Spiritual Care - Traugott Roser - E-Book

Spiritual Care E-Book

Traugott Roser

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Beschreibung

"Spiritual Care" hilft, die existenziellen bzw. spirituellen Bedürfnisse von Patientinnen und Patienten, An- und Zugehörigen zu verstehen und professionell mit ihnen umzugehen. Dieses Buch vermittelt den Ansatz von Spiritual Care in einer pluralen Gesellschaft aus Sicht Praktischer Theologie. Präzise Beobachtungen von Krankheitsverläufen, Klinikalltag und öffentlicher Diskussion werden verbunden mit theologischen Analysen. Sie führen zu einem besseren Verständnis von gesundheitsbezogener Spiritualität zwischen Unbestimmtheit und Bestimmbarkeit. Konkrete Hinweise auf den besonderen Beitrag von Seelsorge zu spiritueller Begleitung machen deutlich, dass Seelsorge unverzichtbar ist für die Organisation spiritueller Begleitung im Gesundheitswesen des 21. Jahrhunderts: Spiritual Care.

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Münchner Reihe Palliative Care

 

Palliativmedizin – Palliativpflege – Hospizarbeit

Band 3

 

 

 

 

Schriftleitung

 

Prof. Dr. med. Gian Domenico Borasio (federführend)

Prof. Dr. med. Monika Führer (federführend)

Prof. Dr. med. Dr. phil. Ralf Jox (federführend)

Prof. Dr. rer. biol. hum. Maria Wasner (federführend)

 

PD Dr. med. Johanna Anneser

Prof. Dr. rer. biol. hum. Dipl.-Psych. Martin Fegg

Prof. Dr. med. Stefan Lorenzl

Dipl. Soz.-Päd. Dipl. Theol. Josef Raischl

Prof. Dr. phil. Dipl.-Psych. Bernd Reuschenbach

Prof. Dr. theol. Traugott Roser

 

 

 

 

 

Die Publikationen in der Münchner Reihe Palliative Care verfolgen das Ziel einer verbesserten Versorgung und Begleitung schwerstkranker und sterbender Menschen und ihrer Angehörigen. Dem Palliative Care-Prinzip der Multiprofessionalität entsprechend widmen sich die Einzelbände unterschiedlichen Themenkomplexen und Handlungsfeldern aus den Bereichen Palliativmedizin, Palliativpflege und Hospizarbeit. Dazu dienen Beiträge aus medizinischer, pflegerischer, psychosozialer und seelsorglicher sowie aus rechts- und gesellschaftswissenschaftlicher Perspektive. Die Reihe richtet sich an alle an diesen Fragestellungen Interessierten, insbesondere im Gesundheitswesen oder in der ehrenamtlichen Arbeit Tätigen.

Traugott Roser

Spiritual Care

Der Beitrag von Seelsorge zum Gesundheitswesen

2., aktualisierte und erweiterte Auflage

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

Die Wiedergabe von Warenbezeichnungen, Handelsnamen und sonstigen Kennzeichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass diese von jedermann frei benutzt werden dürfen. Vielmehr kann es sich auch dann um eingetragene Warenzeichen oder sonstige geschützte Kennzeichen handeln, wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Diese Publikation wurde unterstützt durch einen Zuschuss der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB).

2. Auflage 2017

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-021439-2

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-033203-4

epub:   ISBN 978-3-17-033204-1

mobi:   ISBN 978-3-17-033205-8

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

 

Inhalt

 

 

Geleitwort zur ersten Auflage

Geleitwort

Widmung und Vorwort zur zweiten Auflage

A Einleitung – Wahrnehmung, Reflexion und Gestaltung von Praxis

1 Zwischen Deskription und Strategie – die Fundamental-Praktische Theologie Don Brownings

2 Phänomenologie, Hermeneutik und Pragmatik – Der Ansatz Wolf-Eckart Failings und Hans-Günter Heimbrocks

3 Praktische Theologie als Deutekunst

3.1 Wahrnehmungskunst: Multiperspektivische Empiriearbeit

3.1.1 Phänomenologie medialer Kommunikation am Beispiel Film

3.1.2 Fallbericht oder Verbatim als Lern- und Forschungsmethoden

3.1.3 Quantitative und qualitative Untersuchungen zu Spiritualität

3.2 Reflexionskunst: Enzyklopädisches Interesse

3.2.1 Exegetische Fächer

3.2.2 Kirchengeschichte

3.2.3 Systematische Theologie

3.2.4 Theologische Ethik und Medizinethik

3.3 Gestaltungskunst

3.3.1 Praktische Theologie zielt auf Gestaltung kirchlicher Praxis

3.3.2 Disponierendes Handeln als Bedingung kommunikativen Handelns

3.3.3 Kommunikatives Handeln in der Seelsorge zwischen Darstellung und Wirksamkeit

3.3.4 Praxisdiskurse als Zugang zum Feld – Biographische Erfahrung und Theoriebildung

B Seelsorge in Krisensituationen am Anfang des Lebens

1 Wahrnehmungskunst

1.1 »Nur eine Handvoll Leben« – Phänomenologie anhand der Darstellung perinatalen Todes im Film

1.2 Erfahrungs- und Fallberichte

1.2.1 Aus der Sicht von Betroffenen

1.2.2 Aus der Perspektive von Seelsorgerinnen und Seelsorgern

1.2.3 Aus der Sicht von Geburtshilfe und Gynäkologie

1.3 Medizinische und juristische Bestimmungen, Statistiken

1.4 Quantitative und qualitative Studien

2 Reflexionskunst

2.1 Biologie, Sozialität und Theologie: Das Verständnis von Schwangerschaft und Geburt in biblischen Texten

2.2 Historisches: Perinatale Taufhandlungen und das Verständnis geburtlichen Lebens

2.3 Fragen an die Dogmatik: Personverständnis und Taufe

2.3.1 Die Würde der Person

2.3.2 Rechtfertigungslehre

2.3.3 Taufe

2.3.4 Sünde und Vergebung

2.4 Theologische Ethik – Beratung in Konfliktsituationen

3 Gestaltungskunst

3.1 Spirituelle Begleitung in der Trauer

3.2 Rituelle und liturgische Handlungsformen

3.2.1 Gebet

3.2.2 Segnung und Salbung

3.2.3 Namensgebung

3.2.4 Nottaufe und Taufe eines stillgeborenen Kindes

3.3 Aufgaben der Seelsorge

3.3.1 Seelsorge im klinischen Umfeld

3.3.2 Aufgaben gemeindlicher Seelsorge bei perinatalem Tod

C Spiritual Care in der Hochleistungsmedizin am Beispiel der Transplantationsmedizin

1 Seelsorge im Zusammenhang von Organentnahme

1.1 Hirntoddefinition oder Sterbeprozess? Die Deutungsbedürftigkeit des Lebensendes

1.2 Deutungsperspektive Seelsorge: Sterben als spiritueller Prozess und doppelte ›Schleusenzeit‹

2 Herausforderungen der Xenotransplantation für die Klinikseelsorge (mit Bernhard Barnikol-Oettler)

3 Seelsorge als Voraussetzung von Spiritual Care in Praxis und Forschung

D Seelsorge bei chronisch degenerativen Krankheiten am Beispiel der Demenzerkrankungen

1 Wahrnehmungskunst

1.1 »Italienisch für Anfänger« – Phänomenologie anhand der Darstellung von Demenz in Film, Buch und Internet

1.2 Altersdemenz in Fallschilderungen aus Diakonie und Altenhilfe

1.3 Statistische und medizinische Informationen zu Demenzerkrankungen

2 Reflexionskunst

2.1 Alter und Verwirrtheit aus historischer Sicht

2.2 Zum Personenstatus aus theologischer Perspektive: Der Mensch als offenes Wesen und als Fragment

2.3 Theologische Ethik – Zur Frage der Autonomie demenziell erkrankter Menschen

2.3.1 Vorausverfügungen als Inszenierung von Kommunikation

2.3.2 Patientenverfügung und Vorsorgevollmacht bei Demenzpatienten

2.3.3 Therapiezielfindung in ganzheitlicher Perspektive

3 Gestaltungskunst

3.1 Demenz als Gestaltungsaufgabe der Gemeindeseelsorge: Besuchsdienst und liturgische Angebote

3.2 Spiritual Care bei Demenzpatienten als eine Frage der Organisation von Sorge

3.3 Ethische Beratung bei der Planung von Vorsorge

E Spiritual Care – christliche Seelsorge zwischen systemischer Integration und Distanznahme

1 Wahrnehmungskunst

1.1 Spiritual Care in populärer Kultur

1.1.1 »The Straight Story«: Seelsorge unter dem Firmament

1.1.2 Begegnung im Krankenhaus: Raumsoziologische Beobachtungen am Roman »Oskar und die Dame in Rosa«

1.2 Erfahrungen und Ergebnisse einer explorativen Untersuchung zur Rolle von Seelsorgerinnen und Seelsorgern in Beratungsgremien klinischer Ethik

1.3 Spiritual Care als integrierter Bestandteil von Palliative Care

1.3.1 Spiritualität und Gesundheit: Was ist Well-being?

1.3.2 Vorreiter Hospizbewegung und Palliative Care

1.4 Multiprofessionelle Erhebung spiritueller Bedürfnisse und Ressourcen: Spirituelle Anamnese

1.5 Unschärfe des Begriffs Spiritualität im Gesundheitswesen als Chance

1.5.1 Pragmatischer Umgang mit Unschärfe

1.5.2 Begriffliche Unschärfe als religionstheoretisches Problem

1.5.3 Offen für Individualität: Bestimmtheit durch Begegnung

1.5.4 Bemühungen um Bestimmung des Unbestimmten als Aufgabe von Seelsorge in Spiritual Care

1.6 Systemische und organisationale Aspekte der Seelsorge in Einrichtungen des Gesundheitswesens

2 Reflexionskunst: Spiritualität im Gesundheitswesen

2.1 Gesundheitsbezogene Spiritualität als Thema einer Theologie der Seelsorge

2.1.1 Zurückhaltende Rezeption des Spiritualitätsdiskurses in poimenischer Literatur

2.1.2 Chancen einer konstruktiven interdisziplinären Auseinandersetzung

2.1.3 Die Herkunft des modernen Spiritualitätsbegriffs

2.1.4 Interreligiöse Vermittelbarkeit des Spiritualitätsbegriffs im Gesundheitswesen

2.1.5 Konsensusdefinitionen von Spiritualität

2.1.6 Offenheit und Bestimmtheit als forschungspragmatische Herausforderung

2.2 Seelsorge in der Kraft des Geistes: Die Parakleten-Perikopen des Johannesevangeliums neu gelesen

2.3 Lebenssättigung: Spiritualität als theologische Bestimmung von Leben

2.4 Seelsorgetheorie und theologische Ethik im Rückgriff auf ihre Geschichte

3 Deutekunst: Seelsorge als Heterotopie und Heterochronie – Spiritual Care als ortsbezogener Transformationsprozess

3.1 Drohende Verdrängung von Seelsorge?

3.2 Seelsorge als Raum- und Zeiterfahrung am Ort klinischen Geschehens

3.3 Seelsorge als Heterotopie und Heterochronie? Michel Foucault

3.4 Von Orten, Raum und Praktiken: Michel de Certeau

3.5 Spuren im Raum: Klaus Raschzok

3.6 Transformierter Raum: Martina Löws Raumsoziologie

4 Ein offenes Fazit zum Beitrag von Seelsorge zu Spiritual Care

Literatur

Verzeichnisse

Sachwortregister

Personenregister

 

