, wenn sie erfährt, dass während ihrer Abwesenheit etwas Spannendes passiert ist. Bis auf eine Messerstecherei und eine Fahrerflucht ist in den letzten Monaten nämlich überhaupt nichts los gewesen. Die Arbol war wohl der Meinung, die jungen Sergenten wären nicht genügend ausgelastet.«

Karl schüttelte amüsiert den Kopf. »Und ausgerechnet an meinem ersten Tag passiert so was. Sie wird mich hassen.«

»Tut sie doch sowieso!«

Karl boxte seinen Schwager gegen den Oberarm. »Arsch.« Alex grinste.

»Und warum habt ihr alle diese Dinger an?«

Alex schüttelte belustigt den Kopf. »Habe ich dir das noch nicht erzählt? Wir haben einen neuen Chef der Kriminaltechnik. Stefano Stiuso. Er ist … ganz anders als Guardiola.«

Karl zog die Augenbrauen hoch. Na, das waren ja mal Neuigkeiten.

»Das bedeutet, dein Leben ist jetzt leichter als vorher?«

Alex legte den Kopf schief. »Ich bin mir noch nicht ganz sicher …«

»Weil dieser neue Chef auf den schicken Outfits besteht?«

»Jedenfalls hat er ganz begeistert Ganzkörperanzüge verteilt, wie Bonbons auf einem Kindergeburtstag. Für jeden einen. Vielleicht will er ja so deutlich machen, dass wir hier alle gleich sind. Wie mit einer Schuluniform. Er möchte unbedingt, dass wir alle ›gut und vertrauensvoll zusammenarbeiten‹.«

»Das ist ja per se nicht schlecht. Aber warum müssen wir jetzt auch Schutzanzüge tragen? Ich kann hervorragend in meinen eigenen Klamotten gut und vertrauensvoll mit anderen Menschen zusammenarbeiten. Ich muss dabei nicht aussehen wie ein gottverdammtes Reiskorn.«

»Weil er der Meinung ist, man solle auf Nummer sicher gehen, und die Kollegen der Mordkommission sollten seinem Urteil doch bitte vertrauen.«

»Wehe, der versucht, mir so was aufzuschwatzen«, knurrte Karl. »Ich hasse diese Dinger. Und soweit ich das beurteilen kann, ergeben sie an diesem Fundort auch überhaupt keinen Sinn.«

Er blickte sich um. Normalerweise trugen nur die Mitglieder der KT die weißen Schutzanzüge, die verhindern sollten, dass die zu sichernden Spuren von Haaren oder Hautschuppen kontaminiert wurden. Einzig an Tatorten, an denen es von Spuren nur so wimmelte, wurden alle Beamten angehalten, die Anzüge zu tragen. Wenn zum Beispiel eine große Menge Blut überall verteilt worden war oder das Spurenbild sich aus anderen Gründen sehr großflächig darstellte. In allen anderen Fällen warteten die Beamten einfach, bis der Tat- oder Fundort von der KT freigegeben wurde, und das war es dann. Und daraus, wie die Kollegen alle in loser Formation am Strand herumstanden, als warteten sie darauf, bei einem unbeliebten Hochzeitsspiel in Gruppen eingeteilt zu werden, schloss Karl, dass die Spurensicherung schon längst fertig war.

Alex lachte über Karls Kompromisslosigkeit in Sachen Arbeitskleidung. »Er möchte einfach alles richtig machen, glaube ich. Hatte letzten Montag seinen ersten Arbeitstag, und so wie er rüberkommt, hatte er noch nie so einen Posten.«

Karl nickte. Er würde Javier Guardiola, den unsympathischen Chef der Kriminaltechnik sicher nicht vermissen. Der Mann mit dem markanten Kinn und den harten Augen hatte nie eine Gelegenheit ausgelassen, sich über Karl, Alex und ihr Team lustig zu machen.

