Spin this Heart - Justine Pust - E-Book
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Justine Pust

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Beschreibung

Kann ein Tanz nicht nur das Leben auf den Kopf stellen, sondern auch dein Herz? Von Frauenpower, Selbstfindung – und Poledance »Ich will mich nicht verlieben, ich will nur tanzen.« »Können wir nicht beides?« »Wann bekommt man im Leben schon mal zwei Dinge, die man sich wünscht?« Carmen ist ehrgeizig, zielstrebig und weiß, was sie will. Mit dem Tänzer Tian ist sie sich nur in einer Sache einig: Die wahre Liebe gibt es nicht. Als sie mit ihren Freundinnen Juliette und Brooke an einem Poledance-Kurs teilnimmt und ausgerechnet Tian ihr Lehrer ist, fliegen die Funken. Doch mehr als eine lockere Beziehung lässt der prall gefüllt Terminplan ohnehin nicht zu. Aber kann sich der Verstand gegen den Takt wehren, den das Herz bestimmt? »Eine heiße Geschichte mit einer sexy Lovestory, die Leser zum schwitzen bringt.« ((Leserstimme auf Netgalley))  »Ab an die Stange und unbedingt lesen!.« ((Leserstimme auf Netgalley))   »Viel Gefühl, Humor und Liebe. Ich habe es geliebt. Super!« ((Leserstimme auf Netgalley))  

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Redaktion: Li-Sa Vo Dieu

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Thomas Schlück GmbH.

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: Emily Bähr, www.emilybaehr.de

Covermotiv: Bilder unter Lizenzierung von Shutterstock.com genutzt

Alle Rechte vorbehalten. Unbefugte Nutzungen, wie etwa Vervielfältigung, Verbreitung, Speicherung oder Übertragung können zivil- oder strafrechtlich verfolgt werden.

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Widmung

Playlist

1. You Can Leave Your Hat On

Carmen

2. Money

Carmen

Tian

3. Reggaetón Lento

Carmen

Tian

4. True Disaster (Part of Fairy Dust)

Tian

5. Bachelorette

Carmen

Tian

6. That Don’t Impress Me Much

Carmen

Tian

7. I’ll Be There for You

Carmen

Tian

8. In Pieces

Carmen

9. Worthless

Tian

Carmen

10. Gives You Hell

Tian

Carmen

Carmen

11. I Want It That Way

Tian

Carmen

12. Plastic Hearts

Tian

13. Touch Me (I Want Your Body)

Tian

Carmen

14. Don’t Talk to Me

Carmen

Tian

15. Bailame

Tian

16. Uptown Funk

Tian

17. Sorry

Tian

18. Him & I

Tian

Carmen

19. 24

Tian

20. The Sweet Escape

Tian

21. You Want Me I Want You Baby

Carmen

Tian

22. Another Love

Carmen

23. Bang Bang

Tian

Carmen

24. I’m a Mess

Carmen

Tian

25. Count On Me

Carmen

Tian

26. Stronger

Carmen

Tian

27. Girl

Carmen

28. Gravity

Carmen

Tian

29. Glitter and Gold

Carmen

Tian

30. Happy

Tian

Carmen

31. Listen to Your Heart

Tian

32. Shake It Out

Carmen

Tian

33. Wind Beneath My Wings

Carmen

34. Stary Heart

Carmen

Tian

35. Listen

Tian

Carmen

36. Doesn’t Mean Anything

Carmen

Tian

37. Friendships

Carmen

38. You Broke Me First

Carmen

Tian

39. Set Fire to the Rain

Carmen

Tian

40. Keep Bleeding

Carmen

41. Love Again

Carmen

Tian

42. Viral

Carmen

43. Marry Me

Tian

Carmen

44. This Is Us

Carmen

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Dieses Buch ist für dich.

Jeder glitzernde Moment ist am schönsten, wenn wir ihn teilen können.

Und für dich, liebe Cosima Lang. Mit dir glitzere ich am liebsten.

Playlist

1. You Can Leave Your Hat On – Joe Cocker

2. Money – Pink Floyd

3. Reggaetón Lento – CNCO

4. True Disaster (Part of Fairy Dust) – Tove Lo

5. Bachelorette – Ashe

6. That Don’t Impress Me Much – Shania Twain

7. I’ll Be There for You – The Rembrandts

8. In Pieces – Linkin Park

9. Worthless – Eli.

10. Gives You Hell – The All-American Rejects

11. I Want It That Way – Backstreet Boys

12. Plastic Hearts – Miley Cyrus

13. Touch Me (I Want Your Body) – Samantha Fox

14. Don’t Talk to Me – Tre Coast feat. Lycia Faith

15. Bailame – Nacho

16. Uptown Funk – Mark Ronson

17. Sorry – Justin Bieber

18. Him & I – G-Eazy & Halsey

19. 24 – Jem

20. The Sweet Escape – Gwen Stefani

21. You Want Me I Want You Baby – Dua Lipa, DaBaby

22. Another Love – Tom Odell

23. Bang Bang – Jessie J, Ariana Grande, Nicki Minaj

24. I’m a Mess – Bebe Rexha

25. Count On Me – Bruno Mars

26. Stronger – Britney Spears

27. Girl – Maren Morris

28. Gravity – Sara Bareilles

29. Glitter and Gold – Rebecca Ferguson

30. Happy – Pharrell Williams

31. Listen to Your Heart – Roxette

32. Shake It Out – Florence + The Machine

33. Wind Beneath My Wings – Bette Midler

34. Stary Heart – Miley Cyrus

35. Listen – Beyoncé

36. Doesn’t Mean Anything – Alicia Keys

37. Friendships – Pascal ft. Leony

38. You Broke Me First – Tate McRae

39. Set Fire to the Rain – Adele

40. Keep Bleeding – Leona Lewis

41. Love Again – Dua Lipa

42. Viral – AMARANTHE

43. Marry Me – Jason Derulo

44. This Is Us – Jimmie Allen, Noah Cyrus

1. You Can Leave Your Hat On

Carmen

Genau so habe ich mir diesen Abend vorgestellt.

Meine dunklen Haare schwingen durch die Luft, ein paar Tropfen vom Gin landen auf meinen Fingern, und ich lasse mich gehen, während der wummernde Bass mich wie Watte umhüllt. Das abwechselnd pink-lila Licht schimmert in den Augen meiner besten Freundinnen. Diese Nacht gehört uns. Und das ist das, was zählt.

»Wo ist Brooke?«, rufe ich Juliette zu und wäre ihr fast auf die Füße getreten, als ich mich ihr zu sehr zugeneigt habe, aber zum Glück kann ich mich fangen – einen spitzen High Heel in den Spann gerammt zu bekommen, ist sicherlich nicht angenehm.

»An der Bühne«, schreit Juliette zurück und wirft ihr braunes Haar nach hinten.

Klar, wo soll sie auch sein? Ich nicke und wirble noch einmal herum, bevor ich nach der Hand meiner Freundin greife. Meine Hüften wippen weiter im Takt, während wir uns den Weg zu Brooke durch die Menge bahnen. Vor der Bühne leuchtet ihr heller blonder Zopf abwechselnd blau und pink im Farbspiel der Beleuchtung. Sie sieht uns grinsend an, sagt aber nichts. Vielleicht besser, denn die Wahrscheinlichkeit, dass wir sie in diesem Lärm gehört hätten, liegt irgendwo in Richtung null. Doch wir sind nicht zum Reden hier, sondern dazu, hemmungslos zu feiern.

Einer der vielen Gründe, warum ich die Ladys Night in diesem Laden so sehr liebe, ist die simple Tatsache, dass nur Frauen eingelassen werden. Keine vorgeblich zufälligen Berührungen an meinem Körper, keine ständige Sorge, etwas ins Getränk gemischt zu bekommen und keine unliebsamen Anmachen. Der beste Abend des ganzen Monats. Nur wir und Musik – ja, okay, die Stripshow ist auch ganz nett anzusehen.

Die Musik verstummt. Die flackernden Lichter richten sich allesamt auf die Bühne. Ich muss ein paarmal blinzeln, um mich schneller an das helle Licht zu gewöhnen.

