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Ein bizarrer Mord in der beschaulichen Universitäts-stadt TÜBINGEN - Hauptkommissar Pit Mueller, Oldtimermotorradfahrer und Metallica-Fan mit Eheproblemen, stürzt sich in die Ermittlungen. Kurz darauf geschehen zwei weitere grausame Morde. Die Toten waren alle unbescholtene Bürger ohne Feinde. Nur Muellers bester Freund, der etwas exzentrische Zeitungsausträger Wilhelm Barenbach, der ihm mit seinem Hackertalent schon oft bei Ermittlungen geholfen hat, scheint als Einziger Streit mit allen Opfern gehabt zu haben. Mueller glaubt hartnäckig an Wilhelms Unschuld, weigert sich, gegen ihn zu ermitteln - und wird suspendiert. Dennoch macht er weiter Jagd auf den Mörder: Er zapft seine alten Verbindungen zur Tübinger Unterwelt an und Wilhelm verschafft sich Zugang zu den Servern diverser Behörden. Als sie endlich Berührungspunkte in den Lebensläufen der Opfer finden, wird schlagartig klar, dass der Mörder noch weitere Personen auf seiner Todesliste hat …
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Rainer Imm
Spitzbergmörder
Rainer Imm
Spitzbergmörder
Ein Baden-Württemberg-Krimi
Rainer Imm ist auf der Ostalb geboren. Seit seinem Studium der Germanistik, Sportwissenschaft und Internationalem Marketing und einem Auslandsaufenthalt in Oregon (USA) ist er in der Unternehmenskommunikation und als Autor tätig. Er lebt und schreibt in Tübingen.
www.imm-puls.de
1. Auflage 2015
© 2015 by Silberburg-Verlag GmbH,
Schönbuchstraße 48, D-72074 Tübingen.
Alle Rechte vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Christoph Wöhler, Tübingen.
Coverfoto: © frentusha – iStockphoto.
E-Book im EPUB-Format: ISBN 978-3-8425-1678-6
E-Book im PDF-Format: ISBN 978-3-8425-1679-3
Gedrucktes Buch: ISBN 978-3-8425-1428-7
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Mord ist der Wollust nah wie Rauch dem Feuer.
William Shakespeare
Steckbriefe
Pit Mueller (»Mueller mit ue«):
Hauptkommissar und offizieller Ermittler.
Status quo:
Routine hat sich in Arbeit und Familienleben so festgesetzt wie die Warze unter der Hornhaut seiner Ferse. »Lassen Sie sie doch einfach, sie stört ja nicht wirklich«, sagt sein Hautarzt.
Vorlieben:
Seine Werkstatt, seine alten Motorräder, die Ausfahrten mit den Kumpels. Rockmusik. Fußball. Der etwas andere Freund Wilhelm.
Image:
»Bluthund Mueller« ist an der Kette! Aber wehe, wenn er sich losreißt!
Motto:
Ein leerer Sack steht selten aufrecht.
Wilhelm Barenbach (»Ich heiße Wilhelm, nicht Willi.«):
Zeitungsausträger und inoffizieller Ermittler.
Status quo:
Seit Studienzeiten trägt er Tageszeitungen aus. Er ist enterbt und glücklich dabei.
Vorlieben:
Als Wissens-Junkie frönt er einer Leidenschaft: Er bildet sich ständig weiter. Er fordert Wissenschaftler heraus. Und er hackt Netzwerke – aus Neugier!
Image:
Er hat autistische Züge mit Inselbegabungen. Wenig kompatibel. Ausnahmen sind seine Lebensgefährtin Ilse und Pit Mueller.
Motto:
Wenn du dich für die Freiheit entschieden hast, kann dir nichts passieren.
Wilhelm Barenbach lehnte seine Hercules M 5 an den Gartenzaun des Holzhauses, das exponiert am Waldrand auf dem Tübinger Spitzberg stand. Er zückte rasch das Notizbuch und hielt seine Ideen für den Schluss des neuen Leserbriefes fest. Mit einem zufriedenen Schmunzeln packte er es wieder ein, nahm wie immer die vorletzte Zeitung – die letzte war seine – aus der Satteltasche und wollte sie in den Briefkasten am mannshohen Lattenzaun stecken. Jetzt erst sah er, dass das Gartentor sperrangelweit auf stand. Auch die Haustür! Überall brannte Licht. Sehr ungewöhnlich! Normalerweise waren alle Türen verriegelt und Besuchern war es noch nicht einmal möglich, auf das Grundstück zu gelangen.
Wilhelm hielt die Zeitung fest umklammert, streckte den Kopf vor und ging langsam durch den Garten. Seine übergroße Neugier kämpfte die aufkommenden Bedenken nieder und ließ ihn vorsichtig durch die Haustüre schleichen, so, als würde er auf einer schmelzenden Eisdecke über einen See tasten. Er hatte natürlich von der osteuropäischen Einbrecherbande gelesen, die die Gegend seit einiger Zeit unsicher machte. Als regelmäßiger Tatort-Zuschauer – die einzige nicht-informative Sendung, die er sich gönnte – wusste er auch, dass er sich auf alles gefasst machen musste, vielleicht sogar auf einen Mörder. Der Gedanke ließ ihn kurz innehalten, bevor er zögerlich den nächsten Schritt auf das imaginäre dünne Eis setzte. Einem Impuls folgend nahm er sein Smartphone aus der Gesäßtasche und drückte auf das Symbol der Filmkamera. Über den Flur trat er in das Wohnzimmer ein und hielt das Handy mit gestrecktem Arm nach vorne, so wie Fernsehkommissare ihre Pistole. Zusammen mit der Zeitung in der anderen Hand gab es ihm eine Sicherheit, die sogar er nicht hätte erklären können.