»Und wo ist Guardiola hin?«

»Na, wo wird der schon hin sein?«

Karl zog die Schultern hoch. »Madrid?«

Alex grinste. »Du sagst es. Ist schön weit weg befördert worden.«

Karl deutete mit einem Kopfnicken auf den Jogger. »Hast du schon mit dem Mann gesprochen?«

Alex nickte. »Ja, aber er hat nicht viel zu erzählen. Geht jeden Morgen hier laufen. Wegen der Hitze hat er sich am Ende seiner Runde unter eine der Duschen gestellt und dabei die Leiche entdeckt. Dann hat er sofort die Polizei gerufen.«

»Verstehe. Und warum ist er dann noch hier?«

Alex zuckte die Schultern. »Er meint, es interessiert ihn, uns ein bisschen zuzusehen. Da er nicht stört, habe ich ihn gelassen. Das Schlimmste hat er eh schon gesehen. Vielleicht will er sich einfach vergewissern, dass alles seinen rechten Gang geht. Wollen wir?«

Nebeneinander gingen sie langsam auf die Leiche zu. Karl begrüßte seine Kollegen und wurde von allen herzlich umarmt; von den Frauen bekam er die obligatorischen Küsschen auf die Wange gehaucht.

»Hey, Karl«, rief schließlich eine vertraute Stimme. »Benimm dich nicht wie ein aus dem Krieg heimgekehrter Soldat, okay? Ich hab heute noch was anderes zu tun, als auf euch zwei zu warten.«

Karl grinste. Chi Yung, Spaniens jüngste Rechtsmedizinerin und Alex’ bisher größte Liebe, war streng und ließ sich von ihrer Beziehung zu einem Sergenten der Mossos d’Esquadra ihre Professionalität nicht verwässern. Im Gegenteil. Fast hatte man das Gefühl, dass sie noch ein wenig herrischer geworden war, seitdem sie mit Alex zusammen war. Und sie wartete nicht gern.

Die aus Hongkong stammende Chinesin hatte zwar in Spanien studiert, ihren Abschluss gemacht und ihre gesamte Berufserfahrung gesammelt, kam jedoch bis heute nicht mit der spanischen Auffassung von Eile und Pünktlichkeit zurecht. Sie übertraf Karls deutsche Ungeduld noch um ein Vielfaches. Hastig traten der Kommissar und sein Schwager neben die Rechtsmedizinerin. Chis strafender Blick war etwas, dem man sich nach Möglichkeit nicht allzu lange aussetzte. Zum Glück war sie Rechtsmedizinerin und keine Grundschullehrerin – Chi hätte mit Sicherheit reihenweise Kinder traumatisiert. Allerdings lehrte sie an der Hochschule für Medizin und versetzte ihre Studenten regelmäßig in Angst und Schrecken. Doch die jungen Leute verehrten sie auch, weil sie bei Chi die bestmögliche Ausbildung erhielten. Karl hatte sie schon ein paarmal in Aktion gesehen und war froh, keiner ihrer Studenten zu sein.

»Bist du fertig?«, fragte Alex.

Chi richtete sich auf, was bei ihrer geringen Körpergröße kaum einen Unterschied machte, und zog die Latexhandschuhe von den Fingern.

»Jein«, antwortete sie. »Ich habe alles getan, was hier möglich war. Aber das war nicht viel. Der Kerl wird mir wohl noch einige schlaflose Nächte bereiten«, antwortete sie und zeigte auf die Leiche.

Karl trat neugierig näher an den Toten heran. Es war ein junger Mann, vielleicht Anfang zwanzig, mit dunklen Locken, Koteletten und Dreitagebart. Er sah gut aus, sein Gesicht war gut geschnitten, Augenbrauen, Kinnpartie und Wangenknochen waren ausgeprägt. Eindeutig Typ Frauenschwarm. Auf seinen Lippen lag ein leichtes Lächeln, die Augen waren geschlossen. Eine kleine Platzwunde an der Augenbraue war der einzige Hinweis darauf, dass ihm Gewalt angetan worden war. Beinahe wirkte es, als genösse er die Sonne. Wenn er nicht so blutarm und tot aussähe, könnte man meinen, er läge einfach nur ein wenig am Strand und hätte keine Sorgen auf der Welt. Karl war erstaunt. Sooft man auch in Kriminalromanen und anderen Büchern las, dass Leichen lächelten oder aussahen, als ob sie schliefen, so selten traf es in der Realität tatsächlich zu. Meist war den Menschen die Zerstörung, die ihr Leben ausgelöscht hatte, deutlich anzusehen. Und leider kam es nicht selten vor, dass jemand erst nach ein paar Tagen oder Wochen gefunden wurde, was dazu führte, dass viele Leichen noch deutlich unansehnlicher waren.

»Was meinst du damit, er wird dir noch schlaflose Nächte bereiten?«, fragte er neugierig.