»Und nun freut euch auf zwei heiße Männer, die garantiert jeden Brand löschen«, schallt die Ankündigung durch die Boxen, ehe um mich herum wilder Jubel ausbricht, der mich unwillkürlich zum Grinsen bringt.

Ich mag es, wenn Menschen zeigen, was sie wollen. Und gerade wollen wir alle ein paar heiße Typen, die uns ihre schärfsten Tanzmoves zeigen und unserer Fantasie so richtig einheizen. Ganz ohne Verpflichtungen, ohne Körperkontakt – eine reine Traumvorstellung, die niemandem wehtut oder sich plötzlich zu einer Gefahr entwickelt.

Das Licht wird gedimmt. Künstlicher Nebel wabert auf die lila angestrahlte Bühne, wodurch alles wirkt wie in einem Musikvideo aus den 80er-Jahren. Dann kommen die ersten Takte des Liedes, unterbrochen von den nächsten freudigen Jubelrufen.

Selbst Brooke lässt sich dazu hinreißen mitzujubeln, obwohl wir wissen, dass diese Art der Unterhaltung eigentlich nicht ihr Ding ist. Wahrscheinlich würde sie lieber mit einem Buch auf dem Sofa sitzen, statt hier mit uns vor der Bühne zu stehen. Aber dank der Tatsache, dass ihr Freund einer der Stripper ist, hat sie wahrscheinlich doppelt so viel Spaß wie wir anderen – denn sie bekommt später sicher eine Privatshow. Und ja, ich bin definitiv neidisch.

Zwei Silhouetten sind im lila Nebel zu erkennen. Ich erkenne sie sofort: Nate, die perfekte Schwiegersohnfigur eines Feuerwehrmannes, und Tian, der Badboy, der in der Uniform einen derartig heißen Anblick liefert, dass ich nach Luft schnappe, weil ich mir plötzlich wünsche, er würde das Feuer in mir mit seinem Körper löschen.

Allerdings bleibt mir keine Zeit, lange darüber nachzudenken, denn als die beiden mit den ersten Tanzschritten loslegen, kann ich nicht anders, als ebenfalls zu jubeln. Die beiden Firefighter marschieren im Gleichschritt nach vorn und reißen sich, perfekt abgestimmt zum Song, die schweren Uniformjacken vom Körper, um uns ihre eingeölten Sixpacks zu präsentieren. Bisher war mir nicht bewusst, wie sexy Hosenträger auf nackter Haut aussehen können, aber jetzt wünschte ich mir fast, ebenfalls auf diesem Körper liegen zu dürfen. Ohne dass ich meinen Blick daran hindern könnte, bleibt dieser an Tian hängen. Sein schwarzes Haar fällt ihm in die Augen, deren Farbe in dem flackernden Licht unmöglich auszumachen ist. Doch ich kenne seine Augen, kenne das dunkle Blau und die kleinen braunen Punkte darin. Mein Körper beginnt zu prickeln, und plötzlich kommt es mir ziemlich heiß in diesem Club vor. Nein, sogar noch schlimmer: Tian kommt mir unfassbar heiß vor.

Die feinen Stoppeln auf seiner Wange sind vage zu erkennen, während er das Gesicht in meine Richtung dreht und mich angrinst, als könnte er sehen, wie meine Libido auf den Schwung seiner Hüften reagiert. Langsam verstehe ich, warum Brooke so sehr auf Feuerwehrmänner steht, denn als Nate seinen Kumpel Tian mit Wasser besprüht, als stünde dieser in Flammen, wünsche ich mir auch, bei der Feuerwehr zu arbeiten. Oder in Flammen zu stehen. Oder beides.

Schimmernde Tropfen auf Tians Haut perlen seine definierten Muskeln hinab, bis hinunter zum Bund seiner Hose. Ich nehme einen besonders großen Schluck von meinem Gin Tonic.

Neben mir beginnen alle, nervös von einem Fuß auf den nächsten zu trippeln, nur Juliette betrachtet die Show mit einem spöttischen Grinsen. Eigentlich sollte ich das sein – die mit dem spöttischen Grinsen, der nichts zu nahegeht. Besonders nicht die Stripper.

Tian und Nate klatschen sich ab, recken beide das Kinn vor und vollführen wellenartige Bewegungen, die sie noch mit ihren Händen über den muskulösen Körpern unterstreichen. Als könnte irgendjemand gerade nicht auf ihre Muskeln starren.

Die Hosen fallen. Die letzten Reste der Selbstbeherrschung auch, als die beiden auf den Boden sinken und dort Dinge tun, von denen sich mindestens die Hälfte der Frauen im Saal gerade wünscht, sie würden es mit ihr tun. Ich selbst eingeschlossen. Zu meiner eigenen Überraschung dreht Tian sich plötzlich in meine Richtung, kommt auf mich zu und schlittert auf Knien zu mir, sodass der feuerwehrrote Slip direkt vor meiner Nase wackelt.

»Ist das dein Ernst?«, brumme ich, bin mir aber nicht sicher, ob er mich überhaupt gehört hat. Sein Grinsen jedoch verrät mir, dass er zumindest bemerkt hat, dass ich unter meinem fein säuberlich aufgetragenen Make-up rot werde.

Er beugt sich etwas näher zu mir. In meinen Ohren rauscht es. Ich starre auf seine Lippen, ohne es verhindern zu können, während die Welt um mich herum für ein paar Herzschläge wie durch eine Zeitlupe läuft. Hitze flammt durch meine Adern, und in meinen Kopf drängt sich der Wunsch, seine Haut auf meiner zu spüren. Doch gerade als er kurz davor ist, mich zu berühren, endet das Lied. Mit einem Zwinkern erhebt er sich, nimmt den tosenden Applaus entgegen und verschwindet mit Nate wieder von der Bühne.

»Die zwei werden immer besser«, schwärmt Brooke, nachdem sich die Menge von der Bühne gelöst hat, sodass wir nur noch zu dritt hier stehen.

»Na ja, sie sind nicht übel«, antworte ich mit einem Achselzucken, um mir möglichst nicht anmerken zu lassen, dass ich besser mein Höschen wechseln sollte. Bei jedem anderen Stripper wäre mir das egal, aber nicht bei Tian. Unter gar keinen Umständen gehören solche Gefühle in den Freundeskreis. Oder in die kräftigen und doch sanften Hände, dieses unverschämt gut aussehenden Tänzers mit dem einnehmenden Lächeln, das es immer wieder schafft, mich wütend zu machen.

Juliette lässt ihre Augenbrauen anzüglich wackeln. »Du hast ausgesehen, als hätte es dir gefallen.«

Ich verdrehe die Augen, bevor ich auf meinem Handy die neuesten Nachrichten durchgehe, um mich abzulenken. Leider ist die Antwort, auf die ich am meisten warte, wie üblich nicht dabei.

»Carmen ist nur zu stolz, um zuzugeben, dass die beiden echt der Hammer sind«, meint Brooke neckend, was mich dazu bringt, den Blick wieder von dem Bildschirm zu heben. »Zwei heiße Männer, die sich tanzend ausziehen? Natürlich hat es mir gefallen, aber ich habe schon bessere Shows gesehen.«

»Hast du nicht.«

Ich presse dezent genervt die Lippen aufeinander und drehe mich zu Tian um, der zusammen mit Nate aus einem der hinteren Zimmer kommt. So schnell hatte ich die beiden nicht zurückerwartet, aber offenbar sind sie inzwischen schneller im Umziehen als jedes Model auf der Fashion Week. Er trägt Hoodie und Jeans, doch leider habe ich die Erinnerung von ihm im String noch sehr klar und deutlich vor Augen.

Blinzelnd verdränge ich das Bild und schwinge meine Haare abfällig nach hinten. »Honey, ich habe schon Shows auf der ganzen Welt gesehen.«

»Möglich …« Er fährt sich durch die dichten schwarzen Haare und grinst mich an. »Aber du bist rot geworden.«

»Nein, das war nur die Reflexion deines eingeölten Körpers. Ein roter String? Wirklich?«

»Eine der wichtigsten Regeln beim Strippen ist, sich nicht zu ernst zu nehmen, aber wir wissen ja, dass das nicht deine Stärke ist«, kontert er, was mich wieder daran erinnert, warum sich bei diesem scheinbar unwiderstehlichen Lächeln mein Puls erhöht.

