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Eine junge Liebesgeschichte zweier alt gewordener Menschen. Über 60 Jahre sind vergangen, als Luisa IHN eines Tages zufällig auf der Straße wieder trifft: Heinrich war einst ihre große Jugendliebe gewesen und sie hatten einander seit dieser Zeit gänzlich aus den Augen verloren. Sie verabreden ein baldiges Wiedersehen, und auf diese Begegnung folgen viele weitere… Luisa und Heinrich blicken in ihren Gesprächen auf ihre kurze Liebesbeziehung in ihrer Jugend und auf eine jahrzehntelange getrennte Vergangenheit zurück. Das führt zur neuen Annäherung der zwei alt gewordenen Menschen und nimmt sie mit auf eine Reise durch die Höhen und Tiefen ihres getrennt gelebten Lebens. Bahnt sich in der Magie der Gegenwart spät, aber doch etwa eine neue Liebesgeschichte an? Denn: "Ich glaube, wir beide sind in einem Alter, in dem man nichts mehr verschieben sollte."
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Seitenzahl: 135
Veröffentlichungsjahr: 2025
Erika Pluhar
Erika Pluhar
Roman
Residenz Verlag
© 2025 Residenz Verlag GmbH
Mühlstraße 7, 5023 Salzburg
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
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Umschlaggestaltung: Boutiquebrutal.com
Umschlagfoto: Claudia Romeder
Typografische Gestaltung, Satz: Lanz, Wien
Lektorat: Isabella Suppanz
ISBN ePub:
978 3 7017 4740 5
ISBN Printausgabe:
978 3 7017 1802 3
Es war Herbst geworden, einfach Herbst. Ein erstaunlich leuchtender Herbst. Die Wälder, Hügel, Weinhänge taten auf unbesorgte Weise so, als wären Naturschäden und Klimawandel keine Themen. Reines Gold des Weinlaubs, Bronze, Kupfer, Rostrot färbte das Laub der Wälder, sanft war beides überwölbt vom wolkenlosen Blau des Himmels.
Sie schritt aus.
Es war dies ihre einzige Waffe gegen das Altern. Nicht mehr so ausgiebig und unersättlich wie früher, aber sie bewog sich täglich dazu, eine Weile zu gehen. Ihr Haus, im westlichen Randbezirk der Stadt gelegen, bot in nächster Nähe Wegstrecken hin zu den waldigen Hügeln, sie konnte von der eigenen Gartentür aus sofort losmarschieren oder ruhig zu wandern beginnen, ganz, wie Gemütslage und Körperzustand es ihr gerade abforderten.
Früher besaß sie Hunde. Ein Leben lang konnte sie sich ihr Leben ohne einen Hund nicht vorstellen. Ohne diesen Gefährten. Hunde hatte sie geliebt, von Hunden wurde sie geliebt.
Jedoch seit wenigen Jahren lebte sie bereits ohne Hund.
Als das letzte geliebte Tier hohen Alters starb und von ihr in den Tod begleitet werden musste, wurde es ihr als ein Abschied größeren Ausmaßes bewusst. Sie selbst war bereits zu alt geworden, um die nötige Fürsorge für ein glückliches Hundeleben zu garantieren. Und vor allem fühlte sie sich nicht mehr in der Lage, einen Verlust dieser Art noch ein weiteres Mal zu ertragen.
So wanderte sie auch heute wieder allein durch den leuchtenden Herbsttag. Von den Hügeln aus überblickte sie die Stadt, die in sanften Schönwetterdunst gehüllt war. Dann schlug sie den Pfad abwärts ein, durchkreuzte Weinhänge, wanderte an den Gärten einsamer Villen vorbei, geriet in Vorstadtstraßen zurück, näherte sich langsam wieder ihrem Haus.
Als sie in die heimische Gasse einbiegen wollte, kam ein Mann auf sie zu, schnitt ihr den Weg ab und blieb dicht vor ihr stehen. Ein offensichtlich alter Mann. Aber seinen Körper hielt er aufrecht, er war schlank und hatte lebhafte Augen unter einem dichten weißen Haarschopf. Kannte sie ihn?
»Ich bin der Heinrich Schober«, sagte er.
»Nein!«, rief sie aus.
»Doch.«
»Wirklich? Der Heinz?«
»Ja, Luisa. Wirklich der Heinz.«
Sie starrte ihn an. Als er lächelte, lächelte sie auch.
