Sprich nicht mit Fremden - Amanda Kyle Williams - E-Book
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Sprich nicht mit Fremden E-Book

Amanda Kyle Williams

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Beschreibung

Das Flüstern der Toten Eine Schülerin wird vermisst. Kurze Zeit später findet sich in den Wäldern Georgias eine Mädchenleiche. Daneben: Jahrzehnte alte Knochen. Ebenfalls von einem Mädchen. Sheriff Meltzer steht vor einem Rätsel. Kann Privatermittlerin Keye Street weiterhelfen? Als Keye in dem Flecken Whisper ankommt, spürt sie gleich, dass man Fremde hier nicht schätzt. Die erfahrene Profilerin hat schnell ein Bild von dem Täter entworfen: Er beobachtet seine Opfer, er plant präzise, er hält sie vor dem Tod grausam lange gefangen. Aber warum? Wieder verschwindet ein Mädchen. Und Keye spürt: Im Herzen dieser von den Wäldern umgebenen Idylle lauert das Böse … «Ein explosives Buch. Amanda Kyle Williams bringt den klassischen Detektivroman lichterloh zum Brennen.» (Lee Child) «Vor allem bestechen diese Romane durch ihre gebrochene Heldin – eine Serie der Spitzenklasse.» (Booklist)

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Amanda Kyle Williams

Sprich nicht mit Fremden

Thriller

Aus dem Englischen von Ulrike Thiesmeyer

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Das Flüstern der Toten

 

Eine Schülerin wird vermisst. Kurze Zeit später findet sich in den Wäldern Georgias eine Mädchenleiche. Daneben: Jahrzehnte alte Knochen. Ebenfalls von einem Mädchen. Sheriff Meltzer steht vor einem Rätsel. Kann Privatermittlerin Keye Street weiterhelfen?

 

Als Keye in dem Flecken Whisper ankommt, spürt sie gleich, dass man Fremde hier nicht schätzt. Die erfahrene Profilerin hat schnell ein Bild von dem Täter entworfen: Er beobachtet seine Opfer, er plant präzise, er hält sie vor dem Tod grausam lange gefangen. Aber warum?

 

Wieder verschwindet ein Mädchen. Und Keye spürt: Im Herzen dieser von den Wäldern umgebenen Idylle lauert das Böse …

 

«Ein explosives Buch. Amanda Kyle Williams bringt den klassischen Detektivroman lichterloh zum Brennen.» (Lee Child)

 

«Vor allem bestechen diese Romane durch ihre gebrochene Heldin – eine Serie der Spitzenklasse.» (Booklist)

Über Amanda Kyle Williams

Amanda Kyle Williams lebt in Atlanta im Süden der USA. Für die Keye-Street-Serie hat sie Kurse bei Brent Turvey, einem bekannten Kriminologen und Profiler, genommen, als Privatdetektivin fremde Menschen überwacht und als Gerichtsbotin gearbeitet.

 

Weitere Veröffentlichungen

Cut

Broken

Inhaltsübersicht

WidmungProlog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. Kapitel22. Kapitel23. Kapitel24. Kapitel25. Kapitel26. Kapitel27. Kapitel28. Kapitel29. Kapitel30. Kapitel31. Kapitel32. Kapitel33. Kapitel34. Kapitel35. Kapitel36. Kapitel37. Kapitel38. Kapitel39. Kapitel40. Kapitel41. Kapitel42. Kapitel43. Kapitel44. Kapitel45. KapitelEpilogDank

Für Kate Miciak, die mich zur Schule gebracht hat

Prolog

Sie würde sich zur Wehr setzen. Alles deutete darauf hin – wie sie sich bewegte, wie sie mit ihren Freundinnen sprach, ihr auftrumpfendes Benehmen ganz allgemein. Die geborene Anführerin. Für diese Sorte hatte er ein Auge. Manche Typen standen eher auf die schüchternen, stillen grauen Mäuschen. Er nicht. Ihm gefiel es, wenn sie Köpfchen hatten, Power. Weil ihm der Kampf gefiel. Und die Furcht. Nicht bloß ihre. Seine. Das wummernde Pochen in seinen Ohren, wie sich die Zeit in die Länge dehnte wie ein Gummiband, straffer und immer straffer, um schließlich mit einem Knall in ein paar verblüffenden Sekunden absoluten, chaotischen Durcheinanders zu zerreißen – heftige Gegenwehr, Beißen, Kratzen, Schreien, seine Haut unter ihren glitzernden Fingernägeln. Auch das gefiel ihm. Es war ein Weg in ihr Inneres.

Er holte eine braune Papiertüte hervor und biss in das Bologna-Sandwich mit Senf, zu dem er mittags nicht gekommen war, spülte es mit einer eiskalten Coke herunter, der Sorte in den grünen Glasflaschen aus dem alten Automaten, der vor Smith’s Eisenwarenladen stand.

Er lehnte sich auf der Bank zurück; Vögel beobachten, so nannte er es gern. Und die kleinen Hühnchen waren auch heute wieder zur Stelle. Dieselbe Uhrzeit. Derselbe Weg. Dasselbe Geplapper, das der leichte Wind herübertrug, während sie den Park durchquerten. Nichts, was er im Einzelnen hätte verstehen können, bloß ein Geschnatter hoher weiblicher Stimmen, die übermütig in den ruhigen Tag hineinstachen.

Sie würden sich bald trennen, um ihren Weg paarweise fortzusetzen, heim in ihre Siedlungen, zu ihren Familien, ihren Hausaufgaben, dem Abendessen. Sie aber würde allein weitergehen, durch ein Wäldchen und über eine Schotterstraße bis zu dem Ranchhaus mit dem weißen Zaun – ein Schlüsselkind auf einer stillen, einsamen Straße.

Er aß in Ruhe sein Sandwich auf, klopfte sich die Hände sauber und warf die Papiertüte in den Mülleimer. Er hatte es nicht eilig. Noch hatte er massig Zeit. Heute ging es um die Vorstellung – wie es ablaufen würde, was er zu ihr sagen würde, wie ihr Lächeln ihm signalisierte: Nimm mich, nimm mich.

1

Die Millionen winziger Kratzer auf meiner Windschutzscheibe, auf die soeben schräg die Abendsonne fiel, glitzerten wie Kristall, ich musste blinzeln. Ich saß seit einer Stunde hier. Wartete. Das tue ich oft. Ich hatte eine Adresse und ein vages Vorgefühl. Das war ungefähr alles. Mehr habe ich eigentlich meistens nicht.

Mein Name ist Keye Street. Ich bin Privatdetektivin, Kautionseintreiberin, Gerichtszustellerin und war früher mal kriminalpsychologische Gutachterin beim FBI. Und wenn ich sage früher, meine ich damit, dass ich gefeuert worden bin. Mit Pauken und Trompeten. Das FBI legt Wert darauf, dass seine Profiler nüchtern sind.

Ich ließ den Donut in meiner Hand in die grün-weiße Krispy-Kreme-Schachtel auf dem Beifahrersitz fallen und spähte durch die versmogte Dämmerung eines weiteren heißen Augustabends. Das Haus war, wie auch die anderen Häuser auf der Straße, irgendwann in den 1960er Jahren nach Schema F errichtet worden, Typ erstes Eigenheim – einstöckig, aus Backstein, zwei Schlafzimmer, ein Badezimmer, rechts von der Haustür ein kleines Fenster, neunzig mal neunzig Zentimeter, die Schlafzimmer auf der linken Seite, tausend Quadratmeter Gras im Vorgarten mit betonierter Auffahrt. Die Bäume, die zur Entstehungszeit der Siedlung als Schösslinge angepflanzt worden waren, schirmten mit ihrem Schatten die Straße und die Hausdächer vor der erbarmungslosen Sonne des Südens ab. Gegen die hohe Luftfeuchtigkeit allerdings konnten sie nichts ausrichten. Das gleichförmige Surren von Kondensatoren, die sich damit abmühten, kühle Luft durch die Klimaanlagen zu pressen, bildete die Hintergrundmusik, wie in den meisten Wohnvierteln um diese Jahreszeit.

Ich ließ die Sonne noch etwas tiefer sinken, stieg aus, schloss lautlos meine Wagentür und machte mich auf den Weg. Vier Türen weiter bog ich nach links ab und schlich über eine von schlappen, kraftlos wirkenden Hortensien gesäumte Auffahrt. Sie sahen aus, als könnten sie was zu trinken gebrauchen. Das Gefühl kenne ich.

In dem Haus ging ein Licht an, und ich sah ihn durch das Eingangsfenster. Er saß in seinem Wohnzimmer, mit einer Styroporschachtel in der linken und einer Fernbedienung in der rechten Hand, vor einem Fernseher, der für das Zimmer viel zu groß war. Ich pirschte mich an das Haus heran, sah, wie er sich in seinem Sessel zurücklehnte. Auf dem großen Bildschirm lief ein Baseballspiel, die Braves gegen die Dodgers, im Turner-Field-Stadion hier in Atlanta. In der Auffahrt stand ein Dodge Charger, Baujahr 69, orange und schwarz. Am Auspufftopf musste ein bisschen was gemacht werden. Er war diese Woche ein paarmal lärmend an mir vorbeigeröhrt. Heißer Schlitten allerdings, wenn man ein Auge für aufgemotzte Muscle-Cars hat. Und das habe ich. Ich war mit solchen Karren aufgewachsen und mit den Typen, die damit durch die Gegend heizten, freitagabends in Georgia.