»Hallo, lange nicht gesehen. Wie geht es dir? Mir geht es gut.« Chi runzelte vorwurfsvoll die Stirn, und Karl legte entschuldigend die Hand auf die Brust, obwohl eigentlich sie es war, die Karl nicht angemessen begrüßt hatte.

»Mea culpa.« Er beugte sich vor und begrüßte auch Chi mit zwei Küsschen. »Entschuldige, ich habe in letzter Zeit nicht sonderlich viel geschlafen. Wie geht es dir, Chi? Qué tal todo?«

»Alles gut, todo bien«, antwortete sie. »Was man von dir wohl nicht behaupten kann«, stellte sie nach einer kurzen Musterung mit ihrem berühmten Röntgenblick nüchtern fest, und Karl war dankbar, ausnahmsweise einmal kein Mitleid zu bekommen. Irritiert. Aber dankbar.

»Also, was ist jetzt das Besondere an dem Kerl da?«, fragte Alex.

»Eins nach dem anderen. Zunächst einmal habe ich hier etwas weniger Besonderes, dafür dürfte es aber umso nützlicher sein«, sagte Chi und hielt Alex eine Asservatentüte hin, die einen Personalausweis enthielt. Alex nahm die Tüte entgegen. Es war ein spanischer Ausweis, das typische Documento Nacional de Identidad, kurz DNI genannt.

»Vincente Febrer Moreno«, las Alex vor. »Zweiundzwanzig Jahre alt. Hier aus der Stadt.«

Karl trat näher an seinen Schwager heran und betrachtete das Dokument. Es war eindeutig der Ausweis des Toten; das Foto konnte noch nicht sonderlich alt sein.

»Wo hast du den gefunden, Chi?«

»In seiner Hosentasche.«

»Hatte er sonst noch irgendwas bei sich?«

Die Rechtsmedizinerin schüttelte den Kopf. »Das ist die erste Auffälligkeit. Er hat sonst überhaupt nichts dabei. Keinen Cent. Kein Taschentuch, keine Geldbörse, keinen Haustürschlüssel. Gar nichts. Nur seinen Ausweis.«

»Was bedeutet, dass derjenige, der ihn getötet hat, wollte, dass seine Identität möglichst schnell aufgeklärt wird«, murmelte Karl und kratzte sich am Kinn. »Ich kann mir kaum vorstellen, dass der junge Mann nur mit seinem Ausweis bewaffnet das Haus verlassen hat. Das wirkt so, als wäre der extra in der Hosentasche platziert worden, damit er schnell gefunden wird.« Karl drehte das Dokument hin und her. Das Wasserzeichen spiegelte sich in der Sonne – auf den ersten Blick schien das Dokument echt zu sein. »Die Kriminaltechnik soll mit dem Ausweis anfangen und ihn auf Fingerabdrücke untersuchen. Haben sie schon Abdrücke von dem Toten genommen?«

Chi nickte.

»Gut. Dann bitten wir Luisa, sich das Dokument zuerst vorzunehmen.«

»Dass wir ausgerechnet den Ausweis finden, ist ziemlich ungewöhnlich«, stellte Alex fest. »Allerdings könnte es ein Raubmord gewesen sein. Jemand hat dem Toten die Tasche oder den Rucksack mit allen Habseligkeiten geklaut und die Hosentaschen nicht überprüft.«

»Und wer hat sein DNI in der Hosentasche und nicht bei den anderen Dokumenten in der Geldbörse oder in der Brieftasche?«

Alex zuckte die Schultern. »Vielleicht hat er ihn für irgendwas gebraucht. Hat ein Auto gemietet oder den Ausweis als Sicherheit für irgendwas hinterlegt. Dann hat er ihn zurückbekommen und ihn kurz in die Hosentasche gesteckt. Passiert mir auch manchmal. Oder er war ein bisschen paranoid. Hatte eine lange Reise vor sich und wollte nicht, dass sein Ausweis im letzten Augenblick geklaut wird. Immerhin sind wir die Stadt der Taschendiebe. Den Ausweis separat zu verwahren, ist gar nicht so doof.«