»Wie lange ist es her?«
»Na ja. Sagen wir – mehr als siebzig Jahre.«
»Genau. Ja.«
Schweigend sahen sie einander an.
»Warst du all die Jahre in Wien?«, fragte Luisa schließlich.
»Nein, ich war viel unterwegs. Aber seit längerer Zeit wohne ich in Wien. Ganz nah, ein paar Gassen entfernt nur.«
»Und hast mich erkannt?«
»Wer kennt dich nicht!«
»Ist lange her.«
»Aber noch wirksam. Man weiß von dir.«
»Ich gar nichts mehr von dir!«
»Kein Wunder.«
Wieder standen sie einander schweigend gegenüber. Luisa betrachtete diesen alten Mann da vor ihr, und plötzlich konnte sie sich eines anderen Lächelns nicht erwehren.
»Erinnerst du dich gerade?«, fragte Heinrich.
»Ja, ein wenig.«
»Nur ein wenig?«
»Etwas mehr ist nicht so leicht, wenn ich uns zwei ansehe.«
»Uns zwei alte Leute, ja.«
Wir können doch hier nicht einfach so stehen bleiben, uns anschauen und ein wenig lächeln, dachte Luisa, ich möchte heimgehen. Meine Güte, der Heinz! Meine erste Liebe! Nicht zu fassen.
»Besuch mich doch mal«, sagte sie unvermutet.
»Gern. Wann?«
»Du bist aber schnell«, sagte Luisa.
»Ich glaube, wir beide sind in einem Alter, in dem man nichts mehr verschieben sollte.«
Es vergingen nur drei Tage, bis Heinrich Schober sie zum ersten Mal besuchte. Wieder war es ein sonniger Herbsttag, sie saßen einander in Luisas Salon gegenüber.
»Salon?«, hatte Heinz gefragt.
»Warum nicht Salon«, hatte sie geantwortet, »altmodisch, aber ein hübsches Wort. Wohnzimmer geht aber auch. Ein bewohntes Zimmer eben.«
»Von dir bewohnt. Ich spüre dich hier.«
»Ach Heinz.«
»Du meinst, vom Spüren sollten wir zwei nicht mehr reden?«
Luisa goss Tee ein und schob Heinrich die Tasse zu.
»Woran erinnerst du dich denn noch? Jetzt?«, fragte sie.
»Soll ich von vorne anfangen?«
»Meinetwegen.«
»Also. Ich erinnere mich an eine blödsinnige Tanzschule, in die meine Eltern mich geschickt hatten, das müsse sein, meinten sie. Und dann erinnere ich mich, wie wir halbwüchsigen Burschen in einer aufgefädelten Reihe der Mädchenriege gegenüberstanden. Es wurde gekichert und dumm gewitzelt, die Gegenseite errötete und kicherte ebenfalls, alles war schlicht peinlich. Noch dazu, als wir aufgefordert wurden, auf das jeweilige Mädel vor uns loszumarschieren und es zum Tanz zu bitten –«
»Und da bist du auf mich losmarschiert«, sagte Luisa.
»Ja, du warst mein Gegenüber. Und wir genierten uns beide.«
»Dabei fand ich dich fesch, fescher als die anderen mit unreiner Haut und hochroten Wangen. Du hast irgendwie elegant ausgesehen.«
»Hab mich aber nicht elegant gefühlt, sondern – na ja – unglückselig.«
»War ich so hässlich?«
»Nein, du warst nur sehr groß und kräftig.«
»Dick?«
»Nein, auch das nicht. Aber ein zierliches Mädchen warst du nicht. Etwas an dir hat mich eingeschüchtert.«
»Was denn?«
»Ich weiß nicht – dein Blick vielleicht, der war so geradewegs auf mich gerichtet. Irgendwie eindringlich.«
»Wohl, weil ich Angst vor dir hatte. Also waren wir beide befangen.«
»Anfangs, ja.«
Heinrich nahm die Teetasse hoch und trank. Luisa betrachtete ihn. Dieser alte Mann, dachte sie, dessen Hand ein wenig zittert, während er trinkt, der ein wenig eingesunken mir gegenübersitzt, das ist also der unglaublich fesche Heinz von damals. Er war eindeutig der am besten Aussehende in diesem Tanzkurs. Und da fordert mich ausgerechnet der zum Tanz auf! Mich, die nur da war, weil eine Schulfreundin mich darum gebeten hatte mitzukommen, und meine Mutter fand, ein bisschen ›gesellschaftlicher Schliff‹ – was immer sie darunter verstand – könne mir nicht schaden. Also standen wir zwei uns plötzlich gegenüber, der Heinz und ich.
