SpielRaum - Alex Acht - E-Book

SpielRaum E-Book

Alex Acht

4,5

Beschreibung

München, Oktoberfest, Bierzelt: Ruth und die anderen Wiesn-Bedienungen bereiten sich auf arbeitsreiche Tage vor. Ein ungutes Gefühl begleitet Ruth, denn Teresa, ihre Freundin und Kollegin, ist in diesem Jahr nicht mehr mit dabei. Dafür taucht eine Neue auf, die bei der zusammengeschweißten Gemeinde auf Ablehnung stößt. Ruth versucht sich auf ihre Arbeit zu konzentrieren, doch immer wieder holen sie die Gedanken an Teresa ein. Dazwischen tauchen Bilder von Ian auf, den sie vor zwanzig Jahren aus den Augen verloren hat. Als nach einer Messerstecherei im Bierzelt die Polizei erscheint, ist das Durcheinander perfekt. In der Zwischenzeit haben sich zwei Game-Designer unter die Gäste gemischt. Akribisch beobachten sie ihr Umfeld und entwerfen eine virtuelle Welt, in die sie ihre täglichen Beobachtungen übertragen. Liebesgeschichten, Tragödien - es ist das Spiel des Lebens …

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Alex Acht ist gelernter Journalist. Er arbeitet seit dem Ende des Jugoslawien-Konflikts in Projekten zur Europäischen Integration.

Inhalt

Der erste Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Italienerwochenende

Maurermontag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Freitag

Samstag

Der letzte Sonntag

Thank you, Ian, you lived a full life, you understood how to make the most of what you had, and you accepted death with dignity, a real hero to the end.

Facebook, 9. Juni 2009

Der erste Samstag

Heh, ob du schwanger bist, hab’ ich dich gefragt, Maria!«, krähte eine Frauenstimme. »In unserem Alter. Sauber!«

Georg Sloraczny blieb beim Wort »Heh« stehen und suchte das Gelände nach einer bestimmten Frau ab. Er sah aber nur Wate hinter seiner Schänke etwas richten und drei Kolleginnen seiner Tochter. Maria – hager und mit tief gebräuntem, faltigem Gesicht – hatte sich taub gestellt und weiter mit geschlossenen Augen die Morgensonne im Biergarten genossen. Hinter Maria stand ihre Freundin Lisa mit Nadel und Faden. Sie trennte und nähte an Marias Dirndl herum, um deren unpassend großen Bauch darin unterzubringen.

»Heh, Maria! Ob du schwanger bist, hab’ ich dich gefragt.«

»Aber geh, niemand ist schwanger«, hustete Maria. Sie habe es doch an der Leber und jetzt sei eben alles so angeschwollen. Marietta lachte nervös und laut. Sie wackelte mit dem Kopf: »Also, und ich hätt’ glatt g’laubt, du bist schwanger.«

Sloraczny atmete missbilligend tief ein und hoffte, dass man ihm von außen seine geringschätzige Haltung nicht ansehen konnte, denn beim Ausatmen sah er seine Tochter.

Ruth lehnte an der Schänke, sie war durch das Schwangerschaftsgeschrei aus ihren Gedanken gerissen worden, fröstelte und drehte ihr Gesicht wie Maria in die Morgensonne. Sie atmete ebenfalls tief ein und aus. Der Geruch ist schon da, dachte sie. Das Gedränge fehlte noch, die Schmerzen waren noch nicht zu spüren, die Nerven lagen noch nicht blank, die Blasmusik war noch nicht zu hören, der Geruch war noch zu schwach. Aber er war schon angelegt. Er würde in den nächsten Tagen säuerlicher und schärfer werden. Er war da und wartete auf sie.

Kräftige Schrittgeräusche näherten sich in unterschiedlicher Geschwindigkeit und entfernten sich wieder. Ruth bemerkte nun auch, dass das unverwechselbare Klacken der Maßkrüge, die gerade ausgeräumt und gespült wurden, begonnen hatte. Die Schritte und das Klacken erzeugten die Ouvertüre für den Sog, der jedes Jahr um Punkt zwölf Uhr angeworfen wurde und die unterschiedlichsten Leute für die nächsten zwei Wochen erfasste, aneinander drückte und sie danach kraftlos wieder losließ. Automatisch tauchten Bilder von Ian in ihr auf, und von Wate und Teresa.

»Das ist also deine Welt«, sagte eine Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um und beugte sich überrascht zu ihrem Vater und umarmte ihn. »Was machst du denn hier? Zwanzig Jahre hast du mich hier nicht besucht!«

Sie schob Georg Sloraczny zu ihren Tischen und setzte sich ebenfalls hin.