Karl legte den Kopf schief. »Möglich wär’s. Aber schon ein ziemlicher Zufall.«

»Aber doch irgendwie logischer als ein Täter, der das Dokument extra da drin platziert«, gab Alex zu bedenken, und Karl lachte. »Da hast du allerdings recht, Cuñado. Ein unbekanntes Opfer gibt der Polizei eine ziemlich harte Nuss zu knacken und einem Mörder einen gewaltigen Vorsprung. Deshalb machen sich die meisten Täter ja auch solche Mühe, die Identität ihrer Opfer zu verschleiern. Nicht selten fehlen Finger, Zähne oder gleich der ganze Kopf.«

Alex verzog das Gesicht und zeigte auf die Leiche. »Zum Glück scheint der hier intakt zu sein.«

»Der ist alles Mögliche, aber ganz sicher nicht intakt«, gab Chi zurück. »Du solltest keine Schlüsse ziehen, bevor du den ganzen Leichnam gesehen hast. Das ist unprofessionell.« Alex lief rot an, und Karl verkniff sich einen Kommentar. Er war froh, dass sich an den Kabbeleien der beiden nichts geändert hatte, während er in der Babyblase gehockt hatte. Nach einer Phase, in der Alba und er ziemlich häufig gestritten hatten, war es eine merkwürdige Wohltat, ausnahmsweise mal einem anderen Paar dabei zuzusehen.

»Also, was ist mit ihm passiert?«, sprang er seinem Schwager bei, der sichtlich noch nach einer schlauen Erwiderung suchte, daran aber scheiterte.

Chi winkte sie heran. »Stellt euch mal so, dass ihr gut sehen könnt. Ich möchte ihn so kurz wie möglich exponieren, Sand in den Wunden erschwert mir die Arbeit. Außerdem sind mir eben schon ein paar von denen fast umgekippt.« Sie machte eine umfassende Geste, die sämtliche anwesenden Beamten miteinschloss. »Ihr habt hoffentlich noch nicht gefrühstückt.«

Karl und Alex tauschten einen kurzen Blick, dann traten sie auf die Leiche zu.

Chi schlug das Tuch zur Seite, das sie über den Mann gebreitet hatte, doch zu Karls Überraschung kam kein geschundener Körper zum Vorschein, sondern das Bild des Friedens, das sich ihm vorhin geboten hatte, blieb bestehen.

Der junge Mann war viel zu warm angezogen. Er steckte in einer langen Jeans, einer einfachen braunen Strickjacke mit Reißverschluss und Turnschuhen. Sein Körper schien unversehrt, die Kleidung ebenfalls. Keine Einschusslöcher, keine Stichwunden. Nichts. Nur die Hände steckten bereits in den weißen Baumwollsäckchen der Spurensicherung, um Kontaminierungen vorzubeugen.

»Wurde er vergiftet?«, fragte Alex, und Chi schnaubte ungeduldig.

»Mit einer Vergiftung hätte ich ganz sicher keine Probleme. Dann würde ich Blut, Mageninhalt und Gewebe auf bestimmte Spuren untersuchen, und wir hätten unsere Antwort bald. Außerdem wären wir alle dann jetzt nicht hier, sondern der Amtsarzt hätte Alarm schlagen müssen. Und in den Sand gekotzt hätte auch noch keiner. Nein, nein.«

Sie streifte sich ein neues Paar Latexhandschuhe über und zog dann den Reißverschluss der Jacke herunter, sodass der Oberkörper entblößt vor ihnen lag.

»Madre mía!«, stieß Alex geschockt hervor, in exakt dem Augenblick, in dem Karl »heilige Scheiße« murmelte.

Da war es, das Bild der Zerstörung, das sich bei jedem Mordopfer früher oder später zeigte. Und trotz seiner jahrelangen Erfahrung war Karl schockiert.

Brust und Bauch des Mannes waren, man konnte es nicht anders ausdrücken, zerfleischt worden. Mehrere riesige Wunden waren ins Fleisch gerissen, die Eingeweide hingen teilweise heraus. Die Wundränder waren leicht bläulich verfärbt, auch die Darmschlingen schimmerten blau bis grau. Karl wollte nicht darüber nachdenken, dass es in seinem Inneren genauso aussähe, wenn man ihn aufschneiden würde. Diese Seite des Menschseins schob er, wenn er konnte, möglichst weit von sich.