Geleitwort zur ersten Auflage

Eberhard Schockenhoff

 

Die meisten Menschen wissen aus eigener Erfahrung, was Kranksein bedeutet. Wer einmal ernsthaft erkrankt war und die Gesundheit erst nach einem langwierigen Heilungsprozess wiedererlangte, den begleitet die Erinnerung daran für den Rest seines Lebens wie eine Mahnung an die Endlichkeit des Daseins. Erst recht zwingt das Wissen, unheilbar erkrankt zu sein, zur Auseinandersetzung mit dem eigenen Sterbenmüssen und dem näher rückenden Tod. In unterschiedlicher Intensität bedeutet jede Form der Krankheit einen Einbruch in unsere tägliche Existenz. In leichteren Fällen reißt sie uns nur für kurze Zeit aus unserem gewohnten Lebensrhythmus heraus; handelt es sich dagegen um eine schwere Erkrankung, so geht mit ihr immereine tiefgreifende und andauernde Veränderung unseres privaten und sozialen Lebenszusammenhangs einher. Dies gilt besonders für demenzkranke Menschen, die im Verlauf ihrer Erkrankung nicht nur ihre körperliche Autonomie und Selbstständigkeit verlieren, sondern durch einen fortschreitenden Gedächtnisschwund zumindest aus der Perspektive der anderen ihr Ichgefühl und das Vertrautsein mit sich selbst einbüßen.

Das naturwissenschaftliche Paradigma des medizinischen Denkens, das in einer Erkrankung nichts anderes als eine Fehlleistung der Maschine Mensch sieht und infolgedessen die angestrebte Heilung als die Reparatur eines vorübergehenden Defektes versteht, sieht vom biographischen Selbsterleben des kranken Menschen und von seiner sozialen Wahrnehmung durch andere ab. Ein derartiger therapeutischer Ansatz, dem die moderne Medizin unleugbar viele ihrer großen Durchbrüche und Erfolge verdankt, bedarf daher der Ergänzung durch ein ganzheitliches Verständnis von Gesundheit und Krankheit. Vor allem schwere und langwierige Erkrankungen können nicht nur als kurzfristige Störung begriffen werden, die schnellstmöglich medizinisch behoben werden soll, damit der Betroffene in seinen alten Lebenszusammenhang zurückkehren kann. Vielmehr ist eine schwere Erkrankung eine Wandlungskrise, die zu einem Weiterleben unter veränderten Bedingungen nötigt. Gerade unheilbare Erkrankungen, die Dank der medizinischen Behandlungsfortschritte noch ein langes Leben mit der Krankheit erzwingen, führen den Kranken und seine Angehörigen in eine Grenzsituation, die beide zusammen zu bestehen haben, um ihr Leben unter einem neuen Vorzeichen führen zu können.

Die vorliegende Arbeit von Traugott Roser zeigt, dass die Begleitung von Menschen in krankheitsbedingten Krisensituationen des Lebens neben der medizinischen und psychologischen Seite eine geistliche Tiefendimension aufweist. Weil jede Krankheit in Form von Schmerz, Leid und Ungewissheit über die Zukunft mit den Vorboten des Todes konfrontiert, ängstigt sie die Menschen – religiöse ebenso wie scheinbar areligiöse, gläubige nicht anders als ungläubige Menschen. In dem Dreischritt von Wahrnehmung, Reflexion und Gestaltung dieser Herausforderung wird das Konzept einer spirituellen Begleitung des kranken Menschen vorgestellt, die seinen Ängste nicht ausweicht, sondern seiner Krisenerfahrung standhält. Spiritual care wird als ein notwendiger Bestandteil der palliative care, des leidmindernden Auftrags der Medizin und als innere Dimension einer integralen Zuwendung zum kranken Menschen gesehen. Zugleich umfasst der Auftrag der spiritual care aber auch Beratung und Begleitung der Angehörigen, die angesichts der wachsenden medizinisch-technischen Möglichkeiten am Lebensanfang und Lebensende zu bislang ungewohnten ethischen Entscheidungen aufgefordert sind.

Die Ausführungen von Roser überzeugen vor allem deshalb, weil sie Krankenhausseelsorge nicht nur als kirchliches Dienstleistungsangebot neben anderen im Interaktionsfeld des Krankenhausgeschehens, sondern als ein mit personaler Glaubwürdigkeit vorgetragenes Lebenszeugnis sehen, das für den kranken Menschen und die von seiner Krankheit betroffenen Angehörigen Hilfestellung zur Bewältigung bedrohlicher Krisensituationen geben kann. Zwischen notwendiger Distanz und verlässlicher Zuwendung mag eine kompetente Krankenhausseelsorge gemäß dem Programm des spiritual care im Krankenhausalltag eine mitunter unbequeme Mahnerin sein, die an die Aufgaben erinnert, die durch die bestmögliche medizinische Versorgung des Kranken noch nicht abgegolten sind. Solche unbequemen Unterbrechungen und Einreden schärfen jedoch auf notwendigeWeise den Blick dafür, dass jedes ärztliche, pflegerische und organisatorische Handeln im Krankenhaus ein gemeinsames Ziel haben sollte: dem kranken Menschen beizustehen und ihn in der vor ihm liegenden Wegstrecke seines Lebens zu stärken.

 

Freiburg i. Br., Ostern 2007

Eberhard Schockenhoff

 

Geleitwort

Andreas Kruse

 

Die vorliegende Schrift versteht sich als ein Beitrag zu Spiritual Care, wobei diese im Sinne der »Organisation gemeinsamer Sorge um die individuelle Teilnahme und Teilhabe an einem als sinnvoll erfahrenen Leben« verstanden wird. Mit diesem Verständnis weist das sehr wertvolle, theoretisch-konzeptionell und empirisch gleichermaßen fundierte, anschaulich geschriebene und praktisch hochrelevante Buch Verwandtschaft mit dem aktuell vielerorts diskutierten Konzept der »sorgenden Gemeinschaft« (caring community) auf. Auch diese versteht sich ja als Zusammenschluss mehrerer (bürgerschaftlich engagierter und/oder hauptamtlich tätiger) Personen, die im Sinne der geteilten Verantwortung unterschiedliche Aufgaben übernehmen und in dieser Kooperation ein hohes Maß an Kreativität entfalten können. Wichtig ist dabei die Organisation dieser sorgenden Gemeinschaft, übertragen auf das vorliegende Buch: die Organisation von Spiritual Care (als bedeutender Komponente von Palliative Care). Dabei ordnet der Autor, der Praktische Theologie und Palliative Care an der Universität Münster lehrt und auf beiden Gebieten umfassend publiziert, der Seelsorge eine tragende Rolle bei der Organisation spiritueller Begleitung zu. Und diese große Bedeutung zeigt er in sehr überzeugender Weise auf – wie er auch die Perspektivenvielfalt, die die Kooperation zwischen mehreren Personen und Berufsgruppen eignet, sehr lebendig und berührend in das Zentrum seiner Schrift treten lässt.

Es ist eine weitere Stärke des Buches, dass sich dieses mit Spiritual Care in sehr unterschiedlichen Kontexten befasst, am Anfang des Lebens, am Ende des Lebens, vor und nach einer Transplantation, im Verlaufe einer neurodegenerativen Erkrankung. Auch wenn in sehr überzeugender Weise die unterschiedlichsten Akteure zu Wort kommen – dies leistet das Buch in ausgezeichneter Weise –, so gilt doch der Praktischen Theologie die größte Aufmerksamkeit.

Praktische Theologie begreift der Autor – und dieses Verständnis verdankt sich sicherlich auch seiner umfangreichen praktischen Erfahrung (und nicht nur der wissenschaftlichen Reflexion) – als »eine Theorie, die auf Praxis zielt«, wobei sich Praxis ausdrücklich nicht auf kirchliche Handlungsfelder beschränken lässt. Den Ausgangspunkt (im Sinne von »Wahrnehmungskunst«) dieser Schrift bilden Filme, Fallberichte aus verschiedenen Perspektiven, autobiografische Erlebnisse etc., die im Kontext praktischer Theologie gedeutet (»Reflexionskunst«) und mit Blick auf bestehende Handlungsoptionen (»Gestaltungskunst«) hinterfragt werden. Dem Leser erschließen sich so neue (theologische) Perspektiven, zum Beispiel werden Fragen nach Autonomie, Würde, Teilhabe gestellt und tiefgreifend reflektiert.

Das Buch bildet einen bedeutenden Beitrag zur »Spiritual Care«, aber auch zur Palliative Care, Dementia Care und End-of-Life Care. Es ist auch aufgrund der vielen Fallbeispiele und der sehr gekonnt ausgewählten und gedeuteten wörtlichen Zitate aus den verschiedensten Personen- und Berufsgruppen sehr gut lesbar. Es nimmt Bezug auf zahlreiche Theorien und Befunde, die für Spiritual Care von unmittelbarer Relevanz sind. Es lässt in jedem Kapitel einen Autor durchscheinen, der von dem Wunsch nach theoretischer und empirischer Durchdringung, zugleich nach ethischer Fundierung aller Aussagen bestimmt ist – und der diesen Wunsch eindrucksvoll zu verwirklichen, umzusetzen vermag.

Das Buch möge weite Verbreitung finden, auf großes Interesse stoßen und lebendige Diskussionen auslösen.

Heidelberg, im Februar 2017

Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Kruse

 

Widmung und Vorwort zur zweiten Auflage

 

 

Spiritual Care ist ein Organisationsbegriff.

Das ist vielleicht die wichtigste Erweiterung des Ansatzes, den ich mit diesem Buch seit seiner Erstveröffentlichung 2007 vertrete. Genauer:

Spiritual Care ist die Organisation gemeinsamer Sorge um die individuelle Teilnahme und Teilhabe an einem als sinnvoll erfahrenen Leben im umfassenden Verständnis.