Er ließ seinen Blick schweifen und sah nichts, was ihm gefallen könnte. Ein paar Kellnerinnen eilten durch den Biergarten. Für Sloracznys Geschmack hatten sie zu wichtige Mienen aufgesetzt, er verachtete sie sofort. Die einheitliche folkloristische Arbeitskleidung machte sie seiner Tochter ähnlich. »Das ist also deine Welt«, wiederholte er und zündete sich eine Zigarette an. »Als Kind wolltest du Lehrerin werden«, sagte er. »Und jetzt das.«

»Als Kind wollte ich Zigeuner werden«, berichtigte sie.

Er nickte. »Das stimmt«, sagte er. »Und ich habe dich nicht darauf hingewiesen, dass man das nicht werden kann.«

»Du musst dann gleich wieder gehen«, wechselte sie das Thema. »In zwei Stunden ist das ganze Oktoberfest-Gelände voller Menschen, du kommst nicht mehr raus.«

»Ja«, sagte er. »Ich wollte mir nur ein Bild machen.«

»Komm unter der Woche, da geht es besser«, schlug sie vor. »Ich bring dich zur Straße. Neuer Speichenschutz? Habe ich vorhin gar nicht bemerkt!« Sie schob den Rollstuhl Richtung Ausgang und sah sich die neuen farbenprächtigen Plastikscheiben an, die Georg Sloraczny an den Rädern montiert hatte.

»Wie viele Leute passen denn in dein Bierzelt?«, fragte Sloraczny.

»Keine Ahnung. Achttausend oder zehntausend.«

»Und wie viele Bierzelte gibt es hier inzwischen?«

Ruth sah auf die Uhr. Wo blieb denn Kristina? »Das weiß ich doch nicht! Zwölf, glaube ich.«

»Ja ja, ich fahre jetzt. Wir sehen uns am Montag. Es ist das erste Jahr ohne Teresa. Ich habe gelesen, dass man da depressiv werden kann.«

Georg Sloraczny drehte schwungvoll an den Greifringen seines Rollstuhls. Weg war er. Teresa. Ruth spürte große Sehnsucht nach ihr. Sie ließ den Blick schweifen und blieb bei Wate hängen. Er richtete seine Schänke her. Krüge einräumen, Spülmaschine testen und einstellen. Ruth sah ihm gern bei der Arbeit zu. Früher war sie gelegentlich morgens mit Teresa auf seiner Schänke gesessen und sie hatten Nüsse genascht, die Teresa von seinem Frühstück stibitzen durfte. Das war jetzt vorbei.

Was sie wohl mit dem Alten hat? Die Beziehungen seiner Tochter gingen Georg Sloraczny durch den Kopf. Er hatte Ruth noch ein wenig aus der Ferne beobachtet. Nachdenklich machte er sich endgültig davon.

Ruths Blick ruhte noch auf Wate, als sie hinter sich eine aufgeregte Stimme hörte: »Ja, danke, Herr Pfeiffer. Super, Herr Pfeiffer. Und was soll ich jetzt machen, damit dann nachher alles klappt? Herr Pfeiffer?«

Ruth musste sich gar nicht umdrehen, um zu wissen, dass Pfeiffer schon weitergegangen war. Sie drehte sich dann doch um, um die Neue anzuschauen.

Und schon stand diese neben ihr.

»Hallo. Ich bin die Regina, Gina sagen alle zu mir. Ich bin hier neu. Ich meine, ich soll hier arbeiten, aber niemand sagt mir, nach welchen Gesichtspunkten nun vorzugehen ist. Um zwölf Uhr mittags beginnt hier das Oktoberfest und ich weiß nicht, was ich zu tun habe.« Gesichtspunkte?, fragte sich Ruth. »Das ist ein Bierzelt«, erklärte sie. »Du bedienst hier, das ist der Gesichtspunkt.« Ruth war irritiert. Prinzessin Regina-Gina, fiel ihr plötzlich ein. Ein Film? Sie sah Gina noch einmal an, etwas tauchte diffus in ihren Gedanken auf, aber sie hatte es gleich wieder vergessen. Ruth beschloss zu warten, bis es wieder zum Vorschein kam.

Darling, I’m fucking good at waiting. Natürlich tauchte Ian pünktlich zu Wiesn-Beginn in ihrer Erinnerung auf. Seine Stimme war ihr seit fast zwanzig Jahren gegenwärtig und beunruhigte sie heute genauso wie im Sommer 1992.

Kristina war noch nicht da. Ruth setzte sich mit einem Becher Pulverkaffee zu Lisa und Maria in die Sonne. Maria sah wirklich schwanger aus und Ruth nahm sich vor, mit ihr demnächst über den »Leberschaden« zu reden. »Goschee«, hatte ihr Maria noch kurz zugewispert, als ob Ruth mit diesem Begriff etwas anfangen könnte.