»Bisher hat sich niemand beschwert, wenn ich strippe.«

Tian beugt sich etwas dichter zu mir. »Du hast es bisher sicherlich auch nicht vor einem Profi getan.«

»Willst du damit sagen, mein Publikum war genauso einfach zu beeindrucken wie deines?«

»Sag du es mir: Wie beeindruckt warst du, Carmen?«

»Könnt ihr nicht mal eine Sekunde zusammen in einem Raum sein, ohne euch zu zanken?«, will Brooke wissen und zieht Nate zu sich, der ebenfalls hinter mir aufgetaucht ist.

»Offenbar klappt das nur, wenn ich halb nackt bin«, gibt Tian unbekümmert zurück, und ich will ihm gerade eine passende Antwort darauf geben, als jemand gegen mich stolpert und ich einen Martini ins Dekolleté bekomme. Da die meisten anderen Gäste gerade dabei sind, die Bar zu stürmen und sich auf der Tanzfläche in kleinen Grüppchen zu verteilen, habe ich die junge Frau nicht kommen sehen. Und sie mich offensichtlich auch nicht.

»Verfluchte …«

»Oh, tut mir leid«, entschuldigt sie sich sofort und fummelt in ihrer kleinen roten Handtasche nach einem Taschentuch. »Ich bin so ungeschickt, ich hätte hinter mich schauen sollen.«

»Schon okay«, presse ich hervor. Mit ihrem Taschentuch tupfe ich mir über den Seidenstoff. »Das kann passieren.«

»Offenbar war ich von der Show noch etwas abgelenkt«, nuschelt sie, doch statt mich anzusehen, fixiert sie Tian. Das Lächeln in ihrem Gesicht wird breiter, als würde sie hoffen, ihr Strahlen könnte auch ihn erreichen.

War ja klar. Ich verdrehe genervt die Augen, versuche aber, es nicht an ihr oder ihren Hormonen auszulassen. Sie weiß ja nicht, was für ein unausstehlicher Besserwisser er ist.

»Ich mache gerade Feierabend«, erklärt Tian und lächelt sanft, nur um gleichzeitig etwas von der Unbekannten abzurücken. »Nate, bist du so weit?«

Das Lächeln und das erwartungsvolle Glitzern im Gesicht der Unbekannten erlöschen ebenso schnell, wie sie gekommen sind. Sie schluckt, als müsste sie ihre Enttäuschung herunterwürgen, doch dann wird sie von etwas anderem abgelenkt. Ihr Blick bleibt an Juliette hängen, und ihre Augenbrauen ziehen sich fragend zusammen. »Hey, bist du nicht das Marry-yourself-Girl?«

»Nein«, presst Juliette hervor.

Sie versucht, ihre Haltung zu bewahren, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie tatsächlich die Frau aus dem Video ist, das viral gegangen ist. Aber ihre blassen Wangen färben sich vor Scham rot.

Wir alle reagieren wie die letzten Male, als das passiert ist. Als fremde Leute sie zu erkennen geglaubt und angesprochen haben. Und in den letzten Wochen, seit der geplatzten Hochzeit, ist es verdammt oft passiert. Wir bilden einen Kreis um sie herum, schützen sie vor den Blicken, und ich setze mein nettestes falsches Lächeln auf. »Ich bin sicher, du brauchst einen neuen Martini, deiner läuft ja gerade durch mein Kleid.«

Die Remplerin reckt sich noch einmal, um über meine Schulter zu Juliette zu sehen, nickt dann aber, als habe sie verstanden. »Okay, noch mal sorry wegen deines Kleides.«

»Schon okay, es kostet ja nur ein kleines Vermögen«, gebe ich etwas spitzer zurück, als es meine Absicht war. Aber immerhin geht sie, sodass ich mich zu unserer Gruppe herumdrehen kann.

»Wird das je aufhören?«, murmelt Juliette und schließt kurz die Augen.

»Die Klicks steigen täglich«, entkommt es mir, ehe ich mich daran hindern kann. Insgeheim bin ich stolz auf sie, aber es ist nicht gerade der rechte Zeitpunkt, das zu sagen.

»Das war nicht das, was ich hören wollte«, bestätigt sie meine Gedanken.

»Lasst uns einfach nach Hause gehen«, sagt Brooke versöhnlich und nimmt Juliette in die Arme. Im unausgesprochenen Konsens schieben sich die anderen ebenfalls in Richtung Ausgang.

»Wie, ihr geht jetzt alle?«, frage ich, während der Martini sich langsam unter meinem Kleid ausbreitet. Mein Blick huscht zu den Toiletten. Die Hitze auf meinen Wangen wird noch stärker unter Tians Blick. Aber meine gute Laune hat damit auf jeden Fall einen Dämpfer bekommen. Ich habe gehofft, mich heute etwas abzulenken, doch ich spüre schon jetzt, dass es mir nicht mehr gelingen wird.

»Ich muss morgen ins Museum«, erklärt Brooke.

»Und ich hab Bereitschaft«, sagt Nate.

Juliette zuckt mit den Schultern. »Das Marry-yourself-Girl will jetzt heulen und Eis essen.«

»Na schön«, gebe ich mich geschlagen. Dann findet diese Partynacht eben ohne uns statt, und ich mache mich zu Hause sauber. »Ich ruf meinen Fahrer an.«

2. Money

Carmen

»Und hiermit frage ich dich, Juliette Campbell: Nimmst du dich selbst zur Braut?«

Das Video zoomt auf Juliettes Gesicht. Ich kann sehen, wie sie schluckt, doch dann erinnert sie sich daran, dass sie selbst eine Königin ist und keinen Prinzen an ihrer Seite braucht.

Unwillkürlich muss ich grinsen. Auch wenn ich mir das Video schon mindestens hundertmal angesehen habe, berührt es mich immer noch auf gleiche Weise. Juliette ist zwar ein bisschen dramatisch, aber sie hat das Herz am rechten Fleck, und zu sehen, wie sie ihren größten Schmerz in etwas derartig Starkes verwandelt, ist irgendwie inspirierend. Sie hat sich kurzerhand selbst geheiratet statt den Mann, der sie an ihrem Hochzeitstag in einer Limousine betrogen hat. Und das feiere nicht nur ich, sondern anhand der Daumen auch gut eine Million andere Menschen.

Die Sekretärin meines Dads kommt aus seinem Büro. Bevor sie mich ansprechen kann, springe ich beschwingt von dem Stuhl im Vorzimmer auf. Meine Schuhe klackern über den hellen Steinboden und spiegeln sich in den großen goldenen Übertöpfen der Palmen. Im Inneren des Büros sitzt mein Vater an dem großen schwarzen Schreibtisch, die Dokumente vor sich in ordentlichen Stapeln aufgetürmt und seinen Tacker in der Hand.

Etwas irritiert legt er diesen weg, als er mich ansieht. Ich stürme hinein. Vielleicht hätte ich doch noch etwas länger warten sollen, aber ich will ihn überrumpeln.

»Muss das sein?«, stöhnt er zur Begrüßung.

»Komm schon, Dad!«, sage ich mit einem breiten Grinsen. »Ich würde dich nicht stören, wenn ich nicht gute Nachrichten für dich hätte.«

Er fährt sich durch die schwarzen Haare, durch die sich bereits einige graue Strähnen ziehen. Sein Gesichtsausdruck wird etwas weicher, lässt mich hinter seine Boss-Fassade schauen. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber meist reicht mir das schon aus. »Dann lass mal hören.«

»Du könntest auch raten«, biete ich an.

»Carmen, ich bin beschäftigt. Jetzt sag schon, weswegen du hier bist.«

»Vielleicht bessert sich deine Laune, wenn ich dir sage, dass ich gerade von einem Treffen mit Martin Cullen komme«, verkünde ich stolz.

Mein Stiefvater und ich ähneln uns in einigen Punkten, auch wenn er biologisch betrachtet keinen Einfluss gehabt hat, habe ich das meiste von ihm gelernt. Auf die eine oder andere Art. Jetzt schwankt er zwischen Unglauben und vielleicht etwas Bewunderung, zumindest rede ich mir das ein, damit mein Ego nicht leidet.