Im Zentrum steht das Gegenüber, das im Kontext des Gesundheitswesens mit lebensbedrohlichen Situationen konfrontiert ist, sei es als Patientin oder Patient, als An- und Zugehöriger oder als begleitende und betreuende Person. Der Seelsorge, so wie sie hier verstanden wird, kommt bei der Organisation spiritueller Begleitung im vielschichtigen und dynamischen Miteinander unterschiedlicher beteiligter Personen und Berufsgruppen eine tragende Rolle zu. Weshalb dies so ist, ist Gegenstand der Überlegungen, die eine grundlegende Überarbeitung der ersten Auflage von »Spiritual Care. Ethische, organisationale und spirituelle Aspekte der Krankenhausseelsorge« (2007) notwendig machten. Dies kommt im geänderten Untertitel zum Ausdruck: Es geht um den Beitrag, den Seelsorgerinnen und Seelsorger in unterschiedlichen Bereichen des Gesundheitswesens leisten.

Nicht alle Teile wurden grundlegend überarbeitet. An den Stellen, bei denen für die Theorie von Seelsorge und Spiritual Care nichts grundlegend neu zu formulieren war, wurde die ursprüngliche Fassung von 2007 lediglich sprachlich überarbeitet und nur hier und da mit Verweisen auf aktuelle Literatur ergänzt.

Die Diskussion sowohl zum Ansatz von Spiritual Care insgesamt als auch in einzelnen Kontexten hat sich in den letzten zehn Jahren erfreulich entwickelt. Dem musste entsprochen werden durch eine gründliche Neubearbeitung folgender Kapitel:

•  In der theoretischen Grundlegung (Teil A) wurden die Ausführungen zu Wahrnehmungskunst als multiperspektivischer Empirie-Arbeit neu konzipiert. Die methodologischen Überlegungen zu Forschung, Theorieentwicklung und Lehre zu Seelsorge und Spiritual Care (Kap. A 3.1) reflektieren den erheblichen Zuwachs an Literatur zu Methodik in der internationalen Diskussion. Insbesondere in der Frage des Arbeitens mit Fallbericht und Verbatim, über die in Europa ein spannender Diskurs stattfindet, sind Neuerungen zu finden. Das Kapitel ist auch als Beitrag zur Forschungsmethodik in Spiritual Care gedacht. Ergänzt und aktualisiert wurde Teil A 4, um die eigene Position und ihre Motivation offenzulegen.

•  Spiritual Care wird im Umfeld von Schwangerschaft, Geburt und Neonatologie (Teil B) angesichts der rasanten medizinisch-technischen Entwicklungen bei gleichbleibenden Zahlen perinatalen Sterbens immer wichtiger. Mittlerweile gibt es ausgezeichnete nationale und internationale Untersuchungen zum Erleben von Müttern, Vätern, Kindern und Geschwisterkindern bei Gefährdung perinatalen Lebens. Auch wenn Seelsorgerinnen und Seelsorger hier Schweres aushalten helfen und eine wichtige Stütze für therapeutische Teams sind, geht Spiritual Care nicht im seelsorglichen Handeln auf, sondern verlangt nach Klärungen für theologisch verantwortete Angebote, etwa einer Taufe stillgeborener Kinder. Ein großer Teil der Überarbeitung dieses Kapitels besteht in einer breit angelegten Begründung für ein solches Angebot, das sowohl empirische Forschung umfasst als auch eine Darstellung der Bedeutung von Seelsorge in der Kommunikation des Evangeliums. Das Kapitel enthält deshalb ein Formular für die Taufe eines stillgeborenen Kindes.

•  Komplett neu ist ein weiterer Materialteil (Teil C) zum Beitrag von Seelsorge im Kontext der Transplantationsmedizin. Spiritual Care will auch im Kontext forschungsintensiver Hochleistungsmedizin organisiert sein. Gerade in den technisch-funktional und nach klaren Regeln geordneten Abläufen der Transplantationsmedizin wirkt eine Seelsorgeperson fremd und unverzichtbar zugleich. In diesem Kapitel wird vielleicht am verständlichsten, welche Dynamik die Rolle des Andersseins von Seelsorge mit sich bringt und wie dies zur Stabilisierung der medizinischen Abläufe beiträgt.

•  Teil D zur Seelsorge im Kontext von Demenzerkrankungen ist nur geringfügig überarbeitet worden, da die zentrale Argumentation zum theologischen Verständnis von Person gleichgeblieben ist und sich auch in neuester Literatur wiederfindet. Sie ist Fundament seelsorglicher Zuwendung und Gestaltung subjektzentrierter Angebote in Gemeinde- und Einrichtungsseelsorge. Kleinere Überarbeitungen berücksichtigen die geänderte Gesetzeslage und die Entwicklung prozessorientierter Vorsorgeplanung.

•  Umfangreich sind die Neuerungen im programmatischen Schlussteil E zu christlicher Seelsorge zwischen systemischer Integration und Distanznahme. Da sich seit 2007 die gesundheitswissenschaftlichen, praktisch-theologischen und poimenischen Diskurse zu Spiritual Care in erstaunlichem Tempo beschleunigt haben, galt es nicht nur, auf die Diskussion innerhalb der Seelsorgetheorie einzugehen, sondern auf Aspekte aufmerksam zu machen, die meines Erachtens zu wenig Berücksichtigung finden. Die zentralen Begriffe Gesundheit, Well-being, Lebensqualität und insbesondere Spiritualität verdienen mehr Beachtung in interdisziplinärer Perspektive. Das parakletische Verständnis von Seelsorge (Kap. E 2) wurde ergänzt um eine eschatologisch orientierte Beschreibung von Seelsorge als Lebenssättigung, die insbesondere zu einer Wiederentdeckung der sakramentalen Praxis des Krankenabendmahls als Beitrag christlich bestimmter Spiritualität am Ort von Krankheit und Sterben einlädt. Damit ist gegenüber der ersten Auflage die Bedeutung präsentischen Verharrens und rituellen Handelns aufgewertet, ohne die ethische Funktion von Seelsorge im Gesundheitswesen zu schmälern.

•  Den Abschluss bildet eine grundlegende Beschreibung des Beitrags von Seelsorge zu Spiritual Care als Organisationskultur (Kap. E 3). Bemerkungen zur Heterotopie nach Michel Foucault werden durch raumsoziologische Erwägungen vertieft. Der Beitrag von Seelsorge besteht in einer raumtransformierenden Wirkung an den Orten klinischer und pflegender Einrichtungen. Eine prozessorientierte Integration von Seelsorge in die Organisation von Spiritual Care führt zu Transformationen mit nachhaltiger Wirkung. Diese Beschreibung bietet die Chance, schlichte Entgegenstellungen von Seelsorge oder Spiritual Care oder eine vereinfachende Auflösung von Seelsorge in Spiritual Care zu überwinden und damit Diskurse möglich zu machen. Die Chancen, die sich aus Geschichte und Entwicklung kirchlicher Seelsorgeangebote im deutschen Sprachraum für eine gemeinsame Sorgekultur ergeben, sind erheblich, bedürfen aber des vergleichenden Gesprächs mit Ansätzen in anderen europäischen Ländern, nicht nur den Niederlanden.

•  Ein knappes Fazit (Kap. E 4) fasst den Ansatz thesenartig zusammen.

Die Arbeit an der Neuauflage von Spiritual Care hat einen längeren Zeitraum in Anspruch genommen, als sich die Partner beim Kohlhammer Verlag erhofft hatten. Herrn Dr. Ruprecht Poensgen und Frau Dr. Annegret Boll sei für ihre Geduld herzlich gedankt, vor allem für die Ermutigung zu einer grundlegenden Überarbeitung. Frau Daniela Bach und Herrn Dominik Rose danke ich für die umsichtige und hilfreiche Lektorierung. Die Themen des Buches sind Ergebnis zahlreicher Diskussionen und Begegnungen mit den Kolleginnen und Kollegen, die in der Krankenhaus- und Altenheimseelsorge tätig sind und sich für seelsorgliche Angebote in ihren Kirchengemeinden einsetzen. In Fortbildungen und Konferenzen, Seminaren und Ausschüssen bin ich zahlreichen katholischen, evangelischen und muslimischen Seelsorgerinnen und Seelsorgern begegnet, denen ich viel zu verdanken habe und für die dieses Buch letztendlich geschrieben ist. Besonderer Dank gilt den Kolleginnen und Kollegen im Ausschuss »Seelsorge und Beratung« der Evangelischen Kirche von Westfalen, der Ständigen Konferenz für Seelsorge beim Rat der EKD, der Sektion Seelsorge der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin, der Internationalen Gesellschaft für Gesundheit und Spiritualität (IGGS) und dem Netzwerk Existenzielle Kommunikation und Spiritualität (NEKS).

Den Fachkolleginnen und -kollegen der Praktischen Theologie, Pastoraltheologie und Spiritual Care sowie anderer diakonischer und theologischer Bereiche bin ich dankbar für Positionen, Klärungen, Herausforderungen und freundschaftliche Unterstützung. Besonders danken möchte ich Thomas Hagen, Eckhard Frick, Bernhard Barnikol-Oettler, Sebastian Borck, Friederike Rüter, Margret Ehni, Antje Röse, Kerstin Lammer, Ingo Habenicht, Ralph Charbonnier, Johanna Haberer, Stefan Stiegler, Markus Rückert, Eberhard Hauschildt, Isolde Karle, Doris Nauer, Michael Klessmann, Birgit und Andreas Heller, Constantin Klein, Christian Zwingmann, Simon Peng-Keller, Arndt Büssing, Ralph Kunz, Christoph Müller, Richard Riess, Ulrike Wagner-Rau und – in Münster – Annina Ligniez, Reinhard Feiter und Christian Grethlein. Mit manchen durfte ich unmittelbar zusammenarbeiten, mit anderen habe ich über Texte oder bei Gesprächen streiten dürfen. In jedem Fall habe ich gelernt, neue Impulse erhalten und Ermutigung erfahren. Mannigfaltige Impulse kommen von Kolleginnen und Kollegen in der europäischen Nachbarschaft (vor allem im European Network of Health Care Chaplaincy). Der Theoriediskurs zu evangelischer Seelsorge kann durch das Gespräch über nationale und konfessionelle Grenzen hinweg nur gewinnen.