Aber jetzt erzählte Maria etwas Lustiges von gestern und die drei kicherten unbeherrscht wie Schulmädchen. Wate kam vorbei und knurrte.

Wate war der einzige Mensch hier, der sich daran erinnerte, wie jung alle einmal gewesen waren. Auch von der Kellnerin mit der krähenden Stimme hatte er ein junges, lebenslustiges Bild im Kopf. Ruth war inzwischen auch ihr Name wieder eingefallen. Marietta. Sie konnte sich nicht erinnern, Marietta jemals jung gesehen zu haben.

»Des geht doch net«, schimpfte diese gerade entsetzt. Sie wechselte ins Hochdeutsche: »Herr Pfeiffer, ich hab’ doch nie etwas falsch gemacht.« Sie zupfte ihn am Ärmel. »Ich bin doch fleißig.« Leiser: »Meine Buam derschlag’n mi.« Lauter: »Meine Buben erschlagen mich.«

»Halt den Mund und hau ab! Du bist zu alt«, fuhr der Chef sie an.

Ruth überlegte, ob Pfeiffer der brutalste Mensch war, den sie persönlich kannte. Sie hatte ihren Kaffee inzwischen ausgetrunken und warf den Becher von ihrem Sitzplatz aus in die Mülltonne. Bora, der gerade bei Wate stand, pfiff lausbubenhaft, weil sie getroffen hatte. Sie sah, dass Gina, die Neue, mit Antonia ins Gespräch gekommen war.

»Hat sie sich wieder eine eingetreten«, kommentierte Lisa im Aufstehen. Alle Neuen landeten seit Jahren bei Antonia.

»Sie ist halt nicht so abschreckend wie wir«, meinte Ruth, der Neue immer auf die Nerven gingen.

»Abschreckend«, rief Lisa Maria zu. »Sie hat gesagt, wir sind abschreckend. Abschreckend sind wir nicht.«

Jedenfalls würde Antonia die Studentin in alles einweisen. Wie komme ich darauf, dass Gina Studentin ist?, fragte sich Ruth.

Die beiden Frauen verschwanden im Bierzelt. Antonia zeigte ihrem neuen Schützling dort die Essenskassa, die Essensausgabe, die Bierkassa und den Bierausschank. »Also, alles, was du den Gästen verkaufst, musst du vorher einkaufen. Pass also auf deine Sachen gut auf. Was du verlierst, ist weg. Verlierst du deine Tüte mit den hundert Bier-Chips, hast du fast achthundert Euro verloren«, teilte ihr Antonia trocken mit. Gina schnappte nach Luft.

»Keine Angst, du kommst schon auf deine Kosten«, beruhigte sie eine andere.

»Aber wenn dir etwas damit passiert, ist dein Geld weg!« Gina spuckte vor Aufregung beim Sprechen. Die Kollegin wich zurück.

»Ein Schlitten mit Hendln ist leicht hundert Euro wert«, rechnete eine andere aus der Warteschlange vor, die sich nun vor dem Ausschank gebildet hatte.

Gina fragte: »Was ist ein Schlitten?«

Ruth wurde plötzlich von zwei ziemlich kräftigen Armen von hinten gedrückt. Kristina. Jetzt erst hatten die zwei Wochen Oktoberfest begonnen. Sekundenlang lösten sich die beiden Frauen nicht aus der Umarmung, bewegten sich nicht, als gelte es, etwas vorsichtig zu bewahren.

»Ich bin ein bissel spät«, berichtete Kristina. »Ich war vorgestern übrigens noch im Seidengeschäft«, flüsterte sie. Beide dachten sofort an Teresa, sie hatte damals mit dem Seiden-Tick begonnen. Automatisch schauten sie zu Wate.

Wate hämmerte an der Schänke herum und ebnete mit mächtigen Schlägen ein, was die Bauarbeiter nicht geschafft hatten. »Gut sieht er aus«, stellte Kristina fest.

Die beiden Frauen gingen zu ihm hin. »Grüß’ euch«, sagte Wate und nahm ihre Hände in seine Pranken.

Viel später überlegte Ruth, ob sie nicht schon am ersten Tag hätte ahnen können, dass Kristina und Wate im Laufe der zwei Wochen miteinander schlafen würden. Jetzt, wo Teresa tot war. Nein, entschied sie dann. Ich ahne so etwas nicht. Ich kriege so etwas nicht mit.