Die Augen meines Vaters blitzen auf. »Ist das dein Ernst?«

Meine Lippen verziehen sich zu einem Grinsen, von dem ich sehr gut weiß, dass es einen Tick überheblich wirkt. »Ja, Dad. Das ist mein Ernst.«

»Der Martin Cullen?«

»Genau der«, bestätige ich und kann nicht verhindern, dass ich vor Stolz am liebsten platzen würde. Jeder, der mit Immobilien zu tun hat, wünscht sich diesen Deal, und ich werde ihn bekommen. Weil ich die Beste bin – und sobald ich diesen Deal eingetütet habe, wird mein Dad das auch endlich verstehen.

»Ihr wart essen?«

Ich nicke. »Lunch. Und nächste Woche zeige ich ihm die ersten Grundstücke, die infrage kommen«, erkläre ich, wobei ich darauf achte, möglichst gelassen zu wirken. Die kühle Fassade ist zum Beispiel eins der Dinge, die er mir beigebracht hat.

Sich immer kontrolliert geben, immer alle Zügel in der Hand halten und einen Plan in der Hinterhand.

Sein Blick huscht über mein Outfit. »Du warst mit ihm in diesem Kleid zum Lunch?«

Etwas ertappt blicke ich an mir herunter. Das schwarze Kleid ist schlicht, aber sitzt wie eine zweite Haut und zeigt durch den runden Ausschnitt den Ansatz meiner großen Brüste. Offenbar sind diese meinem Stiefvater allerdings etwas zu präsent. Eine Meinung, der ich nicht zustimme. Wenn mir die Leute weniger zutrauen, weil ich sexy Klamotten trage, ist es deren Problem, nicht meins. Und ich muss mir immer wieder ins Gedächtnis rufen, dass mich mein Vater nicht von dieser Einstellung abbringen wird.

»Könnten wir uns darauf konzentrieren, dass ich uns die Cullens an Land gezogen habe?«

Die dunklen Augen verengen sich. »Brauchst du ein Team?«

Es wäre so einfach Ja zu sagen, aber den einfachen Weg habe ich noch nie gewählt. Besonders nicht, wenn dieser Deal meine Eintrittskarte in die obere Etage der Firma werden soll. »Nein, ich schaff das allein.«

Er runzelt die Stirn. »Bist du sicher?«

»Ja, Dad.«

»Dieser Deal wäre für die Firma wirklich …«

»… das weiß ich, und darum werde ich auch dafür sorgen, dass wir ihn bekommen«, kontere ich. Am liebsten würde ich ihm alles an den Kopf werfen, was mir schon seit Wochen – ach, was red ich, seit Monaten – durch den eigenen kreist. Aber ich halte mich zurück, konzentriere mich auf das, was es bedeutet, wenn ich diesen Deal wirklich bekomme: eine Menge Geld, die Chefetage der Firma und die einzige Anerkennung, nach der ich mein Leben lang strebe.

Nickend lehnt er sich auf seinem Stuhl zurück. »Gut.«

Meine Augenbrauen ziehen sich zusammen. »Gut?«

»Was möchtest du denn hören, Carmen?«, wehrt mein Dad gelassen ab. Zu gelassen. Es treibt mich an den Rand eines Wutanfalls, dass er mich mit diesem überlegenen Blick mustert, als hätte ich nicht etwas mehr verdient. Aber das habe ich. In den letzten Jahren, seit meinem Abschluss, habe ich mich an die Spitze gearbeitet. Ich bin verdammt noch einmal die Beste in diesem Beruf. Niemand verkauft so gut, so schnell und so teuer wie ich.

»Wie wäre es mit einem ›gut gemacht‹?«

Er legt den Kopf schief. »Als Vater bin ich natürlich stolz darauf, wie weit es mein Mädchen geschafft hat. Aber hier und jetzt bin ich dein Boss, ich erwarte, dass du deinen Job gut machst. Was anderes kommt in meiner Firma nicht infrage.«

»Es ist ein Megadeal …«

»… den du noch nicht sicher hast«, unterbricht mich mein Vater.

»Noch nicht. Es ist nur eine Frage der Zeit. Und wenn ich schon mal hier bin, könnten wir auch noch mal über eine Beförderung reden«, versuche ich, betont ruhig zu sagen. Nicht zu viel Druck. Nicht zu viel Hoffnung.

»Wieso willst du das überhaupt? Du bist nicht darauf angewiesen zu arbeiten.«

»Oh, schon klar …« Ich senke meine Stimme, aber nicht weil ich nachgebe, sondern weil ich wirklich wütend bin. »Dir wäre es also lieber, ich würde mich zuerst vollkommen von dir abhängig machen, um mich dann an den nächstbesten Mann mit Heiratsabsichten ranzumachen. Damit ich am Ende glücklich und zufrieden von ihm und seinem Geld abhängig bin.«

Mein Vater stöhnt. Er nimmt seine Lesebrille ab, reibt sich über seine Augen und schüttelt den Kopf, als würde ich ihm den letzten Nerv rauben. Was ich wahrscheinlich auch tue. Ich versuche, irgendwie das Gleichgewicht zu halten zwischen meiner Rolle als Tochter, diesem Job und meinen Wünschen. Dass ich mich immer wieder aufs Neue beweisen muss, kratzt an meinem Ego und bringt mich in eine Spirale. Allen Erwartungen gleichzeitig standzuhalten, wäre mir nicht einmal dann möglich, wenn ich es wollte. Und scheiße, Gott weiß, ich versuche es. Viel zu sehr.

»Ich will nur das Beste für dich, eine Familie. Die Ehe ist etwas Heiliges.«

»Und mir ist mein Job heilig«, gebe ich zurück, mache einen Schritt auf ihn zu und stütze mich mit beiden Händen auf dem Schreibtisch ab, um ihm genau in die Augen zu sehen. »Diese Firma ist mir heilig. Unser Sitz hier in Chicago ist mir heilig. Und ich verkaufe mehr Häuser als jeder andere.«

»Wenn du den Verkauf so magst, warum willst du dann überhaupt in den Vorstand?«, fragt er.

»Ich will dem Namen unserer Familie und dieser Firma Ehre machen – durch etwas, das ich erreicht habe. Wenn ich den Deal mit den Cullens bekomme, wirst du vielleicht auch sehen, dass ich es verdient habe, in die Leitung zu gehen.«

»Du musst mir nichts beweisen.« Er verschränkt die Finger ineinander und sieht mich abwartend, wenn nicht schon herausfordernd an.

Doch das muss ich, liegt mir auf der Zunge. Aber das darf ich auf keinen Fall aussprechen. Gerade hat er mir noch klargemacht, dass »gut« das Minimum ist, um in seiner Firma zu sein.

Da ich wohl zu lange geschwiegen habe, entkommt ihm erneut ein Seufzen. Diesmal ein mitleidiges. »Ach, Carmen. Du machst deine Arbeit doch toll. Ich verstehe nicht, wieso du den Sitz in Chicago leiten willst. Warum die Leitung, wenn der Verkauf doch bereits deine Königsdisziplin ist? Ich weiß, das Gras auf der anderen Seite sieht immer grüner aus. Aber sei mal realistisch – die Sterne, nach denen du greifen willst, existieren nicht.« Und mit jedem Satz, den mein Vater spricht, sticht eine unsichtbare Nadel in mein Herz.

Versteinert starre ich ihn an und fühle mich noch unfähiger, weil ich einfach nichts erwidern kann. Und ihm erst recht nicht zeigen kann, wer ich bin.

Mein Vater reibt sich über die Schläfen. »Ich will mich nicht mit dir streiten.«

»Das will ich auch nicht«, gebe ich zu. »Aber ich will eine Chance. Wenn ich den Cullen-Deal bekomme, dann …«

»Wenn du ihn bekommst, können wir das Gespräch fortsetzen. Aber bis es so weit ist, will ich dieses Thema nicht mehr ausdiskutieren müssen.« Noch ehe die letzte Silbe seines Satzes verklingt, weiß ich, dass ich diese Schlacht verloren habe. Schon wieder.

Ich komme mir vor wie in einem andauernden Wettlauf. Nur dass, jedes Mal wenn ich glaube, das Ziel zu sehen, es wieder in die Entfernung rückt.

Dabei hasse ich es zu verlieren.