Durch die Arbeit an der Stiftungsprofessur für Spiritual Care in München, die an der medizinischen Fakultät der Ludwig Maximilians Universität angesiedelt ist, hatte ich das Privileg unmittelbarer Zusammenarbeit mit Expertinnen und Experten aus Medizin, Pflege und therapeutischen Fächern. Claudia Bausewein, Gian Domenico Borasio, Martin Fegg, Monika Führer, Ralf J. Jox, Stefan Lorenzl, Georg Marckmann, Andreas Schulze, Andrea Winkler und Maria Wasner stehen stellvertretend für viele Gesprächspartner. Mit ihnen konnte ich konkrete Projekte auf den Weg bringen, deren Ergebnisse in dieses Buch eingeflossen sind. Die unmittelbaren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter an der Spiritual Care Professur, meine Doktorandinnen und Doktoranden Stephanie Clemm, Michael Petery und Margit Gratz, sowie Piret Paal, Benjamin Bettenbrock und Stefanie Hloucal haben spannende Projekte entwickelt und abgeschlossen. Ertragreiche Kontakte in Kanada, Frankreich und der Schweiz haben neue Horizonte methodischer und thematischer Art ermöglicht: Dank an S. Robin Cohen und Christopher McKinnon in Montreal, Gustave Hentz in Straßburg und stellvertretend für die vielen Partner in der Schweiz: Udo Rauchfleisch, René Hefti, Martina Holder-Franz, Karin Kaspers-Elekes und Karin Tschanz. Die Gespräche mit Frauen und Männern aus Medizin und Pflege haben auch nach dem Wechsel an die Westfälische Wilhelms Universität Münster nicht aufgehört; durch Hartmut Schmidt, das Ehepaar Anna und Otmar Schober, Meike Schwermann, Philipp Lenz, Ulrike Hofmeister, Florian Schneider und Michael Fischer habe ich Einblicke in die spezifischen Strukturen Westfalens erhalten, die zu neuen Projekten für Spiritual Care führen. In der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin findet ein intensiver Gedankenaustausch statt, der immer wieder politische Resonanz erzeugt. Danke deshalb vor allem an Friedemann Nauck, Christoph Ostgathe, Manfred Gaspar, Martina Kern, Monika Müller und den Mitgliedern der Sektion Seelsorge, stellvertretend an Johannes Albrecht und Norbert Kuhn-Flammensfeld. Über zehn Jahre lang durfte ich mit Frank Erbguth, Christoph Meier und Frank Kittelberger das Medizin-Theologie Symposium der Evangelischen Akademie Tutzing leiten und dabei beeindruckende Einblicke in ganz unterschiedliche Fragestellungen finden. Nicht zuletzt verdanke ich viel den Begegnungen mit Ehrenamtlichen und Leitenden in Hospizvereinen in Deutschland und Österreich. Sie sind häufig die ersten, die spirituelle Bedürfnisse bei kranken Menschen wahrnehmen und sich um die Organisation von Spiritual Care bemühen. Sie handeln aus einer tief spirituellen Haltung heraus, von der sie in beeindruckender Weise erzählen.

Um die vielfältigen Begegnungen und Erfahrungen mit Literatur und Forschung zu verbinden, bedurfte es ausreichend Zeit am Schreibtisch. Die WWU Münster und die Fakultät für Evangelische Theologie haben mir durch ein Forschungsfreisemester ermöglicht, tatsächlich zum Schreiben zu kommen.

Den unmittelbaren Prozess des Schreibens begleitet haben meine Mitarbeiterinnen am Lehrstuhl für Praktische Theologie: Annina Ligniez, Margit Gratz, Anika Prüßing und Nele Kaiser haben nicht nur Zitate und verwendete Literatur auf Richtigkeit geprüft, auf die Verwendung gendergerechter Sprache geachtet und ein Register angelegt, sondern unermüdlich inhaltlich kritische Rückmeldung gegeben. Vor allem in der Schlussphase haben Frau Dr. Ligniez, Anika Prüßing und Nele Kaiser dafür gesorgt, dass das Manuskript rechtzeitig fertig wurde. Für alle Mühe schulde ich ihnen großen Dank. Claudia Rüdiger hat das Manuskript Korrektur gelesen und ein Literaturverzeichnis erstellt. Sie und die Studierenden in Vorlesung und Hauptseminar Seelsorge und im Seelsorgepraktikum (Dank an Pfarrerin Antje Röse für das gemeinsame Konzept!) stellen Fragen, geben Anregungen und zeigen ihre Begeisterung für Seelsorge in Schule, Krankenhaus, Altenheim und Gemeinde. Begeisterung und Mut für Seelsorge zu entwickeln, trotz aller Herausforderungen durch Sparzwänge, ist die Intention dieses Buches.

Mein Mann Daniel Roser-Lüthi ertrug während der Abfassung dieses Buches nicht nur nervöse Phasen ohne Aussicht auf Urlaub und endlose Gesprächsrunden zu Spiritual Care, sondern regte immer wieder selbst durch eigene Erfahrungen als Pfleger und Trauerbegleiter an. Meine eigene Spiritualität lebt auch aus dem Segen unserer Beziehung.

Spiritual Care ist ein Organisationsbegriff. Dabei versteht Seelsorge sich in Organisationen nicht von selbst. Sie findet sich nicht einfach vor, sondern verdankt sich dem Engagement Leitender, dem Verständnis von Mitarbeitenden, der Gesprächsbereitschaft von Betreuten und dem Charisma der Seelsorgenden selbst. Durch meine Tätigkeit in der Augustinum Gruppe konnte ich konkret beobachten, auf welche Weise Seelsorge Menschen dient und sie stärkt, das Gespräch mit ihnen sucht, neu eingestellte Mitarbeitende fortbildet, Kollegialität in unterschiedlichen Teams pflegt, sich auf ethisch fordernde Situationen einlässt, Krisen bewältigen hilft, Gottesdienste hält, die ganz nach den Bedürfnissen der Gemeinde (hochaltrigen Menschen mit intellektuellem Anspruch und Menschen mit fortgeschrittener Demenz) und ihrer Gestimmtheit ausgerichtet sind, und zugleich Seelsorge zu einer Leitungsaufgabe eines bundesweit tätigen Unternehmens macht. Über den Beitrag theologisch qualifizierter Seelsorge zu multiprofessionell organisierter Spiritual Care im Gesundheitswesen konnte ich im Augustinum vieles lernen. Deshalb widme ich dieses Buch der Pfarrerin am Augustinum, meiner Kollegin und Freundin Irene Silbermann. Sie lebt Seelsorge, wie ich sie verstehe. In ihren eigenen Worten:

»Seelsorge heißt für uns: Mitleben, mitarbeiten – zusammen mit denen, die hier leben und arbeiten. Dies versuchen wir nach Kräften.«

Münster im Januar 2017

Traugott Roser

 

 

A          Einleitung – Wahrnehmung, Reflexion und Gestaltung von Praxis

 

Im Frühjahr 2005 erhielt der amerikanische Filmregisseur und Schauspieler Clint Eastwood die begehrteste Auszeichnung der Filmbranche, den Oscar, für sein Box-Drama »Million Dollar Baby«1. Eastwood erntete mit seinem Film nicht nur begeisterte Kritiken und ein millionenfaches weltweites Publikum, sondern heftige Kritik durch Behindertenverbände und (überwiegend katholische) Kirchenvertreter. Gegenstand der Kritik war, dass das Drama mit der aktiven Tötung auf Verlangen der Hauptfigur des Films, der Boxerin Maggie (H. Swank), durch ihren Trainer und Vaterersatz Frankie (C. Eastwood) endete. In einer Besprechung in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 20. März 2005 schrieb Filmkritiker Peter Körte ausführlich über den sich am Film entzündenden Streit über Recht und Unrecht aktiver Sterbehilfe:

»Der Film wird in Geiselhaft genommen, um den je eigenen Interessen ein größeres Forum zu verschaffen, und die Trittbrettfahrer, die ihn instrumentalisieren, sind dieselben, die auch noch nie begreifen wollten, daß Autor und Erzähler eines Romans nicht ein und dieselbe Person sind. Weil sie das Kino insgeheim verachten, überschätzen und unterschätzen sie es zugleich. Sie glauben, ein Film könne wie ein Gesetzbuch normative Handlungsanweisungen geben, und sie können sich einfach nicht vorstellen, daß ein Publikum die moralischen Ambivalenzen aushält, welche ein Film zeigt.«2

Konservative Interessenverbände hätten den Film als ›linkes Schmähstück‹ und ›Vendetta gegen Behinderte‹ bezeichnet, weil er davon erzähle, wie die junge Boxerin durch eine Verletzung in einem unfairen Kampf querschnittsgelähmt, bettlägrig und pflegebedürftig wird und ihr Leben nicht mehr als lebenswert empfindet. Verlassen von ihrer Familie lebt Maggie in einem Pflegeheim, in dem sie lediglich vom Trainer und dem Erzähler (M. Freeman) besucht wird. Während Maggie in der ersten Hälfte des Films als psychisch wie physisch unnachgiebig harte Kämpferin inszeniert ist, bleibt ihr in der zweiten Hälfte nur noch die Willenskraft, um ihren Sterbewunsch gegen den väterlichen Freund durchzusetzen.

Der Film lädt auch deshalb zu kontroversen Diskussionen ein, weil er den Entscheidungsprozess des Trainers – als letztem verbliebenen Angehörigen – explizit in einen religiösen, römisch-katholischen Kontext einfügt. Frankie besucht täglich die Messe, »führt mit dem handfesten Pater seine eigenwilligen theologischen Dialoge – und schlägt sich dabei auf eine Weise mit Fragen von Schuld und Sühne herum, von denen der Katechismus nichts weiß«3. Er erörtert sein Vorhaben ausführlich mit dem Priester, findet jedoch bei ihm weder Verständnis noch einen brauchbaren Rat. Schließlich begeht er, wissend um die Problematik seiner Handlung, den strafbaren Akt, der auf diese Weise jeglicher romantisierenden Darstellung entbehrt. Religion kommt damit sowohl in ihrer individuellen Ausprägung als religiöse (und intellektuell reflektierte) Praxis des Subjekts Frankie als auch in ihrer institutionellen Ausprägung, repräsentiert in der Feier der Messe und den pastoralen Gesprächen zwischen Seelsorger und Gesprächspartner, vor. Der katholische Filmkritiker Matthias Ganter kann dem Ende kein positives Fazit abgewinnen:

»Dennoch: Bei aller Nuancierung wird ›Million Dollar Baby‹ bei den meisten Zuschauern den Eindruck erwecken, der Film werte diese Tat – allen moralischen Vorbehalten zum Trotz – positiv.«4

Clint Eastwoods Film ist eines der seltenen Beispiele einer differenzierten Darstellung eines medizinethischen Konflikts im Massenmedium Film. Die Differenziertheit der Argumentation, der narrativen Strukturen und Strategien, der düsteren filmischen Darstellung und nicht zuletzt der Einbeziehung der individuellen und institutionellen Formen der Christentumspraxis eröffnet einen weiten Horizont für die Diskussion über den Sinn der aktiven Beendigung des Lebens. Wie konzentrische Kreise legen sich im Film – wie in seiner Rezeption – Deutungsmuster um die beabsichtigte und schließlich durchgeführte Handlung. Vom rechtlichen Rahmen des Verbots der Handlung, über den therapeutischen Kontext von vergeblichen medizinischen Heilungsversuchen und (in diesem Fall mangelhafter) Pflege, der finanziellen und sozialen Situation der Patientin, ihrem Wunsch nach Selbstbestimmung bis hin zur religiösen Deutung von Begleitung und aktiver Sterbehilfe. Nicht zuletzt setzt sich der Film kritisch mit der kirchlichen Seelsorgepraxis in einer Konfliktsituation auseinander. Der Film eignet sich dadurch als Ausgangspunkt einer praktisch-theologischen Betrachtung von Seelsorge und ihrer gesellschaftlichen Funktion im Kontext medizinethischer Konfliktsituationen, in durch Krankheit und Verlust ausgelösten Krisensituationen.