Und auch wenn sie Wochen später an die vielen kleinen Ereignisse dachte, die der Tod des Summerer im Bierzelt dann ausgelöst und ans Licht gebracht haben würde, war ihr bewusst: Jeder Moment, jede neue Entwicklung überrascht mich. Sogar meine eigenen Reaktionen – ich sage etwas und erst während ich es sage, merke ich, was es bedeutet.

Ruth und Kristina schlenderten zu ihren Tischen: sieben Tische im Garten, fünf Tische im Zelt. Nebeneinander, aber getrennt durch die Holzwand des Bierzelts. Sie traten durch eine Verbindungstür, die einer der Notausgänge war, ins Zelt.

»Ja, Rita, hallo, was machst denn du in unserer Kluft!?« Ruth umarmte Rita, die hinter dem Notausgang lehnte und auf sie gewartet hatte, und stellte sie dann Kristina vor: »Wir haben in Hannover zusammengearbeitet.«

»Und jetzt bist du in unserem Zelt hier? Gut! Welche Station?«

Rita fuhr sich mit der Hand durch ihre dunklen Locken: »Das ist es ja, der Pfeiffer hat mich gleich in die Promi-Box gesteckt, weißt schon, die ganzen reichen VIPs. Da arbeite ich mit vier Kolleginnen zusammen, die ich nicht kenne und ein Platz ist noch frei. Ich wäre froh gewesen, wenn du zu mir gekommen wärst. Das wollte ich dich gerade fragen. Aber ich sehe schon.«

Kristina, die gerade einen finsteren Blick aufgesetzt hatte, entspannte sich wieder.

»Promi-Box mach ich sowieso nicht«, klärte Ruth Rita auf.

»Du kannst ja nicht mal drei Kaffee auf einmal tragen«, wurde sie von Kristina eifrig bestärkt.

»Zu mir passt mein Biergarten«, bestätigte Ruth. »Die Leute wollen Bier, Hendl, Haxen und Schweinebraten. Manchmal eine Breze und die Kinder Limo. Aus, fertig. Das kann ich. Und die Kristina macht hier die Box: Geschäftsleute und Kanzleien, die feinen Leute eben.«

»Wow.« Rita war beeindruckt. »Und den Notausgang könnt ihr offen lassen?«

»Ja«, antwortete Kristina. »Verstopfte Gänge halten uns nicht auf. Das Bier holen wir im Garten, wenn’s Stress gibt.«

Sie hatten sich diesen Doppelservice eines Tages ausgedacht und mehrere Jahre akribisch beobachtet, ob ein Platz frei wurde. In dem Jahr, in dem ihre beiden Vorgängerinnen an diesen Tischen keinen Arbeitsvertrag mehr erhielten, wusste Kristina dies als erste und sie schlugen sofort zu. Ruth stellte sich manchmal vor, die Geschichte Ian zu erzählen: Du bist ja auch gut im Warten, murmelte er dann in ihrer Fantasie und drückte sie an sich.

»Acht Jahre«, sagte Kristina ziemlich laut. »Heuer ist das achte Jahr und in zwei Jahren haben wir das runde Jubiläum.«

»Ich seh’ schon, nichts zu machen«, seufzte Rita, »ich such mir jemand anderen für meine Promis.«

»Der Bierpreis heuer«, informierte Kristina Ruth, »ist acht Euro fünfundvierzig. Gar nicht so schlecht.«

Viertel nach zehn. Ein Kübel heißes Wasser, zwei nagelneue Wischtücher. Ruth und Kristina putzten die klebrigen Tische und Bänke ab. Bora kam vorbei, wischte kontrollierend mit dem Zeigefinger über eine Bank und flüchtete kichernd vor Ruths Blick. »Entschuldigen Sie, wo kriegt man hier Eimer und Tücher?«, fragte Gina, die neue Gartennachbarin, höflich.

»Tücher? Die musst du dir schon selber mitnehmen!«, schnauzte Kristina sie an. »Wo samma denn überhaupt? Tücher!«

Sie echauffierte sich weiter bei Ruth. »Wer ist denn das überhaupt? Kommt ohne Lumpen daher!«

»Sie heißt Gina und ist neben uns«, klärte Ruth sie auf. »Eine Studentin wahrscheinlich«, fuhr sie fort. An Gina gewandt: »Nimmst heute unser Zeug, wir sind eh schon fertig. Gibst es uns dann gleich wieder zurück und morgen hast selber etwas.«

»Das sehen wir nie wieder«, raunzte Kristina.

Sophie kam vorbei. »Wie geht’s euch denn ohne Teresa?« fragte sie, ohne eine Antwort zu erwarten und drückte beide am Oberarm.

Gina wartete, bis sie weg war. »Ich muss euch etwas sagen«, begann sie.