Bin ich wirklich so eine Träumerin, nur weil ich mir wünsche, im Vorstand zu sitzen? Den Firmensitz in Chicago zu leiten? Ist es so absurd, dass ich davon viel mehr träume, als von einer Familie Kindern und was sonst noch so in das konservative Bild gehört?

»Ziehst du mich in Erwägung, wenn ich unserer Firma den Deal verschaffe?«

Mein Vater erwidert nichts, sieht mich nur mit seinen dunklen Augen an, die mich viel zu sehr an meine eigenen erinnern. Wir sind uns so ähnlich. Wenn wir etwas wollen, dann beißen wir uns daran fest – ohne Rücksicht auf Verluste, ohne Gnade. Nicht einmal uns selbst gegenüber.

Das Telefon klingelt und verhindert die Fortsetzung unseres Gesprächs. Der schrille Ton scheint die Kluft zwischen uns noch weiter zu vergrößern, und mein Dad macht es nicht gerade besser, indem er rangeht.

Ich schlucke meinen Stolz herunter. Und gehe.

Viel mehr bleibt mir auch nicht übrig. Also setze ich die große dunkle Sonnenbrille auf, um meine Emotionen zu verstecken. In meiner Welt würde ein enttäuschter Ausdruck reichen, damit mein Vater sich bestätigt fühlt. Damit er denkt, dass ich zu unreif bin, um seine rechte Hand zu werden. Zu gefühlsgeladen, zu sehr das kleine Mädchen und zu wenig Mann und Stammhalter, den er sich eigentlich wünscht.

Ohne mir etwas anmerken zu lassen, schreite ich aus seinem Büro. Vorbei an den übergroßen Palmen in den goldenen Töpfen. Seine Sekretärin, Maria, sieht mich mit dem strahlenden Lächeln eines Menschen an, der noch daran glaubt, dass sich harte Arbeit lohnt. »Wie lief es?«

Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Wie immer.«

»Tut mir leid.«

Maria beugt sich wieder über den Stapel Papiere, die sie für die nächste Präsentation zusammentackert. Ich kann meinem Vater noch so oft erklären, dass es vollkommen ausreicht, dass alle die Präsentation via Mail erhalten. Und die arme Maria schneidet sich die Finger an den Dutzenden Papierstapeln wund. Ich würde ihren Job nicht einmal vierundzwanzig Stunden durchhalten. Wir haben es beide schwer, den Erwartungen meines Vaters gerecht zu werden.

»Einen schönen Tag noch, Carmen«, ruft sie mir hinterher. Früher mochte ich es, wie es nachhallte, wenn ich mit meinen hohen Pumps über den auf Hochglanz polierten weißen Marmor schritt. Ich fühlte mich erwachsen und wichtig. Heute erkenne ich, dass das ganze Gebäude die Aura meines Vaters hat. Kalt und distanziert. Stolz und einladend, doch es schwingt immer ein Aber mit.

»Dir auch, Maria«, brumme ich, obwohl ich mir nicht sicher bin, ob sie mich gehört hat.

Im Aufzug erlaube ich mir die drei Stockwerke bis zum Parkdeck, um den Kopf hängen zu lassen.

Alles, was ich will, ist, dass er stolz auf mich ist. Stolz genug, damit ich in seine Fußstapfen treten kann. Aber inzwischen habe ich so oft versucht, ihn davon zu überzeugen, was ich kann. Ich bin gut im Verkauf, aber ich kann mehr als nur Häuser und Grundstücke unter die Leute bringen und Akten ordnen. Er scheint es nicht zu sehen, und je öfter er seine Zweifel an mir zeigt, desto stärker werden meine eigenen.

Und da ist er. Der Gedanke, den ich unbedingt von mir fernhalten möchte, aber doch nicht verhindern kann, dass er in meinem Kopf umhergeistert: Was, wenn er nicht stolz auf mich sein kann, weil es nicht sein Blut ist, dass durch meine Adern fließt? Was, wenn die simple Tatsache, dass er mein Stiefvater ist, es unmöglich macht, dass er mich auf die gleiche Art liebt, wie ich ihn?

Die Türen des Fahrstuhls gleiten auf, und ich schiebe mir die Sonnenbrille höher auf die Nase, obwohl das Wetter in Chicago sich nur in einem tristen Grau zeigt.

Die schwarze Limousine fährt vor, und mein Fahrer Charlie grinst mich an, so wie er es immer tut und wahrscheinlich schon mein Leben lang getan hat. Ein warmes Lächeln, kleine Falten rings um seine Augen, die mir das Gefühl geben, ein Stückchen Zuhause vor mir zu haben. Etwas Sicherheit.

Das Gegenteil des Gefühls, dass mein Vater mir gibt.

Ich schiebe den Gedanken zur Seite, bis ich im Wagen bin. Mein Fahrer sitzt bereits am Steuer und zieht sich die schwarze Schirmmütze auf.

»Wohin, Miss Rodriguez?«

»Lass mich nur kurz telefonieren, Charlie«, gebe ich zurück und ziehe das Handy aus meiner Handtasche. Was ich jetzt brauche, sind meine Freundinnen, die mir sagen, dass ich meinen Vater noch von meinen Fähigkeiten überzeugen und seine Anerkennung bekommen kann. Und ein guter Drink könnte sicher auch nicht schaden. Zu meiner eigenen Verblüffung geht Brooke sofort dran, kaum dass ich ihre Nummer gewählt habe.

»Carmen! Ich wollte dich gerade anrufen.« Ihre Stimme klingt zittrig.

»Ach ja?«, gebe ich perplex zurück, ohne verhindern zu können, dass mein Herzschlag schneller wird. Brooke ist von uns allen die ruhigste, wenn man nicht gerade versucht, sie dazu zu bringen, sich durch den Feierabendverkehr von Chicago zu schlängeln. Jetzt hört sie sich an, als würde sie in der Rushhour eine Eillieferung fahren müssen.

Ich höre, wie sie tief einatmet. Alarmiert rutsche ich auf dem weichen Ledersitz nach vorne. »Was ist los?«

»Wir haben ein Problem«, beginnt Brooke, nun etwas leiser, als würde jemand mithören. Im Hintergrund kann ich leises Weinen hören, und alles in mir zieht sich zusammen. »Es geht um Juliette …«

Mehr Infos brauche ich nicht. Mir reicht es zu wissen, dass es einer meiner Freundinnen schlecht geht. Und wenn Brooke zusätzlich nicht mal aussprechen kann, was es ist, muss es etwas sehr Schlimmes sein. Ich muss zu ihnen. Entschieden nicke ich. »Wo seid ihr?«

»Bei mir.«

»Ich bin in zwanzig Minuten da.«

Ich muss Charlie nicht sagen, wohin es geht, er fährt mich direkt zu Brooke.

»Was ist los?«, will ich atemlos wissen, als ich nach zehn Stockwerken oben bei der Wohnung angekommen bin. Die geschwungenen Treppen machen sich zwar in Instagram-Storys gut, sind aber auf meinen High Heels echte Killer.

Brooke steht im Türrahmen und sieht mich mit einem tiefverzweifelten Blick an, der dafür sorgt, dass ich den Schmerz in meinen Füßen für einen Moment vergesse.

»Wo ist sie? Wie gehts ihr? Was ist passiert?« Meine panischen Worte sprudeln über meine Lippen. Jetzt zählen nur wir drei. Nichts anderes.

»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll …« Brooke reibt sich über ihre Arme.

»Wie schlimm ist es?«, frage ich, um die Lage zumindest ein bisschen einschätzen zu können.

»Schlimmer als ihre Hochzeit.«

Mein Mund klappt auf. »Du verarschst mich.«

Nichts kann schlimmer sein als diese Hochzeit. Oder besser das, was es mit ihr gemacht hat. Die Selbstzweifel, die sie völlig vereinnahmt haben, bis sie nichts mehr essen konnte und es Stunden an Überzeugungsarbeit gekostet hat, damit sie auch nur zum Duschen vom Bett aufsteht. In dem Moment, als sie sich selbst geheiratet hat, war ich so unfassbar stolz auf sie – doch danach hat sie sich in ein tiefes Loch fallen lassen. Obwohl die ganze Welt gesehen hat, was für eine toughe, starke Person sie ist, die sich für die Selbstliebe entschieden hat, hat sie selbst genau das nicht erkennen können. Egal, wie viele Likes und Kommentare dazu gekommen sind. Egal, wie viele Menschen sie inspiriert hat. Ich wünschte so sehr, sie könnte sehen, was wir in ihr sehen.

