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Erika Pluhar beschreibt sensibel und offen die Sehnsüchte und Ängste des Älterwerdens. Paulina Neblo kann auf ein bewegtes Leben zurückblicken. Als Choreographin gründete sie eine erfolgreiche Tanz-Company, hatte zahlreiche Affären, eine Tochter, die sie über alles liebt, und endlich, als bereits reife Frau, eine erfüllte Ehe. Doch als ihr Mann bei einem Autounfall ums Leben kommt und sie kurz darauf ein noch härterer Schicksalsschlag - der Tod ihrer Tochter - trifft, zieht Paulina sich aus dem aktiven Leben zurück. Im Alter von 70 Jahren beschließt sie Chronistin ihrer Gegenwart zu werden, Alltäglichkeiten zu notieren und sich der Zukunftslosigkeit des Alters zu stellen. Doch die Gedanken an die Vergangenheit lassen sich nicht verdrängen und auch Paulinas Außenwelt akzeptiert diese selbst gewählte Einsamkeit nicht ... Erika Pluhar schreibt auf ebenso sensible wie schonungslose Weise über das Alter, Sehnsüchte und Ängste. Poetisch, lebensnah und intensiv.
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Seitenzahl: 213
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ERIKA PLUHARSPÄTES TAGEBUCH
Erika Pluhar
Roman
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische
Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
www.residenzverlag.at
8. Auflage
© 2010 Residenz Verlag
im Niederösterreichischen Pressehaus
Druck- und Verlagsgesellschaft mbH
St. Pölten – Salzburg
Alle Urheber- und Leistungsschutzrechte vorbehalten.
Keine unerlaubte Vervielfältigung!
ISBN ePub:
978-3-7017-4208-0
ISBN Printausgabe:
978-3-7017-1537-4
Für Angela Praesent,
Belehrende und Freundin,mein Schreiben und Leben begleitend,in Trauer und Dankbarkeit.
Daß jemand mit siebzig anfängt, ein Tagebuch zu führen, mag ungewöhnlich sein, aber ich fange heute damit an. Der Sommer neigt sich seinem Ende zu, ähnlich wie mein Leben. Ich scheine einigermaßen gesund zu sein, meine Eltern wurden beide sehr alt, also besteht die Möglichkeit, daß ich vielleicht noch an die zwanzig Jahre zu leben habe. Als ich zwanzig Jahre jung war, meinte ich schon ein volles Menschenleben lang gelebt zu haben, erschien mir meine Zeit auf Erden bereits reichlich bemessen. Das sind Gedanken der Jugend, für die Zeit ein anderes Ausmaß besitzt, die gegenwärtig lebt und nicht vorausdenkt, weil für sie Zukunft unendlich zu sein scheint. Was mit siebzig jedoch zu fehlen beginnt, ist genau das: Zukunft.
Also bedarf es einer intensiveren Wahrnehmung der Gegenwart, also der Tage und all ihrer Täglichkeit, um das Leben noch zu spüren, dachte ich mir. Und wo und wie kann ich dies besser bewerkstelligen, als im täglichen Aufschreiben, im täglichen Notieren der Vorgänge und Ereignisse auch augenscheinlich untätiger und ereignisloser Zeiten? Die Chronistin, die ich ab nun sein möchte, kann vielleicht aus Alltäglichkeiten Lebens-Sinn herausfiltern. Den Sinn dessen, sich immer noch, und alt geworden, hier auf Erden zu befinden. Ich wage also den Versuch, damit heute zu beginnen.
Ja, heute zum Beispiel.
Der Samstag eines Wochenendes im Spätsommer.
(Ich brauche kein Datum. Daten engen ein. Wozu datieren, was sich ohnehin dem Ende zuneigt.)