Er hörte seinen Schwager neben sich flach atmen und spürte, wie es auch ihm in den Magen fuhr. So ein Ausmaß roher Gewalt war zum Glück selbst in ihrem Beruf sehr, sehr selten. Die meisten Menschen wurden mit spitzen Waffen oder stumpfen Gegenständen getötet, manche wurden erwürgt oder vielleicht vergiftet, doch sie wurden nicht zerfetzt. Entgegen den Fantasien, die in Filmen und Literatur gern geschürt wurden, ging es Mördern in den meisten Fällen schlicht darum, jemanden zu töten und ihn dann möglichst effizient zu entsorgen. Einfach nur, um ihn loszuwerden, mehr nicht. Die wenigsten Mörder mordeten, um ihre dunkle Seite auszuleben. Was sie hier vor sich sahen, wirkte in seiner Brutalität und Rohheit geradezu unwirklich. Als wäre der tote Vincente kein Mensch, sondern eine Requisite aus einem Horrorfilm.

Als Übersprunghandlung, und weil Karl das beinahe schon unbewusst tat, zog er sein Notizbuch hervor.

»Fürs Erste genug gesehen?«, fragte Chi, und beide nickten. Sie zog den Reißverschluss wieder hoch.

»Sollte man den nicht steril verpacken?«

Chi zuckte die Schultern. »Er wurde so gefunden. Die Fasern der Jacke sind ohnehin schon überall, und so kommen wenigstens kaum noch fremde Fasern dazu.« Sie verkniff sich ein Schmunzeln. »Auch wenn diese Gefahr dank unseres neuen Kollegen deutlich geringer ist …« Ihr Blick wanderte zu einem kleinen, leicht untersetzten Mann, der etwas abseits stand und wild gestikulierend mit den Kriminaltechnikern sprach. Oder vielmehr eine Tirade hielt. Seine Lieblingskollegin der KT, die Kriminalbiologin Luisa Ramirez, sah aus, als würde sie gleich im Stehen einschlafen. Als sie Karls Blick bemerkte, schenkte sie ihm ein müdes Lächeln.

»Was zur Hölle verursacht denn solche Wunden?«, hörte er Alex fragen, und Chi lachte freudlos.

»Genau das habe ich gemeint, als ich gesagt habe, der Kerl würde mir noch Rätsel aufgeben. So was habe ich noch nie auf dem Tisch gehabt. Ich muss mir das alles unter dem Mikroskop ansehen, um überhaupt rauszufinden, wo genau eine Waffe in den Körper eingedrungen ist. Es gibt ein paar halbrunde Wundränder, aber das Gesamtbild sagt mir zumindest auf den ersten Blick nichts. Ich kann noch nicht einmal sagen, ob die Wunden durch stumpfe oder spitze Gegenstände hervorgerufen wurden. Auf jeden Fall war hier höllisch viel Kraft im Spiel, so viel ist sicher.«

»Eine Frau können wir also als Täterin schon mal ausschließen«, dachte Karl laut, und Chi nickte.

»Ja, zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit. Es sei denn, dir begegnet eine Riesin mit gewaltigen Kräften.«

Karl nickte und machte sich Notizen. Es war ungewöhnlich, dass Chi überhaupt keine Ahnung hatte, was für den Tod eines Menschen verantwortlich sein könnte. Sicher, die genauen Charakteristika der Mordwaffe sowie der Todesart zeigten sich erst bei der Autopsie, doch meist sah man, ob jemand erschossen, erstochen oder erwürgt worden war.

Chi entfernte vorsichtig die weißen Baumwollsäckchen und lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Hände des Mannes. »Wie ihr seht, hat er sich heftig gegen seinen Angreifer gewehrt.«

Es stimmte. Die Fingerspitzen des Toten erzählten eine eigene, grausame Geschichte. Beinahe alle Nägel waren in unterschiedlichen Höhen abgebrochen, die Fingerkuppen so aufgeschürft, dass zum Teil die Knochen durchschimmerten. Der Anblick von Händen mit solch heftigen Abwehrspuren rührte Karl immer besonders an, weil er auch nach über zehn Jahren bei der Mordkommission noch immer nicht immun gegen die Bilder war, die sein Kopf automatisch erzeugte. Solche Fingerkuppen waren ein Sinnbild absoluter Verzweiflung und grenzenloser Angst. Emotionen, die ihm Magen und Herz zusammenschnürten, wenn er nur daran dachte.

Und ganz plötzlich war Karl Lindberg nicht mehr müde. Er haderte auch nicht mehr damit, eine Tochter zu haben, die noch immer nicht richtig in der Welt angekommen war. Die weinte und schimpfte, sobald sich ihre kleinen dunklen Äuglein öffneten. Karl war einfach nur froh, dass sie alle wohlauf waren. Auch dieser Effekt seiner Arbeit hatte sich noch nicht abgenutzt. Jeder gewaltsame Tod, den er aufklärte, lehrte ihn erneut, demütig dem Leben gegenüber zu sein.