Im Wohnzimmer sah es ordentlich aufgeräumt aus und erst jetzt kam er auf die Idee, laut zu rufen. Vielleicht war hier doch zu viel »Tatort« und zu wenig … na ja … zu wenig Wirklichkeit. Was, wenn Herr Theißen plötzlich um die Ecke kommen und ihn hier als Eindringling in seinem Haus sehen würde – mit einem filmenden Smartphone in der Hand?
»Herr Theißen, sind Sie hier?«
Er schlich sich geduckt weiter hinein ins Wohnzimmer.
Warum eigentlich geduckt? Er richtete sich auf.
»Hallo, Herr Theißen!«
Über die hohe Lehne des alten Loriot-Sofas hinweg sah Wilhelm ein Glas Rotwein auf dem Tisch stehen. Konnte er nur kurz mal weg sein? Weil er etwas vergessen hatte, etwas dringend besorgen musste? Jetzt? Um diese Zeit? An der Tankstelle? Hatte er Lust auf Cracker, Chips, Junkfood als Beilage zum Wein bekommen?
So musste es sein.
Wilhelm atmete tief durch, stoppte den Film und drehte sich gerade zum Gehen um, als er plötzlich hinter sich ein schabendes und dann ein dumpfes Geräusch hörte. Er ging rasch um das Sofa herum, um gleich wieder vor Schreck zurückzuschnellen.
Herr Theißen lag seltsam verrenkt, mit weit aufgerissenen Augen, runtergerutscht, halb auf dem Sofa, halb auf dem Boden – am Kopf blutend, gefesselt, geknebelt und leblos.
Mord – Hauptkommissar Pit Mueller spürte ein Prickeln in der Brust.
Er musste unbedingt sein Lächeln aus dem Gesicht bekommen, bevor er das einsame Holzhaus oben auf dem Spitzberg erreichen würde. Aber verdammt noch mal, er freute sich tatsächlich. Wenigstens die drei Minuten noch bis zum Tatort. Bei all dem Kleinschrott von Mini-Dealern, Schmalspur-Paten und Möchtegern-Rambos in der schwäbischen Universitätsstadt endlich einmal eine Abwechslung. Und was für eine!
Er parkte seine BMW R 60/2, Baujahr 1959, hinter den Polizeiautos. Kurz kam ihm der Gedanke, dass er zu diesem Einsatz vielleicht doch besser den Wagen genommen hätte. Aber trotz der unverschämt frühen Tageszeit hatte er Lust gehabt, Motorrad zu fahren, zumal die Maschine noch vorm Haus stand. Er war gestern Abend zu faul gewesen, sie in seine Werkstatt zu fahren.
Er ging einen kleinen Umweg. Immer noch lächelnd genoss er die herrliche Aussicht vorbei an Obstbäumen, die immer mehr Blätter abwarfen, auf die Schwäbische Alb und die Burg Hohenzollern. Er kannte den Blick natürlich von früher und auch die Wege hier im Wald, als Gudrun und er noch spazieren gegangen waren. Gott, das musste Jahrzehnte her sein. Na ja, nicht ganz, immerhin waren Paul und Anne schon auf der Welt gewesen.
»Hey Pit, schön, dass ich dich hier sehe!«
Mueller, der mental in anderen Welten surfte, zuckte vor Schreck zusammen, sein rechter Arm fuhr schützend hoch und die linke Hand ballte sich zur Faust auf Gürtelhöhe.
»Willi?«
Mueller wusste seit vielen Jahren, dass Wilhelm Barenbach es hasste, so genannt zu werden, trotzdem rutschte es ihm heraus.
»Wilhelm, was machst du denn hier?«
Mueller war wirklich überrascht, ihn hier zu sehen. Er nahm schnell den Arm runter und zog sich verlegen die Jeans hoch, die fast in die Kniekehlen gerutscht war. Gleichzeitig war er ein wenig stolz darauf, dass seine Reflexe trotz Übergewicht noch funktionierten. Immerhin hatte er schon seit Jahren kein Karate mehr trainiert. Das war, neben der Tatsache, dass er gerne aß und trank – am liebsten Hefeweizen oder Kellerbier –, auch der Grund für die Love Handles an seinen Hüften. Der breite Oberkörper ließ trotzdem erahnen, dass er in fernen Zeiten intensiv Sport getrieben hatte. Sein Haar, immer noch voll und mit wenig Lametta durchzogen, trug er kurz. Die braunen Augen mit den dicken Brauen darüber und sein dunkler Teint gaben ihm ein südländisches Aussehen. Wenn er zu faul war, sich zu rasieren, wirkte er mit seinen 1,85 Metern Körpergröße finster und unzugänglicher, als er in Wirklichkeit war. Leider fiel die Rasur in den letzten Monaten immer häufiger aus.
»Na ja, ich war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit der Erste nach dem Täter hier am Tatort. Und somit war ich derjenige, der das Opfer gefunden hat.«
Mueller lächelte ihn an. Wilhelm konnte es einfach nicht. Es war ihm schlichtweg nicht möglich, in der gesprochenen Sprache einfache Sätze zu bilden – in der geschriebenen schon gar nicht. Immer, ohne Ausnahme, formulierte Wilhelm einen Tick blumiger als seine Umwelt. Es war weder Absicht noch Schikane; seine Belesenheit, vielleicht sollte man sagen: seine Schrulligkeit, schien ihm im Weg zu stehen.