Ich schlich um die Ecke zu einem der Schlafzimmerfenster. Das Haus schien leer zu sein, bis auf Jeremy Coleman. Eigentlich hatte ich gehofft, seinen kautionsflüchtigen Bruder hier anzutreffen. Ronald Coleman wurde beschuldigt, einen Mann niedergeschossen zu haben, der ihn auf dem Parkplatz eines Krystal-Hamburger-Restaurants vom Diebstahl seines Autos abhalten wollte. Danach hatte er am Drive-in-Schalter mit vorgehaltener Waffe fünf Krystal-Cheeseburger und eine Portion Pommes frites verlangt, während der Wagenbesitzer blutüberströmt und um Hilfe bettelnd über den Parkplatz taumelte. Reizender Mensch, dieser Ronald Coleman. Sein Gerichtstermin war ihm offensichtlich ganz entfallen. Kann schon mal passieren, bei einer Kleinigkeit wie schwerer Körperverletzung mit Tötungsvorsatz, bewaffnetem Raubüberfall und Autodiebstahl. Ich hatte Jeremy die letzte Woche über observiert, in der Hoffnung, dass Ronald bei ihm auftauchen würde. Die Familiengeschichte verriet mir, dass die Brüder sich nahestanden. Es war Jeremy Coleman, der zehn Prozent der 140000 Dollar aufgebracht hatte, die der Staat als Kaution verlangte. Keine Kleinigkeit für einen einfachen Handwerker mit einer kleinen Kfz-Werkstatt, in der er von Montag bis Freitag Autos, moderne Klassiker vor allem, restaurierte. Ich war mir sicher, wenn jemand wusste, wo Ronald Coleman steckte, dann sein kleiner Bruder Jeremy. Etwa eine Woche zuvor ging ich allerdings auch noch davon aus, dass der burgerfutternde Fiesling bis heute längst aus der Versenkung aufgetaucht wäre. Tja. So viel zu vagen Vorgefühlen.

Ich schlich an verwilderten Sträuchern vorbei in einen verwahrlosten Hinterhof voller Unkraut und wild wucherndem, bereits abgeblühtem Gras, ein idealer Tummelplatz für Mücken. Schön dunkel und feucht. Ich hielt mich an einem Ziegelsims fest und stellte mich auf die Zehenspitzen, um einen Blick in das hintere Schlafzimmer zu werfen. Jeremy schlief nach vorne raus, so viel wusste ich. Hätte er einen Gast, würde er ihn hier unterbringen. Die Zimmertür stand offen, es drang schwaches Licht herein. Der Raum war leer, eindeutig, das Bett gemacht. Alles sah genauso aus wie die fünf Male zuvor, als ich hineingespäht hatte. Ich spürte, wie es an meinen Händen und hinten im Nacken pikste. Mücken mögen dunkle Kleidung und auch dunkles Haar. Ich hatte beides zu bieten.

Ich trat den Rückzug an, seitlich am Haus vorbei. Als ich gerade um die vordere Ecke bog, ging die Haustür auf. Ich hielt sofort inne. Bewegung ist etwas, das einem bei Nacht immer ins Auge springt, auch wenn man in der Dunkelheit sonst nichts erkennt. Ich verharrte stocksteif im Schatten, während Jeremy auf der vorderen Veranda stand und mit einem klimpernden Schlüsselbund die Tür abschloss. Er trug noch seine Arbeitsmontur, eine dunkelblaue Hose und ein Hemd in derselben Farbe mit einem gestickten Namensschild über der linken Brusttasche, wie bei Automechanikern üblich. Ich beobachtete, wie er in sein Auto stieg. Sobald er den Motor anließ und losfuhr, flitzte ich durch den Vorgarten und über den Bürgersteig zu meiner Karre, einem schäbigen Plymouth Neon mit einer Delle in der Kühlerhaube – einen Typen, der berufsmäßig Autos restaurierte, bespitzelte man besser nicht in einem zu auffälligen Modell. Deshalb stand mein weißer Impala Cabrio, Baujahr 1969, zu Hause in der Tiefgarage. Und hatte gewiss Sehnsucht nach mir, dachte ich liebevoll. Ich besaß den Wagen seit der Highschool. Und da behauptet meine Mutter, ich hätte Bindungsangst.

Jeremy bremste gerade an dem Stoppschild am Ende des Blocks, als ich losfuhr. Ich ließ die Scheinwerfer aus, bis er abgebogen war. Und dann folgte ich ihm, schön brav mit Abstand. Ist bei einem alten, orange-schwarzen Charger kein Problem. Die Rücklichter sind unverwechselbar: zwei lange rote Streifen. Jeremy Coleman führte ein recht eintöniges Leben. Meistens sah er abends in seinem Sessel fern, mit einer Imbissschachtel auf dem Schoß, die er auf dem Heimweg von der Arbeit besorgt hatte. Heute aber sah es so aus, als würde sich meine Beharrlichkeit auszahlen. Er fuhr an dem Schnapsladen an der Ecke vorbei, an der Kneipe ein Stück die Straße hoch und an dem Supermarkt – die einzigen Orte, die er, von der Arbeit und seinem Wohnzimmer abgesehen, während der Woche aufgesucht hatte.

An einem Nachtkiosk kaufte er eine Stange Zigaretten. Jeremy war Nichtraucher. Meine Hoffnung stieg. Ich folgte ihm die Ponce de Leon Avenue hinunter bis zu einem Wendy’s am Scott Boulevard und beobachtete, wie er den Drive-in passierte. Nächster Halt: ein Motel in einer Nebenstraße der Church Street, wo es ansonsten nur Autohäuser gab. Es war genau die Sorte Motel, in der das FBI seine Beamten auf Außeneinsätzen unterbrachte – Stuckfassade, zweigeschossig mit scheußlichem Teppichboden und einer umwerfenden Aussicht auf den Parkplatz. Er stieg mit den Zigaretten und einer Tüte Fastfood unter dem Arm aus und stieg eine Betontreppe an der Gebäudeecke hinauf. An der vierten Tür blieb er stehen. Ich warf einen Blick durchs Fernglas auf die Zimmernummer. 228. Vielleicht würde ich die Zahlen heute Abend im Lotto spielen.

Ich konnte nicht sehen, wer hinter der Tür stand, als sie geöffnet wurde, aber ich war ziemlich zuversichtlich, dass es Ronald war, Jeremys fastfoodfutternder Bruder. Ich legte eine kugelsichere Weste an, streifte eine schwarze Nylonjacke über, die mich in großen gelben Lettern als Kautionseintreiberin kenntlich machte, und stiefelte ins Büro des Motel-Managers.

«Mein Name ist Keye Street. Kautionseintreibung.» Ich klatschte meinen Ausweis auf den Tresen. «Verraten Sie mir, wer in Zimmer 228 wohnt?»

«Ich möchte keinen Ärger.»

Ich lächelte, steckte den Ausweis wieder ein. «Dann sind wir schon zu zweit.»

«Wir haben gerade renoviert», erklärte mir der Angestellte.

«Verstehe», sagte ich. Wir wechselten einen Blick. Ich wartete geduldig. Schließlich gab er sich einen Ruck und die Nummer in seine Computertastatur ein.

«Coleman», sagte er. «Jeremy.»

Ganz, wie ich vermutet hatte. Jeremy hatte das Zimmer für seinen Bruder angemietet, und jetzt lieferte er Essen und Zigaretten an. Viele Zigaretten. Entweder war Ronald Kettenraucher oder kurz davor, abzuhauen. «Wann checkt er aus?»

«Morgen», erwiderte der Angestellte. «Sie veranstalten hier aber keine Schießerei, ja?»

«Nein, nein», beruhigte ich ihn. Ich verließ das Büro, stieg die Betontreppe hinauf und ging den Korridor entlang bis Zimmer 228. Ich drückte mein Ohr an die Tür. Da hörte ich ein Geräusch, ganz in der Nähe. Die Tür von Zimmer 232 ging auf, und ein langer, dürrer Typ mit einem schmuddeligen Kinnbart kam heraus. Ich hoffte, er würde in die andere Richtung gehen, aber manche Leute müssen sich immer in alles einmischen.

«Kann ich Ihnen irgendwie helfen?», fragte er.

«Kautionseintreibung», flüsterte ich. «Gehen Sie weiter.» Er zögerte. Er wollte offenbar Ärger machen. «Haben Sie mit Ron abgehangen?»

«Ich kenn keinen Ron», sagte er. Eine sonnenklare Lüge. Paranoide Augen huschten zwischen mir und dem Parkplatz hin und her.

Neben dem Fernseher im Zimmer hörte ich hin und wieder das Gemurmel von Männerstimmen. Ich zog meine Glock, und zwar so, dass der Typ sie nicht übersehen konnte. «Holen Sie ihn an die Tür.»

Nach einem Blick auf meine Knarre pochte er leise an die Tür. «Hey, Ron», sagte er mit leicht zittriger Stimme. «Hast du Bock, abzuhängen, Mann?»

«Ich bin beschäftigt», blaffte es aus dem Zimmer zurück. Ich gab ihm Zeichen weiterzureden. «Ähm … Ron, Mann. Es ist schon wichtig, irgendwie», sagte er, direkt vor der Tür.

«Du kannst mich mal», brüllte sein Kumpel Coleman.

«Okay, hauen Sie ab», sagte ich und sah ihm über die Schulter nach, um sicherzugehen, dass er auch wirklich Leine zog, ehe ich den Türgriff probierte. Abgeschlossen. Ich klopfte energisch an.

«Gottverdammich, Trevor!», schrie Coleman. Ich spürte die Vibration schwerer Schritte. Die Tür schwang auf, und vor mir stand Ronald Coleman, ohne Hemd, in Jeans, mit einem halbverzehrten Hühnchen-Sandwich in der Hand.

«Kautionseintreibung, Mr. Coleman. Nehmen Sie die Hände hinter den Kopf und kommen Sie bitte aus dem Zimmer.»

Coleman machte einen Hechtsprung rückwärts aufs Bett zu, rollte über eine weiße Papiertüte mit fettigen Pommes frites und einem Klecks Ketchup daneben, die er wohl als Teller benutzt hatte. Sein Sandwich ließ er dabei nicht los. Ich hörte, wie er auf der anderen Seite mit einem Bums am Boden landete. Und schon wurde die Badezimmertür zugeknallt.

