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Ein prickelndes Spiel aus Lüge und Verführung – doch wem kannst du trauen?
Als sich die Blicke von Jordie Bennet und Shaw Kinnard das erste Mal treffen, sprühen die Funken! Shaws düstere Ausstrahlung übt eine magnetische Ausstahlung auf Jordie aus, doch sie weiß auch, dass er geschickt wurde, um sie zu töten. Aber sie ist bereit, sich auf das Spiel mit dem Feuer einzulassen. Doch er hat andere Pläne, denn er will über sie an die dreißig Millionen Dollar gelangen, die Jordies Bruder gestohlen hat. Allerdings ist Shaw nicht der Einzige, der hinter dem Geld her ist. Schon bald sind beide auf der Flucht vor dem FBI und einem gefährlichen Verbrecher. Um der tödlichen Gefahr zu entgehen, müssen sie nun lernen, sich aufeinander zu verlassen …
Lesen Sie auch die anderen hochspannenden Romane von Sandra Brown (Auswahl):
Verhängnisvolle Nähe
Sein eisiges Herz
Blinder Stolz
Tödliche Sehnsucht
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Seitenzahl: 579
Veröffentlichungsjahr: 2018
Buch
Als sich die Blicke von Jordie Bennett und Shaw Kinnard das erste Mal treffen, sprühen die Funken! Shaws düstere Ausstrahlung lässt Jordie nicht kalt, doch sie weiß auch, dass er geschickt wurde, um sie zu töten. Jordie ist sich sicher, dass ihre Zeit abgelaufen ist – doch Shaw hat andere Pläne. In der Hoffnung, durch sie an die dreißig Millionen Dollar zu gelangen, die ihr Bruder gestohlen hat, entführt er sie. Doch Shaw ist nicht der Einzige, der hinter dem Geld her ist, und schon bald müssen Jordie und Shaw auf der Flucht vor dem FBI und einem gefährlichen Verbrecher lernen, sich aufeinander zu verlassen, um so der tödlichen Gefahr zu entgehen, in der sie beide schweben …
Autorin
Sandra Brown arbeitete mit großem Erfolg als Schauspielerin und TV-Journalistin, bevor sie mit ihrem Roman »Trügerischer Spiegel« auf Anhieb einen großen Erfolg landete. Inzwischen ist sie eine der erfolgreichsten internationalen Autorinnen, die mit jedem ihrer Bücher die Spitzenplätze der New York Times-Bestsellerliste erreicht! Ihren großen Durchbruch als Thrillerautorin feierte Sandra Brown mit dem Roman »Die Zeugin«, der auch in Deutschland auf die Bestsellerlisten kletterte – ein Erfolg, den sie mit jedem neuen Roman noch einmal übertreffen konnte. Sandra Brown lebt mit ihrer Familie abwechselnd in Texas und South Carolina.
Weitere Informationen finden Sie auf: www.sandra-brown.de.
Von Sandra Brown bereits erschienen (Auswahl):
Envy – Neid ∙ Crush – Gier ∙ Rage – Zorn ∙ Weißglut ∙ Eisnacht ∙ Warnschuss ∙ Ewige Treue ∙ Süßer Tod ∙ Sündige Gier ∙ Blinder Stolz · Böses Herz ∙ Eisige Glut ∙ Sanfte Rache ∙ Tödliche Sehnsucht
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Sandra Brown
Stachel im Herzen
Thriller
Deutsch von Christoph Göhler
Die Originalausgabe erschien 2016
unter dem Titel »Sting« bei Grand Central Publishing, a division of Hachette Books Group, Inc., New York.
Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.