Juliette hat, schon seit ich denken kann, einen Hang zum Dramatischen. Manchmal ist dieser Zug ihrer Persönlichkeit sehr unterhaltsam, manchmal anstrengend, und manchmal weiß ich beim besten Willen nicht, was ich davon halten soll. Heute ist es Letzteres.

Als ich das Wohnzimmer betrete, sehe ich Juliette zusammengerollt auf dem knallpinken Teppich. Bei Gelegenheit werde ich ihr sagen, dass rosa Glitzerleggins nicht mehr angesagt sind, doch im Moment ist ihr Weinen viel zu herzzerreißend, als dass ich etwas anderes tun könnte, als mich neben ihr auf den Boden zu hocken. Ich streiche ihr das braune Haar aus dem Gesicht. »Hey, Liebes.«

Daraufhin wird ihr Weinen nur noch lauter. Sie robbt dichter zu mir und legt ihren Kopf auf meinen Schenkeln ab, während ich ihr weiter durch die Haare streiche. Brooke setzt sich auf die andere Seite.

Ein paar Minuten sitzen wir nur da, warten darauf, dass unsere Freundin sich beruhigt, trocknen Tränen und sind da, wie wir es immer sind. Egal, wer von uns dreien am Boden liegt, die anderen beiden legen sich dazu und helfen einem, wieder auf die Füße zu kommen. Irgendwann richtet Juliette sich auf. Die Haare stehen zu allen Seiten, aber ihre Tränen sind getrocknet, und sie scheint ihre Stimme wiedergefunden zu haben.

»Es ist …«

»Tom?«, frage ich, wohl wissend, dass ihr Ex-Verlobter einer der wenigen Menschen auf dieser Welt ist, der sie stark genug verletzen kann, damit sie sich so zusammenrollt.

Sie schüttelt zögerlich den Kopf. »Nein. Schlimmer.«

Irritiert blicke ich zu Brooke. Die schaltet offenbar schneller als ich, denn sie drückt Juliette sachte an sich, damit diese endlich antwortet.

»Daddy …« Ihre vom Weinen raue Stimme bricht, und ich stoße ein langes Seufzen aus. Väter können manchmal schon ziemlich anstrengend sein.

Ich kann sehr gut verstehen, wie es sich anfühlt, wenn man ständig das Gefühl bekommt, niemals genug für den eigenen Vater zu sein. Daher sage ich nichts, sondern halte ihre Hand, warte, bis sie die Worte findet, um mir mitzuteilen, was passiert ist.

Sie schluckt. In ihrem Blick flackert ein Hauch von Schuldgefühl auf, während sie auf unsere Hände schaut. »Du erinnerst dich an mein Wirtschaftsstudium?«

»Du meinst die Vorlesungen, zu denen du nie gehst?«, gebe ich zurück und beiße mir auf die Zunge, da ich mir sicher bin, ich hätte es auch gefühlvoller formulieren können.

Meine Freundin zwingt sich dazu, mir in die Augen zu sehen. »Nun, der Uni ist offenbar aufgefallen, dass ich ein paar Abgaben nicht eingehalten habe …«

Brooke und ich wechseln kurze Blicke – und langsam dämmert mir, was hier los ist. Ich räuspere mich, bevor ich mir die schwarzen Haare aus dem Nacken streiche. »Ist das deine Art zu sagen, dass du exmatrikuliert wurdest, obwohl deine Familie Geld wie Heu hat?«

Eine filmreife einzelne Träne läuft über Juliettes Wange. »Ja.«

Meine formschönen Flüche in Anbetracht dieser Situation schlucke ich herunter. Und wenn ich ehrlich bin, haben wir das kommen sehen. Juliette hat ihr Studium nur begonnen, weil ihre Eltern es verlangt haben. Ihrer Familie gehört die führende Schönheitsklinik im Bundesstaat. Ihr Vater ist nicht nur stolz auf sein Geld, sondern auch auf seine Arbeit und die damit verbundene Bildung. Und dieser Stolz hatte zur Folge, dass meine Freundin in der Highschool bei jeder B-Note Angst gehabt hat, nach Hause zu kommen und es zu beichten. Der Druck ihrer Familie war groß genug, um ihr Selbstbewusstsein völlig zu demolieren. Etwas, das ich viel zu gut kenne, auch wenn ich es besser verstecken kann. Sachte drücke ich ihre Hand.

»Und du hast es deinem Vater gesagt?«, frage ich.

Ihr Blick wird noch einen Ticken wehleidiger. »Schlimmer. Er hat es mir gesagt.«

Das ist nicht gut.

Wirklich nicht.

Sie hat es also nicht einmal selbst beichten können, sondern auch noch die Erniedrigung einstecken müssen, dass ihr Vater ihr klarmacht, dass sie es nicht geschafft hat. Ich mag mir nicht einmal ausmalen, wie enttäuscht er gewesen sein muss. Und wie wütend.

»Was hat er dann gesagt?«

»Es kam so unerwartet …«

»Das hat er gesagt?«

»Nein, dass er das Thema angesprochen hat.«

»Himmel, Herzchen, jetzt lass dir nicht alles aus deiner hübschen Nase ziehen. Jetzt mal Schritt für Schritt: Was ist genau zwischen euch passiert?«

Juliette wischt sich über die laufende Nase. »Ich … Also, ich hab ihm gesagt, dass ich nicht weiterstudieren will. Und daraufhin hat er gesagt, dass er mich nicht weiterfinanzieren will. Und dann … bin ich gegangen.«

Ein Moment der Stille folgt, in dem ich meine Gedanken sortiere, aber noch immer nicht erkennen kann, warum Juliette am Rand eines Zusammenbruchs ist. »Das ist alles?«

Juliette sieht mich an. »Nein, du verstehst nicht: Dieses Mal meint er es ernst.«

Etwas in ihrem Blick, ihrer Stimme und der Art, wie sie diese Sache als absolut und entschieden zu sehen scheint, bringt mich dazu, ihr fast zu glauben. Aber nur fast, weil wir dieses Thema schon öfter hatten.

Ich atme einmal tief durch, bevor ich erneut nachhake. »Wie ernst?«

Sie reibt sich über die Stirn, kneift die Lippen zusammen und schließt die Augen. »Ausgetauschte-Schlösser-und-gesperrte-Kreditkarten-ernst.«

Das habe ich nicht kommen sehen. Obwohl, eigentlich habe ich es kommen sehen, aber nicht jetzt. Und nicht so plötzlich. Den Geldhahn abzudrehen, ist eine Sache, aber ihr auch gleich die eigene Wohnung zu nehmen? So etwas würde mein Vater nie tun.

Schreien. Ja.

Toben. O ja.

Mir drohen, mir den Luxus zu nehmen. Alles schon passiert. Aber nicht meine Wohnung, nicht mein Heim. Oder meine Sicherheit.

Ihre Augen füllen sich wieder mit Tränen. »Ich habe nicht mehr als das, was ich anhabe.«

»Und das kannst du unmöglich anlassen«, entfährt es mir.

»Carmen«, schnaubt Brooke, auch wenn ich das feine Grinsen auf ihren Gesichtszügen sehe. Sie findet die Leggins genauso schrecklich wie ich.

»Okay, eins nach dem anderen«, meine ich. Wenn ich etwas gut kann, dann ist es, Fakten zu ordnen und zu sortieren. »Lass uns die Situation mal rational durchgehen.«

»Ich bin gerade nicht in der Lage zu denken.«

»Doch, das bist du. Hoch mit dir«, sage ich bestimmt und ziehe Juliette auf die Füße. Wir kennen uns zu lange, als dass sie mit dieser Trotzreaktion bei mir durchkommt. Brooke steht ebenfalls auf und schiebt Juliette hinter mir her in die kleine offene Küche mit der frei stehenden Kochinsel, vor der sich zwei Barhocker befinden.