O Mann. Mal wieder ein echter Schlaukopf, mit dem ich es hier zu tun hatte. Der chemische Geruch in dem Zimmer war unverkennbar. Auf einem Tisch am Fenster entdeckte ich ein kleines Stück Silberfolie mit einem Brocken Crack darauf, etwa halb so groß wie eine Murmel. Ich blickte Jeremy an. «Hat er immer noch die .38er bei sich, die er bei dem Autodiebstahl benutzt hat?»

Jeremy zuckte die Achseln.

Ich deutete auf die Drogen, die kleine Messingpfeife und ein Einwegfeuerzeug. «Rauchen Sie den Mist etwa auch? Reißen Sie sich am Riemen, Jeremy. Sonst verlieren Sie noch weit mehr als die vierzehn Riesen.»

Jeremy wandte wortlos den Blick ab. Seine Augen waren glasig.

«Raus mit Ihnen», sagte ich. Das ließ er sich nicht zweimal sagen. Er stand auf und ging zur Tür, während ich langsam ins Zimmer und ums Bett herum trat, ohne die Waffe sinken zu lassen, mit der ich aufs Badezimmer zielte. Der Unberechenbarkeitsfaktor ist bei solchen Typen immer ziemlich hoch, und wenn dann noch eine Crackpfeife mit im Spiel ist, geht er endgültig durch die Decke. «Hey, Ronald, Sie haben Ihren Gerichtstermin verpasst. Wir müssen diese Sache in Ordnung bringen.»

«Scheiß auf Sie», brüllte er. Scheisch auw Schie. Er verdrückte tatsächlich gerade sein restliches Sandwich, während ihm eine Kautionseintreiberin auf die Pelle rückte. In gewisser Weise musste man das wohl bewundern.

Ich drückte mich an die Wand auf der anderen Seite der Tür, nur für den Fall, dass er mit mir dasselbe vorhatte wie mit dem Typen auf dem Krystal-Parkplatz, und überprüfte noch einmal meine kugelsichere Weste. «Öffnen Sie, legen Sie die Waffe auf den Boden und schieben sie mit einem Tritt nach draußen. Ich will Ihre Hände auf Ihrem Kopf sehen. Ich zähle bis drei. Eins …»

«Lassen Sie mich in Ruhe, oder ich schwöre, ich mach Sie alle.»

«Zwei …»

Peng. Ronald gab einen Schuss mit seiner Pistole ab. Die Kugel durchschlug die billige Furniertür und zerschmetterte den Spiegel über einer ebenso billigen Kommode. So viel zu der Renovierung.

«Bin immer noch da», rief ich ihm zu.

Peng, peng, peng.

«Herrgott.» Ich drückte mich fester an die Wand. «Ihnen ist klar, wie hirnverbrannt das ist, ja? Sie haben sich ins Bad eingesperrt und sitzen in der Falle. Jetzt kommen Sie einfach raus.»

Ich hörte Gezeter, das Geräusch schneller Schritte draußen auf dem Korridor. Der Manager oder Angestellte tauchte in der offenen Tür auf, mit hochrotem Kopf und völlig außer sich.

«Bleiben Sie zurück», wies ich den Manager mit lauter Stimme an.

«Ich hab die Polizei gerufen», schrie er. «Den Schaden bezahlen Sie mir.»

Wenn das so war … ich zielte auf die Stelle zwischen dem Knauf der Badezimmertür und dem Türrahmen und feuerte. Ein sauberer Knall, und die Tür schwang auf. Ich drückte mich wieder mit dem Rücken an die Wand und wartete. Der Motel-Manager sah mich bitterböse an, als hätte ich seine Eistüte in den Sand fallen lassen.

«Hauen Sie jetzt ab», forderte ich ihn nochmals auf.

Peng. Schuss Nummer fünf folgte ein kehliger Aufschrei, die Sorte Schrei, die man sich bei jemandem vorstellt, der gerade von einer hohen Klippe stürzt. Ronald Coleman kam in geduckter Haltung aus dem Badezimmer gestürmt, mit gesenktem Kopf, wie ein Linebacker beim Football. Er sauste direkt an mir vorbei, rempelte den Manager an der Tür mit einem Schulterstoß zu Boden und segelte über die Balkonbrüstung.

Ich stürzte aus dem Zimmer und schaute über die Brüstung. Coleman lag, alle viere von sich gestreckt, mit dem Gesicht nach unten auf der Kühlerhaube eines Buick. Ich sprang mit einem Satz über den Manager und jagte nach unten, zwei Treppenstufen auf einmal nehmend. Ein Streifenwagen der Polizei von Decatur bog gerade auf den Parkplatz ein. Ich steckte meine Pistole weg, schnappte mir Colemans Arme. Er stöhnte, versuchte sich zu bewegen. Ich legte ihm Handschellen an, die ich anschließend mit einem Kabelbinder hinten an seiner Gürtelschlaufe fixierte.

Der Polizist kam auf uns zu. Ich hielt meinen Ausweis in die Höhe. «Kautionseintreibung», verkündete ich. «Und das hier ist Ronald Coleman. Kautionsflüchtig nach schwerer Körperverletzung mit Tötungsvorsatz, bewaffnetem Raub und Autodiebstahl.» Ich steckte den Ausweis ein und griff in meine Jacke, um die Unterlagen herauszuholen. «Ich glaube, wir brauchen einen Krankenwagen.»

Der Polizist beäugte mich skeptisch. «Na, was Sie nicht sagen.» Cops sehen es ungern, wenn Straftäter entkommen. Kautionsagenten allerdings haben sie auch nicht gerade ins Herz geschlossen. Zumindest nicht die in ihrem Zuständigkeitsbereich. Er ging rasch die Unterlagen durch und blickte dann Coleman an, dessen Wange in die Kühlerhaube des Buick geschmiegt war wie in ein weiches Daunenkissen.

«Er ist selbst über die Brüstung gehechtet», erklärte ich.

«Aha.»

«Ernsthaft. Er ist high wie sonst was.»

«Haben Sie oben bei ihm Drogen gesehen?»

Ich nickte. «Crack.»

«Jemand bei ihm?»

«Nee. Bloß Ron und seine Crackpfeife», log ich und sah kurz zu dem Charger, der nach wie vor auf dem Parkplatz stand. Es war zu dunkel, um etwas zu erkennen, aber ich vermutete, dass Jeremy am Steuer saß. Vielleicht hatte er dort auf Ronald gewartet. Vielleicht war er dazu bereit, sich noch tiefer in das komplett verpfuschte Leben seines Bruders hineinziehen zu lassen. Vielleicht wollte er sich vergewissern, dass es Ronald gutging. Vielleicht musste er auch erst etwas runterkommen, ehe er losfuhr. Was auch immer der Grund sein mochte, warum er dort saß, ich entschied, dass Jeremy schon genug Ärger gehabt hatte. Na schön, er war vom rechten Weg abgewichen. Wer war das noch nicht? Ja, das passiert, wenn man jemanden über einige Tage beschattet. Man entwickelt automatisch Empathie. Beginnt, sich in das Leben des Betreffenden einzufühlen. Ich hatte gesehen, wie Jeremy von früh bis spät in der Werkstatt malochte und dann mit einer Mahlzeit vom Imbiss nach Hause kam, wo ihn niemand erwartete. Das kannte ich selbst. Ich hatte gesehen, wie er für einen Angehörigen zu viel aufs Spiel setzte. Auch das kannte ich aus eigener Erfahrung.

2

Lieutenant Aaron Rauser saß an der Küchentheke, vor sich einen getoasteten Bagel, einen Becher italienischen Frischkäse und ein Glas Honig. Ich konnte Kaffee riechen. Rauser mag ihn stark. Rausers neuer Hund, Hank, und meine Katze White Trash saßen einträchtig Seite an Seite und schauten zu ihm hoch. Wenn es etwas zu erbetteln gibt, verbünden sich Hund und Katze gegen ihre Unterdrücker. White Trash scheint es tatsächlich Spaß zu machen, Hank besser kennenzulernen. Sie nutzt seine Schwächen schamlos aus. Hank, das arglose Kerlchen, hat ein kurzes Gedächtnis. White Trash legt sich mit Vorliebe in dunklen Ecken auf die Lauer, aus denen sie auf den Hinterbeinen hervorschnellt wie ein Känguru und ihm einen Heidenschrecken einjagt, wenn er nichtsahnend vorbeiläuft. Dieser Terror wird täglich wiederholt.

Rauser beugte sich hinunter und ließ sie Mascarpone von seinem Finger abschlecken. Was zwar kein bisschen dazu beiträgt, ihr Verhalten zu bessern, aber wirklich süß ist. Ich gab ihm einen Kuss. Seine Haut duftete nach Rasiercreme. Sein duschfeuchtes, dichtes schwarz-silbernes Haar war nach hinten gekämmt. Unter seinem hellblauen Anzughemd, das noch nicht zugeknöpft war, blitzten durchtrainierte Bauchmuskeln und eine behaarte Brust hervor. Einen solchen Anblick am frühen Morgen lasse ich mir gern gefallen.

Seit etwas über einem Monat wohnte Rauser bei mir in meinem Loft. Ein Tornado der Kategorie vier der Fujita-Skala war Anfang Juli in die Stadt gefegt, hatte sich einen Weg durch Atlanta gefräst und dann Rausers Wohnviertel mit voller Wucht getroffen. Eine tonnenschwere Kiefer war auf sein Haus gestürzt und hatte es entzweigespalten wie eine Axt, die ein Holzscheit teilt. Ich erinnere mich gut daran, ich war damals im Haus. Der Wiederaufbau sollte bloß einige Monate in Anspruch nehmen, inzwischen sah es so aus, als könnte daraus ein halbes Jahr werden. Über diese Verzögerung hatten wir bisher nicht gesprochen. Vielleicht, weil wir uns beide darüber klarzuwerden versuchten, was wir davon hielten.