»Sicher hättest du gern eine andere Tanzpartnerin bekommen«, sagte Luisa.
»Das hab ich mir nicht überlegt, wir mussten ja gleich in Tanzstellung gehen, ich legte also meinen Arm um dich, und das hat sich gut angefühlt.«
»Von Anfang an?«
»Ja, von Anfang an.«
»Aber hab ich dir auch irgendwie gefallen?«
»Du hast mich interessiert.«
»Warum?«
»Kann ich jetzt nicht genau sagen. Aber es war wohl der Unterschied zu den anderen Mädchen. Du hast nicht gekichert. Du warst ernst. Hast nicht mal gelächelt.«
»Nicht mal gelächelt hab ich?«
»Nein, hast du nicht.«
»Du hast deinen Arm um mich gelegt, wir haben getanzt –«
»– einen Slow Fox!«
»Das weißt du auch noch? Nicht zu glauben. Und ich habe kein bisschen gelächelt dabei?«
»Nein, du hast ernsthaft und konzentriert versucht, die Schritte hinzukriegen, die uns vorher erklärt worden sind. Wir haben ganz gut miteinander getanzt, der Tanzlehrer hat uns lobend hervorgehoben.«
»Hab ich dann wenigstens gelächelt?«
»Jedenfalls hast du mich dann freundlicher angeschaut.«
»Ich muss ja fürchterlich gewesen sein.«
»Nein, du warst ein ehrliches Mädchen ohne pubertäre Mätzchen.«
»Und das mochtest du?«
»Ja, das mochte ich sehr. Auch später noch.«
Luisa schwieg und sah vor sich hin.
»Woran denkst du?«, fragte Heinrich.
»An uns. Später«, antwortete Luisa.
»Sag – wie war ich denn für dich? Außer meiner sogenannten Eleganz, die dir anfangs auffiel?«
Luisa blickte ihn an.
»Du hast mir gut gefallen, und ich habe gern mit dir getanzt.«
»So einfach?«
»Erstmal so einfach, ja. Später wurde es komplizierter. Als ich mich in dich verliebt habe, wurde es komplizierter.«
»Und wann hast du dich in mich verliebt?«
»Heinz! Stell nicht Fragen, als wärest du nicht dabei gewesen!«
Heinrich schwieg. Sein Blick schweifte zum Fenster und schien plötzlich in eine unermessliche Ferne gerichtet zu sein.
»Hallo!«, rief Luisa. »Wo bist du?«
»Ja, ich bin da!«, antwortete Heinrich, als er sich ihr wieder zuwandte. »Keine Sorge! Aber weißt du – ich habe mich, ehrlich gesagt, bei dir lange nicht wirklich ausgekannt. Vorhin hab ich mir uns beide vorgestellt. Damals. Nach den Stunden in der Tanzschule. Ich sah zwei frierende Jugendliche, die sich in einem dunklen Hauseingang zum ersten Mal küssten. Hat dir dieser Kuss gefallen? Hast du ihn auch gewollt, oder nur ich?«
Luisa überlegte.
»Ich weiß es nicht mehr genau«, sagte sie dann. »Ich kannte Küsse nur aus all den Filmen, die ich mir leidenschaftlich gern ansah, aber das waren eben die Filmküsse der damaligen Zeit, sehr edel und zu schwülstiger Musik. Ich weiß nicht, wie ich deinen Mund empfand. Es war mir nicht unangenehm –«
»Na wenigstens!«, sagte Heinrich.