Während ich den Kühlschrank öffne und eine Flasche Wasser heraushole, frage ich: »Was hast du auf dem Konto?«

Sie zuckt mit den Schultern. »Keine Ahnung.«

Mit hochgezogenen Augenbrauen sehe ich sie an und schiebe ihr die Flasche hinüber. »Keine Ahnung?«

»Meine Miete hat Dad gezahlt, die Studiengebühren auch, und ich …« Sie presst kurz die Lippen aufeinander. »Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich den PIN meiner Kreditkarte noch kenne.«

Langsam bekomme ich Kopfschmerzen. »Juliette, im Ernst. Warum hast du nicht eher mit uns darüber gesprochen?«

Sie verschränkt die Arme vor der Brust. »Ich brauche jetzt wirklich keine Ansprache von dir, in der du mir sagst, dass ich mich nicht von jemandem abhängig machen darf.«

»Es geht auch nicht darum, dir die Schuld zu geben«, wirft Brooke ein und sieht mich mit diesem Blick an, der mir sagen soll, dass wir später darauf zurückkommen.

Auch wenn ein Teil von mir noch immer wütend ist, tätschle ich die Schultern meiner Freundin. »Stimmt genau. Aber du hättest uns sagen können, wie schlimm es um deinen Abschluss steht. Uns ist es egal, ob du studierst oder was.«

Mir ist schon klar, dass ich diejenige sein werde, die ihr zu gegebener Zeit in den Hintern treten muss – aber gerade bin ich dazu nicht bereit, mein Kopf ist zu voll, und meine Lust, ihre Laune noch mehr runterzuziehen, hält sich in Grenzen.

»Danke«, murmelt Juliette.

»Gut, dann lass uns darüber reden, was dein Plan ist«, ändere ich die Taktik.

»Was für ein Plan?« Juliette sieht mich irritiert an.

»Du willst nicht studieren«, hilft Brooke mit ihrem typischen milden Lächeln. »Also, was möchtest du stattdessen tun?«

»Kann ich nicht die Mein-Ex-hat-mich-auf-unserer-Hochzeit-betrogen-Karte spielen?«

»Nein«, sagt Brooke entschieden.

»Sorry, Prinzessin – diese Sache ist zu wichtig, um sie hinter dieser Ausrede zu verstecken.«

Juliette setzt sich mürrisch auf den Barhocker an der Küchenzeile und zuckt mit den Schultern. »Ich weiß es nicht.«

»Wir erwarten ja keinen genauen Zehnpunkteplan«, versucht es Brooke, wofür ich dankbar bin, denn sie erwartet tatsächlich keinen genauen Plan. Ich hingegen mag Pläne.

»Eine ungefähre Richtung würde uns reichen.«

»Ich weiß es wirklich nicht.« Juliette verschränkt die Arme vor der Brust. Wir schweigen, um ihr zu bedeuten, dass sie uns schon etwas mehr geben muss als das. »Im gesamten letzten Jahr ging es um nichts anderes als die Hochzeit. Und ich dachte, das wäre dann mein Leben. Zwischen Dinnerpartys und Babyplanung stecken, darüber nachdenken welche Charity-Organisation wir in diesem Jahr unterstützen …«

»Das klingt fürchterlich«, entkommt es mir, bevor ich meinen Mund schnell genug schließen kann.

»Für mich aber nicht.«

»So meinte ich es nicht«, rudere ich zurück.

»Doch, meintest du, und es ist schon okay. Ich weiß, was du von der Ehe hältst.«

»Ich hab nichts gegen die Ehe«, stelle ich klar. »Ich bin nur nicht die Frau, die ihr Leben nach dem ihres Ehemannes ausrichtet und ihm den Rücken freihält, damit er Karriere machen kann. Und mich macht es fertig, dass du das ausgerecht für Tom machen wolltest. Denn du verdienst jemanden, der dich wirklich zu schätzen weiß.«

»Schon klar, ich bin selbst schuld, dass ich mich in ein Arschloch verliebt habe und mein Leben jetzt gegen eine Wand fahre.«

»Das habe ich doch gar nicht gesagt«, rufe ich etwas hilflos aus. Gerade ist alles zu viel für mich. Ich will mich um sie kümmern, will da sein. Und ich weiß auch, dass sie in ihrem Dramamodus mehr in meine Worte reinliest, als da tatsächlich ist, aber nun raubt es mir den letzten Nerv, mich auch noch dafür rechtfertigen zu müssen, obwohl ich nur helfen will. Denn immer wieder schiebt sich der Gedanke an meinen Vater vor, erinnert mich daran, dass ich nicht gut genug bin.

»Nein«, sagt Brooke sanft, die wesentlich besser darin ist, feinfühlig zu sein als ich. »Du warst verliebt. Und manchmal, wenn wir mitten in einem riesigen Berg aus Mist stehen, sehen wir nichts anderes mehr, weil wir den Kopf zum Himmel hochhalten, in der Hoffnung, alles wird von allein besser.«

Juliette und ich sehen unsere Freundin einen Moment irritiert an.

»Was denn?«, fragt Brooke.

»Das war nur sehr …«, beginne ich, weiß aber nicht so recht, wie ich diesen Satz nett zu Ende bringen soll.

»… poetisch.«

»Und seltsam.«

»Wirklich seltsam, aber auch irgendwie wahr«, bestätigt Juliette.

»Was ich damit sagen wollte, ist, dass es egal ist, wie viele von außen etwas gesehen haben. Wenn man mittendrin steckt, sieht alles ganz anders aus, und man verliert die Orientierung.«

»Es geht gar nicht um Tom«, meint Juliette. »Es geht um mich. Ich habe keine Ahnung, wer ich bin, ohne das Ideal, an dem ich mich so lange festgehalten habe.«

Ich sehe Juliette an, sehe ihre verquollenen Augen und die Tränen an ihren Wimpern. Und auf einmal tut es mir leid, nicht so einfühlsam sein zu können wie Brooke. Anstatt Good Cop und Bad Cop zu spielen und Juliette dazu zu drängen, einen Lebensplan aufzustellen, könnte ich sie nach ihrem Tempo die Krone richten lassen. Auch wenn es mir schwerfällt, die Kontrolle einfach mal abzugeben.

»Na, ist doch ganz einfach«, sage ich versöhnlich. »Du bist unsere Freundin. Wir können dir heute nicht mehr helfen, deine Probleme zu lösen, aber du hast die zweifelhafte Ehre, dir auszusuchen, wo wir heute Abend unseren Frust von der Seele tanzen.«

»Ist das deine Art, mir eine Gnadenfrist zu geben, ehe ich den Zehnpunkteplan doch einreichen muss?«, fragt sie mit dem Anflug eines Lächelns.

»Ja, und ich muss gestehen, ich hätte Lust zu tanzen.«

Und ebenfalls all die Enttäuschungen des Tages und meinen Vater zu vergessen.

Tian

»Verdammt, Balthasar«, murmle ich, während ich den gigantischen Haufen meines Hundes in den zweiten Kotbeutel manövriere. Was auch immer er beim Hotdogstand gestern abgegriffen hat, bekommen ist es ihm nicht. Die großen braunen, schuldbewussten Augen betrachten mich bei meinem verzweifelten Versuch, möglichst wenig Spuren zu hinterlassen.

»Du weißt genau, dass du nichts von Fremden essen sollst.«

Die Dogge bellt einmal, als wolle sie mir widersprechen. Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass er mich sehr gut versteht. Vielleicht sogar besser, als es die meisten Menschen tun, er ist nur klug genug, so zu tun, als wäre es anders.

»Süßer Hund«, ertönt eine raue Stimme.

Ich schaue auf, und der gut aussehende Jogger dreht den Kopf im Vorbeilaufen zu mir und lächelt mich an. Ich würde rot werden, wenn ich nicht zu sehr damit beschäftigt wäre, die beiden erstaunlich schweren Beutel in den nächsten Mülleimer zu entsorgen. Unter anderen Umständen wäre ich auf diesen Flirtversuch vielleicht eingegangen, aber nichts fühlt sich so unsexy an, wie Exkremente aufzuheben.

Ich lege Balthasar die Leine wieder an, damit wir die Promenade hinunterschlendern können. Eigentlich könnte es ein wirklich schöner Tag sein, nur liegt die Betonung auf dem eigentlich.