Für Mueller war es seltsam, Wilhelm an einem anderen Ort zu treffen als in seiner kleinen Werkstatt oder in ihrer Stammkneipe. Trotzdem stellte sich sofort die gewohnte Vertrautheit ein.
Allerdings war er der ermittelnde Kommissar, und er agierte jetzt auch so.
»Ich geh jetzt mal kurz da rein und muss hinterher noch ausgiebig mit dir sprechen. Hast du Zeit? Auch, um später eventuell mit mir aufs Revier zu kommen?«
»Herr Theißen ist die letzte Station meiner alltäglichen Tour. Ich habe Zeit und stehe dir vollumfänglich zur Verfügung.«
Schmunzelnd nickte Mueller. »Ich werde mich also an den Tatort begeben und nach einer geraumen Zeit wieder zurückkehren!« Er drehte sich um und ging Richtung Holzhaus.
Er bereute es gleich wieder, Wilhelm in seiner ihm eigenen Ausdrucksweise nachgeahmt zu haben. Mit einem »Nur eine Minute« versuchte er davon abzulenken. Er schämte sich sogar ein wenig, denn genau deshalb mochte er Wilhelm doch so sehr: wegen seiner unangepassten Art, seinem Mut, sich nicht um die Meinungen anderer zu kümmern, wegen seiner genügsamen Ansprüche, seinem Entschluss, lieber selbstbestimmt und ohne viel Geld zu leben als wohlhabend und herzinfarktgefährdet. Diese Dinge, die andere abschreckten, die Wilhelm zum Außenseiter machten, gefielen Mueller an ihm. Schon damals, als sie sich beim Jurastudium kennengelernt hatten.
Als er durch das Gartentor trat, gingen die Schultern nach hinten – fast ohne sein Zutun, so dass sein Hemd über dem Bauch und auf der Brust spannte. Sein rechter Mundwinkel zuckte entschlossen nach oben. Nicht ganz ein Lächeln, eher Dynamik, Tatkraft und Wille.
Die Kollegen gingen ihm aus dem Weg. Nur Spranz, sein schlanker, eher hagerer Assistent, der schon vor Ort war, versuchte ihn einzuholen und neben ihm Schritt zu halten.
Mueller taxierte den Garten. Genau die richtige Größe, um mit den Motorrad-Kumpels gediegen zu grillen, dachte er.
»Morning, Herr Hauptkommissar! Das Opfer ist Elmar Theißen, ehemaliger Schulleiter des Wildermuth-Gymnasiums Tübingen, wohnte seit seiner Pensionierung alleine hier oben, seine Frau ist vor Jahren gestorben, zwei Söhne, erwachsen, aus dem Haus.«
»Okay, weiter! Weiß ich alles!«
Mueller kannte Theißen als stadtbekannte Persönlichkeit seit Jahren. Seit ein paar Wochen wusste er weitere Fakten. Er war einfach neugierig gewesen, wer in »seinem« Haus wohnte, und hatte herausgefunden, dass es Theißen war. Mueller hatte gesponnen und sich ausgemalt, wie es sein würde, genau in diesem Holzhaus, in dem jetzt der Mord passiert war, zu wohnen. Alleine, mitten in der Natur, mit dieser Ruhe, dieser Aussicht und mit Zeit. Vor allem mit Zeit, die er selbstbestimmt einteilen konnte.
»Wie sieht es aus mit Spuren hier draußen? Reifen? Fußabdrücke? Gibt es Zeugen? Kommen Sie, Spranz, ich will Informationen.«
Er spürte, wie Spranz ihn verblüfft von der Seite ansah. Diesen Mueller kannte sein Assistent gar nicht. Mueller wusste, dass Spranz unbedingt von ihm lernen wollte. Und er wusste auch, dass er frustriert war. In dem Jahr, seit sie zusammenarbeiteten, hatte der Hauptkommissar nicht viel getan, um seinen Ruf, der auf frühe, außergewöhnliche Ermittlungserfolge beruhte, zu rechtfertigen.
Vor Jahren war Mueller fast schon eine Legende gewesen. Er hatte früh in seiner Karriere als verdeckter Ermittler einen Drogenring auffliegen lassen, er hatte die Hintergründe des Skandals der Tübinger Maschinenfabrik TüMa aufgedeckt und mit seinen Recherchen dafür gesorgt, dass die Geschäftsführer des Unternehmens wegen illegalen Waffenhandels verurteilt wurden. Mueller war es auch gewesen, der durch äußerst professionelles und kluges Verhalten eine Geiselnahme in einer Tübinger Bank ohne Blutvergießen beendet hatte.
Trotzdem hatte er dem Werben des Landeskriminalamtes damals widerstanden. Was hatten Stuttgart und das LKA schon, was Tübingen nicht hatte? Besonders in den letzten Jahren zweifelte er seine Entscheidung immer öfter an. Auf Mörder und Schwerverbrecher war einfach kein Verlass mehr – nicht in dieser Stadt.
»Ähm, ja, die Spurensicherung ist dran. Noch nichts Konkretes. Bisher nur der Zeitungsausträger Wilhelm Barenbach, der die Leiche gefunden hat.« Er überlegte kurz. »Ah, not to forget! Es scheint nichts zu fehlen hier im Haus, allerdings ist seine Geldbörse leer.«
»Halten Sie mich immer auf dem Laufenden, auch Kleinigkeiten will ich sofort wissen.«
Als er schon fast im Wohnzimmer stand, ergänzte er: »Und fangen Sie jetzt gleich an, umfassend zu recherchieren. Theißens Umgang! Freundeskreis! Ehemalige Kollegen! Feinde! Sie wissen schon.«
Während Mueller Plastikhandschuhe und Schuhüberzieher anlegte, schaute er auf die Eingangstür. Keine Beschädigungen! Im Flur schien alles an seinem Platz zu stehen, auch im Zimmer. Kein Kampf also, und die im Moment aktive Diebesbande war wohl auch kein Thema. Keine voreiligen Schlüsse, ermahnte er sich selbst. Immer langsam mit den jungen Pferden.