»Er wurde vollständig bekleidet vorgefunden?«, fragte er und versuchte so, die dunklen Gedanken an den Rand seines Bewusstseins zu drängen. Er zeigte auf die Kleidungsstücke.

Chi nickte. »Selbstverständlich. Oder meinst du, ich bin vorher noch zum El Corte Inglés gegangen, um dem armen Kerl was zum Anziehen zu kaufen?«

Karl schmunzelte. »Nein, natürlich nicht. Aber es ist doch sehr ungewöhnlich.«

»Das ist es«, bestätigte Chi. »Ungewöhnlich finde ich auch, dass er nur Hose, Schuhe und Jacke, aber weder Shirt noch Socken trägt.«

Karl legte den Kopf schief. »Das bekräftigt den Verdacht, dass ihn jemand präpariert hat, damit er so aufgefunden wird. Niemand verlässt das Haus ohne Geld oder Strümpfe, aber dafür mit seiner DNI. Und von Raubmördern, die es auf getragene Socken abgesehen haben, habe ich auch noch nichts gehört. Ich würde mal behaupten, der, der ihn angezogen hat, der hat ihm auch den Ausweis in die Hosentasche geschoben.«

»Das heißt, er ist nicht hier gestorben«, schlussfolgerte Alex.

Die Rechtsmedizinerin schüttelte den Kopf. »Nein, das heißt es nicht zwingend.«

Karl sah von seinem Notizbuch auf. Er war gelinde gesagt überrascht. Angesichts der Tatsache, dass der Tote voll bekleidet, die Kleidung aber unversehrt war, hätte er selbst auch geschlussfolgert, dass jemand die Leiche bekleidet hatte, um die Wunden, zum Beispiel für die Dauer des Transports, zu verbergen.

»Wie sollen wir das verstehen?«, hakte er nach.

»Es ist schwer bis gar nicht zu erkennen, aber bei der ersten Untersuchung habe ich gefühlt, dass die Rückseite der Strickjacke starr vor Blut ist. Der junge Mann muss weiter stark geblutet haben, nachdem man ihn angekleidet hat. Was wiederum bedeutet, er war noch am Leben, als man ihn umgezogen hat.«

Alex blickte sich mit gerunzelter Stirn um. »Aber hier ist kein Blut zu sehen.«

»Einen Teil davon haben wir eingetütet, bevor ihr gekommen seid!«, hörte Karl Luisas vertraute Stimme hinter sich. Offenbar hatte ihr neuer Chef seinen Monolog beendet.

Karl nahm sich die Zeit, sie mit Küsschen zu begrüßen und unter Chis strengem Blick ein paar Neuigkeiten auszutauschen.

»Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber mir wird langsam zu warm in dem Ding«, Chi zupfte an ihrem Anzug. »Also, könntet ihr so nett sein …?«

Luisa verkniff sich ein Grinsen, und Karl tat es ihr gleich. »Natürlich, entschuldige«, erwiderte er und fragte gleich darauf Luisa: »Ihr habt also das Blut schon mitgenommen?«

Sie nickte. »Ja. Bei Sand ist das natürlich denkbar einfach. Wir mussten nur die getrockneten Placken eintüten, aber viel ist es nicht.«

»Also ist er nicht hier gestorben!«, folgerte Alex nicht ohne Triumph in der Stimme, doch Karl schüttelte den Kopf. Sein Blick ruhte auf der Leiche, die vor der Strandbar auf der Terrasse lag.

»Vielleicht doch, Cuñado.« Und an Chi gewandt fragte er: »Ist er zum Abtransport freigegeben?«

Sie nickte und gab zwei Männern, die am Rand der Szenerie standen, ein Zeichen. Diese machten sich daran, den Leichnam sorgfältig für den Transport zu sichern und ihn anschließend auf eine Trage zu hieven. Das ganze Unterfangen gestaltete sich schwierig, da die Leichenstarre sehr ausgeprägt war. Es war gruselig anzusehen, wie sie den Körper hochhoben. Da er halb auf der Terrasse der Bar gelegen hatte, war sein Rücken zu einem starken Hohlkreuz durchgebogen, das bestehen blieb, als sie ihn auf die Bahre legten oder ihn vielmehr dort balancierten. Der Leichnam des jungen Mannes lag nur mit Kopf und Füßen richtig auf. Rigor Mortis war eines der wenigen Dinge, die Karl bis in seine Träume verfolgten. Genau aus diesen Gründen.