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1. Auflage
Copyright der Originalausgabe © 2016by Sandra Brown Management, Ltd.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2019
by Blanvalet Verlag, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: René Stein
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de
Umschlagmotiv: Photo by Martin Cohen Wild about Australia/Lonely Planet Images/Getty Images
LH ∙ Herstellung: sam
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN: 978-3-641-22968-9V002
www.blanvalet.de
Prolog
Exakt zweiundzwanzig Minuten bevor Mickey Bolden vor seinen Schöpfer trat, warf er sich eine Handvoll Popcorn in den Mund und brummte: »Kommt ’ne Frau in die Bar.«
Shaw Kinnard saß auf dem Barhocker neben Mickey, starrte allem Anschein nach tief gelangweilt in seinen Drink und ließ müßig das kleine Tequila-Glas kreiseln. »Und weiter?«
»Nichts weiter.«
»Das ist der ganze Witz?«
»Kein Witz, und absolut gar nichts daran ist lustig.«
Shaws Langeweile war wie weggeblasen, als hätte man ihn mit einem Gummiband angeflitscht. Sein Kopf flog herum, und er sah Mickey an.
Die Augen des Mannes waren winzige Rosinen, die unter dicken Fettpolstern verborgen lagen, doch Shaw konnte beobachten, wie sie langsam von einem Ende der Bierkneipe zum anderen wanderten. Er war versucht, sich umzudrehen, blickte aber eisern in das aufgedunsene Gesicht seines Partners. Er kannte die Antwort auf seine nächste Frage bereits: »Eine Frau im Speziellen?«
»Im Speziellen unsere Frau.«
»Sie ist hier?«
»So leibhaftig und lebendig wie ich.« Mickey stäubte Popcorn-Salz von seinen Händen. »Gerade setzt sie sich auf einen Barhocker, auf ein Uhr über deiner rechten Schulter, da, wo die Bar einen Knick macht. Also dreh dich nicht um, sie schaut nämlich genau in unsere Richtung.«
Mickeys grinste arglos, als unterhielten sie sich ganz entspannt, doch tatsächlich hatte Jordie Bennetts unerwartetes Auftauchen sie aus ihrer Lethargie gerissen.
»Da wird doch der Hund in der Pfanne verrückt«, brummelte Shaw. »Ist sie allein?«
»Jedenfalls ist sie allein gekommen.« Mickey zwinkerte Shaw mit einem verquollenen Auge zu. »Aber die Nacht ist noch jung.« Das anzügliche Schmunzeln machte ihn noch hässlicher, soweit das überhaupt möglich war.
Shaw senkte den Blick auf sein Glas Patron Silver. »Glaubst du, wir sind aufgeflogen?«
»Quatsch. Wie hätte das passieren sollen?«
»Was tut sie dann hier?«
Mickey zuckte mit den Achseln. »Vielleicht ist die Lady einfach durstig.«
»Und sie wird genau an dem Tag durstig, an dem wir hier aufschlagen?«
»Sind schon merkwürdigere Sachen passiert.«
»Merkwürdige Sachen machen mich nervös.«
»Weil du nicht meine Erfahrung hast«, sagte Mickey.
Shaw musterte den Mann mit unverhohlener Verachtung und kam zu dem Schluss, dass Erfahrung in diesem Fall mit dummer und gefährlicher Arroganz gleichzusetzen war. »Ich bin auch nicht gerade ein blutiger Anfänger.«
»Dann solltest du wissen, dass du cool bleiben musst, wenn du mal ins Schlingern kommst.«
»Ins Schlingern? Wir schlittern gerade mit Karacho von der Straße.«
»Vielleicht. Aber bis wir mehr wissen, werde ich das hier als merkwürdigen Zufall behandeln und keine voreiligen Schlüsse ziehen, die wahrscheinlich sowieso falsch sind. So was kommt vor. Selbst der beste Plan kann den Bach runtergehen. Und dann bringt es nichts, gegen den Strom anzuschwimmen, dann musst du dich treiben lassen und improvisieren.«
»Ach ja? Und wenn der Bach in einer Kläranlage endet?«
»Entspann dich, Bro«, erklärte Mickey ihm gedehnt. »Alles okay. Sie schaut sich ganz entspannt den Laden an, nicht so, als würde sie nach jemandem Ausschau halten. Ihre babyblauen Augen sind direkt über mich weggeflogen, ohne dass sie auch nur mit der Wimper gezuckt hätte.«
Shaw schnaubte und setzte das Glas an die Lippen. »Weil du ein hässliches Schwein bist.«
»Hey, es gibt reichlich Ladys, die auf mich stehen.«
»Wenn du meinst.« Shaw kippte seinen Tequila hinunter. Als er das leere Glas auf die Theke stellte, sah er flüchtig zu dem Objekt ihres Interesses hin. Jordie Bennett dankte in diesem Moment dem Barkeeper für das Glas Weißwein, das er vor ihr abstellte.