«Hast du noch schlafen können?», fragte ich. Ich hatte gespürt, wie er gegen drei Uhr zu mir ins Bett gestiegen war. Das war nicht ungewöhnlich. Kriminelle trieben mit Vorliebe nachts ihr Unwesen. Ich streichelte Hank und White Trash.

Rauser brummelte irgendetwas. Er wurde meinem Vater von Tag zu Tag ähnlicher. Ich dachte darüber nach. Vielleicht war er immer schon wie mein Dad gewesen. O Gott. Auf keinen Fall wollte ich eine dieser Frauen sein, die in ihrem Partner eine Vaterfigur suchen. Allein die Vorstellung weckt in mir den Wunsch, mir einen Eispickel ins Auge zu rammen.

Rauser stand auf, goss Kaffee ein, reichte mir den Becher und schenkte sich dann selbst nach. Unter gewissen Lichtbedingungen sind seine grauen Augen mit goldenen Flecken gesprenkelt. Heute Morgen aber, im Schein der Sonne, die hell durch die Fenster zur Peachtree Street hin hereinflutete, waren die Flecken grün auf einem blau-grauen Untergrund. Und er sah muffelig aus, du liebe Güte.

«Willst du drüber sprechen?», fragte ich.

«War eine lange Nacht. Jemand wurde erstochen. Ein Wachmann ist erschossen worden, weil ein paar Gangster die Kupferrohre aus einem Lagerhaus stehlen wollten, in dem er seine Runden drehte. Und eine Schießerei im Vorbeifahren. Das Opfer war neunzehn. Mit Gangtätowierungen. Hatte einige tausend Dollar dabei.»

Das Thema Mord war bei uns am Frühstückstisch keine Seltenheit. Damit kann ich leben. Auf eine Kitschidylle mit Rosen und Hab-mich-lieb-Bärchis lege ich keinen Wert. «Du hast doch immer die besten Geschichten auf Lager», stellte ich trocken fest.

Rauser lächelte beinahe. Er war inzwischen wach genug, um sich daran zu erinnern, dass er mich mochte. «Hab gehört, dass du gestern Abend den Schützen von diesem Autodiebstahl mit Schusswaffengebrauch geschnappt hast.» Er sagte es ganz beiläufig. Dieses Thema konnte auch heikel sein, je nachdem, wie Rauser gelaunt war. Er war mit meinen Jobs im Bereich Kautionseintreibung nicht immer einverstanden. Und ich bin nicht bereit zu diskutieren, was für Aufträge ich annehme oder welche Entscheidungen ich treffe. Noch mal, es verlangt mich nicht nach einem Daddy. Klar, dass die Stimmung zwischen uns bei solchen Gelegenheiten immer ein wenig angespannt ist. «Es sind Schüsse gefallen, habe ich gehört», setzte er hinzu.

Ich trank einen Schluck Kaffee, stellte den Becher ab. «Was hast du noch gehört?»

Die Haut in seinen Augenwinkeln kräuselte sich. «Dass die Kühlerhaube eines Buicks eingedrückt worden ist. Mit einer Ronald-Coleman-förmigen Delle.»

Ich lachte. «Er hat sich im Badezimmer eingesperrt und dann versucht, sich den Weg frei zu schießen. War ein totaler Blödmann, der Typ.»

«Sind Verbrecher in der Regel immer.» Ich streckte die Hand nach seinem Bagel aus. Er zog eine Augenbraue hoch. «Möchtest du auch einen haben?»

«Nein. Ich möchte von deinem abbeißen», sagte ich. Er legte einen weiteren Bagel in den Backofen, während ich von hinten kurz den Sitz seiner Jeans bewunderte. «Warum gebt ihr Jungs so ungern von eurem Essen ab? Ist so ein Instinkt aus der Steinzeit, habe ich recht? Ihr wollt die Nahrung in eure Höhle schleppen und damit allein sein?»

Er schloss die Backofentür und sah mich an. «Sei so gut und nörgle heute Morgen nicht an mir herum.»

«Mir ist aber danach», gab ich zurück. «Muss wohl an deiner muffeligen Miene liegen.»

Er zog eine Küchenschublade auf, deutete auf den Inhalt. «Kannst du mir verraten, wieso du es für nötig gehalten hast, die Besteckfächer zu beschriften?» Er las die leuchtgrünen Haftnotizen in der Schublade der Reihe nach vor. «Messer, Kuchengabeln, Essgabeln, Teelöffel, Esslöffel. Was zum Teufel soll das, Keye?»

Nun kamen wir also zum eigentlichen Grund dafür, warum er so miese Laune hatte. Ich sagte nichts.

«Vor allem die Zeichnungen sind der Hammer. Meinst du, ich wüsste nicht, wie ein Salatbesteck aussieht?»

Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen.

«Das ist nicht lustig, Keye.» Er schloss die Schublade, eine Spur zu fest.

«Okay», sagte ich. «Also, was stört dich so daran?»

«Was mich daran stört? So, wie ich das sehe, ist jemand, der es für nötig hält, die gottverdammten Besteckfächer zu beschriften, nicht dazu bereit, seine Wohnung mit jemand anderem zu teilen.» Er reckte sich über die Theke und klaubte seinen Bagel vom Teller. Ich sagte nichts. Saß einfach nur mit meinem Kaffee da und sah ihm nach, als er aus der Küche marschierte.

 

Meine kleine Detektei für Informationen und Ermittlungen, Corporate Intelligence & Investigations, kurz CI&I, befindet sich in einer Reihe renovierter Lagerhäuser in einer Nebenstraße der North Highland Avenue in Atlanta. Das Rolltor war hochgezogen, als ich auf den Parkplatz fuhr. Am Morgen und vormittags können wir uns das erlauben. Mittags aber ist die Sonne so heiß wie das Streichholz eines Brandstifters. Nicht einmal in unseren Räumlichkeiten aus Beton bleibt es dann noch kühl. Das Wetter in Atlanta war dieses Jahr wieder extrem gewesen. Der Sommer ging von Anfang an in die Vollen, prügelte mit heftigen Gewittern auf uns ein, um dann das Thermometer aufzudrehen und den Regen komplett einzustellen. Die Fernsehmeteorologen waren über die Tornados und die nachfolgende Dürre dermaßen aus dem Häuschen, dass sie praktisch in Papiertüten pusten mussten, um sich halbwegs zu beruhigen, wenn sie über neueste Maßnahmen zur Wasserrationierung berichteten, als handelte es sich um brandneue Gebote Gottes. Insgeheim, glaube ich, hofften sie wohl, demnächst auch mal über Hitzschläge und Todesfälle durch Dehydrierung berichten zu können, die vermutlich einem Fernsehtod vorzuziehen waren, herbeigeführt durch den Umstand, dass sie jeden verdammten Tag herrliches, heißes Wetter zu verkünden hatten.

Auch bei meinen Nachbarn standen die großen Türen offen – bei der schwulen Theatergruppe, dem Haarsalon zwei Türen weiter und dem Tattoo- und Piercing-Studio an der Ecke. Die Geräusche aus unseren Häusern vermischten sich wie in einer Szene aus Hitchcocks Das Fenster zum Hof – Musicalnummern, die einstudiert wurden, Kunden, die auf hohen Drehsesseln plauderten, Friseure mit klappernden Scheren, ein halblauter Bassrhythmus von dem Piercing-Typen, dessen wummernde Musik die Kunden ablenkt, während er ihnen Silberdorne durch die Nasenflügel treibt. Der Duft der Highland-Bakery zog mir in die Nase, während ich die Metallstufen zu der Rampe hinaufstieg, die einst als Laderampe für Lkws gedient hatte. Schauspieler von der Theatergruppe standen im Freien um einen hohen Metallascher herum und tranken Kaffee, wenn sie nicht gerade tief an ihren Zigaretten zogen.

«Ihr seid aber früh da, Leute», sagte ich im Vorbeigehen und lächelte. Ich war mit meiner Detektei schon einige Zeit hier ansässig und wusste daher, wenn die Schauspieler morgens noch vor mir zur Arbeit erscheinen, ist die finale Probenwoche vor der großen Premiere angebrochen. Diese Höllenwoche, wie sie sie nennen, ist so stressig, dass es sie morgens schon früh aus den Federn treibt. Ich war mal mit einem Schauspieler verheiratet, was vielleicht erklären mag, warum ich über ihre Pein an diesem Morgen fast Schadenfreude empfand.

Ich konnte meinen Geschäftspartner Neil Donovan in der Küche hören, zusammen mit unserer neuen und, na ja, einzigen Angestellten. Latisha war jetzt seit fast einem Monat bei uns. Neil arbeitete sie derzeit in den Gebrauch der Espressomaschine ein, ein anschauliches Beispiel dafür, wie es um seine Prioritäten bestellt ist.

«Morgen», rief ich ihnen zu, während ich auf die mit einem Zaun abgetrennte Ecke zusteuerte, die ich mein Büro nenne – ein Einfall der übereifrigen Innenarchitekten, die ich seinerzeit engagiert hatte, um unser altes Lagerhaus ins einundzwanzigste Jahrhundert zu befördern.

Latisha tauchte vor meinem Schreibtisch auf. «Sehen Sie mal, was ich gemacht habe.»

Sie stellte eine Tasse Kaffee mit einem Häubchen aus Milchschaum vor mir ab. Ihre Fingernägel waren lavendellila und so lang, dass sie sich vorne leicht bogen. Ich finde das gruselig. Sie findet es anscheinend attraktiv. Latisha ist Tyrones Tochter. Damit ist Tyrone Eckhart gemeint, Inhaber des Kautionsbüros Quikbail, der allmonatlich nicht unwesentlich zu meinem Einkommen beiträgt. Ich war ihm einen Gefallen schuldig. Dieser stand nun in meinem Büro, in einem zu kurzen Rock, der genauso lavendellila war wie ihre Fingernägel.