Dort, wo der Körper gelegen hatte, waren die Holzdielen der Terrasse dunkel verfärbt.

»Hm. Das könnte auch von der Jacke kommen«, brummelte Karl, mehr zu sich selbst als zu den anderen.

»Luisa, habt ihr ein Brecheisen?«, rief er der Kriminaltechnikerin zu.

»Für wen hältst du uns eigentlich?«, antwortete sie und hielt Alex ganz selbstverständlich das Werkzeug hin. Offenbar hatte sie Karls Gedanken gelesen und es bereits aus dem Van geholt.

»Und warum muss ich das jetzt machen?«, empörte sich Alex. »Erzählt ihr nicht immer was von Gleichberechtigung und so?«

»Weil du derjenige von uns bist, der sicher mit Abstand am meisten Schlaf bekommen hat«, erwiderte Luisa. Und wie um ihren Standpunkt zu betonen, gähnte sie herzhaft.

Alex schnaubte kurz, fügte sich aber.

Wie die meisten Terrassen der Bars, die sich über alle Strandabschnitte zogen, war auch diese als lockere Holzkonstruktion gebaut. Da die Xiringuitos jeden Winter eingelagert wurden, waren die Terrassen nicht besonders sorgfältig gezimmert, und so kostete es Alex wenig Mühe, die Holzdielen auseinanderzunehmen. Er hebelte die vier, die blutbefleckt waren, so vorsichtig er konnte heraus und reichte sie Luisa, die sie eintütete und beschriftete. Schon nachdem die erste Diele herausgebrochen war, zeigte sich ein kleiner, dunkler Blutfleck auf dem Sand unter der Terrasse.

Wie auf Kommando richteten sich alle anwesenden Augenpaare auf Chi. Die hob nur die Schultern.

»Es könnte sein, dass sich die Strickjacke schon unterwegs so vollgesogen hatte, dass das Blut durch das Körpergewicht in dieser Menge herausgedrückt worden ist. Genauso gut ist es möglich, dass er hier gestorben ist. Dann muss er während des Transports aber ordentlich geblutet haben.«

»Wie lange dauert es denn, bis ein Mensch mit solchen Verletzungen verblutet ist?«, fragte Karl.

»Das kommt darauf an, welche Gefäße beschädigt worden sind«, antwortete Chi geduldig. Wenn sie etwas Medizinisches erklärte, hatte sie auf einmal alle Zeit der Welt.

»Wenn die Bauchaorta verletzt wurde, dann dauert es nur Sekunden, bis der Betreffende stirbt. Zwar sieht es so aus, als gäbe es bei diesem Mann im Rumpfbereich nichts, was nicht verletzt wäre, aber ich schätze, die Aorta ist noch intakt. Sie liegt gut geschützt ganz weit hinten, in der Nähe der Wirbelsäule.«

»Wieso glaubst du, dass sie nicht verletzt wurde?«

»Wenn unsere Theorie zutrifft, dass der Mann erst bekleidet worden ist, nachdem er verletzt wurde, dann kann ich es mir fast nicht anders vorstellen. Wenn Aorta und Bauchdecke verletzt sind, pumpt die Hauptschlagader ins Leere beziehungsweise nach außen. Da tritt ein paarmal schwallartig eine große Menge Blut aus, und dann kollabiert der Kreislauf. Er hätte gar nicht weiterbluten können. Seine Jacke hätte sich in dem Fall nicht so vollsaugen können. Kein Mensch kann einen so schwer verletzten und stark blutenden Mann so schnell anziehen.«

Karl nickte. »Das klingt sinnvoll. Und wenn die Aorta intakt geblieben ist? Wie lange dauert es dann?«

»Wenn derjenige in guter physischer Verfassung ist, kann es bis zu zwanzig Minuten dauern.«

Karl blickte sich nachdenklich um. Irgendwie war die ganze Auffindesituation mehr als merkwürdig. Die einzelnen Puzzleteile passten nicht zusammen. »Wie lange bist du schon hier, Chi?«

»Seit einer knappen Stunde«, antwortete die Rechtsmedizinerin.