Aus den umliegenden Häusern dringt kein Laut, alle Bewohner scheinen verreist oder im Schwimmbad zu sein. Auch die Gasse liegt reglos unter der Sonne, kein Auto ist unterwegs. Die hohen Bäume, die mein Haus umgeben, flüstern leise im Wehen der heißen Luft, nur dieses Geräusch ist zu hören. Ich sitze vor dem geöffneten Fenster und habe den bläulichen Schirm meines Laptops vor mir. Wenn ich jedoch die Augen hebe, schaue ich in dichtes Ahornlaub, das sich sanft bewegt. Ja, ich schreibe per Computer, ich konnte das noch erlernen und es fiel mir nicht einmal schwer. Ich werde das Geschriebene täglich ausdrucken und die Papierblätter in eine Mappe legen, dann ähnelt das Ganze ein wenig einem herkömmlichen Tagebuch.
Seit Jahren lebe ich allein. Mein einziges Kind, eine Tochter, starb. Ich möchte darüber nicht mehr sagen, auch hier und jetzt nicht. Jedenfalls sind die lebhaften Stimmen, das Kommen und Gehen, die Geselligkeiten erloschen. Meine Tochter lebte mit mir hier in diesem großen Haus, in dem ich nach wie vor wohne. Obwohl man mir wiederholt sagte, ein alter Mensch, der alleine lebe, benötige eigentlich kein so großes Haus, widersetzte ich mich dieser Belehrung stets auf das entschiedenste. Was heißt benötigt, regte ich mich auf, leben wir, alt geworden, denn nur noch im Hinblick auf Notlösungen? Ich möchte alt und allein in einem großen Haus wohnen, basta. Auch wenn ich uralt werden sollte, möchte ich das. Sofern meine Gesundheit und mein Verstand mitspielen, wohlgemerkt. Aber ich hoffe, daß beide im Hinblick auf meine ererbten Gene das auch tun werden.
Zur Zeit jedenfalls funktioniert alles noch leidlich. Meine alten und vom Tanzen geschundenen Knochen schmerzen zwar oft höllisch, vor allem am Morgen, und Namen kann ich mir immer schlechter merken.
Aber wenn ich Spaziergänge mache, kann ich noch recht elastisch dahingehen, und im gedanklichen Aufnehmen und Begreifen gibt es, glaube ich, keinerlei Einschränkungen, mein Kopf spurt noch.
Mein Kopf hat mich mein Leben lang zuverlässig begleitet, muß ich sagen, stets war ich in der Lage, alles um mich herum klug einzuschätzen. Warum ich dennoch so blöde sein konnte, so überaus unklug, wenn es um Liebe und Nähe ging, weiß der Teufel. Aber auch dieses Thema berührt allzu viel Vergangenheit, ich lasse es lieber unangetastet.
Was also ist zum heutigen Tag zu sagen.
Er ist also sommerlich schön. Ich schlief lange am Morgen, da ich nachts mit Schlaflosigkeit zu kämpfen hatte. Ein seltsamer Traum weckte mich, und danach blieb ich lange Zeit wach. Ich hatte geträumt, in einem Flugzeug zu sitzen, das abstürzt. Es fiel und fiel, unauf haltsam. Ich saß aber ganz ruhig da und dachte nur: Aha, jetzt stirbst du also. Hoffentlich tut der Aufprall nicht allzu weh. Ehe die Maschine jedoch den Boden erreichte und zerschellte, wachte ich auf und starrte in die nächtliche Dunkelheit. Zarte Lichtbahnen fielen durch die Fensterläden, und Grillen zirpten ungewöhnlich laut. Im heurigen Sommer mit seiner beständigen Hitze klingt es manchmal, als befände man sich im Süden. Früher kannte ich dieses nächtliche Lärmen eigentlich nur von den Zikaden im portugiesischen Alentejo oder auf kroatischen Inseln.
Nun, wie auch immer, ich lag und lauschte und hatte weder Herzklopfen noch einen beschleunigten Atem nach diesem Traum. Und genau das bestürzte mich so, daß ich nicht mehr einschlafen konnte. Daß ich ohne Angst gewesen war, bestürzte mich. Früher war das Flugzeug im Traum immer Symbol all meiner Ängste gewesen, und plötzlich diese Gelassenheit. Wünsche ich mir vielleicht den Tod? Diese Frage beunruhigte mich. Denn ich möchte noch nicht sterben. Eigenartigerweise und trotz allem möchte ich noch nicht sterben.