Ich trank ein Schlückchen und leckte mir Milchschaum von der Oberlippe. «Köstlich», sagte ich, öffnete meine Aktentasche und reichte ihr einen Beleg vom Atlanta Police Department. «Ich hab Ronald Coleman gestern Abend geschnappt. Bring den Beleg heute bei deinem Daddy vorbei, damit wir unser Geld bekommen. Und bei Nussbaum, Kaplan, Freed und Slott müsstest du auch vorbeischauen. Bernie hat gestern Abend auf meinem Handy angerufen. Sie haben Scheidungsunterlagen, die ich morgen früh für sie zustellen soll.»

Neil kam mit seinem Kaffeebecher dazu und fläzte sich in einen meiner Sessel. Er war ungekämmt, und rasiert hatte er sich auch nicht, den goldenen Bartstoppeln an Kinn und Wangen nach zu urteilen. Er trug ein Hawaiihemd und weite, knielange weiße Shorts, dazu Vans mit Schottenkaro – das Übliche also. Seine Lider wirkten schwer.

«Hey, ich darf heute der Kanzlei Stussbaum, Plemplem, Freak und Schrott einen Besuch abstatten», teilte Latisha ihm mit. Sie hatte sich angewöhnt, die Namen von Kunden, von denen sie sich schlecht behandelt fühlte, gnadenlos zu verballhornen. Bernie Slott hieß bei ihr nur noch Mr. Schrott, seit er einmal alles andere als begeistert darüber war, dass sie ihn am Telefon in der Warteschleife vergessen hatte.

«Miss Keye, sind Sie so weit, Ihren Terminkalender mit mir durchzugehen?», wollte Latisha wissen.

Nein, war ich nicht. Eigentlich wollte ich nur Kaffee trinken und vor mich hinstarren. «Kannst du dieses ‹Miss› mal weglassen? Ich komme mir ständig vor wie in einer Szene aus The Help.»

Latisha hob abwehrend eine Hand. «O nein, das haben Sie jetzt gerade nicht gesagt. Erzählen Sie mir bloß nichts über diesen Schrottfilm. Und dann hatten die noch den Nerv, da ein Buch draus zu machen!»

«Das Buch war, glaube ich, zuerst da», sagte Neil, der auf seinen Kaffee hinabblickte und versonnen mit dem Finger im Milchschaum herumrührte.

«Wie auch immer. Mit dieser Anrede bemühe ich mich bloß um Professionalität.» Sie ließ sich auf dem zweiten Sessel vor meinem Schreibtisch nieder und schlug lange, muskulöse, neunzehn Jahre junge Beine übereinander. Sie trug weiße Turnschuhe und Damensportsocken mit einem flauschigen kleinen Bommel hinten an der Ferse – lavendellila, passend zu ihren Nägeln und dem Rock, der kaum über ihren Hintern reichte. Eine Bemerkung dazu, für wie professionell ich ihren Aufzug hielt, verkniff ich mir. Offen gesagt, auf Förmlichkeiten haben Neil und ich hier im Laden nie sonderlichen Wert gelegt. Das Leben da draußen ist schon hart genug. Warum es also nicht etwas lockerer angehen lassen. «Nicht vergessen, Sie haben Fairy Chin, äh, Larry Quinn natürlich, zugesagt, dass Sie sich diese Woche um diese Ausrutsch-und-Hinfall-Tante kümmern würden», sagte Latisha zu mir. «Er muss wissen, ob sie die Wahrheit sagt. Mal unter uns, nie und nimmer ist die Alte in der Milch ausgerutscht.»

Eine Beurteilung, mit der sie womöglich goldrichtig lag. Ich hatte selbst schon Erkundigungen eingezogen. Die Frau war frisch geschieden, mit ihren Hypothekenzahlungen zwei Raten im Rückstand, und sie hatte schon einmal Schadenersatz von einem früheren Arbeitgeber gefordert, das Verfahren war noch anhängig. «Was liegt sonst noch an?», fragte ich.

«Ein halbes Dutzend Vorladungen zu eidesstattlichen Aussagen für diesen widerlichen, kriminellen Anwalt», erwiderte Latisha.

Latisha hatte viele der Routineaufgaben übernommen, die sonst meinen Tag verstopft hatten – meine Terminplanung, die Ablage, die endlosen Gänge zu Amtsgerichten, das Überbringen der Hintergrundüberprüfungen, die Neil und ich für die Headhunter-Agenturen und Arbeitsvermittlungen aus unserem festen Kundenstamm zusammenstellten. Sie bediente das Telefon und war sich nicht zu schade, Botengänge zu erledigen. Aber sie hatte eine ziemlich freche Klappe.

«Ich habe die üblichen Anti-Abhör-Maßnahmen auf dem Zettel, wie jeden Montagabend», sagte Neil. «Außerdem die Hintergrundüberprüfungen für die Headhunter.» Wir hatten erst kürzlich in eine hochmoderne Ausrüstung zum Aufspüren von Wanzen und anderen Lauschvorrichtungen investiert. Das brachte gutes Geld ein, aber wir benötigten noch mehr Aufträge. Die Technologie auf diesem Gebiet wurde pausenlos weiterentwickelt, und wir mussten entsprechend mit immer neuer Abwehrtechnik nachrüsten. Ich betete darum, dass die Großkonzerne in Atlanta von einer Paranoia befallen würden, damit Neil mit seiner Ausrüstung jeden Tag losziehen konnte. Im Stillen phantasierte ich bereits von einem vollen Bankkonto und einem Betrieb, der so glänzend lief, dass ich mir mal einen richtigen Urlaub gönnen konnte – mit allem, was dazugehört, faul am Strand liegen und dösen, heißer, schweißtreibender Sex zu jeder Tageszeit, Schokoladenkuchen zum Abendessen, ohne Katastrophen, ohne störendes Telefon. Aber das sind bloß Luftschlösser.

«Kannst du mir eine Ansicht der Straße aufrufen, in der die ausgerutschte und gestürzte Tante wohnt?», fragte ich Neil.

Er stieß sich aus dem Sessel hoch wie ein alter Mann, gab einen kleinen Laut von sich, halb Grunzen, halb Seufzen. Er war heute Morgen nicht gut drauf. Neil ist launisch. Er hat ein überaus bewegtes Liebesleben. Weil er ein Filou ist, ein Schlingel, der einfach nicht treu sein kann, deswegen. Außerdem ist er klug und lustig und kompliziert, sieht immer ein wenig zerstrubbelt aus, als würde er eine Mami brauchen. Bei den Mädels kommt er damit großartig an.

Er wies das sprachaktivierte Smart Panel in unserem rundum verkabelten Büro an, den Fernseher herabzulassen, und ein silbernes, kerkerartiges Flaschenzugsystem ließ den großen Flachbildschirm von den Dachsparren geschmeidig nach unten gleiten. Ohne Frage die grandioseste Idee des Teams von hypernervösen Innenarchitekten, die sich hier vor ein paar Jahren ausgetobt haben. Und weil der Fernseher in der Regel viereinhalb Meter über uns sicher unter der Decke verstaut ist, hatte er auch den Besuch eines Verrückten unbeschadet überstanden, der vergangenen Monat hier im Büro eingebrochen war und alles kurz und klein geschlagen hatte. Die Cops vermuteten, dass er dazu einen Baseballschläger oder Wagenheber verwendet hatte. Wir hatten nahezu alle elektronischen Geräte neu anschaffen müssen, darunter auch das lächerlich teure Smart Panel, mit dem sich das Animationssystem steuern ließ, das Neil installiert und darauf programmiert hatte, unsere Stimmbefehle zu verstehen.

Latisha ließ sich auf eine der weichen Lederchaiselongues sinken, die im Büro verstreut standen, streckte sich bequem aus, schlug die Füße übereinander. Neil ließ geschäftig die Finger über seine Tastatur huschen, bis eine Satellitenaufnahme der Beecher Street Southwest auf dem Bildschirm erschien. Er unternahm mit uns eine virtuelle Fahrt die Straße hinunter, bei der mir schwindelig wurde. Auf einem Computermonitor ist so was noch zu verkraften. Auf dem großen Bildschirm aber hat man den Eindruck einer rasenden Achterbahnfahrt. Ich registrierte parkende Autos neben dem Gehsteig, einige stattliche Eichen, die die Straße säumten. In Wohngegenden mit Autos und Bäumen kann man sich gut unauffällig herumdrücken, ohne Aufsehen zu erregen.

«Da ist es», sagte er, und auf dem Bildschirm erblickten wir ein kleines Fachwerkhaus mit breiter Veranda und einem Vorgarten voll kahler Stellen, wo die rote Lehmerde Georgias zu sehen war; offenbar war schon seit Jahren kein neues Gras mehr ausgesät worden.

«Die Gegend kenne ich», sagte Latisha. «Cousins von mir wohnen einen Block weiter. Das West End hat keinen guten Ruf, aber diese kleinen Siedlungen sind nett. Bei schönem Wetter sitzen die Leute tagsüber draußen auf ihrer Veranda, nicht wie in diesen feinen Wohngegenden, wo man nie eine Menschenseele sieht. Ist euch das schon mal aufgefallen bei reichen Weißen? Die kommen nie raus ins Freie.» Sie sah Neil an. «Komisch, was stimmt eigentlich nicht mit Weißen?»

Das Bürotelefon klingelte. Latisha meldete sich mit ihrer zuckersüßen, betont freundlichen Stimme. «C, I and I. Mein Name ist Latisha. Was kann ich für Sie tun?» Sie lauschte kurz. «Verraten Sie mir Ihren Namen?» Wieder eine Pause. «Bleiben Sie bitte am Apparat.»

«Gut gemacht», sagte ich. Sie wurde am Telefon immer besser. Die ersten Wochen hatten in der Hinsicht noch etwas von Russischem Roulette. Latisha konnte bei Anrufern mitunter ziemlich knurrig sein. Bissig.