Die Atmosphäre des Holzhauses war trotz der Geschäftigkeit der Spurensicherung und der Kollegen angenehm: der gusseiserne Ofen, Brennholz daneben, viele Bücher in Regalen, gediegene Teppiche, eher wenige, ausgesuchte Möbel, keine Schnörkel und kein Nippes. Alles ordentlich, aber nicht penibel. So ähnlich hätte auch er das Haus eingerichtet.
»Hans, grüß dich!«
Dr. Hans Kamen, der Chef der Rechtsmedizin und Besitzer eines unverschämt gut durchtrainierten Körpers, kniete neben der Leiche. Wäre Kamen nicht sein Freund, dann wären dessen Muskeln und damit Muellers eigenes schlechtes Gewissen Gründe genug, sauer auf diesen Typen zu sein.
»Todesursache? Tatzeit? Gib mir Stoff!«
Dr. Kamen lächelte: »Moin, Pit! Welche Drogen hast du schon gefrühstückt?«
Mueller rieb erwartungsvoll die Hände aneinander. »Gute Idee eigentlich!« Er schaute sich um und rief in Richtung Ausgang: »Spranz, besorgen Sie doch bitte mal Kaffee für den Doktor und für mich! Schwarz, ohne nichts!«
Dr. Kamen drehte den Kopf der gefesselten Leiche so, dass Mueller eine Wunde erkennen konnte. »Also, erst dachte ich ja, dass ein Schlag auf den Kopf den Tod herbeigeführt hätte. Jetzt bin ich mir aber fast sicher, dass er absichtlich nur leicht verletzt wurde, um ihn zu überwältigen und danach qualvoll mit diesem Slip ersticken zu lassen.«
Mueller sah sich den rosa Slip im Mund des Opfers näher an.
Der Doc schüttelte den Kopf: »Er konnte ihn nicht ausspucken, weil sein Mund mit Gaffa-Tape zugeklebt war. Ganz schön perfide!« Er drehte sich zu Mueller. »Ob es tatsächlich so war, kann ich dir frühestens morgen sagen. Auch die Tatzeit. Ich schätze aber so zwischen drei und sechs Uhr morgens.«
»Sieht nach Rache aus«, sagte Mueller nachdenklich, eher zu sich selbst. »Eine Bestrafungsaktion einer organisierten Bande?«
»Auf den ersten Blick schon. Aber ich glaube es eher nicht. Mir sieht das zu … zu unprofessionell aus. Mafiabanden würden das dramatischer machen.« Dr. Kamen zuckte mit den Schultern und ergänzte: »Ein besseres Wort fällt mir nicht ein.«
Mueller murmelte: »Sicher ist, dass jemand wirklich sauer war! Warum nur?« Und dann lauter zu Kamen: »Danke, Hans!«
Als Mueller sich umdrehte, stand sein Assistent vor ihm.
»Ah, Spranz, beschleunigen Sie doch das Ganze, sprechen Sie sich mit der Technik ab und holen Sie selbst, parallel zur KTU, schon mal Infos über Slip und Tape ein. Woher stammen die Sachen? Wo gibt es sie zu kaufen? Und so weiter.«
Er schaute sich kurz im Zimmer um. »Hat die Spusi hier drin schon erste Ergebnisse? Fremde Fingerabdrücke? Handschuhabdrücke? Blutspuren?«
Mueller wusste selbst, dass es zu früh war, er hatte aber Lust, seinen Assistenten ein wenig zu fordern. Jetzt war Schluss mit dem Lotterleben.
»Nope, bis jetzt noch nicht«, sagte Spranz überraschend selbstbewusst und holte dabei zwei dampfende, herrlich duftende Tassen Kaffee hinter seinem Rücken hervor und hielt sie stolz unter Muellers Nase.
»Kompliment, Spranz! Das ging ja schnell.«
Spranz deutete verschwörerisch mit einer Kopfbewegung Richtung Küche.
»Nee, das ist jetzt nicht Ihr Ernst?«
Eigentlich hätte er über so viel Einfältigkeit laut auflachen oder besser ihn rundmachen müssen. Doch er wusste, dass sein Assi es ihm nur recht machen wollte und hielt sich zurück, schließlich war es seine eigene Schnapsidee gewesen. Wo hätte er den Kaffee denn auftreiben sollen? Unten in der Altstadt?
»Mensch, Spranz, ich dachte, Sie seien schon weiter!« Mueller schüttelte den Kopf, wurde dann aber versöhnlicher. »Und ab jetzt Finger weg von allem. Okay?« Er nippte genüsslich. »Trotzdem danke.«
Als er Kamen zuprostete, fiel ihm ein, dass der eigentlich keinen anderen als seinen eigenen Kaffee trank. Er nippte trotzdem.
»Und Spranz! Überprüfen Sie, ob Theißen irgendwann mal bedroht wurde!«
Er schaute sich intensiv im Holzhaus um, wühlte in Schränken, Papierkörben, Unterlagen, übergab einiges seinem Assistenten und wies ihn an, Theißens Laptop und den Anrufbeantworter mitzunehmen und durchzuchecken. Kurz erwischte er sich bei dem Gedanken, dass das Haus ja jetzt bald frei sein und vielleicht neu vermietet werden würde.