Tatsächlich waren er und Mickey ihretwegen hier. Hier am Arsch der Welt im tiefsten Süden von Louisiana. Aber nicht hier in dieser Kaschemme aus verrostetem Wellblech, die windschief über den schlammigen Ufern eines trägen Bayou thronte. Falls die Kneipe einen Namen trug, kannte Shaw ihn nicht. Die drei Neonbuchstaben, die knisternd und zischend draußen über der Tür angebracht waren, ergaben zusammen nur das Wort BAR.
Hier drinnen war es verqualmt, was die Ausdünstungen der rauen, bodenständigen Kundschaft aber nicht übertünchen konnte. Zydeco dröhnte aus der Jukebox, die aussah, als hätte sie gute zwanzig Hurrikanes überstanden, von denen jeder einzelne als Generalprobe für Katrina gedient hatte.
Er und Mickey fügten sich halbwegs in das schäbige Ambiente, doch Jordan Elaine Bennett, Freunden und Familie als Jordie bekannt, hätte man an so einem Ort keinesfalls erwartet. Und doch war sie hier. Und trank Weißwein, ausgerechnet. Als würde sie damit an einem Ort, wo das Bier in der Flasche und der Schnaps nur pur serviert wurde, nicht auffallen.
Mickey schaufelte neues Popcorn aus der Plastikschale. »Du glaubst, es ist nicht nur Zufall, dass sie hier ist?«, fragte er mit vollem Mund.
»Verflucht, woher soll ich das wissen?«, brummte Shaw. »Es fühlt sich jedenfalls nicht richtig an.« Er nickte dankend dem Barkeeper zu, der ihm wortlos anbot, sein Tequilaglas aufzufüllen, und danach in weiser Voraussicht Mickey ein weiteres Bier hinstellte.
Während Mickey einen tiefen Zug aus der Flasche nahm, sah er mit halb zusammengekniffenen Augen an der Theke entlang zum anderen Ende, wo die Bar einen Knick machte. Er musste aufstoßen, rülpste Bierdünste aus und sagte um den Rülpser herum: »Vielleicht hält sie nur Ausschau.«
Shaw zog zweifelnd eine Braue hoch. »Nach einem Mann, meinst du?«
»Warum denn nicht?«
»So eine ist sie nicht.«
Mickey lachte leise und stieß Shaw mit dem Ellbogen an. »Keine ist so eine.«
»Spricht da wieder die Stimme der Erfahrung?«
Mickey nickte weise. »Schwer rumzukriegen? Nichts als leeres Geschwätz von den Weibern, damit wir uns für sie richtig ins Zeug legen.«
Shaw ließ sich Mickeys Worte durch den Kopf gehen, griff dann nach seinem Tequila und kippte ihn in einem Zug. Entschlossen setzte er das leere Glas auf der Theke ab, glitt von seinem Hocker und vergewisserte sich beim Aufrichten kurz, dass das Hemd den Griff der Pistole an seinem Gürtel überdeckte.
Mickey starrte ihn an. »Was machst du …?«
»Ich teste deine Theorie, fetter Mann.«
»Du kannst doch nicht … Aber sie …«
Shaw ließ den stammelnden Mickey zurück.