Diesen Fragen gilt die vorliegende Arbeit. Sie wendet sich dabei als praktisch-theologische Arbeit vor allem an in seelsorglicher Praxis stehende Theologinnen und Theologen, die – wie der Pater im Film – von durch eine Krankheit oder einen Konflikt Betroffenen als Gesprächspartner zu Rate gezogen werden oder sich in einem beruflichen Umfeld bewegen, in dem diese Situationen zur alltäglichen Lebenswelt gehören. Die Arbeit versucht ein Verständnis von Praktischer Theologie für theologische Praktikerinnen und Praktiker zu beschreiben, das sich als Berufswissen und theologische Kompetenz versteht – in Ergänzung zu den pastoralpsychologischen und humanwissenschaftlichen Kompetenzen.5

Zu diesem Zweck lehnt sich die vorliegende Arbeit bei der Entwicklung ihrer Methodik an den grundlegenden Entwurf einer Fundamental-Praktischen Theologie des nordamerikanischen Theologen Don S. Browning an und entwickelt von da aus ein Verständnis von Praktischer Theologie als Deutekunst, die als zirkuläre Denkbewegung durch drei Schritte – Wahrnehmungskunst, Reflexionskunst, Gestaltungskunst – enzyklopädisch eingeordnet und an Praxis in doppelter Weise wahrnehmend und gestaltend interessiert ist. Im Materialteil der Arbeit wird diese Schrittfolge im Zusammenhang mit medizinethisch und therapeutisch problematischen Kontexten – am Anfang sowie am Ende des Lebens und in der Hochleistungsmedizin – konkretisiert. Dabei werden insbesondere die Bedeutung medizinethischer Fragestellungen für Seelsorge wie auch die organisationale Verortung von Seelsorge in Einrichtungen des Gesundheitswesens hervorgehoben. Diese Fragestellungen werden im dritten und abschließenden Teil der Arbeit diskutiert im Zusammenhang mit der Frage, ob christliche Seelsorge unter dem Begriff ›Spiritual Care‹ zu einem integralen Bestandteil moderner Medizin wird. Dieser Begriff, dem vor allem in der Palliativmedizin (und v. a. im angloamerikanischen Sprachraum) konstitutive Bedeutung für einen ganzheitlichen Ansatz zukommt, stellt an das Verständnis kirchlicher Seelsorge eine grundsätzliche Anfrage: Entspricht diese Zuordnung von Seelsorge zu Spiritual Care den Aufgaben seelsorglicher Begleitung und Beratung, wie sie in maßgeblichen Seelsorgetheorien der Gegenwart beschrieben werden?

Die Lehre von der Seelsorge gehört klassischerweise zur Praktischen Theologie. Sie lehrt nicht im Sinn der Anwendbarkeit erlernbare Techniken; als Teilbereich der Praktischen Theologie bezeichnet sie zunächst ganz allgemein und formal bestimmt die theologische »Beschäftigung mit den Lebensäußerungen der Kirche und den Tätigkeiten ihrer Funktionsträger«6 insbesondere in dem als Seelsorge bestimmten Handlungsfeld. Sie lehrt ein kritisches Verständnis von christlicher Praxis im Zusammenhang pastoralen und kirchlichen Handelns und kirchlicher Lehre in Bezug auf das Ganze der Theologie und auf humanwissenschaftliche Fächer sowie im Zusammenhang mit anderen Weisen zwischenmenschlichen Hilfehandelns und deren wissenschaftlicher Reflexion.7 Innerhalb der Seelsorgelehre spiegelt sich das komplexe Verständnis von Praktischer Theologie wider, das seinen Ausdruck in zahlreichen Bestimmungsversuchen gefunden hat, die sowohl den Praxisbegriff der Praktischen Theologie und ihren Bezug zur Praxis problematisieren als auch die Fragen nach dem Subjekt des Handelns und nach der Methode von Beschreibung und Reflexion diskutieren. Seelsorgelehre ist in dieser Komplexität als Teil Praktischer Theologie zu verstehen und von daher zu bestimmen.

In beeindruckender Weise greift der Entwurf einer Fundamental-Praktischen Theologie diese Komplexität auf und macht sie zur Grundlage Praktischer Theologie im Horizont des Ganzen der wissenschaftlichen Theologie.

1     Million Dollar Baby, USA 2004, 137 Min., Lakeshore Entertainment/Malpaso Productions, Regie und Musik: Clint Eastwood, Buch: F.X. Toole, Paul Haggis, Darsteller: Hilary Swank, Clint Eastwood, Morgan Freeman.

2    PETER KÖRTE, Mit der Faust mitten ins Herz, in: FAZ, 20. März 2005, 27. Vgl. differenziert zur katholischen Rezeption des Films in Deutschland: MATTHIAS GANTER, Zwischen Leben und Tod. Sterben und Tod in aktuellen Spielfilmen – Einleitung (http://www3.erzbistum-koeln.de/export/sites/erzbistum/medien/zentrale/_galerien/do wnload/Ster-ben_und_Tod_im_Film_-_Einleitung.pdf, Zugriff am 28.09.2005).

3    P. KÖRTE, Mit der Faust 2005.

4    M. GANTER, Zwischen Leben und Tod 2005.

5    Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Seelsorge müssen ihre Kompetenz durch Absolvieren einer standardisierten Aus- und Fortbildung nachweisen, bevor sie zum Dienst beauftragt werden können. In ihren Leitlinien für die Krankenhausseelsorge schreibt die Evangelische Kirche in Deutschland die Regeln für die Zulassung von professionellen Seelsorgerinnen und Seelsorgern fest: »In der evangelischen Kirche werden in der Regel ordinierte Pfarrerinnen und Pfarrer mit entsprechender Zusatzqualifikation in die Krankenhausseelsorge berufen. […] Daneben gibt es auch die Berufung von Diakoninnen und Diakonen sowie gemeindepädagogischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit besonderer Zusatzqualifikation in die Krankenhausseelsorge. […] Auf der Basis eines theologischen, religions- und/oder sozialpädagogischen Hochschulstudiums und einer entsprechenden zweiten, mehr praktisch ausgerichteten Ausbildungsphase erlangen hauptamtliche Seelsorgerinnen und Seelsorger spezifische Kenntnisse, Fähigkeiten und Haltungen, die durch eine pastoralpsychologisch-humanwissenschaftliche Zusatzqualifikation vertieft werden.« EVANGELISCHE KIRCHE IN DEUTSCHLAND (Hg.), Die Kraft zum Menschsein stärken. Leitlinien für die evangelische Krankenhausseelsorge. Eine Orientierungshilfe, Hannover 2004, 21f. Zur Berücksichtigung dieser Standards bei Stellenbesetzungen vgl. ebd., 33.

6    DIETRICH RÖSSLER, Grundprobleme der Praktischen Theologie, in: FRIEDRICH WINTZER (Hg.), Praktische Theologie, Neukirchen-Vluyn 19903, 1–10, 1.

7    Vgl. die einleitenden Ausführungen von JÜRGEN ZIEMER, Seelsorgelehre. Eine Einführung für Studium und Praxis, Göttingen 2000, bes. 17.

 

 

1          Zwischen Deskription und Strategie – Die Fundamental-Praktische Theologie Don Brownings

 

 

Der an der Divinity School der University of Chicago lehrende Theologe Don S. Browning hat in seinem zentralen Werk »A Fundamental Practical Theology«8 einen Ansatz entwickelt, der die aktuell dominierenden Bezugsweisen zur Praxis in der Praktischen Theologie – Wahrnehmungs- und Handlungsorientierung – differenziert im Ganzen der Theologie verortet: als gleichermaßen notwendige Weisen praktisch-theologischen Arbeitens. Browning ordnet die Momente einer ›deskriptiven‹ und einer ›strategischen‹ praktischen Theologie in einem ›Praxis-Theorie-Praxis-Modell‹ im Sinne einer korrelativen Hermeneutik an:

»The view I propose goes from practice to theory and back to practice. Or more accurately, it goes from present theory-laden practice to a retrieval of normative theory-laden practice to the creation of more critically held theory-laden practices.«9

Browning entwickelt seinen hermeneutischen Ansatz in Anlehnung an Hans-Georg Gadamer:

»When Gadamer’s hermeneutic circle is applied to theology, it turns all of theology into practical theology (what I have called a ›fundamental practical theology‹). In turn, it makes what we generally call practical theology – religious education, pastoral care, liturgics, etc. – into the culmination or last step of theology.«10

Der in »A Fundamental Practical Theology« vorgestellte Ansatz wurde von Browning im Blick auf die Praxis von Kirchengemeinden als gemeinschaftlicher Subjekte11 entwickelt; sein Anspruch geht jedoch weit über die Gemeindeebene hinaus. Browning versteht seinen Ansatz als öffentliche Theologie. Insbesondere der im US-amerikanischen gesellschaftlichen Diskurs heftig umstrittene Gegenstandsbereich ›Familie‹ bietet für Browning den Angelpunkt seines theoretischen Bemühens, den hermeneutischen Zirkel zwischen Beschreiben, Verstehen, Deuten und Handeln mehrfach abzuschreiten.12

Der Praxisbegriff Brownings orientiert sich am neueren amerikanischen Pragmatismus und an praktischer Philosophie. Browning hofft, durch den Anschluss an praktische Philosophie eine enge und zirkuläre Verbindung zwischen historischem Denken, Hermeneutik und Ethik zu leisten: »[O]ur present concerns shape the way we interpret the past. The reverse is also true. Solving our present ethical problems involves appropriating and reconstructing the past.«13 Die Grundidee des Pragmatismus, »die Bedeutung einer theoretischen Überzeugung durch die Beziehung auf praktische Folgen und Handlungen aufzuklären«14, greift Browning auf, um alle Theologie in einem fundamentalen Sinn als praktische Theologie zu bezeichnen. Es geht Browning dabei um eine Abkehr von einem herkömmlichen Verständnis von Praktischer Theologie als Anwendungsdisziplin, die lediglich die Erkenntnisse der historischen und systematischen Fächer in pastorales und kirchliches Handeln zu applizieren habe. Vielmehr steht die Frage nach der Anwendung schon am Anfang des Verstehensprozesses, da Praxisprobleme Verständnisfragen erst generieren oder aber ein Verständnisinteresse vorbestimmen: »Application to practice is not an act that follows understanding. It guides the interpretive process from the beginning, often in subtle, overlooked ways.«15 Die Praxis ist darum für die Entwicklung theoretischen Denkens nicht nur unverzichtbar, sondern wirkt sich bereits durch die Vorannahme praktischer Konsequenzen auf Theoriebildung aus.