Er fühlte sich sofort schlecht. Aber verflucht, es war die Wahrheit.
»Du und Theißen, ihr wart nicht gerade die besten Freunde.«
Mueller und Wilhelm saßen statt im Revier auf der braunen Bank, die fünfzig Meter vom Holzhaus entfernt stand, und hatten – zunächst ohne zu sprechen – den aufkommenden eher spätsommerlichen als frühherbstlichen Tag und den weiten Blick auf die Schwäbische Alb genossen: zum Mössinger Bergrutsch und zum Roßberg. Heute konnten sie sogar die Salmendinger Kapelle als verschwindend kleinen Stecknadelkopf erkennen.
»Herr Theißen! So viel Zeit muss sein«, verbesserte ihn Wilhelm. Bei allen Kontroversen war Wilhelm Höflichkeit und Korrektheit wichtig, vor allem aber Zuverlässigkeit und Ehrlichkeit. So hatte er es schon sein ganzes Leben gehalten. Und nicht immer und überall war das gewollt. Das war ihm aber egal. Damit konnte er gut leben. Diesen Prinzipien würde er immer treu bleiben. Vielleicht wurde auch er von seinen Gegenspielern als Idiot bezeichnet, genau wie der »Idiot« in Fjodor Dostojewskis Roman, der mit seiner schonungs- und kompromisslosen Ehrlichkeit überall aneckte. Er wusste es nicht und es interessierte ihn auch gar nicht.
Dabei wirkte er körperlich so anziehend – jedenfalls für Kinder. Mueller hatte schon öfter erlebt, wie sie seine Nähe suchten und sich gerne an ihn kuschelten. Nicht ganz so groß wie Mueller, aber mit seinen 1,80 Metern war er für sie wohl eine Art Teddybär. Eigentlich erstaunlich, denn er hatte zwar Rundungen und war beleibt, aber keineswegs dick oder sogar schwabbelig. Vielleicht war es auch sein rundes Gesicht und die strubbeligen Haare, die, so wie er selbst, sich nicht zähmen ließen und nach Freiheit strebend in alle Richtungen abstanden.
»Wenn ich dich erinnern dürfte, Pit! Du selbst hast dich maßlos über Herrn Theißens Rechthaberei echauffiert.«
»Nein, das stimmt so nicht, mein Lieber.« Und bevor Wilhelm protestieren konnte, erklärte Mueller: »Ich habe weder ›echauffiert‹ noch ›Herr‹ oder ›Rechthaberei‹ gesagt, sondern wörtlich: ›Theißen ist ein Klugscheißer, der mir gehörig auf den Sack geht.‹«
Dieser unpräzisen, schnoddrigen, zuweilen halbseidenen Ausdrucksweise verweigerte sich Wilhelm. Er selbst pflegte eine klare und präzise Kommunikation.
Aber obwohl das nicht seine ihm eigene Art und Weise war, sich auszudrücken, konnte Wilhelm nicht umhin, aus vollem Hals zu lachen.
»Mich nervt das einfach, wie er dich öffentlich runtermacht in seinen Leserbriefen. Das ist oft unfair«, ergänzte Mueller.
Im Gegensatz zu Herrn Theißen nahm Wilhelm die Ausführungen, die manchmal auch unter die Gürtellinie zielten, nicht persönlich. Das hatte er ihm voraus. Ihm ging es immer um Faits accomplis, um unumstößliche Tatsachen. Um Tatsachen, die sich beweisen und stützen ließen. Wilhelm stand über der Sache, Herr Theißen nicht. Wenn der es nötig hatte, ihn in seinen Leserbriefen persönlich anzugehen, dann ließ Wilhelm das kalt. Auch weil er dank seiner Informatikkenntnisse Quellen und Wissen anzapfen konnte, von denen der ehemalige Pädagoge nur träumte. Und das war keinesfalls Übertreibung oder Überheblichkeit, es war einfach eine Tatsache.
»Und immer dieses akademische Getue.«
»Pit, du weißt, dass mir das keinerlei Probleme bereitet.«
Herr Theißen konnte noch so oft und nachdrücklich seine Ausbildung und seine Berufserfahrung in die Waagschale werfen und Wilhelm wegen der fehlenden akademischen Weihen diskreditieren. Das focht Wilhelm tatsächlich nicht an. Und im Unterschied zu Herrn Theißen hatte Wilhelm eine unbändige Freude an diesen Auseinandersetzungen. So wie er es überhaupt liebte, sich Wissen anzueignen und überhebliche, im Elfenbeinturm verharrende Wissenschaftler herauszufordern. Sein Leben hatte er danach ein- und ausgerichtet.
Sie lehnten sich zurück, schwiegen. Genauso gut hätten sie auf der Bank vor Muellers Werkstatt hinter der Jakobuskirche in der Unterstadt sitzen können – mit einem Kellerbier der Neckarmüllerei in der Hand.
»Wilhelm, wann genau hast du ihn gefunden?«
»Ich bin wie immer exakt um sechs Uhr über den Parkplatz am Ende des Burgholzweges gefahren und erreichte um sechs Uhr zwei Herrn Theißens Haus.« Wilhelm grinste Mueller an.
»Was ist daran so lustig?« Mueller senkte erstaunt das Kinn und schaute ihn fragend an.