Ich habe an diesem Tag mit vielem gerechnet, allerdings nicht damit, sie zu sehen.

Das große Werbeplakat vor mir zeigt in geschwungenen Buchstaben die nächste Show des Cirque Fantastique. Doch das ist es nicht, was mir die Luft zum Atmen nimmt. Kimberly-ich-tue-so-als-würde-sie-nicht-Existieren steht umringt von anderen Tanzenden.

Das Bild zeigt sie bei einem Sprung – fein, elegant und kraftvoll. Grüne, violette und blaue Lichter schimmern um sie herum, doch trotz der anderen Menschen, die in ebenso kunstvollen Gewändern tanzen, liegt der Fokus klar auf ihr.

Meine Ex-Freundin hat offenbar entschieden, dass es ihr nicht reicht, nur eine Primaballerina zu sein.

Auch wenn ich es nicht will, kann ich doch nicht anders, als sie zu bewundern. Leider handelt es sich bei dem aktuellen Stück nicht um klassisches Ballett, dann könnte ich zumindest über die langweiligen genormten Bewegungsabläufe lästern. Nein, es sieht aus, als wäre das Bild mitten in einer Performance geschossen worden. Der blaue Body schimmert wie die Schuppen einer Meerjungfrau, während der Stoff des Rockes hinter ihr schwebt wie eine Wolke. Ihre Haare fallen in großen blonden Locken bis über ihre Schultern, vorbei an dem mir bekannten und verhassten Gesicht. Ein Gesicht, das mal für meine erste große Liebe gestanden hat und nun nicht anderes auslöst als das Gefühl des Verrats.

Warum, verdammt, ist sie nicht beim Ballett blieben? Warum muss sie wieder in mein Leben eindringen und das nehmen, was ich wollte? Und während ich so vor mich hin schmolle, wird mir noch etwas ganz anderes bewusst: Kimberly kommt zurück nach Chicago. In meine Stadt. In diese Stadt.

Die Worte brennen sich in meinen Verstand ein genauso wie in mein Herz.

Erst als Balthasar leise bellend an der Leine zerrt, wird mir klar, dass ich stehen geblieben bin und schon einige Minuten dieses Poster betrachte. Es kostet mich Unmengen an Kraft, mich endlich abzuwenden und weiterzugehen. Doch es fühlt sich an, als würden Kims Augen mich den ganzen Weg verfolgen. Und das hinterlässt eine Gänsehaut.

Verrat, hallt es in meinem Kopf. Verrat, Betrug und ein Herz, das erst aus meiner Brust gerissen und dann zerstückelt wurde, bis ein kaltes, dunkles Gefühl, das mich beinahe verschluckt hat, alles andere verdrängt hat. Und ich habe bis heute immer noch keine Ahnung, wieso sie es getan hat. Wieso sie mich sitzen lassen hat, nachdem wir beide gemeinsam von der Bühne geträumt haben.

Grollend trete ich eine Getränkedose auf dem Boden vor mir weg, was Balthasar dazu veranlasst, ihr hinterherzurennen und mich mitzuziehen. Einen Fluch unterdrückend, sehe ich ihn an. Er kann nichts dafür, dass ich mich nicht zügeln kann. Außerdem bin ich ihm ja eigentlich dankbar, dass er mich von dem Poster weggezogen hat. Also gebe ich ihm ein Leckerli, nachdem er Sitz gemacht hat, und werfe die Dose in einen der zahllosen Mülleimer.

Der Gedanke an Kimberly hat mich dennoch so stark eingenommen, dass ich erst die Anrufe bemerke, als ich wieder in meiner Wohnung ankomme und mein Handy wild blinkt. Drei Anrufe, dabei bin ich nur zwanzig Minuten draußen gewesen. Und schon wieder klingelt es.

Für einen Augenblick überlege ich, den Anruf einfach zu ignorieren, doch dann sehe ich, wer mich da anruft. »Was gibts?«

Mein bester Freund sagt nur zwei Worte: »Notfall-Partymodus.«

Innerlich verdrehe ich die Augen. Volle Clubs, zu laute Musik und optimale Verdrängung. Genau das, was ich gerade nicht gebrauchen kann. »Ich kann nicht.«

»Aber du hast doch frei?«

Das stimmt zwar, aber wenn man es genau nimmt, habe ich nie wirklich frei. Das bringt mein Beruf so mit sich. Ich arbeite dann, wenn andere freihaben, und muss dennoch früh aus dem Bett, um zu trainieren und mich fit genug zu halten, damit ich weiterhin als Tänzer und Trainer arbeiten kann. Nate weiß das. Dass ich unfreiwillig auf ein Abbild meiner Ex getroffen bin, kann er zwar nicht wissen, aber ich wünschte mir, gerade er würde bemerken, dass etwas nicht stimmt. Vielleicht bin ich darum auch etwas angefressen.

»Ja, aber ich habe Balthasar versprochen, dass wir noch auf den Hundeplatz gehen …«, grummle ich.

»Bitte, lass mich nicht allein«, fleht er dennoch, was meinen Verdacht bestätigt, dass es ein neues Drama gibt. Seit ich durch Nate in diese Clique geschlittert bin, habe ich wesentlich mehr Aufregung in meinem Leben. Und ich gebe gern zu, dass es mir oft zu viel wird. Ich blicke von meinem Hund auf meine Füße. »Wie schlimm ist es?«

»Juliette ist offenbar ab heute genauso mittellos wie wir.«

Die Information bringt mich jedoch aus dem Konzept. Juliette ist das perfekte Abbild einer superreichen Tochter – bei jedem unserer Dates sind wir in Lokalen gewesen, die ich mir niemals hätte leisten können. Und steckt sie nicht mitten im Studium? Entweder die Klinik ihrer Eltern ist explodiert, was sicherlich in den Nachrichten gelaufen wäre, oder sie hat Mist gebaut. So, wie ich Juliette bisher kennengelernt habe, eher Letzteres. Ich mag sie, aber sie kann eine echte Dramaqueen sein. Räuspernd versuche ich, meine Gedanken wieder etwas zu ordnen. »Und die erste Lösung ist, tanzen zu gehen?«

»Na ja, tun wir etwas anderes, wenn es uns scheiße geht?«

»Guter Punkt.« Ich überlege einen Moment. Etwas Spaß, um den Kopf freizubekommen, könnte mir guttun. Etwas Ablenkung von meinem eigenen Drama und dem kalten Gefühl des Verrats, das sich wieder in meinen Kopf geschlichen hat. Auch wenn ich mich auf einen ruhigen Abend eingestellt habe, geht nichts über eine Nacht im Club, um sich sämtlichen Stress von der Seele zu tanzen. Und den Frust, weil eine Frau, die mir das Herz gebrochen hat, nun ein verdammtes Plakat mitten in Chicago hat. »Geht vor, ich komme nach.«

»Alles klar.«

Nicht gerade die Wendung, die ich mir für diesen Abend vorgenommen hatte, aber nachdem ich den halben Tag mit Balthasar durch Chicago gelaufen bin, wird er sich auf dem Sofa zusammenrollen und schlafen. Nur werde ich mich heute nicht mehr beruhigen können, vielleicht ist Ablenkung tatsächlich genau das, was ich brauche.

3. Reggaetón Lento

Carmen

Ich liebe die Nächte in Chicago.

Die Häuserschluchten werden nur von den Straßenlaternen erhellt, deren warmes Licht sich in den Pfützen auf dem Asphalt bricht. Menschen lachen in Gruppen, streichen sich über die Kleider und machen Selfies vor den angesagten Clubs, als bräuchten sie eine Bestätigung, dass sie wirklich hier waren.

Der Wind lässt meine dunkle Mähne sachte schwingen, während ich mit Brooke und Juliette am Türsteher vorbei in den Club gehe. Sie biegen direkt zu unserem Stammplatz ab, dem kleinen Tisch in einer der Nischen, wo ich mir einen Augenblick Zeit nehme.

Dunkles Holz, goldene Akzente, die im wechselnden Farbspiel schimmern. Die Fliesen des Bodens glänzen, lassen alles noch größer und strahlender wirken, während die Musik uns umhüllt. Ich liebe die Mischform aus Popmusik mit harten Beats, Reggaeton- und Rhythm-and-Blues-Einflüssen in diesem Laden.