Ruth bemerkte, wie sich ihre Schultern verspannten. Sie wollte jetzt ganz sicher keine privaten Geschichten einer Neuen hören und sagte schnell: »Wir müssen ins Büro.« Sie verzog sich mit Kristina.

Zelt und Garten füllten sich mit Menschen. Zu den zweihundert Kellnerinnen gesellten sich die Schankarbeiter und Schenker und Sicherheitspersonal hinzu. Der Festwirt und Herr Pfeiffer durchmaßen abermals die Halle, Hendlbrater und Köche schwitzten bereits in den Küchen. Die Bierchips-Kassiererinnen trafen ein und richteten ihre Plätze an den Seiten der Schänken her. Es wurde noch gesägt und gehämmert. Ruth und Kristina stellten eine große Styroporbox als Zwischenlager in die Ecke beim Notausgang.

»Wozu ist das denn?«, Gina brachte gerade Eimer und Lumpen zurück. »Wofür stehen die denn schon wieder an?«, fragte sie gleich weiter und zeigte auf eine Schlange von etwa sechzig Kellnerinnen bei der Küche. Ruth fuhr Gina an: »Ja, hast du dir noch kein Besteck geholt? Dann beeil dich, sonst ist keines mehr da.«

»Wie meinen Sie das denn?«

Ruth wurde ganz ungeduldig: »Wenn du dir jetzt kein Besteck holst, kannst du dein Essen ohne servieren. Es geht heute sicher aus.«

»Das Besteck kann ausgehen?«, fragte Gina entgeistert. »Was noch?«, fauchte sie unbeherrscht und spuckte dabei diesmal Ruth an.

»Tschuldigung!«

Ruth überlegte, ob sie erzählen sollte, dass einem Bier und Essen geklaut werden konnten und man die Sachen dann ein zweites Mal kaufen musste. Vielleicht sollte sie Gina auch darauf vorbereiten, dass Kolleginnen an den Tischen der Neuen Bier verkaufen würden und es Tage gab, an denen man nach vierzehn Stunden Arbeit ein Minus in der Kasse hatte: Das war das Bitterste. Man hatte sich verrechnet oder falsch herausgegeben und damit nicht nur nichts verdient, sondern draufgezahlt.

Sie könnte natürlich auch berichten, dass einem manchmal eine Kollegin in den stressigsten Stunden das Tablett wegschnappte und man dadurch mit dem Essenholen nicht nachkam.

Am Ende ihrer Überlegungen sagte sie sanft: »Alles. Alles kann dir hier passieren.«

Gina war erleichtert, das klang nun wirklich nicht so schlimm. Sie eilte leichtfüßig zur Besteckausgabe.

Elf ist es schon, Ruth sah kurz auf die Uhr. Im Garten waren nur mehr wenig Plätze frei. Freudig erregt warteten Gäste, Kellnerinnen und Schankarbeiter auf die erlösenden Böllerschüsse um zwölf Uhr. Die Security-Mitarbeiter verteilten sich in Zelt und Garten und überprüften ihre Funkgeräte.

Achttausend Menschen redeten miteinander – der Geräuschpegel im Zelt würde aber noch anschwellen, bis er das vertraute Maß erreicht hatte.

Was der Sound immer ausmacht, dachte Ruth. Ohne den satten Sound fühlt es sich noch wie eine Kulisse an.

Es fehlten immer noch die Musik, das Klappern von Besteck und Tellern und die vielfältigen Geräusche der Maßkrüge: Es gab das dumpfe Geräusch der Krüge, wenn sie verkehrt herum auf das Förderband der Glasspülmaschine gestürzt wurden, begleitet von einem helleren Klacken, das durch das Aneinanderstoßen des Glases entstand.

Dann ruckelten sie – wie bei der Polonaise, dachte Ruth jedes Jahr – auf einem Laufband durch das Wasserrauschen der Spülmaschine. Am Ende ihres Wegs schnappte ein Spüler die Krüge, drehte sie wieder um und schob sie so in Wates Reichweite. Das wiederum ergab ein eigenes Wisch-Geräusch.

Ruth sah überrascht Marietta mit trotzig vorgerecktem Kinn Besteck wickeln. Ihr Kopf wackelte und sie schimpfte vor sich hin. Herr Pfeiffer bog gerade um die Ecke: »Jetzt bist immer noch da! Hau ab. Du kriegst keinen Service mehr.«

Marietta kämpfte mit den Tränen. »Ich hab’ doch schon gesagt, meine Buam derschlag’n mich«, zischte sie heiser.