»Ach!« Wilhelm wedelte eine nicht vorhandene lästige Fliege vor seinem Gesicht weg. »Na ja, ich amüsiere mich jeden Morgen köstlich darüber, dass ich ihm täglich die Tageszeitung zustelle, in der wir unsere Meinungsverschiedenheiten austragen. Obwohl wir uns seit Jahren über Leserbriefe ›bekriegen‹ – so hat Herr Theißen sich einmal ausgedrückt –, kennen wir uns nicht persönlich. Er weiß noch nicht einmal, wie ich aussehe.«
»Du hast ihn tatsächlich noch nie getroffen? Auch nicht bei Vorträgen oder Diskussionen?«
Wilhelm schob die Unterlippe vor: »Nein, nie!«
»Okay, zurück zu heute Morgen. Du bist also exakt um sechs Uhr zwei angekommen. Und was hast du dann gemacht?«
Wilhelm schilderte gewissenhaft den Ablauf und führte sogar seinen Handy-Film vor. Er versprach, ihn Mueller zu mailen.
»Ihr hattet, wie du sagst, nie direkt Kontakt. Wann war dann euer letzter indirekter?«
»Pit, das habe ich dir doch letzte Woche im ›Storchen‹ ausführlich erzählt.«
»Erzähl es mir bitte noch einmal, in Kurzfassung.«
»Ich bin gerade dabei, eine geharnischte Antwort zu formulieren auf einen fachlich schlechten Leserbrief von ihm, der letzte Woche am Mittwoch erschienen ist.« Wilhelm hielt kurz inne und überlegte. »Gleich nach meinem zweiten Frühstück und der Morgenlektüre wollte ich den Text fertigstellen und damit seine abstrusen Troja-Thesen widerlegen. Auch davon habe ich dir doch detailliert berichtet.«
Nachdem die Tübinger Archäologen Troja aus Geldmangel hatten verlassen müssen, war das Thema plötzlich nach Jahren wieder als Diskussionsgegenstand in der Stadt aufgeflammt. Die alten Tübinger Positionen des Prähistorikers Manfred Korfmann und die seines Gegenspielers, des Althistorikers Frank Kolb, wurden aufs Neue diskutiert und mit harten Bandagen verteidigt. Kolb hatte bereits im Jahr 2001 seinen Kollegen Korfmann scharf angegriffen und ihm fehlende wissenschaftliche Korrektheit vorgeworfen. Wilhelm hatte die Position Korfmanns eingenommen, den er selbst als einen seriös arbeitenden Wissenschaftler einschätzte, und argumentierte gegen die Kolb-Anhänger, auf deren Seite sich Herr Theißen geschlagen hatte.
Mueller legte seine Arme auf der Rückenlehne ab, atmete tief durch und schaute nachdenklich in den Himmel mit den tiefen Kumulus- und hohen Cirrus-Wolken, die jetzt immer dichter wurden.
Wilhelm beobachtete seinen Freund und langsam dämmerte es ihm: »Mein Disput mit Herrn Theißen! Ich werde wohl Probleme bekommen, oder?«
Ilse war eine Eule, Wilhelm eine Lerche. Er hatte sie in über zwanzig Jahren noch nie, kein einziges Mal, vor acht Uhr morgens reden hören. Wenn sie um diese Zeit den Mund aufmachte, dann ausschließlich für ihren Cappuccino und ihr Butterbrot mit der fingerdick aufgetragenen, selbst eingekochten Marmelade.
Vor Jahren hatte er einen Artikel der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung ausgeschnitten und neben ihren Teller platziert. Es war zehn Uhr morgens und Ilse war aufgedreht – jedenfalls für ihre Verhältnisse.
»Grundsätzlich unterscheidet die Chronobiologie bei den Menschen zwei Typen. Die Lerchen sind früh aktiv und die Eulen kommen morgens nur schwer aus den Federn«, hatte sie aus dem Text mit erhobenem Zeigefinger zitiert. »Das ist genetisch bedingt. Bei den Eulen tickt die innere Uhr langsamer. Rasselt der Wecker, werden sie regelrecht aus dem Tiefschlaf gerissen. Da ist schlechte Laune beim Aufstehen vorprogrammiert.«
Sie nickte dazu zustimmend. »Siehste! Sag ich doch!« Sie biss das halbe Brot auf einmal ab und schwenkte den Artikel triumphierend in der Luft.
»Der Held der Morgenmupfel!«
Sie hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund, schluckte runter, tippte auf den Zeitungsausschnitt und wiederholte übertrieben deutlich: »Professor Kramer. Mein Held!«
Dann entschuldigte sie sich kichernd und versuchte vergeblich, die Krümelgeschosse aus Wilhelms Gesicht abzuwischen. Das hatte auch ihn am Sonntagmorgen zum Lachen gebracht.
Gerade jetzt in diesem Moment wünschte er sich so eine muntere, überdrehte Ilse an den großen Esstisch. Sie würde allerdings nicht vor einer Stunde hier auftauchen. So wie immer eben. Dann hätte er seine drei Zeitungen gesichtet und die Artikel ausgeschnitten, die er dann später intensiv durcharbeiten und archivieren würde. Ideal! Eigentlich! Nur nicht heute. Ilse würde wahrscheinlich aus allen Wolken fallen, wenn er tatsächlich an einem Werktagmorgen ein Gespräch anzetteln würde.
Als er für sein Spezialmüsli Ananas, Äpfel, Bananen und Walnüsse geschnippelt und mit Kokosnuss-, Hafer-Vollkornflocken und Soja-Milch aufgetischt hatte – auch seinen Doppio, den doppelten Espresso –, fing er plötzlich an zu zittern. So, als wären die körpereigenen Beruhigungssäfte just in diesem Augenblick aufgebraucht. Er stellte den Kaffee weg und setzte Wasser für einen Kräutertee auf.