Browning verknüpft seine praktisch-theologische Rezeption des amerikanischen Pragmatismus mit der Hermeneutik Hans-Georg Gadamers, um zu einer grundsätzlich für die Geistes- und die Naturwissenschaften geltenden Vorstellung einer dialektischen Denkbewegung zu gelangen: »from traditions of theory-laden practice to theory and back to new theory-laden practices«16. Gadamer habe darauf hingewiesen, dass Verstehen einem Dialog gleiche, in dem Vorannahmen und Vorverständnisse nicht zum Zweck einer unerreichbaren Objektivität beiseitegelassen werden sollten, sondern für den Verstehensprozess konstruktiv zu nutzen sind.

Im Bemühen, seine Gadamer-Lektüre und die Rezeption praktischer Philosophie für Theologie fruchtbar zu machen, setzt sich Browning eingehend mit David Tracys Arbeit »Blessed Rage for Order: The New Pluralism in Theology«17(1975) auseinander. Tracy entwickelt darin in fünf Thesen ein »revisionist model for contemporary theology«, das einer fundamentalen empirischen Wende der Theologie gleichkommt. Die zwei Hauptquellen christlicher Theologie sind Tracy zufolge die überlieferten christlichen Texte und »allgemeine menschliche Erfahrung und Sprache«18. Tracy fordert damit für die gesamte Theologie ein, was in der Praktischen Theologie seit den Anfängen der Pastoralpsychologie in den Vereinigten Staaten von Amerika zu den bestimmenden Faktoren wurde: die reflektierte Applikation theologischer Erkenntnisse, wie sie durch Richard Clarke Cabot vertreten wurde, und die Zugangsweise zum Studium der Theologie durch das eingehende empirische Interesse am »living human document«, das Anton Theophilus Boisen in den 1920er Jahren maßgeblich entwickelte.19 Anton Boisens Konzept einer theologischen Ausbildung im klinischen Kontext war begründet in der Erwartung, dass die Erfahrungen im Krankenhaus statt einer Bestätigung theologischen Denkens zu einer Herausforderung von und intensiviertem Erkenntnisinteresse an theologischen Lehren führen würden:

»The theological training of the future will be a continuous affair, with the parish as the laboratory, and the person in difficulty as the main concern, and the seminary as the clearing house of information and supervisor of method. The attention will be shifted from the past to the present; from books to the raw material of life.«20

Das empirische Interesse Boisens galt der Fruchtbarmachung unmittelbarer Erfahrung. Mit Boisen beginnt die anhaltende empirische Orientierung der Praktischen Theologie in Nordamerika.21

David Tracy greift das empirische Interesse an ›Erfahrung‹ auf, bestimmt jedoch das Verhältnis zwischen den Polen Vergangenheit und Gegenwart, Literaturstudium und Erfahrungsorientierung neu: Die Ergebnisse des kritischen Studiums beider Quellen, so Tracy, müssen auf dem Wege einer »kritischen Korrelation« zueinander in Beziehung gesetzt werden. Dabei müsse von einem Konzept Abschied genommen werden, demzufolge die christlichen Texte abschließende Antworten auf die Fragen liefern, die sich aus der Situation ergeben. Stattdessen müssten, um beiden Quellen gerecht zu werden, jeweils die zentralen Fragen und die Antworten erhoben, verglichen und kontrastiert werden. Zur Erhebung der Fragen und Antworten der »allgemeinen menschlichen Erfahrung und Sprache« rät Tracy zu einer hermeneutischen Phänomenologie der religiösen Dimension des Alltags und der wissenschaftlichen Sprach- und Erfahrungswelt. Ebenso müssen auch die christlichen Überlieferungen historisch-kritisch und in hermeneutischem Interesse untersucht werden. Leitfrage dabei ist: »What is the mode-of-being-in-the-world referred to by the text«22. Abschließend müssen die in ein kritisch-korrelatives Verhältnis gesetzten Ergebnisse der Wahrheitsfrage in einem metaphysischen Sinn ausgesetzt werden.23

Nach dieser Grundlegung weist Tracy im Schlusskapitel von »Blessed Rage for Order« der Disziplin der Praktischen Theologie einen eigenen Ort im Kanon der Disziplinen zu: Während die Fundamentaltheologie wie die Systematische Theologie sich mit der Konstruktion der gegenwärtigen Bedeutung und Wahrheit christlicher Tradition befassen und die historischen Disziplinen an der Rekonstruktion vergangener Bedeutungszusammenhänge im Blick auf ihre Gegenwartsrelevanz arbeiten, gilt die Aufgabe der Praktischen Theologie dem auf den Schwesterdisziplinen fußenden Entwurf möglicher künftiger Bedeutungszusammenhänge und Wahrheitsansprüche:

»Just as the historical theologian’s principal aim is an adequately reconstructed historia and the fundamental and systematic theologian’s principal attempts are to formulate an appropriately constructed contemporary theoria, so the practical theologian’s task becomes the rigorous investigation of the possibilities of praxis which a reconstructed historia and a newly constructed theoria may allow.«24

Der Begriff der »Praxis« hat dabei durch und durch normative Funktion, wie Tracy in Anlehnung an die theologische Rezeption Hegelianischer und Marxistischer Theorien formuliert:

»Such praxis, of course, is not to be identified with practice. Rather praxis is correctly understood as the critical relationship between theory and practice whereby each is dialectically influenced and transformed by the other.«25

Die kritische Korrelation von gegenwärtiger allgemein menschlicher Situation und Sprache und der christlichen Überlieferung entspricht einer dialektischen Verhältnisbestimmung, deren Ziel eine Transformation, eine ›Aufhebung‹ der Praxis ist; sie bedarf zudem einer interdisziplinären Bezugnahme auf die Gesellschaftswissenschaften:

»A practical theology in interdisciplinary conversation with empirical sociologists and economists, and informed by critical social theory would find its praxis grounded in, yet authentically be a major and new stage of development upon, the theoria of a newly constructed revisionist fundamental and systematic theology and an ever-freshly retrieved historical theology.«26

Diesem Konzept entspricht sowohl ein Verständnis von Praktischer Theologie als empirisch-kritischer Handlungswissenschaft27 als auch als Orientierungswissenschaft. Tracy ordnet die Praktische Theologie deutlich der Theoriebildung in den historischen und den systematischen Disziplinen unter; deren konstruktive Einsichten bilden den Maßstab der projizierten Praxis durch die Praktische Theologie. Über ein »historisch-systematisch[] orientierungswissenschaftliche[s] Fachverständnis[]«28 hinaus hat Praktische Theologie ein projektives Interesse. Sie reflektiert bestehende Praxis durch empirisch-kritische Analyse unter Zuhilfenahme sozialwissenschaftlicher Methoden und sucht nach Möglichkeiten neuer Praxis, deren Kriterien den vorgeordneten theologischen Schwesterdisziplinen entstammen.29

In seinem 1981 erschienenen Werk »The Analogical Imagination«30 präzisiert Tracy seinen Praxisbegriff im Blick auf die Praktische Theologie und macht dabei betont aufmerksam auf die kritische Funktion Praktischer Theologie für die Theoriebildung in den anderen theologischen Disziplinen:

» Practical theologies […] will assume praxis as the proper criterion for the meaning and truth of theology, praxis here understood generically as practice informed by and informing, often transforming, all prior theory in relationship to the legitimate and self-involving concerns of a particular cultural, political, social or pastoral need bearing genuine religious import.«31

Auch hier bleiben wahrnehmungs- und handlungswissenschaftliches Interesse miteinander verknüpft:

» Practical theologies will ordinarily analyze some radical situation of ethical-religious import in some philosophical, social-scientific, culturally analytic or religiously prophetic manner. They will either assume or argue that this situation is the (or at least a) major situation demanding theological involvement, commitment and transformation.«32

Auf diesem Weg kommt Tracy 1983 zu einer Definition kritisch-korrelativer Praktischer Theologie: »Practical theology is the mutually critical correlation of the interpreted theory and praxis of the Christian faith with the interpreted theory and praxis of the contemporary situation.«33

David Tracy steht am Beginn der »neuen Praktischen Theologie« in Nordamerika, deren Methodendiskurs vor allem der Hermeneutik gilt, die »als ›praktische‹ und ›theologische‹ Hermeneutik keineswegs auf Texte beschränkt sein soll, sondern die sich auf die heutige Situation bezieht.«34

Don Browning übernimmt von Tracy den kritisch-korrelativen Ansatz, weil er das Interesse an Erfahrung und Situation mit einem hermeneutischen Zugang zu den überlieferten Quellen des Christentums verbindet. Zudem entspricht dieser Ansatz Browning zufolge den Herausforderungen der Gegenwart: Menschen in modernen pluralistischen Gesellschaften leben in Zusammenhängen, die durch divergierende und heterogene Traditionen kultureller und religiöser Art geprägt sind. In ihrem Handeln und Verhalten sehen sich Menschen unterschiedlichen Rationalitäten und unterschiedlichen Ansprüchen gegenüber, sodass es zu konkurrierenden Handlungsoptionen kommen kann: »The conflict between contending theory-laden practices means that their questions emerge out of the conflict between the Christian and non-Christian aspects of their lives.«35 Die christlichen Texte und Überlieferungen leisten dabei einen Beitrag zur Handlungsorientierung, allerdings nicht exklusiv; andere Beiträge kommen aus anderen lebensweltlich relevanten Bereichen und Rationalitäten. Zwischen der christlichen Tradition und den Einsichten und Deutungsmustern anderer Herkunft soll es zu einer Korrelation kommen. Browning begreift Praktische Theologie deshalb auch nicht als Theorie ausschließlich oder primär kirchlicher Praxis, sondern als »öffentliche Praktische Theologie«:

»Es geht […] darum, die Reichweite der Praktischen Theologie in ihrem umfassendsten Kontext zu lokalisieren, nämlich im Dienst an der Welt. Das heißt im wesentlichen zu behaupten, daß eine vollkommen kritische, korrelative Praktische Theologie notwendigerweise öffentliche Praktische Theologie ist […], bemüht, die Praktiken religiöser und nicht-religiöser Gruppen in ihrem Einfluß auf das öffentliche oder gemeinsame Wohl zu analysieren und kritisch zu betrachten.«36

Insbesondere geht Browning mit Tracy konform im Unterfangen, aus beiden Quellen – der Situation und der Tradition – Fragen und Antworten zu gewinnen und diese in einen kritischen Dialog (unter Maßgabe der Wahrheitsfrage) miteinander zu bringen:

»Christian theology becomes a critical dialogue between the implicit questions and explicit answers of the Christian classics and the explicit questions and implicit answers of contemporary cultural experiences and practices.«37

Don Browning verbindet seine Rezeption Tracys allerdings mit der Kritik, dass die von Tracy vorgeschlagene und aufeinander aufbauende und damit hierarchische Anordnung der theologischen Disziplinen dem anspruchsvollen Programm nicht ganz entspreche. Indem Tracy mit Fundamentaltheologie und systematischer Theologie beginne und diese auf Fragen der kognitiven Verifikation fokussiere, erwecke er den Eindruck, »that one must begin theological reflection by establishing the cognitive and metaphysical grounds for judging the relative adequacy of religious statements about God«38; dabei werde der Praktischen Theologie nur eine nachgeordnete Rolle zuteil. Durch die Bezeichnung seines eigenen Ansatzes als Fundamental-Praktischer Theologie macht Browning die Gleichgewichtung der Quellen theologischen Denkens deutlich, die in kritischer Korrelation aufeinander bezogen werden. Der Praktischen Theologie komme eine rahmende Stellung im Ganzen der Theologie zu: Die Arbeit der historischen wie systematischen Disziplinen der Theologie sei Teil eines hermeneutischen Zirkels, der seinen Ausgang in konkreten Situationen nehme und auch wieder dorthin führe:

»But notice, these more systematic and critical moments are located within the middle of a practical hermeneutical circle that begins and ends with questions coming from concrete situations. Or, to say it differently, these more systematic theological moments are surrounded and focused by the questions of a fundamental practical theology.«39

Das von Browning dabei verwendete Verständnis von Praxis bezieht sich sowohl auf gegenwärtig übliche Praktiken, als auch auf eine durch Schrift und Tradition normativ verstandene Praxis und schließlich im Sinne einer verbesserten Praxis, die sich bewusster und theologisch reflektierter Gestaltung verdankt. Durch ein vierstufiges Modell einer Fundamental-Praktischen Theologie weist Browning diesen unterschiedenen Formen von Praxis im Zusammenhang der Theoriebildung jeweils unterschiedliche Orte zu. Dies gelingt durch die Einführung der Begriffe Empirie und Strategie als Beginn und Abschluss theologischer Denkbewegungen oder »Momente«40 (»Submovements«41): »descriptive theology«, »historical theology«, »systematic theology«, »strategic practical theology«.

DeskriptiveTheologie beschreibt gegenwärtige theoriegeprägte Praktiken im Sinne einer ›Horizont-Analyse‹: »it attempts to analyze the horizon of cultural and religious meanings that surround our religious and secular practices«42. Diese Analyse ist zu verstehen als ein interdisziplinäres Gespräch mit den Kulturwissenschaften, insbesondere der Psychologie, Ethnologie, Soziologie sowie den Erziehungswissenschaften. Das Interesse an religiösen Prägungen und Praktiken ist dabei keineswegs allein der Theologie vorbehalten. Vielmehr kommen die Human- und Sozialwissenschaften nicht ohne religiöse Fragestellungen aus: »The human sciences fade at their edges into religious perspectives. Insofar as they function within the Western tradition, they may fade at their edges into some sort of Jewish and Christian perspective.«43 Auch in diesem Sinne ist Praktische Theologie öffentliche Theologie, die über den Horizont kirchlicher Praxis hinaus Geltungsansprüche erheben kann und muss. Die leitenden Fragen dabei sind: »Was tun wir eigentlich in einem bestimmten Bereich unseres Handelns? Welche Gründe, Ideale und Symbole gebrauchen wir, um zu deuten, was wir tun? Woher kommen für uns Autorität und Legitimation dessen, was wir tun?«44

Browning strebt eine möglichst dichte Beschreibung der Situationen45 an und unterscheidet zu diesem Zweck fünf Ebenen praktischer Vernunft oder moralischen Denkens, auf denen sich das Gespräch zwischen Theologie und den Human- und Sozialwissenschaften vollziehen soll:

»1) eine visionäre Ebene, die im allgemeinen durch Erzählungen und Metaphern über den Charakter des grundlegenden Kontextes von Erfahrungen vermittelt wird; 2) eine verpflichtende Ebene, die durch ein implizites oder explizites moralisches Prinzip eher moralischer Art bestimmt ist; 3) Annahmen über fundamentale Gesetzmäßigkeiten menschlicher Neigungen und Bedürfnisse; 4) Annahmen über überall vorhandene soziale und ökologische Muster, die diese Neigungen und Bedürfnisse lenken und zügeln; und schließlich 5) eine Ebene der konkreten Handlungsweisen und Regeln, in die Informationen von allen vorangegangenen Dimensionen einfließen.«46

Durch die Unterscheidung dieser fünf Dimensionen rekonstruiert Browning im Anschluss an Habermas Intuitionen und Vorverständnisse in ihrer Relevanz für praktisches Handeln und damit verknüpfte Fragen und Probleme. Vor allem an diesem Punkt seiner Theorie wird deutlich, dass Browning theologische Ethik und Praktische Theologie in einem grundlegenden Sinn zu einem gemeinsamen Forschungsunternehmen zusammenbringen möchte, einer ›hermeneutisch konzipierten praktisch-theologischen Ethik‹47. Für Brownings Unterfangen sind die Dimensionen nützlich, weil sie die Beschreibung praktischer Handlungen erleichtern, eine kritische Reflexion der den Handlungen zugrundeliegenden Normen und Strategien und eine präzise Situationsanalyse ermöglichen. Für die Beschreibung von Handlungen sind diese Ebenen in rückwärtiger Abfolge geeignet, als Beschreibung von 1) konkreten Praktiken nach Regelhaftigkeit, Rollenverteilung und Kommunikationsmustern, 2) den Motivationen durch Neigungen und Bedürfnisse, 3) den sozial-systemischen und umweltbedingten Rahmenbedingungen, 4) den normativen Prinzipien und Pflichten, sowie 5) den grundlegenden Visionen, Erzählungen und Metaphern. Die so erzielte ›dichte Beschreibung‹ führt damit von unreflektiertem konventionellem praktischem Denken zu einem kritischen praktischen Denken, bei dem die jeweiligen Vorverständnisse benannt, reflektiert und auf ihre Validität hin geprüft werden.

Die dichte Beschreibung der gegenwärtigen Praxis kann auf diese Weise zur Grundlage von Reflexion der anderen theologischen Disziplinen gemacht werden. Dabei kommen sowohl historische Aspekte zur Geltung, die auf gegenwärtige Praxis in normativer Weise einwirken, als auch systematisch-theologische Aspekte, deren Ort vor allem in den handlungsleitenden Visionen und Metaphern zu finden ist. Dem gelten der zweite und der dritte Teil von Brownings Gesamtkonzept.

Die HistorischeTheologie übernimmt bei Browning ihre Aufgabenstellung aus der Beschreibung der gegenwärtigen Situation und ihrer Praktiken. Sie besteht darin, diese aus der Perspektive der normativen Texte und Traditionen des Christentums zu beurteilen, die ihrerseits in der Praxis bereits wirksam geworden sind. In einer doppelten Denk- und Suchbewegung wird einerseits die Wirkungsgeschichte der historischen Texte und Ereignisse bis zur aktuellen Situation beleuchtet, zum anderen werden gegenwärtiges Handeln und Problemsituationen mit normativen Texten der Christentumsgeschichte konfrontiert. Die historischen Disziplinen, die exegetischen Fächer, die Kirchen- und Dogmengeschichte werden damit zu einem Teil der praktischen Hermeneutik. Was dies konkret bedeutet, führt Browning im Zusammenhang der nordamerikanischen Debatte um ein zeitgemäßes Verständnis von Familie aus:

»We carried our initial practical questions each step of the way as we moved back into history to understand, and sometimes to criticize, the key monuments, texts, and events that shaped Western and, finally, American ideas and ideals about family.«48

Die Untersuchung der historischen Quellen folgt den Methoden, die in den exegetischen Fächern sowie in der Kirchengeschichte gebräuchlich sind, unter besonderer Berücksichtigung der sozialgeschichtlichen und kontextuellen Fragestellungen. Im Blick auf die hermeneutischen Aspekte der Textinterpretation partizipieren die biblischen Fächer an den hermeneutischen Diskursen über die Gestaltung, Bedeutung, Repräsentation und Aneignung von Texten, wie sie in der Philosophie, in den Literaturwissenschaften und in den Geschichtswissenschaften geführt werden.