Ich dachte also nachts über den Tod und das Sterben nach, und diese Gedanken waren es wohl, die mich wach hielten. Aber als ich dann schließlich wieder einschlief, war dieser Schlaf köstlich. Ja, köstlich. Bewußt gebrauche ich dieses Wort, es übertreibt nicht. Nichts kann mich zur Zeit mehr beglücken, als tief und entspannt zu schlafen, ich empfinde das als unbeschreibliche Köstlichkeit, als ein Geschenk des Lebens.
Mich scheint zu reizen, fällt mir auf, am Computer Kursivschrift zu verwenden. Entspricht sie doch dem handschriftlichen Unterstreichen von Worten, und früher habe ich in meinen hingeworfenen Briefen und Aufzeichnungen immer vieles unterstrichen. War wohl auch Ausdruck meiner ständigen, brennenden Ungeduld und der stets rasch zu entzündenden Empörung. Bei allem und jedem wurde ich früher so schnell ungeduldig, alles und jedes hat mich früher so rasch empört. Früher. Auch ein Wort, das es zu unterstreichen gälte. Wann eigentlich hat dieses Früher sich in ein Jetzt verwandelt, frage ich mich. Vielleicht, nachdem ich den Tod meiner Tochter überlebt habe. Aber auch davor schon, als mein Mann starb, als wir beide im Autowrack eingeklemmt waren und er vor meinen Augen starb, hat mich das stark verändert. Jedenfalls sagte man es. Alle in der Tanz-Company sahen mich immer wieder prüfend an, sie schienen ehrlich besorgt zu sein. Du bist nicht mehr dieselbe, wurde mir gesagt, ist ja verständlich, aber paß auf dich auf, Paulina, wir brauchen dich schließlich. Und ich habe versucht, auf mich aufzupassen. So lange und so gut es ging. Letztendlich mußte ich dann doch das Handtuch werfen und die Company verlassen.
Aber was soll das, ich schweife schon wieder ins Vergangene zurück, Schluß damit.
Also, heute. Die Stille des Hauses erfreut mich. Manchmal durchwandere ich es, setze mich dann irgendwo hin und lasse auch meinen Blick wandern. Es ist ein altes Haus, war ehemals das Landhaus begüterter Städter. Die alte Besitzerin, von der ich es erstand, verbrachte als Kind nur einen Teil des Jahres in dieser damals noch dörflichen Gegend. Noch per Kutsche und mit Sack und Pack fuhr die ganze Familie aus der Stadt hierher, um die Sommermonate auf dem Lande zu verbringen. Es gab einen Park, ein Pförtnerhaus, Tennisplätze, Weingärten und einen Weinkeller, und eine Allee führte auf das Haus zu. Jetzt ist es von Villen und Appartementhäusern eingekreist, nur mein eigener wilder Garten und die Bäume rundum, die ich nie beschneide, lassen ein Gefühl des Verborgenseins zu. Ich fühle mich in diesem Haus verborgen und geborgen, beides. Nach wie vor fühle ich mich so. Und die heutige Samstagsstille fördert dieses Gefühl.
Am Wochenende kommt meine Zugehfrau meist nicht.
Zugehfrau.
Wie komme ich zu diesem Wort? Noch nie habe ich Hortensia so genannt, auch in Gedanken nicht. Bringt es das Aufschreiben mit sich, alles distanziert zu betrachten und umständlich Worte zu benutzen, die im Gelebten nicht vorkommen? Ich habe diese Portugiesin, die um einiges jünger ist als ich, immer nur Hortensia genannt. Nur so, und das durch Jahre. Nicht einmal der Begriff Haushälterin fiel je zwischen uns, außer vielleicht in ihrer Lohnabrechnung. Hortensia kam in jungen Jahren aus Fayal, einer Azoreninsel, hierher, und bald danach auch in mein Haus. Ihre Mutter hatte sie Hortensia genannt, weil sie die Blüten der Hortensien, die im Sommer ganze Hecken leuchtend blau färben und wie Blumenkränze die Insel zu umwinden scheinen, so sehr liebte. Ich war selbst einmal dort und sah diese Schönheit mit eigenen Augen. Hortensia nickte, als ich davon schwärmte. Aber sie flog nach dem Tod ihrer Eltern nie mehr auf die Insel, nie mehr nach Portugal. Ihr Ehemann ist von hier, also kein Ausländer, und er und die Kinder und Enkelkinder reisen lieber in die Karibik oder nach Thailand, wie alle Menschen heutzutage, und hatten nie Lust, Hortensias Heimat zu besuchen. Sie ist eine stille Frau, immer war sie still. Mir scheint, sie lebte immer, ohne aufzubegehren, und so, wie man es von ihr verlangte. Aber in meinem Haus fühlt sie sich wohl, glaube ich. Auch heute noch schließt sie, wenn sie am Vormittag kommt, das Gartentor und dann die Haustür mit dem Lächeln einer Verliebten auf. Ja, sie liebt mein Haus. Und diese Liebe verbindet uns, denn auch ich liebe es.