»Öfter mal was Neues wagen«, murmelte er in die Kanne hinein, in die er umständlich mit unruhigen Fingern den Filter mit dem Tee platzierte.
Tatsächlich hatte er noch nie morgens einen Tee getrunken. Wann hatte er überhaupt jemals einen Tee getrunken? Vielleicht im Winter mal Kamillendämpfe inhaliert oder ein Gerstenkorn am Auge gebadet. Mehr nicht! Jetzt wollte er seine Nerven aber eher beruhigen als seinen Herzschlag anzuschieben. Und vielleicht half ja der Tee.
Jetzt wäre Ilse gut. Sie müsste ja gar nichts sagen. Ihre Aufmerksamkeit, ihre Anteilnahme wären genug. Unnützes Reden war seine Sache nicht. Die überbordende Mitteilungssucht der Menschen hatte er nie verstanden, auch nicht den daraus resultierenden Exhibitionismus. Die Mehrzahl aller Gespräche hielt er schlichtweg für überflüssig. Aber jetzt wünschte er sich jemanden, mit dem er reden konnte.
Typisch Theißen! Als wolle er Wilhelm sogar mit seinem Abgang noch einen Streich spielen. Augenblicklich hatte Wilhelm ein schlechtes Gewissen. Entschuldigend hob er beide Hände hoch und zog den Kopf ein. Er tat Theißen unrecht. Das würde nicht mal der tun. Schließlich war ihr Disput nur ein Nebenschauplatz in seinem Leben – und auch in Wilhelms. Er hasste Theißen keineswegs, obwohl sie Streit hatten und der pensionierte Schulleiter wissenschaftlich unsauber argumentierte. Seine Thesen waren schlichtweg eine Frechheit.
Er goss den Tee in die Weihnachtsmarkttasse von 2009 mit den aufgedruckten Comic-Nikoläusen und nahm beherzt einen Schluck.
»Uuuaahh!« Eine Art Urschrei entfuhr ihm und er prustete den Tee aus.
Er erschrak selbst über seinen eigenen Reflex und war sich gleichzeitig sicher, Ilse geweckt zu haben. Angeekelt schüttete er den Rest des Tees in die Spüle und griff sofort nach seinem Doppio. Wie wunderbar, dass er ihn nicht entsorgt hatte! Obwohl lauwarm, zauberte er Wilhelm das selige Lächeln eines frisch gebackenen Vaters ins Gesicht. Tee? Wie konnte er nur? Nur weil er ein wenig nervös war?
»Eine blöde Idee war das!« Und entgegen seinen Prinzipien setzte er noch einen drauf: »Saublöde Idee!«
Erst jetzt warf er einen Blick auf das Etikett der Packung: Ayurveda-Kräutertee für Frauenbeschwerden.
Er wischte die Küchenfliesen sauber, die braun-gelb gemusterten aus den siebziger Jahren, und balancierte das vollbepackte Tablett und seine Zeitungen zum alten Esstisch, der Platz für drei Generationen einer Großfamilie bot. Dieser Tisch war das einzige Überbleibsel aus alten WG-Zeiten. Künstlernamen wie »Der Bombenleger«, »Che«, »Sacco«, »Hand Gottes« und auch Spitznamen wie »Freddy«, »Charly« oder »Kathi« hatten frühere Mitbewohner in sein Holz geschnitzt.
Wilhelm löffelte sein Müsli und begann zu fliegen. Das Zittern war so gut wie weg. Über der Zeitung zu kreisen, die Artikel anzulesen und auszuschneiden, verursachte jeden Morgen ein warmes Bauchkribbeln.
»Das ist weit intensiver als … na ja, Pit, du weißt schon.«
Pit hatte einmal im »Storchen« nachgefragt, als man auf die allmorgendliche Routine zu sprechen kam.
»Was soll ich wissen?« Pit ließ ihn zappeln.
Wilhelm spielte mit, schaute sich um, beugte sich vor und flüsterte fast: »Erst die penible Auswahl der Artikel und dann danach die ausführliche Lektüre selbst. Das ist ein so hoher Genuss, eine Lust, möchte ich fast sagen.« Er blickte nach links und rechts die Theke entlang. Es musste ja niemand mithören. »Die übertrifft sogar den Geschlechtsverkehr mit Ilse.« Er bekam heiße Wangen.
Pit schaute Wilhelm verwirrt an: »Ich befürchte, dass du das jetzt tatsächlich ernst meinst. Bitte sag, dass das nicht stimmt!«
Wilhelm antwortete nicht. Pit hatte schon verstanden. Dass diese tief empfundene Freude auch noch erheblich länger andauerte als der Liebesakt mit seiner Lebensgefährtin, sagte Wilhelm lieber nicht laut.
Als er schließlich alle Zeitungen durchgearbeitet hatte, legte er seine Schere auf den Stapel der Zeitungsausschnitte. Und bevor er sich an die ausführliche Lektüre machte, nahm er sein Smartphone und schickte – wie versprochen – das Tatort-Video an Pit. Er kämpfte mit sich, doch dann drängte es ihn doch, den kurzen Film nochmals in Ruhe zu betrachten. Er rieb sich unschlüssig die Stirn, den Nacken und drückte schließlich doch auf Start.
Plötzlich sog er unwillkürlich intensiv Luft in die Lungen, wie nach einem langen Tauchgang. Er führte ruckartig die Hand mit dem Smartphone nah an seine Augen, dann wieder auf Armeslänge weg und nochmals zurück direkt vor seine Nase.