«Ein Sheriff Meltzer», erklärte sie. «Vorwahl sieben-null-sechs.»

Der Name sagte mir nichts. «Neil, checkst du das mal schnell?»

Neils Finger flogen in Windeseile über die Tastatur. Das hätte er auch mit verbundenen Augen gekonnt. Er hatte seine Hackerkarriere schon in der Highschool begonnen, ein gewinnorientiertes Test-und-Vorbereitungsprogramm, wie er es nannte, was im Klartext hieß, dass er die Computer der Lehrer hackte, sich die Aufgabenstellung von Klassenarbeiten im Voraus beschaffte und für Bares an Mitschüler verhökerte. «Kenneth Meltzer. Sheriff in Hitchiti County. In Central Georgia. In seiner zweiten Amtszeit», referierte er. «Hat wohl mit Radarfallen für einigen Wirbel gesorgt. Im County Jail sitzen auch Staatsgefangene ein.» Neils blaue Augen flitzten nur so über den Monitor, während er seitenweise Informationen überflog. «Er erwirtschaftet jede Menge Einnahmen. Das Department ist tipptopp ausgestattet. Der Bio auf der Webseite nach ist Meltzer der jüngste Sheriff, der je im County amtiert hat. Dreiunddreißig, als er gewählt wurde. Seit seinem Amtsantritt ist die Verbrechensrate um vierzig Prozent zurückgegangen.»

«Und, was will er da von mir?», fragte ich und drückte die Taste der Freisprechanlage an der Konsole auf dem Konferenztisch. County-Sheriffs waren nie so mein Fall gewesen. Ich hatte beim FBI mit einigen zu tun gehabt. Sie werden gewählt, das bringt es mit sich, dass ihnen mitunter die Prioritäten verrutschen. «Entschuldigung, dass ich Sie habe warten lassen, Sheriff Meltzer. Hier ist Keye Street. Was kann ich für Sie tun?»

«Guten Morgen, Dr. Street.» Er hatte eine angenehme Stimme, mit einem vollen, tiefen Timbre. Ich meinte einen leichten Akzent herauszuhören, der auf den Westen der USA hindeutete. «Major Herman Hicks vom Morddezernat der Polizei von Atlanta hat Sie mir empfohlen. Hat gesagt, Sie hätten schon beim FBI und APD Fälle von Wiederholungstätern, Sparte Gewaltverbrechen, bearbeitet.»

Mir kam unwillkürlich der Tag in den Sinn, an dem ich von einem Special Agent, der hinter mir ging, zu meinem alten Cabrio eskortiert worden war, mit einem Pappkarton im Arm, in dem sich die armseligen Überreste meines Lebens am Nationalen Zentrum für die Analyse von Gewaltverbrechen befanden. Ich hatte mit unbeirrbarem Ehrgeiz eine Position in der Abteilung für Verhaltensforschung beim FBI angestrebt und mir im Studium gewissenhaft die nötigen Kenntnisse in Psychologie und Kriminologie angeeignet, die dafür sorgen würden, dass ich dort glänzen könnte. Und dann habe ich das alles komplett vermasselt. Es war nicht das erste Mal in meinem Leben, dass ich mit eingezogenem Schwanz den Rückzug antreten musste. Dinge ordentlich zu Ende zu bringen, das war noch nie meine Stärke. Oder vielleicht doch. Wenn man Sinn für Dramatik hat, meine ich.

«Hätten Sie kurz Zeit für ein Gespräch?», fragte der Sheriff.

«Selbstverständlich.» Ich griff mir Stift und Papier und setzte mich.

«Bei meinem Department ist vor etwa drei Wochen ein Anruf eingegangen», fing der Sheriff an. «Einem Vater und Sohn, die an einem Wildbach hier oben angeln waren, ist in Ufernähe ein Kleidungsstück ins Auge gefallen. Die Stelle ist ziemlich abgelegen, abseits der erschlossenen Touristengebiete, es gibt dort kaum Abfall. Es war also nicht zu übersehen. Sie stellten fest, dass es sich um eine Bluse handelte. Hier oben ist vor acht Monaten ein junges Mädchen verschwunden. Es hat sich herumgesprochen –»

«Wie jung?», fiel ich ihm ins Wort.

«Sie war dreizehn.»

«Und es war ihre Bluse?»

«Ja. Dem Kriminallabor in Atlanta zufolge gehörten die Hautzellen, die sie am Kragen sicherstellen konnten, dem Opfer», sagte der Sheriff.

«Haben Sie eine Leiche geborgen?»

«Wir haben die Gegend ein paar Tage durchkämmt und nichts gefunden, dann haben wir die Suche mit Spürhunden fortgesetzt. Wir haben ihre Leiche ein Stück weiter stromaufwärts gefunden. Außerdem die skelettierten Überreste eines weiteren Opfers. Ein forensischer Odontologe hat sie als Tracy Davidson identifiziert, ebenfalls dreizehn Jahre alt zum Zeitpunkt ihres Verschwindens. Sie wurden in einer Senke gefunden, unten am Fuß einer Böschung, im Wald eine halbe Meile weiter weg.»

«Gingen sie in dieselbe Schule?»

«Nein. Aber beide Mädchen lebten in meinem County. Und in keinem der beiden Wohnorte gibt es eine eigene Polizei. Deshalb bin ich in der Sache zuständig. Tracy Davidson lebte in Silas, zwanzig Meilen von Melinda Cochran entfernt, unserem zweiten Opfer, die hier aus Whisper stammt.»

Ich machte mir eine Notiz. 2 Opfer. Weiblich. 13. Silas, Whisper, 20 Meilen. «Wurde auch die Todesursache bestimmt?»

«Stumpfe Gewalteinwirkung am Schädel des ersten Opfers. Die Verletzungen lassen darauf schließen, dass sie mit dem stumpfen Ende einer Axt verursacht worden sind.»

Schwer und gut zu schwingen, dachte ich. Schön leise, nichts, was die Stille in einem friedlichen Waldgebiet in Georgia gestört hätte. «Und beim zweiten Opfer?»

«Könnte dieselbe Waffe gewesen sein, aber diesmal hat er die Klinge benutzt. Hätte sie beinahe enthauptet.»

«Wie kann ich helfen, Sheriff?»

«Ich habe hier zwei Leute für anfallende Ermittlungen, und die sind mit Crystal-Meth-Laboren, Cannabiszüchtern und Raubüberfällen voll ausgelastet. Eine Kriminalberatung oder etwas Ähnliches haben wir hier noch nie hinzugezogen. Wie funktioniert das? Was genau haben Sie fürs APD getan? Mich würde einfach interessieren, was passiert, wenn ich jemanden wie Sie engagiere.»

«Das primäre Ziel wäre, die Natur der forensischen Befunde auszuwerten und ihre Bedeutung einzuschätzen. Diese Befunde sowie Verhaltensweisen an einem Tatort zu interpretieren, um Tätercharakteristika zu identifizieren. Den Ermittlern zu einem Einblick in die Motivation des Täters zu verhelfen, seine Phantasien, seinen Geisteszustand, inwiefern er seine Taten im Voraus plant, Hinweise auf Reue, welche Risiken er eingeht, seine Herangehensweise und Angriffsmethoden. Zu analysieren, welche Verbindungen bei Serienverbrechen bestehen. All das soll dabei helfen, eine Vernehmungs- und Ermittlungsstrategie zu entwickeln und letzten Endes den Täter zu identifizieren.» Ich legte eine kurze Pause ein. «Die Betonung liegt auf dem Wort helfen, Sheriff. Kriminalpsychologische Analysten helfen bei der Polizeiarbeit. Wir sind keine Hellseher. Wir arbeiten mit dem Beweismaterial, das Sie uns zur Verfügung stellen.»

«Offen gesagt, Dr. Street, als das zweite Opfer vor acht Monaten verschwunden ist, sind meine Ermittler kein Stück vorangekommen», erklärte Sheriff Meltzer. «Das APD sagt, Sie seien eine gute Ermittlerin und gute Profilerin. Beides könnte ich jetzt perfekt gebrauchen. Hätten Sie ein paar Tage Zeit? Alle Kosten würden natürlich wir übernehmen.»

«Könnten Sie kurz dranbleiben, während ich rasch meinen Terminkalender zu Rate ziehe?» Ich drückte auf die Haltetaste. Ich schaute nicht in meinen Terminkalender. Beobachtete bloß das Poch, Poch, Poch der Ader in meinem Handgelenk. Ich dachte über die Sorte Mörder nach, die junge Mädchen kidnappte und umbrachte. Dachte über die Sache nach, die mir Angst macht und mich zugleich reizt, mich unwiderstehlich anzieht wie ein Magnetfeld: den berechnenden Verstand eines Killers.

«Wie sieht der Zeitrahmen für die Vorladungen aus?», wollte ich von Latisha wissen.

«Die eidesstattlichen Aussagen sind in fünf Wochen fällig.»

«Okay, die kann ich auch nächste Woche zustellen», sagte ich.

«Dann aber unbedingt.» Latisha sah mich mahnend an. «Weil die Leute ausreichend Zeit brauchen, um sich vorzubereiten.»

«Sonst liegt hier nichts an, was wir nicht ein paar Tage lang ohne dich bewältigen können, schätze ich», sagte Neil.

Ich löste die Haltetaste wieder. «Sheriff, könnten Sie mir die Laborberichte und Tatortfotos zuschicken? Ich würde mir das gern heute Abend alles ansehen und mich dann morgen früh wieder bei Ihnen melden.» Ich nannte ihm meine E-Mail-Adresse. «Sie haben noch nicht erwähnt, wie lange das erste Opfer schon da draußen gelegen hat.»

«Etwa zehn Jahre, dem forensischen Anthropologen zufolge.»

«Und das zweite Mädchen seit acht Monaten?»

«Eher an die sechzig Tage.»

Ich richtete mich ruckartig auf. «Aber verschwunden ist sie vor acht Monaten? Sie wurde also vor ihrer Ermordung sechs Monate gefangen gehalten.»