»Hast du den Fundort gesehen, bevor die KT hier durch ist?«

Chi nickte.

»Und was denkst du: Könnte der Mann hier unten am Strand tödlich verletzt worden sein?«

»Nein, das halte ich für ausgeschlossen. Dafür war es insgesamt zu wenig Blut. Und der Sand war homogen. Normal. Das Blut war nur tröpfchenweise im Sand zu finden, nach einem Kampf sah es nicht aus.«

»Also ist der Fundort jedenfalls nicht der Tatort. So viel können wir festhalten?«

Chi nickte. »Ja, das können wir auf jeden Fall. Anhand der Blutspuren ist kein anderer Schluss zulässig.«

Alex wandte sich an Luisa. »Habt ihr irgendwo Schleifspuren gefunden?«

Die Kriminalbiologin schüttelte den Kopf. »Nein, wir haben alles abgesucht. Keine Schleifspuren.«

Karl und Alex blickten einander an. »Also waren sie mindestens zu zweit. Einer an den Füßen, einer an den Armen«, folgerte Alex, und Karl nickte. »Mindestens. Vincente war ziemlich muskulös, und klein ist er auch nicht. Um die achtzig Kilo, würde ich sagen. Die müssen erst mal bewegt werden.«

»Also haben wir mindestens zwei Täter, vielleicht auch mehr, die dem Mann erhebliche Verletzungen im Bauchraum beigebracht haben und ihm dabei so nah kamen, dass er sich mit den Händen gegen sie verteidigen konnte. Bei den Abwehrverletzungen, die die Hände des Toten aufweisen, dürften sie auch Blessuren davongetragen haben. Oder die Waffe war so beschaffen, dass er sich die Hände so an ihr hat verletzen können. Dann wurde der Mann zumindest noch lebend eingekleidet und schließlich mit seinem Ausweis versehen hier am Strand abgelegt. Ob er da noch gelebt hat oder nicht, können wir jetzt noch nicht mit Sicherheit sagen.«

»Vielleicht auch später nicht, je nachdem, was ich noch finde«, warf Chi ein.

»Vielleicht auch später nicht«, ergänzte Karl nickend.

Alex klopfte seinem Schwager auf die Schulter. »Ich habe es vermisst, dir beim Denken zuzusehen.«

»Können wir sonst noch etwas sagen?«

Karl blickte in die Runde. Die anwesenden Beamten schüttelten einhellig die Köpfe.

»Gut«, sagte Karl. »Dann sehen wir zu, dass wir aus der Sonne rauskommen.«

Alex wischte sich den Schweiß von der Stirn und starrte ratlos in das Loch hinab, das er soeben gestemmt hatte.

»Das ist krank«, murmelte er. »Vollkommen krank.«

»Exacto«, bestätigte Karl.

[home]

III

Nachdem die Leiche abtransportiert worden war, sicherte die Kriminaltechnik die restlichen Spuren rund um den Ablageort. Die Mitarbeiter des Xiringuito waren mittlerweile eingetroffen, und da das Strandcafé noch eine ganze Weile nicht für den normalen Besucherverkehr freigegeben werden würde, waren sie dazu übergegangen, die Beamten zu bewirten. Karl und Alex kam das gerade recht. Dankbar nahmen sie die Tassen mit starkem Kaffee und die Croissants entgegen, die die Mitarbeiter ihnen durch ein Seitenfenster nach draußen reichten, und verkrümelten sich damit auf zwei der Sonnenliegen unter einem Schirm, die ebenfalls von der Bambú Beachbar vermietet wurden.

Die Betreiber des Cafés störte die Anwesenheit der Mordkommission überhaupt nicht, ganz im Gegenteil. An der letzten Strandhütte der Stadt war an diesem Morgen so viel los wie sonst nur selten. Beinahe jeder, der hier vorbeikam, blieb stehen, bestellte einen Café solo, den er durch die Klappe gereicht bekam, und schaute dem Treiben der Beamten zu. Als müsste niemand zur Arbeit. Karl kam sich ein wenig vor wie im Zoo, deshalb wandte er den Schaulustigen auch den Rücken zu.

Karl und Alex saßen nebeneinander und blickten auf das Meer hinaus, während sie schweigend ihren Kaffee tranken. Es dauerte eine Weile, bis man einen Anblick wie den des toten jungen Mannes verkraftet hatte.