Die zwei Söhne von Marietta hatte Ruth nur ein einziges Mal gesehen. Da waren sie noch keine zwanzig, überlegte sie. Sie kamen in den neunziger Jahren einmal am letzten Wiesntag, um ihrer Mutter das Geld wegzunehmen. Magere Jungs, erinnerte sie sich. Marietta war gerade dabei gewesen, die Scheine herauszurücken, als ein Tisch mit Stammgästen aufstand.

»Sind das die, wegen denen du vorige Woche die Treppen runtergefallen bist?« Zu fünft hatten sie zugegriffen, brachten die beiden aus dem Biergarten, nahmen sie sich hinter dem Zelt vor.

»Ja, Herr Pfeiffer?«, schrillte Mariettas Stimme durch ihre Gedanken. Pfeiffer war tatsächlich noch einmal zurückgekommen und schnauzte Marietta an: »Du nimmst jetzt die drei Tische da beim Brez’n-Stand.« Zwei Gäste machten begeistert ein Foto von dem übel gelaunten Personalchef. Eine Bedienung war also schon gefeuert worden, bevor das Fest begonnen hatte. Ruth hatte nichts mitbekommen. Sie sah sich um. Das Zelt war jetzt brechend voll, im Garten schoben sich die Leute hin und her auf der Suche nach einem Sitzplatz. Mobiltelefone wurden gezückt und die Leute schrien hinein: »Was? Rechts von was?«

Lisa und Maria waren plötzlich wieder da und begutachteten ihre Tische neben denen von Ruth.

»Noch zehn Minuten bis o’zapft wird«, sagte Maria zu Ruth. Sie würden sich jetzt zur Schänke stellen. Ruth ging mit. Kristina rammte ihr den Ellbogen in die Seite und verabschiedete sich in ihre Box. Ruth zuckte ein bisschen zusammen, der leichte Schmerz würde sie den ganzen Tag an Kristina erinnern.

Brauche ich Schmerzen, um mich an jemanden zu erinnern?, fragte sie sich und dachte an Ian. Es tat schon lange nicht mehr weh, aber der Schmerz über seinen Verlust hatte ihr ein ziemliches Relief in die Erinnerung geschnitzt. Ob sie ohne den Schmerz womöglich die Schwärze seiner Augen vergessen hätte? Oder sogar das Gefühl, wenn er sein immer angespanntes Gesicht ihren Händen anvertraute. Sie schüttelte sich.

Abwesend zupfte sie an Lisas Dirndlbluse herum, der Ärmel war hochgerutscht und hatte einen Teil von Lisas Tätowierung freigelegt, Lisa hustete ein »Danke« und strich den Ärmel auf maximale Länge.

Gina erschien. Sie war blass vor Aufregung. Mit aufgefrischtem Make-up stellte sie sich zu Ruth.

»Ich weiß nicht, ich habe das Gefühl«, vertraute sie Ruth an, »dass mich hier einige ablehnen. Ich fühle mich irgendwie ausgeschlossen.«

»Glauben Sie«, fuhr sie fort, bevor sich Ruth zurückziehen konnte, »glauben Sie, es liegt daran, dass ich die Jüngste hier im Garten bin? Vielleicht sind die Kolleginnen ein bisschen neidisch auf mich, weil ich dann wegen dem Trinkgeld am meisten verdiene.«

An dieser Stelle drehte sich Lisa interessiert um.

»Habt’s a Schellen für den Narren?«, fragte Maria.

»Wate«, säuselte Gina in Richtung Schänke. Niemand erwartete eine Reaktion.

»Du wolltest es ja wissen«, gab Wate trocken von sich und wandte sich seinem Zapfhahn zu. Gina verzog das Gesicht und ging weg.

Bora, der auf seiner Runde vorbeigekommen war, sah ihr nach und grinste. »Wo ist eigentlich Teresa?«, fragte er gespielt ungeduldig und zwinkerte in Richtung Wate.

Er weiß es noch nicht. Ruth stellte sich auf die Zehenspitzen, zog sich an seinen Schultern ein wenig empor und flüsterte ihm ins Ohr. »Sie kommt nicht. Teresa ist tot.«

Sie legte ihren Kopf für ein paar Sekunden an seinen Oberarm, was sie bei Bora noch nie gemacht hatte.

Ein dumpfer Knall gefolgt von mehreren Echos unterbrach alles Geschwätz. Samstag, zwölf Uhr. Das Oktoberfest begann. Die Frauen konzentrierten sich. Wate griff sich rhythmisch die Krüge, schenkte ein, stellte sie auf die Schänke, griff sich neue.

Tanja war die Erste. Zwölf Krüge in zwei Kreisen aufgestellt. Tanja ruckelte sie sich zurecht, sie klackten aneinander. Ein kurzer Moment des Sammelns, das Hochstemmen der Krüge und die Drehung von der Schänke weg. Das Bier schwappte im Krug gefährlich auf und ab, lief aber kaum aus.