Ein Blitz traf ihn und hob ihn fast vom Stuhl. Ilse war unbemerkt in die Küche gekommen und hatte ihn zwar liebevoll, aber trotzdem unvorbereitet an der Schulter berührt und ihn damit beinahe in den Herzinfarkt geschickt. Sein unkoordiniertes Zucken ließ wiederum sie heftig erschrecken und zusammenfahren.
»Um Gottes willen, Wilhelm, wie siehst du denn aus? Du bist ja weiß wie deine Soja-Milch!« Zum ersten Mal in ihrem Erwachsenenleben zwei Sätze vor acht Uhr morgens!
Sein Unterkiefer hatte den Halt verloren, auch die Augen. Er hob sein Handy viel zu nah an ihr Gesicht.
»Er ist auf das Video gebannt!«
Ilse senkte ihren Kopf zu einem Doppelkinn, versuchte vergeblich irgendetwas zu erkennen und vor allem zu begreifen.
»Welches Video? Wer? Wen meinst du?«
»Den Mörder!«
Mueller hatte sich beim Bäcker Walker – der einzige in der Stadt, der noch eine eigene Backstube gleich hinter dem Laden betrieb und noch nicht von Backfabriken geschluckt worden war –, drei Laugenwecken gekauft und dick mit Butter bestreichen lassen. Zusammen mit einem heißen, starken Kaffee brauchte er gar nicht viel mehr für ein gutes Frühstück. In seiner Vorfreude ließ er noch zwei weitere einpacken.
»Hier, Spranz, solche Laugenwecken suchen Sie vergeblich in Karlsruuh!«
Ins Büro einlaufend warf er die Papiertüte auf dessen Schreibtisch und war überzeugt, den badischen Tonfall, diese in die Höhe gezogene, fast gesungene letzte Silbe gut imitiert zu haben. Er wunderte sich über sich selbst, denn eigentlich mochte er Späße über Dialekte gar nicht.
Spranz grinste breit, auch wenn Mueller ihn wegen seiner Herkunft auf die Schippe nahm. Diese ausgelutschten Sticheleien zwischen Baden und Württemberg konnte er heute problemlos ertragen, obwohl sie schon mehr als totgeritten waren. Trotzdem waren sie ein gutes, ein sehr gutes Zeichen. Das war der Chef, den er bisher nur aus Erzählungen kannte! Genau so wollte er ihn sehen: voller Tatendrang, Ideen und Leben, vor allem Leben. Und nicht zu vergessen: diese Spur eines humorvollen Fieslings.
Mueller wusste das nur zu gut. Er richtete seine Wirbelsäule auf, hob sein Kinn einige Zentimeter hoch und erlaubte sich ein kurzes Zusammenpressen der Lippen, das fast wie ein Lächeln aussah. Er hatte viel zu wenig Schlaf gehabt, aber er fühlte sich stark und im Vorstartzustand. In den letzten Jahren war sein Spitzname – ein Redakteur des örtlichen Schwäbischen Tagblatts hatte ihn humorig, aber auch voller Ehrfurcht geprägt – immer mehr zur lächerlichen Hülle, fast schon zu einem Schimpfwort verkommen. Jetzt würde er ihn wieder aufpolieren. Mueller hatte nur hinter dem unsäglichen, fast schon demütigenden Tagesgeschäft Kräfte gesammelt. Aber jetzt war »Bluthund Mueller« zurück! Er hatte Lunte gerochen und die Fährte aufgenommen und er würde erst wieder davon ablassen, wenn er den Täter gestellt haben würde. So wie in alten Zeiten.
Spranz hatte fast eine ganze Wand in Muellers Büro mit braunem Packpapier verhängt – seit langem mal wieder. Ganz am Anfang hatte der Hauptkommissar seinen neuen Assistenten in die Kunst der Visualisierung eingeführt. Diese Übersicht war im Grunde sein Erfolgsgeheimnis. Indem er Kärtchen, Fotos, Zettel mit Fragen und Ungereimtheiten, ja sogar Comics hin- und herpinnte, konnte er Verbindungen, Motive und Alibis erkennen. Für Mueller das ideale Arbeitsmittel und die Garantie dafür, keine noch so kleinen Hinweise und Ideen zu vergessen. Schon lange bevor die Macher von Fernsehkrimis auf diesen Trichter kamen, hatte er es schon in Gebrauch gehabt und perfektioniert. Mueller hatte sich damals um seine Idee beraubt gefühlt, als die TV-Kommissare anfingen, ihn zu kopieren – wenn auch zunächst recht dilettantisch. Inzwischen aber hatten ihn in Sachen Technik nicht nur die Filmhelden, sondern auch die richtigen Kollegen längst überholt. Das focht ihn aber nicht an, er liebte Papier und Stift mehr als Powerpoint und Beamer, er brauchte das Haptische. Und hatte er dennoch Fragen zu neuen Medien, EDV oder Internet, dann konnte er sich auf Wilhelm verlassen, noch mehr als auf die Kollegen der entsprechenden Fachabteilung.
Mueller hatte sich einen Kaffee eingegossen, in einen Butter-Laugenwecken gebissen und mit vollem Mund nach seinem Assistenten gerufen.
»Spranz, was haben wir bis jetzt?«
»Okay!« Spranz hatte sich in der kurzen Zeit gut auf seinen Auftritt vorbereitet. »Elmar Theißen, ehemaliger Schulleiter, wohnt seit seiner Pensionierung …«
»Hatten wir schon! Überspringen!«