Textinterpretation findet immer im Kontext einer Interpretationsgemeinschaft statt, sowohl auf der Ebene gemeindlicher Praxis als auch im akademischen Umfeld theologischer Wissenschaft und Ausbildung. Auf gemeindlicher Ebene werden etwa, wie Browning in seinem Grundlagenwerk aufzeigt, ausgehend von aktuellen Fragestellungen wie dem Umgang mit Flüchtlingen und Asylbewerbern, ausgewählte biblische Texte zu Rate gezogen, in ihrem historischen Kontext interpretiert und auf ihre Gegenwartsrelevanz hin befragt. Vom akademischen Kontext verlangt Browning im Anschluss an den Pragmatismus nicht weniger Praxisbezug, dafür jedoch einen höheren Grad an methodischer Reflexion und tiefer greifender thematischer Auseinandersetzung:

»If North American tradition were taken seriously, historical theology would be seen as a communally oriented interpretive process emerging from the questions of contemporary communities of praxis. This would be its character in the theological academy and, less systematically, in congregations.«49

Im Rahmen der fünf Dimensionen dichter Beschreibung von Praxis sieht Browning die Relevanz historischer Theologie insbesondere im Zusammenhang von normativen Prinzipien und Pflichten sowie grundlegenden Visionen. Auch in diesem Zusammenhang bleibt also das theologisch-ethische Interesse für Browning maßgeblich. Dieses Interesse bleibt auch in der Aufgabenbestimmung der Systematischen Theologie vorherrschend:

Die Hauptaufgabe der SystematischenTheologie sieht Browning in einer Horizontverschmelzung zwischen den Visionen, die einerseits in gegenwärtigen Praktiken und andererseits in den normativen christlichen Schriften implizit vorhanden sind. Systematische Theologie bemüht sich darum, die großen Fragen gegenwärtiger Handlungen und die in ihnen latent vorhandenen Visionen herauszustellen und in systematischer Weise mit den zentralen Fragen und Themen der christlichen Zeugnisse in ein Verhältnis zu bringen.50

»Zwei fundamentale Fragen leiten die Systematische Theologie. Die erste heißt: Welcher neue Sinnhorizont entsteht in der Verschmelzung, wenn Fragen, die aus der gegenwärtigen Praxis kommen, an die zentralen christlichen Zeugnisse herangetragen werden? Die zweite lautet: Welche Gründe können vorgebracht werden, um die Geltungsansprüche des neuen Sinnhorizonts zu stützen, der aus der Verschmelzung von Gegenwart und Vergangenheit entsteht? Diese letzte Frage weist hin auf die zusätzliche Pflicht der Systematischen Theologie, in den theologischen Prozeß eine kritische und philosophische Komponente einzuführen.«51

Browning macht die von ihm geforderte Hinwendung zur Systematischen Theologie deutlich an einem Vergleich zwischen drei nordamerikanischen Kirchengemeinden unterschiedlicher Denomination. Alle drei befassen sich auf je eigene Weise mit Modernisierungsprozessen; sowohl in ihren Reaktionen als auch in ihren Deutungen dieser Prozesse verhalten sie sich sehr verschieden. An diesem Punkt ist es Aufgabe Systematischer Theologie, die allen drei Gemeinden gemeinsamen Problemstellungen zu identifizieren und die christliche Tradition auf zentrale Lehren und Themen hin zu befragen, die Hinweise auf einen Umgang mit den aktuellen Problemstellungen geben können. Auch hier wird im Gefolge des nordamerikanischen Pragmatismus Systematische Theologie primär unter einem Praxisbezug verstanden, ohne dabei ein simples Applikationsmodell zu vertreten.

Der vierte Schritt seiner Fundamental-Praktischen Theologie – Strategische PraktischeTheologie – führt Browning erneut zurück auf die Ebene praktischen Handelns vor allem von kirchlichen Funktions- und Amtsträgern sowie theologischen Laien. Am Ort konkreter Praxis müssen sie komplexe und folgenreiche Urteile fällen und Entscheidungen treffen. Vier Grundfragen sind dabei bestimmend:

»Erstens: Wie verstehen wir diese konkrete Situation, in der wir handeln müssen? Zweitens: Was sollte in dieser konkreten Situation unsere Praxis sein? Drittens: Welche Methoden, Strategien und Darstellungsweisen sollten wir in dieser Situation gebrauchen? Und viertens: Wie verteidigen wir kritisch die Normen unserer Praxis in dieser konkreten Situation?«52

Strategische Praktische Theologie führt die Abstraktionsbemühungen durch ›dichte‹ Beschreibung der Situation und kritisch-korrelative Beurteilung durch Historische und Systematische Theologie zurück in die Konkretion einer bestimmten Situation und Handlungsweise. Durch ihr Handeln und Verhalten in bestimmten Situationen bringen christliche und kirchliche Akteure normative Ansprüche zum Ausdruck; in einer pluralistischen Gesellschaft müssen sie in der Lage sein, diese gegenüber anderen Ansprüchen zu legitimieren. Gerade an diesem Punkt sprengt Praktische Theologie nach Browning den Rahmen einer technisch verstandenen Anwendungswissenschaft. Das in den Anfängen der Praktischen Theologie geprägte Bild aufgreifend und zugleich weiterführend formuliert Browning:

»Strategic practical theology is indeed the crown, as Schleiermacher said, of theology. But strategic practical theology is no longer the application to practice of the theoretical yield of biblical, historical, and systematic theology as it was in the old Protestant quadrivium. Concern with questions of practice and application, as Gadamer has argued, is present in theology from the beginning. Strategic practical theology is the culmination of an inquiry that has been practical throughout.«53

Statt jedoch als Endpunkt einer Denkbewegung zu fungieren, bildet die Strategische Praktische Theologie lediglich einen Punkt, an dem der hermeneutische Zirkel von vorn beginnt; denn die Praktiken, die aus der Strategie hervorgehen, werden auf neue Fragestellungen stoßen. »Within the flux and turns of history, our present practices seem secure only for a period before they meet a new crisis that poses new questions that take us through the hermeneutic circle again.«54

Brownings wissenschaftstheoretisch begründeter Entwurf verbindet die berechtigten Anliegen der Praktischen Theologie als Wahrnehmungswissenschaft mit denen einer Handlungswissenschaft und wagt im letzten Schritt, sich als theoretisch reflektierte und normative Anwendungswissenschaft zu rekonstruieren. Auf spezifische Weise sucht er eine explizit methodische Lösung des Theorie-Praxis-Problems durch eine enzyklopädisch orientierte Aufgliederung des Gesamten der Theologie in Empirische, Historische, Systematische/Ethische und Strategische Theologie. Der Praktischen Theologie kommen dabei in unterschiedlicher Abstufung die Bereiche der Empirie und der Strategie zu. Letzten Endes geht es Browning um eine Transformation kirchlicher Praxis, um eine Verbesserung der Instrumente kirchlichen (insbesondere auch pastoralen) Handelns in der Hoffnung auf ihre Angemessenheit gegenüber der Situation, d. h. den Bedürfnissen des religiösen Subjekts, als auch ihrer Angemessenheit gegenüber der Lehrbildung und der Geschichte der Kirche.

Für den nordamerikanischen, durch den Pragmatismus geprägten Kontext liegt es womöglich nahe, eine solchermaßen enge Beziehung zwischen akademischer Wissenschaft und gemeinschaftlicher Praxis zu behaupten. Einflussreich hat sich Brownings Ansatz vor allem in der Diskussion um die theologische Ausbildung erwiesen; die Wirkungen blieben nicht auf die Disziplin der Praktischen Theologie beschränkt, sondern sind mit der Frage nach dem Verhältnis von Theorie und Praxis in der Theologie insgesamt verbunden.55 Für den deutschen Sprachraum kann Brownings Modell nicht ohne Weiteres übernommen werden, da sich sowohl die theologische Ausbildung hierzulande markant von nordamerikanischen Konzepten unterscheidet als auch Situation und Praxis kirchlichen Handelns gänzlich verschieden sind. Dies wird allein schon daran ersichtlich, dass der Ausgangspunkt der Empirie Brownings das Leben dreier Gemeinden ist, die sowohl unterschiedlichen Denominationen zugehören als auch durch ihre soziale Struktur (v. a. in ethnischer und ökonomischer Hinsicht) differieren, in sich selbst aber homogene Gebilde sind. Dies unterscheidet sich deutlich von der volkskirchlichen Situation in Deutschland;56 folglich befassen sich empirisch angelegte praktisch-theologische Entwürfe hierzulande mit anderen Phänomenen und Fragestellungen, etwa den empirischen Bedingungen der Christentumspraxis, die unter Zuhilfenahme der Bezugswissenschaften (etwa Soziologie oder Psychologie) untersucht und in den einzelnen Subdisziplinen verhandelt werden. In der Seelsorgetheorie etwa führt dies dazu, dass der Theologie selbst zwar der Bezug auf den kirchlichen Kontext der Seelsorge zukommt, die Frage nach den Methoden der Seelsorge jedoch vor allem im Gespräch mit den vielfältigen psychotherapeutischen Methoden geführt wird. Dem entspricht auch die Entwicklung seit Gründung der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie e. V. (DGfP) als ein ökumenisch ausgerichteter Berufsverband.57 Die Aufteilung der DGfP in fünf Fachsektionen zeigt, dass auch hier die primären Gesprächspartner in den Humanwissenschaften gesucht und gefunden werden: Tiefenpsychologie, Klinische Seelsorgeausbildung, Gruppe – Organisation – System, Personzentrierte Psychotherapie und Seelsorge, Gestaltseelsorge und Psychodrama in der Pastoralarbeit.58

An dieser Stelle soll nicht der Versuch unternommen werden, ein enzyklopädisch orientiertes Konzept Praktischer Theologie im Anschluss an Don S. Brownings Fundamental-Praktische Theologie zu entwerfen. Es geht vielmehr darum aufzuzeigen, dass die Denkbewegung Brownings, die gegenseitige Bezugnahme zwischen Theorie und Praxis, Situation und Tradition in einem beständigen hermeneutischen Zirkel, anschlussfähig ist für die Situation protestantischen kirchlichen Seelsorgehandelns im Kontext des modernen Gesundheitswesens. Insbesondere stellt das prozessuale und hermeneutische Vorgehen Brownings theologischen Praktikern ein Modell vor, das auf der Ebene kontextuell und situationsgebundener Praxis vermittelt zwischen der Wahrnehmung eigenen und fremden Handelns sowie von im beruflichen Kontext beobachtbaren Phänomenen und einer kritischen Überprüfung zum Zweck der Modifikation eigenen Handelns.

8  DON S. BROWNING, A Fundamental Practical Theology: Descriptive and Strategic Proposals, Minneapolis 1991 (paperback 1996). Browning ist einer der vier Herausgeber der vierten Auflage der RGG. Vgl. auch DON S. BROWNING, Auf dem Wege zu einer Fundamentalen und Strategischen Praktischen Theologie, in: KARL-ERNST NIPKOW, DIETRICH RöSSLER, FRIEDRICH SCHWEITZER (Hg.), Praktische Theologie und Kultur der Gegenwart. Ein internationaler Dialog, Gütersloh 1991, 21–42; DON BROWNING, Hermeneutik als Grundlage und Aufgabe praktisch-theologischer Ethik, in: WILHEM GRÄB, GERHARD RAU, HEINZ SCHMIDT, JOHANNES A. VAN DER VEN (Hg.), Christentum und Spätmoderne. Ein internationaler Diskurs über Praktische Theologie und Ethik, Stuttgart/Berlin/Köln 2000, 53–68; sowie DON S. BROWNING, The Relation of Practical Theology to Theological Ethics, in: MICHAEL W