»Nein, nicht wenigstens – es war schon der starke Wunsch in mir, dich zu küssen – aber auch die Sorge, ich könne es nicht richtig. Ich könne nicht richtig küssen.«
»Hab ich es dir dann ein wenig beibringen können?«
»Ja. Hast du. Geküsst haben wir uns viel.«
»Aber immer nur irgendwo zwischen Tür und Angel. Meine Mutter, die uns nicht aus den Augen ließ, wenn ich dich zu mir nach Hause brachte. Und deine Mutter in eurer kleinen Wohnung, der wir zwei auch nicht recht waren –«
»Ja, meine Mutter war ebenfalls überhaupt nicht dafür. Unsere winzige Veranda, in die wir uns zurückzogen. Dauernd machte sie sich bemerkbar, um ja nichts zuzulassen, keinen Kuss, nichts. Dass ich überhaupt so etwas wie einen Freund hatte, mit meinen fünfzehn Jahren! Sie beschwor mich, dich bleiben zu lassen!«
»Was du dann ja auch getan hast.«
»Tja«, sagte Luisa, »du weißt, warum.«
»Genau das weiß ich nach wie vor nicht so recht!«, rief Heinrich. »Was da so Schlimmes geschehen sein soll!«
»Ach Heinz«, sagte Luisa, »lassen wir das.«
»Nein, bitte! Sag es mir! Erzähle es mir, bitte! Jetzt, nach über siebzig Jahren, kannst du mir’s doch erklären!«
»Dir meine Flucht erklären?«
»Ja«, sagte Heinrich.
Luisa lehnte sich im Sessel zurück und schloss die Augen.
»Überlegst du?«, fragte Heinrich.
»Ich versetze mich zurück«, antwortete Luisa, »ich räume Jahrzehnte beiseite und versuche mich als das Mädchen von damals zu empfinden.«
Dann öffnete sie ihre Augen wieder, richtete sich im Sessel auf und betrachtete Heinrich eine Weile schweigend.
»Weißt du«, sagte sie schließlich, »ich war wirklich in dich verliebt, glaub mir. Ich liebte deinen Mund und deine Küsse. Jedoch mein Körper schwieg, oder hatte er Angst. Während du wohl bereits ein junger Mann mit anderen und sehr direkten Wünschen gewesen bist.«
»Nicht nur mit Wünschen, Luisa«, antwortete Heinrich, »auch mit einiger Erfahrung. In meiner spießbürgerlichen Familie gab es erstaunlicherweise eine alleinstehende Tante, der ich gefiel und die das auch handgreiflich zum Ausdruck brachte.«
»Wie?« Luisa starrte ihn an. »Mit dir schlief?«
»Ja.«
»Und deine Familie?«
»Die bekam nichts mit.«
»Wie alt war sie denn, deine Tante?«
»Ich würde sagen, gegen fünfzig.«
»Irgendwie grauslich«, sagte Luisa.
»Für mich war’s damals gar nicht so grauslich – auf jeden Fall hab ich durch sie erfahren, worum es geht.«
»Aber das genau war’s ja bei uns – deine Erfahrung und mein Gefühl des Überfallenwerdens!«
»Ich hab dich doch nicht überfallen!«
»Heinz!«
»Nein wirklich nicht! Lass uns einmal in Ruhe rekapitulieren.«
»Was?«
»Nun ja, diesen ganzen verflixten Abend –«
»Wenn wir beide das jetzt tun, treten sicher zwei völlig verschiedene Versionen zutage – aber bitte, fang du mal an. Rekapituliere!«
»Gut. Also. Schuld war erstmal Ingos Einladung –«
»Was heißt schuld, es war –«
»Jetzt keine Unterbrechung, Luisa! Lass mich bei meiner Version bleiben, ja?«
»Okay«, sagte Luisa, »ich schweige und höre! Willst du vorher noch frischen Tee?«
»Kein Tee, danke, ich will reden. Darf ich bei dir rauchen?«
»Gern.«
»Also –« Heinrich holte Zigaretten hervor, zündete eine an und nahm einen tiefen Zug. »Also Ingo, mein Freund – du kanntest ihn auch aus der Tanzschule – hat mir eines Tages eröffnet, dass seine Eltern ein paar Tage verreisen würden und er also ein ganzes Haus allein zur Verfügung hätte, eine wunderbare sturmfreie Bude. Seine eigene Freundin, mit der er’s bereits weit gebracht hätte, würde bei ihm sein – ob ich mit dir, Luisa, nicht auch vorbeikommen wolle –«
»Was verstehst du unter: Er hätte es mit ihr bereits weit gebracht?«
»Natürlich verstehe ich darunter, dass die zwei bereits miteinander geschlafen haben! Lässt du mich jetzt weitererzählen?«
»Schenkst du mir eine Zigarette?«
»Klar!«
Heinrich gab ihr Feuer.