»Wate kann eben super einschenken«, kommentierten die Kolleginnen wie jedes Jahr. Wir sagen eigentlich jedes Jahr immer das Gleiche, dachte Ruth und nahm sich vor, in den nächsten Tagen ein paar Sätze zu sagen, die sie hier noch nie geäußert hatte.

Sophie richtete zwölf Krüge klackend zurecht und eilte in ihren Service. Maria sieben, Lisa neun. Gina nahm vier mit der linken Hand und vier mit der rechten Hand. Ruth nahm zwölf. Klack und weg. In ihrem Tempo bewegte sich Ruth zu ihren Tischen, verkaufte ein Bier nach dem anderen. Sie hoffte, dass die Gäste schnell zahlen würden. Anstatt das Geld bereits hergerichtet zu haben, kramte aber – wie immer! – jeder erst dann nach seinem Geld, wenn er dran war. »Wie viel kostet denn heuer die Maß?« Ruth täuschte ein wenig Hektik ihrerseits vor, um ihre Gäste anzustecken. Sie sprach ein wenig schneller und atemlos.

»Acht fünfundvierzig macht’s.«

»Das passt schon so.«

»Und weiter geht’s. Die anderen wollen auch noch was.«

Tatsächlich halfen die hinteren Tische mit: »Tat’s weiter. Mei, der kramt jetzt schon fünf Minuten nach seinem Geldbeutel!«

»Das passt schon so.« Das letzte Bier ist verkauft. Zurück zur Schänke, zurück zu Wate. Zurück zur Maßkrug-Polonaise.

Wate schenkte in unverändertem Tempo ein, er könnte schneller, aber dazu bestand kein Anlass. »Schon wieder da!« Ruth legte der Bierchipskassiererin zwölf Chips auf die Kassa. Diese zählte sie ab und würde sie gleichzeitig mit dem dumpfen Wegheben der Krüge scheppernd in die Holzkasse schieben. Klacken, scheppern, im Weg stehende Leute anschreien. Sie erreichte wieder ihre Tische.

»Wie viel kost’ denn heuer die Maß?«

»Auf den Kollegen musst aufpassen, der prellt gern die Zeche, gell.«

Ein seit Jahrzehnten unveränderter Gästespruch. Ruth, die Schauspielerin, runzelte als Reaktion wie seit fünfundzwanzig Jahren die Stirn und schimpfte routiniert: »Was ist da los?« Alle freuten sich.

»Das passt schon, danke.«

Ruth schnappte sich ihr Tablett aus einem Spalt zwischen zwei Bänken. Sie eilte zur Küchenausgabe und stellte sich bei den Hendln an, schätzte die Wartezeit auf eine halbe Stunde. Etwa zwanzig Kolleginnen waren vor ihr. Sie zündete sich eine Lucky Strike an. Kristina hetzte herbei. »Nimmst mir elf Hendl mit?« Sie steckte ihr einen Zettel zu. In der Box ging alles viel schneller. Bestellung aufnehmen, holen, hinstellen. Das zeitraubende Bezahlen von jedem einzelnen Getränk entfiel. Der Chef zahlte am Ende alles.

»Geh, Zigarette bitte!« Ruth hielt Kristina die Packung hin.

»Bei mir sitzt ein Gschwerl, sag ich dir, heut’ is ein Gschwerl bei mir unterwegs, das halt ich net aus.« Sophie schimpfte vor sich hin. Tanja kam herbei, riss wütend Ruths Tablett aus deren Hand. »Ist das meins?«, schrie sie. »Stell dir vor, mir hat wer den Schlitten gestohlen. Am ersten Tag. Wenn ich die erwische!« Ruth schmerzte der Zeigefinger, den Tanja ihr verbogen hatte.

Sie zeigte auf eine Kerbe im Tablett. »Das ist meiner.«

»Bei mir wollen fünfzig Leute essen«, schnaubte Tanja. »Hat jemand einen Schlitten übrig?«, rief sie in die Gruppe der Bedienungen. Keine Antwort.

»Musst eben auf deine Sachen schauen«, kam es unbarmherzig von Lisa.

»Trotzdem, wenn eine deine Sachen klaut, immer stehst ja nicht dabei!« Sophie freute sich, dass sie ihre Schimpftirade von eben erneuern konnte. Sie echauffierte sich weiter: »Bei dem Gschwerl, das heut unterwegs ist.«

»Achtung!« Maria hatte sich ein Tablett von der Theke auf ihre Schulter gewuchtet. Ein Berg mit achtzehn Tellern und achtzehn Hendln schob sich nun durch das Gedränge. Sie sah mit ihrem geschwollenen Bauch nicht gut aus. Außerdem drehte sie das rechte Knie nach außen.