«Das erste Opfer ist sogar erst ein Jahr nach seinem Verschwinden ermordet worden», klärte mich der Sheriff mit leiser Stimme auf. «Dr. Street, wir sind hier unten keine schlechten Polizisten, aber diese Art Ungeheuer verstehen wir nicht. Und wir verstehen nicht, wie jemand diese Mädchen gefangen halten konnte, ohne entdeckt zu werden.»

«Sheriff, bei Tätern, die ihre Opfer entführen und gefangen halten, handelt es sich, ganz allgemein gesprochen, oft um Sexualsadisten. Ihre Befriedigung ziehen sie daraus, ihre Opfer zu entmenschlichen. Kinder und junge Erwachsene entwickeln recht schnell eine Abhängigkeit von ihrem Kidnapper. Der Täter ist in der Regel der einzige Mensch, zu dem sie Kontakt haben. Jeder Bissen Nahrung, jeder Schluck Wasser, jede Erlaubnis, die Sonne zu sehen, hängt von der Großzügigkeit ihres Kerkermeisters ab. Das birgt ein großes Machtgefühl für jemanden, den es danach verlangt. Und Gefangene flüchten nicht unbedingt oder schreien, wenn sich dazu eine Gelegenheit ergibt. Mitunter entwickelt sich eine traumatische Bindung. In der Regel hat der Täter Drohungen ausgesprochen. Den Opfern wird gesagt, dass ihnen niemand glauben wird, dass er sie finden wird, dass er ihre Familie umbringt oder ihre Haustiere. Nachbarn wissen nicht immer, was vor sich geht. Nehmen Sie nur den Fall Ariel Castro in Cleveland. Das Nachbarhaus ist nur sechs Meter entfernt, und er hat zehn Jahre lang drei Frauen in seinem selbstgebauten Kerker gefangen gehalten.»

«Wie gesagt, diese Sorte Ungeheuer verstehen wir nicht», erwiderte der Sheriff. «Für uns steht aber zumindest fest, dass wir es mit ein und demselben Tatverdächtigen zu tun haben, da er die Opfer am selben Ort verschwinden ließ. Und aus genau diesem Grund rufe ich Sie an.»

«Familienangehörige und lokale Sexualtäter haben Sie schon überprüft, nehme ich an?»

«Das war unsere allererste Maßnahme. Wir haben eine Reihe Vernehmungen durchgeführt, konnten eine Beteiligung der Familien ausschließen. Und meiner Erfahrung nach sind es nicht die registrierten Sexualtäter, die einem Sorgen bereiten sollten. Die wissen, ihnen fühlen wir als Erstes auf den Zahn, wenn etwas passiert. Hin und wieder funktioniert das System schon.»

«Und Sie wollen offenbar nicht das FBI einschalten. Warum nicht?»

«Whisper befindet sich etwas abseits der Touristenregionen rings um den See. Es ist ein ruhiger Ort. Hart arbeitende Leute, denen ihre Privatsphäre wichtig ist. Hier Beamte des FBI herzuholen, würde bei den Einwohnern nur für unnötige Unruhe sorgen.»

«Das FBI ist ein guter Partner, Sheriff. Die haben ihre Ressourcen.»

«Das hier ist unser Fall», stellte er klar, und obwohl ich ihn nicht kannte, begriff ich, dass er von mir keine Ratschläge annehmen würde. «Wir wollen ihn, wenn möglich, selbst lösen.»

Das ist die Einstellung der meisten Cops. Besonders in Kleinstädten. Für sie ist es eine persönliche Angelegenheit. Ich hielt diese Haltung zwar für unklug, aber verstehen konnte ich sie schon. «Ich schaue mir die Unterlagen an, Sheriff, und melde mich dann morgen früh bei Ihnen.»

«Ich freue mich schon darauf, Dr. Street.»

3

Ich las die Namen in der E-Mail eines mir unbekannten Sheriffs aus Central Georgia. Tracy Anne Davidson. Melinda Jane Cochran. Ich versuchte, mich an mein Leben mit dreizehn zu erinnern. Meine Gedanken kreisten damals um Jungen, meinen Sport, meine Freundinnen, es ging ums Dazugehören, ums Küssen, darum, was ich anziehen sollte. Ich war voll und ganz von meiner eigenen, glücklichen kleinen Teenagerwelt in Anspruch genommen. Mein Bruder Jimmy verließ die Schule immer gleich nach Unterrichtsschluss, deshalb ging ich nach dem Training immer allein nach Hause. In guten Wohngegenden kann nichts Schlimmes passieren, richtig? Wie leicht wäre es für jemanden gewesen, mich anzusprechen und mit einem Trick hereinzulegen, mich aus meinem gewohnten Leben zu reißen, dem Leben meiner Eltern. Allein der Gedanke, was das für verheerende Folgen nach sich gezogen hätte, war schwer erträglich. Oder die Vorstellung, welche Qualen die Familien dieser beiden Mädchen auszustehen hatten, erst das spurlose Verschwinden ihrer Kinder und dann der Verlust der Hoffnung, dass sie noch lebend gefunden würden, als man ihre Leichen in einem abgelegenen Krater in der roten Lehmerde Georgias entdeckte.

Ich öffnete den Anhang. Zunächst sandte ich die Berichte des Kriminallabors des Georgia Bureau of Investigation an den Drucker im äußeren Büro, danach die Fotos des Leichenfundortes. Als ich Neil in seinem Bürosessel stöhnen hörte, sah ich von meinem Schreibtisch auf. Mit meinem Laptop ging ich zum Konferenztisch. «Hättest du kurz Zeit für mich?»

«Machst du Witze? Mir ist sterbenslangweilig. Ich bin kurz davor, das Personal von Super Nannies als Sexualtäter einzustufen.»

Die Kindermädchenvermittlung Super Nannies On Call gehörte zu unseren Stammkunden. Wir durchleuchteten für sie das Vorleben der Personen, die sich bei ihnen um eine Stelle bewarben. Was etwa tausend Dollar im Monat einbrachte, auf die ich ungern verzichten mochte. Neils überentwickeltes technisches Knowhow und die Anfälle von Unterforderung, die ihn immer wieder heimsuchten, bargen jederzeit das Potenzial, ihn zu Unfug anzustiften. Die Kombination war ihm schon früher zum Verhängnis geworden und hätte ihm beinahe eine Haftstrafe eingetragen.

«Lustig, genau damit möchte ich anfangen – registrierte Sexualtäter in Hitchiti County und im weiteren Umland, Kategorie zwei und drei. Solche, die in den vergangenen elf Jahren Zugang zu dem betreffenden Gebiet gehabt haben. Sehen wir uns auch die Straftäter an, die in den letzten beiden Jahren in die Gegend zurückgekehrt sind. Melinda ist vor etwas über acht Monaten verschwunden, sie dürfte also wohl in sozialen Netzwerken aktiv gewesen sein. Latisha, ruf noch mal bei Sheriff Meltzer an und stell ihn zu mir durch.»

Latisha tat wie geheißen und stellte den Sheriff auf Freisprechanlage. «Sheriff Meltzer, entschuldigen Sie bitte die Störung. Kurze Frage. Haben Sie überprüft, ob Melinda Cochran bei irgendwelchen sozialen Netzwerken aktiv war? Ob sie eine Seite bei Facebook hatte oder so was?»

«Ja, hatte sie», bestätigte der Sheriff. «Aber ihre Eltern kennen das Passwort nicht, und unserem Techniker ist es nicht gelungen, auf ihre Seite zuzugreifen. Alles, was wir zurzeit sehen können, ist ihr Profilbild. Wir haben schon die erforderliche gerichtliche Anordnung beantragt, um Admin-Rechte zu bekommen, aber die Sache läuft nicht so schnell, wie es uns lieb wäre.»

Ich warf Neil einen Blick zu. Er reckte wortlos den Daumen in die Höhe. Nun gut, manchmal nehmen wir es mit dem Datenschutz nicht so genau. Tja, willkommen im Privatsektor. «Danke für die Auskunft, Sheriff. Ich melde mich morgen früh bei Ihnen.» Ich beendete das Telefonat, sah Neil an. «Ihr Tatverdächtiger stammt aus der Gegend dort. Das kann ich fast garantieren.»

«Wo er sie wohl eingesperrt hatte?», sagte Neil. «Ich meine, so leicht stelle ich mir das nicht vor, ein lebendes Mädchen zu verstecken.»

«Ich hör nicht gern dabei zu, wenn ihr über einen Typen zu erzählen anfangt, der sich in seinem Keller einen Anzug aus Mädchenhaut macht», warf Latisha ein. «Ich kenn diesen Film, ich hab ihn gesehen.»

«Daraus haben sie auch ein Buch gemacht», sagte Neil und zwinkerte mir zu.

Latisha rieb sich über die Arme, als hätte sie eine Gänsehaut. «Dieser Typ hatte einen Hund namens Precious. Was an dem wohl wertvoll war. Das werde ich mein Leben lang nicht vergessen.»

«Wenn du drin bist, stell mir die Leute zusammen, denen Melinda bei Twitter gefolgt ist und mit denen sie bei Facebook befreundet war», wies ich Neil an. «Gleichaltrige, Erwachsene, Familienangehörige, Leute aus ihrem Ort und von außerhalb. Und besorg von denen so viele Kontaktdaten wie möglich. Die geben wir an das Sheriff Department weiter.»

«Du hörst dich ganz so an, als wolltest du den Job annehmen», sagte Neil.

«Wenn er so gut aussieht, wie er sich anhört», warf Latisha ein, «übernehme ich das gerne.»