Sieh an, einige Seiten sind bereits geschrieben. Der Wind hat sich verstärkt, das Laub rauscht, aber wolkenlos blau ist der Himmel. Ich werde aufhören zu schreiben und mich ein wenig in die Sonne legen. Früher konnte ich das stundenlang, ich konnte stundenlang fast bewegungslos in der Sonne liegen und dabei in einen Zustand des Entrücktseins geraten. Jetzt ertrage ich es nur noch ganz kurze Zeit. Ich weiß nicht, ob das an meinem Alter liegt, oder an der Sonne, die in den letzten Jahren aggressiver geworden zu sein scheint. Aber wie auch immer, jetzt werde ich auf die Dachterrasse hochsteigen, die über der gartenseitigen Veranda liegt, und mich eine Weile auf die hölzerne Liege hinstrecken. Ich werde mich trotz meines Alters ausziehen und den warmen Wind über meinen nackten Körper streichen lassen. Diese Berührungen, die des Windes, der Sonne, eines Regenschauers, schenken auch einer alten Haut jugendliche Empfindungen. Mit Menschenhänden, in meinem Fall waren es Männerhände, läßt sich solches wohl nie mehr bewerkstelligen, also besser, es für dieses Leben zu vergessen.
Auch heute ist es heiß. Mittags aß ich im Garten des Gasthauses Knöfler, es liegt nicht weit von hier, ist zu Fuß zu erreichen, und traf dort eine der Tänzerinnen der Company, Florinda Bell, die von uns immer Flory genannt wurde. Eine der ehemaligen Tänzerinnen, muß ich da wohl schreiben, da es die Dancing-Company Paulina Neblo ja nicht mehr gibt. Mit meinem, also Paulina Neblos Zusammenbruch, zerbrach auch sie. Flory war damals noch jung, aber sie hatte schon vor der Auflösung der Truppe zu tanzen aufgehört. Um die Plackerei des Balletts los zu sein und sich ganz ihrer großen Liebe widmen zu können, hat sie geheiratet, und führt jetzt eine unglückliche Ehe, über die sie sich gern bei mir ausweint. Auch heute wieder. Ihr Mann betrügt sie offensichtlich derart unverhohlen und schamlos, daß sie gestern vor Wut einen Teller nach ihm warf, der ihn am Auge verletzte. Er mußte ins Krankenhaus, und jetzt macht sie sich Vorwürfe. Sie heulte, wir saßen im Schatten der Nußbäume und schwitzten. Mit feuchtem Gesicht saß sie mir gegenüber und ihre Tränen zogen Linien durch das Make-up, das sie trotz der Hitze aufgelegt hatte. Ich wußte nicht recht, was ich zu der Sache sagen sollte, ist es doch meist unmöglich, Beziehungsjammer auf tröstende Weise zu kommentieren. »Bitte, Flory, laß dich endlich scheiden«, sagte ich schließlich. Was ich erntete, war ein so entsetzter Blick, daß ich rasch wieder abschwächte. »Oder ihr trennt euch für eine Weile«, schlug ich vor. Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß ja nicht, wohin«, sagte sie, holte ihr Taschentuch hervor und schnäuzte sich. Dann sah sie mich mit verweinten Augen plötzlich sehr eindringlich an. »Außer, ich könnte eine Weile bei dir wohnen. Ginge das?«
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