Ruth erinnerte sich, dass Maria schon im Vorjahr von »Knochenschmerzen« und »Knieproblemen« geredet hatte.

»Vorsicht!« Mit einem heiseren Schrei kämpfte sich Sophie vorbei. Der Tellerturm auf ihrem Tablett schwankte bedenklich. Gina stand jetzt am Ende der Schlange. Sie umklammerte ihr Tablett und kam kurz zu Ruth vor.

»An deinen Tischen schreien die Leute nach Bier, Ruth. Ich weiß nicht, was ich machen soll. Soll ich sie bedienen?«

Große Aufregung erhob sich: »Das geht dich nichts an«, sagte Tanja barsch.

»Du gehst nur in deine Station«, knurrte Lisa.

»Komm niemals an unsere Tische«, warnte Ruth. Gina lachte nervös auf.

Sie versteht es nicht?, dachte Ruth. Ist ja wohl das Einfachste auf der Welt: Jede bedient und kassiert nur an ihren Tischen. Die Provision einer Kollegin abzustauben ist tabu. Was kann man da nicht verstehen?

»Lach nicht so deppert«, fuhr Lisa Gina noch an.

Ein Gast verfolgte das kleine Drama fasziniert und notierte sich sogar etwas auf seinem Notizblock. Er wartete gespannt, was Gina nun sagen würde, machte dann aber nur einen Strich und klappte den Block zu.

Ginas Augen füllten sich mit Tränen, sie schob die Unterlippe vor und flüchtete vom Grill in den Biergarten.

Ruth erinnerte sich an eine Situation vor über zwanzig Jahren, in der sie selbst geweint hatte. Teresa hatte sie deshalb in den Arm genommen und ihr einen Schnaps aus dem Geheimdepot spendiert. Dann hatte sie gebeten, ob Ruth am nächsten Nachmittag ausnahmsweise auch an ihren Tischen verkaufen könne. Sie müsse ja am Nachmittag immer kurz weg.

Zu meiner Prinzessin. Weißt eh, meine Cousine bringt mir immer das Baby zum Stillen.

Ruth kam nicht dazu, diese Erinnerung in die aktuellen Geschehnisse einzuordnen, obwohl sie das vage Gefühl hatte, hier sei etwas ganz dringend einzusortieren.

»Siebzehn Hühne!«, schrie der chinesische Hendlkoch und knallte sie ihr in rasender Geschwindigkeit auf das Tablett. Sie konzentrierte sich darauf, die siebzehn Hühnerteller zu zählen, rasch auf dem Tablett auszurichten, dieses dann irgendwie hoch auf die Schulter zu bekommen und es wegzutragen.

»Vorsicht!«, schrie sie und bewegte sich durch die Menschenmasse, die sich vor ihr teilte und sich hinter ihr wieder schloss.

Erste Station von Ruth war Kristinas Box, dann hinaus in den Garten, ein älterer Herr, der beim Notausgang saß, machte ihr die Tür auf. Ruth erwartete empörte Gäste, die wie wild nach Bier und Essen schrien, immerhin war sie vierzig Minuten nicht im Service gewesen, aber alles war friedlich. Jeder hatte ein Bier. Ruth sah fassungslos zu Gina, die fröhlich an ihren eigenen Tischen Bier verkaufte. Den Mund schon wieder neu geschminkt. Ruth verkaufte die Hendl, eines nach dem anderen. Die Gäste unterhielten sich begeistert, reagierten kaum auf Ruth, es dauerte, bis sie auf ihrem Block rekonstruiert hatte, wer noch etwas bekam, zähes Zahlen.

»Das Bier bringt ja Gott sei Dank die schnelle Kollegin.« In Ruth stieg Wut auf.

»Wie viel kost’ denn heuer das Hendl?«

»Auf den Kollegen musst aufpassen, der prellt gern die Zeche.«

»Was ist da los?«

»Das passt schon. Danke.«

»Ham S’ kein Bier dabei?«

Ruth stand schon wieder bei den Hühnern an, als ihr einfiel, dass sie vergessen hatte, Gina wegen der frischen Biere in ihrem Service zur Rede zu stellen. Dann kam ihr noch das vage Gefühl von vorhin in den Sinn. Sie ärgerte sich, dass es nicht konkreter wurde. Die Warteschlange wurde diesmal rasch kürzer und ließ keine langen Gedankengänge zu. Ruth war schon wieder dran, belud ihr Tablett neu. Und knallte es beim Hochwuchten Maria an den Kopf.