«Ob ich das mache oder nicht – steuern wir trotzdem bei, was wir können», sagte ich zu Neil. Er sah mich an. Ich wusste, was ihm durch den Kopf ging. Er hatte seine Vorbehalte, was Beratungstätigkeiten für die Polizei betraf. Die letzten beiden Male war dabei nämlich einiges gewaltig schiefgelaufen. Vor einem Jahr hätte mich eine Serienmörderin um ein Haar umgebracht, und Neil humpelte noch immer, Ergebnis einer Kugel, die sechs Wochen zuvor von unserer Betonrampe abgeprallt war und sein Bein getroffen hatte, als die Zielperson einer Ermittlung mir eine nachdrückliche Warnung erteilen wollte.

«Okay», sagte er schließlich und schwang zu seinem Computer herum. «Registrierte Sexualtäter und soziale Medien.»

«Latisha, wie wär’s, wenn du mitkommst, um mal bei Larry Quinns Ausrutsch-und-Hinfall-Tante nach dem Rechten zu sehen?» Latishas Miene hellte sich augenblicklich auf. Neil starrte mich an, als wäre meiner Nase gerade ein Kohlkopf entsprossen. «Was denn?», sagte ich. «Sie muss sich doch einarbeiten, die Grundlagen lernen. Sie kommt damit schon klar. Wenn wir heute nichts Verwertbares bekommen, kannst du morgen ein paar Schichten allein absolvieren.»

«Krieg ich auch eine Kanone?», fragte Latisha.

Ich lachte. «Gütiger Himmel, nein.» Ich ging zum Drucker, nahm die Berichte des Sheriffs und steckte sie in eine Aktenmappe. Da läutete mein Telefon. Rausers Klingelton. «Dude (Looks Like a Lady)» von Aerosmith.

«Hast du Sehnsucht nach mir?» Rausers Reibeisenstimme klang nach langjährigem Konsum von billigem Bourbon und Zigaretten. «Ich meine, wir sind jetzt schon vier Stunden getrennt. Der Alltag tötet doch wohl nicht die Romantik zwischen uns, oder?»

«Kommt drauf an», sagte ich. «Bist du mir noch böse? Weil mich das nämlich nicht direkt antörnt, musst du wissen.» Neil reichte mir ein Parabolmikrophon und hängte mir eine Kamera um die Schulter.

«Aua, das war aber frostig», sagte Rauser. «Mir ist kurz richtig kalt geworden.»

«Kann ich irgendwas für Sie tun, Lieutenant?»

Ich hörte Telefone im Hintergrund klingeln, Stimmen. Im Morddezernat herrschte der übliche Hochbetrieb. «Kannst du zu Hause vorbeischauen und mit Hank Gassi gehen?»

«Ja, apropos die Romantik töten», erwiderte ich trocken. Hank ist ein weißer Zwergpudel, der mal einem Serienmörder gehörte. Rauser hat ihn zu sich genommen, und ich bin immer noch unschlüssig, ob ich ihm das zugutehalten oder eher abstoßend finden soll. Bei echten Kerlen, die lieb zu Tieren sind, wird mir wirklich warm ums Herz. Wenn ich aber sehe, wie er Hank vor sich in die Höhe hält und in Babysprache mit ihm redet, finde ich das eher nicht so prickelnd.

«Ich kann jetzt hier nicht weg», sagte Rauser. «Morgen übernehme ich das. Versprochen.»

«Ich denke, wir sollten diese Hundesitterin engagieren, die sich letzte Woche bei uns vorgestellt hat», antwortete ich. «Sie könnte mit ihm tagsüber schön lange spazieren gehen. Vielleicht beruhigt ihn das ja ein bisschen.»

«Meinst du, die kommt noch mal wieder? Er hat doch das ganze Gespräch über wie wild ihr Bein begattet.»

«Ich glaube, das hat ihr gefallen.»

Rauser gluckste vergnügt. Der Tierarzt hatte uns gewarnt, dass es ein paar Wochen dauern könnte, bis der frischkastrierte Hank seine, nun ja, hormonellen Schübe überwunden hatte. So weit war er noch nicht.

«Ich muss sowieso zu Hause vorbei, um den Wagen zu wechseln. Ich führe ihn Gassi. Aber ruf die Sitterin heute noch an, okay? Weil ich eventuell ein paar Tage wegmuss.»

«Hat Sheriff Meltzer sich bei dir gemeldet?»

«Ja. Kennst du ihn?»

«Nee. Der Major hat mir erzählt, er hätte ihn an dich verwiesen. Worum geht’s?»

«Zwei tote Mädchen», erwiderte ich. «Im Abstand von zehn Jahren umgebracht. Ein und dieselbe Ablagestelle.»

«Oje.» Was das zu bedeuten hatte, verstand Rauser nur zu gut. In Central Georgia lief seit über zehn Jahren ein Mörder frei herum. «Dann nimmst du den Job also an?»

«Ehe ich das entscheide, schaue ich mir heute Abend erst mal die Akten an.»

«Mit anderen Worten, du nimmst den Job an.» Damit beendete Rauser das Telefonat.

 

Ich fuhr mit heruntergelassenem Verdeck und Latisha neben mir auf dem Beifahrersitz in die Garage des Georgian Terrace Hotel. «Ich packe schnell die Ausrüstung in den Neon und gehe kurz mit Hank vor die Tür», erklärte ich ihr. «Dann können wir los. Komm mit hoch und warte in der Wohnung. Mit Tieren hast du doch keine Probleme, oder?»

«Ich mag es nicht, wenn sie an mir rumlecken. Werden sie an mir rumlecken?»

«Keine Ahnung.»

Sie musterte den schäbigen, verbeulten alten Plymouth. «Werden wir den ganzen Tag in dem Ding da hocken?»

«Es ist wichtig, kein Aufsehen zu erregen.»

«Ah», sagte Latisha, als wir durch die Doppeltüren ins Georgian Terrace traten und auf den Aufzug zusteuerten. «Tarnung.»

«Genau.»

Als ich die Tür zu meinem Apartment im zehnten Stock aufsperrte, hörte ich auch schon Hanks Krallen auf meinem Holzboden. Hank tänzelt immer wie wild herum, wenn er aufgeregt ist. Heute aber tänzelte er nicht. Er humpelte. Wo steckte White Trash? Ich sah mich suchend um, bis ich sie entdeckte, oben auf der Theke zwischen Küche und Wohnbereich. Ich kniete vor Hank nieder. «Hattet ihr wieder mal Zoff?» Zoff ist Code und heißt im Klartext, dass White Trash ihm mal wieder eine Abreibung verpasst hat. Ich untersuchte seine Pfoten, seine Schultern und sein Gesicht, konnte aber keine Kampfspuren an ihm entdecken. Auch seine Augen schienen so weit in Ordnung.

«Igitt», sagte Latisha, die neben mir stand. «Sein Dings ist draußen. Und zwar ganz draußen.»

Ich hob ihn an den Vorderpfoten in die Höhe, um einen Blick auf seine Unterseite zu werfen. «Wow. So was habe ich ja noch nie gesehen. Das kann nicht gut sein.»

«Was Sie nicht sagen. Kein Wunder, dass sich die Katze da oben hin verkrümelt hat. Schauen Sie ihr in die Augen, Keye. Diese Katze hat heute Schreckliches durchgemacht.»

Ich stellte Hanks Pfoten wieder auf dem Boden ab. Er ließ den Kopf hängen. «Ich glaube, er hat Schmerzen.» Ich wählte die Nummer des Tierarztes, die mit einem Magneten am Kühlschrank befestigt war. Nach kurzem Warten wurde ich zu einer hörbar gestressten Praxishelferin durchgestellt, der ich ein wenig peinlich berührt den vorliegenden Notfall schilderte. Als ich aufgelegt hatte, wandte ich mich zu Latisha. «Sein Dings klemmt fest. Wir müssen es befreien.»

«Das steht nicht in meiner Stellenbeschreibung.»

«Nun, dann streichle ihn wenigstens oder so was, während ich mir was einfallen lassen.»

«O nein. Den packe ich nicht an.» Sie rümpfte die Nase.

«Die Praxishelferin hat gesagt, man müsste etwas Kaltes benutzen oder etwas, das wie ein Gleitmittel wirkt.» Ich streifte mir Einmalhandschuhe aus meinem Zubehörkoffer über und öffnete den Kühlschrank. Butteraufstrich, fettig und kalt. Problem gelöst. Ich stippte einen Finger in die Creme.

«O mein Gott», sagte Latisha lachend.

«Ich hab eine Überraschung für dich, Hank.» Ich streichelte ihn, rollte ihn dann auf die Seite und schmierte den cremigen Aufstrich auf sein Genital. Wie es sich trifft, ist streichfeiner Butterersatz offenbar extrem abtörnend. Es funktionierte jedenfalls im Nu. Hank rollte sich erschöpft auf den Rücken. Ich streifte mir die Handschuhe ab und blickte Latisha an.

Sie stöhnte. «Bäh. Ich werde Sie nie wieder so wie früher sehen können.»

«Ja, nun, das hier bleibt schön unter uns. Kein Sterbenswort zu niemandem. Niemals. Nicht, wenn dir an deinem Job etwas liegt.»

«Meine Chefin, die einem Pudel einen runterholt – mit der Story werde ich nun wirklich nicht hausieren gehen. Ich mein ja nur.»

Ich führte den armen Hank eine Runde auf der Peachtree Avenue spazieren, während Latisha fernsah und White Trash sie dabei mit Argusaugen beobachtete. Hank schien sich schon wieder erholt zu haben, war aber nicht ganz so munter wie sonst. Ich entschied, das heutige Drama vor Rauser unerwähnt zu lassen. Es gibt Vorfälle, von denen braucht der Mensch, den man liebt, nicht unbedingt etwas zu erfahren.

Vierzig Minuten später parkten wir unter einer der riesigen Wassereichen, die die Beecher Street überwölbten. Bürgersteigplatten waren hier und da geborsten, in die Höhe getrieben durch mächtige Wurzeln, die an die Erdoberfläche gedrängt waren, vermutlich infolge der ersten großen Dürre, die einige Jahre zurücklag.