»Gern weiter«, sagte Luisa, nachdem sie einen Zug aus der Zigarette genommen hatte, »ich höre und unterbreche nicht mehr.«
»Party nannten wir das ja damals noch nicht, aber etwas Ähnliches versuchte ich dir mit dieser Einladung zu vermitteln. Also Sandwiches essen, bissel Alkohol trinken, Musik hören, tanzen, und alles in der Villa meines Freundes Ingo. Du warst anfangs nicht dafür. Dieses Haus läge in Dornbach, du würdest am anderen Ende der Stadt wohnen und die nächtliche Heimfahrt sei dir unangenehm. Da habe ich dir auf Ehre und Gewissen versprochen, dich, wenn es sein müsste, mit einem Taxi bis nach Hause zu bringen. So sehr lag mir daran, dich mitzubekommen. Und du hast mir geglaubt. Das große zweistöckige Haus hat dich beeindruckt. Eine einzige Familie bewohnt es?, hast du ungläubig gefragt. Ingo hatte Leckerbissen herbeigeschafft, alle damals noch eine Seltenheit. Dein Staunen war unübersehbar. Und es gab sogar Sekt. Du hättest noch nie Sekt getrunken, meintest du, und es hat mich berührt, wie du anfangs vorsichtig und mit kleinen Schlucken vom vollen Glas gekostet hast. Das Prickeln hat dich auflachen lassen.«
»Ja, ich war wirklich blöd und gänzlich unerfahren in all dem«, sagte Luisa.
»Du warst entzückend! Wir hörten Ella Fitzgerald und Louis Armstrong, die Freundin vom Ingo war eine nette, fröhliche Person, du bliebst eher still und hast einmal ein bisschen mit mir getanzt. Aber irgendwann eben sind die beiden anderen, also der Ingo mit der Seinen, verschwunden. Wir saßen uns plötzlich allein gegenüber, so als wäre die Einladung zu Ende. Es gab ein Gästezimmer, von dem ich wusste. Davor, noch am Gang, habe ich dich an mich gezogen und dich geküsst, mit einem besonders leidenschaftlichen Kuss, den du, leicht beschwipst, anfangs erwidert hast. Ohne dich aus meinem Arm zu lassen, habe ich die Zimmertür mit dem Ellenbogen geöffnet und dich dann sanft zu dem dort vorhandenen Bett gedrängt.«
»Ach Heinz! Hab keine Angst, hast du gesagt. Aber ich hatte Angst. Nur Angst.«
»Und du warst sehr kräftig plötzlich, wild und kräftig.«
»Aber nicht in deinem Sinn, ich weiß.«
»Das kann man wohl sagen. Du hast mich so von dir gestoßen, dass ich sogar aus dem Bett gefallen bin. Ich lag am Boden, du bist über mich hinweggestiegen, und während ich mich aufgerappelt habe, warst du bereits aus dem Zimmer. Dir hinterher, sah ich dich im Korridor beim Vorbeilaufen deinen Mantel schnappen und dann durch die Haustür davoneilen. Du hast sie hinter dir zugeknallt. Ich dir nach, vors Haus. Ich hab deinen Namen gerufen, was heißt gerufen, gebrüllt hab ich! Aber du warst wie von der Nacht verschluckt. Warst weg.«
»Ja, das ist mir gelungen«, sagte Luisa leise.
»Warum nur? Was für eine unsinnige Angst! Ich hätte dich doch nicht vergewaltigt!«
»Es wirkte aber so auf mich.«
»Verrückt«, sagte Heinrich.
»Jedenfalls bin ich in dieser Nacht zu Fuß von Ingos Villa bis nach Hause gelaufen, die Straßenbahn ging nicht mehr, also fast durch die ganze Stadt.«
Beide schwiegen und sahen vor sich hin. Bis Heinrich Luisa anblickte.
»Ich habe dich danach nie mehr wiedergesehen«, sagte er.
»Ja, es war vorbei.«
»Leider war es vorbei, denn ich habe dich sehr gemocht. Vielleicht sogar geliebt. Aber meine Bestürzung hielt mich gefangen. Ich konnte nicht nachfragen, wie du heimkamst – dich um Verzeihung bitten – ich habe mich zutiefst geschämt –«
»Wir waren so jung, Heinz.«
»Jugend schützt vor Torheit nicht.«
»Bei mir war es nicht Torheit – bei mir ging es viel tiefer. Ich war ohnehin bereits gefährdet. Ich hörte nach dieser nächtlichen Flucht endgültig auf zu essen. Glitt unaufhaltsam in die Anorexie.«
»In was?«
»In eine Magersucht.«
»Und ich war daran schuld?«, fragte Heinrich.