Während er an den Barhockern vorbeischlenderte, wurde er von Gästen beiderlei Geschlechts gemustert. Die Frauen bedachten ihn mit taxierenden Blicken oder solchen, die einer direkten Einladung gleichkamen. Er blieb gleichgültig und reagierte nicht einmal mit einem Lächeln. Männer fixierten ihn abweisend, eisig oder provozierend, was er mit noch abweisenderen, noch eisigeren oder noch provozierenderen Blicken beantwortete. Alle wandten vor ihm die Augen ab.
Shaw hatte so etwas an sich.
Noch hatte niemand den Mut aufgebracht, den leeren Barhocker neben Jordie Bennett zu besetzen. Die Einheimischen begriffen wahrscheinlich, dass so eine Frau für Gesindel wie sie unerreichbar war. Ihrer Meinung nach fiel auch Shaw in diese Kategorie, denn beim Näherkommen fing er zwar Bennetts Blick auf, nur für einen winzigen Moment, bevor sie die babyblauen Augen wieder auf ihr Weinglas richtete. Kein Zucken im Gesicht, keinerlei körperliches Signal, nicht einmal das Flattern einer einzigen langen Wimper.
Jordie Bennett war und blieb unnahbar. Mit ihrem Gesicht, mit ihrem Körper konnte sie es sich leisten, wählerisch zu sein. Wie man es auch drehte oder wendete, bei ihrem Anblick lief jedem Mann das Wasser im Mund zusammen.
Was irgendwie ziemlich blöd war.
Shaw hatte den Auftrag, sie zu töten.
1
Drei Tage zuvor hatte Shaw noch an einem saphirblauen Pool in der Sonne gelegen und zwei Mädchen zugeschaut, die am flachen Ende barbusig im Wasser plantschten. Den Anblick hatte er mit einem hohen pastellfarbenen und mit einer Hibiskusblüte verzierten Drink genossen und sich des Luxuslebens erfreut, das sich mit neuem Geld im alten Mexiko erkaufen ließ.
Er war Gast in einer Villa, die auf einer Anhöhe mit Blick auf den Golf lag. Der weiß verputzte Bau lag hingestreckt auf der Kuppe eines vom Dschungel überwucherten Hügels, dessen Fuß in einem Sandstrand auslief. Die Villa – protziger Palast traf es eher – gehörte dem Mann, den Shaw später am Abend exekutieren würde, wovon er allerdings jetzt am frühen Nachmittag noch nichts ahnen konnte.
Nach der Party am Pool hatten die Gäste am Spätnachmittag Gelegenheit bekommen, sich in aller Ruhe auf ihren Zimmern für das leger-elegante Abendessen schick zu machen, bevor man sich zu einem ausgedehnten Aperitif versammelt hatte. Ihm folgte ein viergängiges Menü, serviert von respektvollen, ausschließlich männlichen Kellnern mit weißen Handschuhen, an deren frisch gestärkten Uniformen schwarz glänzende Pistolen prangten. Zum Dessert wurden den Gästen je nach Belieben süßes Konfekt, Digestifs oder diverse Rauschmittel gereicht, wahlweise standen auch Señoritas bereit.
Gerade als Shaw seine Entscheidung treffen wollte, hatte sein Handy geläutet. Er entschuldigte sich und zog sich zum Telefonieren von der Terrasse in eines der offenen Zimmer dahinter zurück. Das Arbeitszimmer war opulent möbliert. Zu opulent. Die Einrichtung zeugte von der jugendlichen Extravaganz und der fehlenden Geschmackssicherheit des Besitzers.
Shaw nahm den Anruf mit einem lakonischen »Ja?« entgegen.
Eine Schotterstimme fragte: »Du weißt, wer dran ist?«
Mickey Bolden.
Über Monate hatte Shaw mühevoll Vertrauen aufgebaut, damit ihm der Killer endlich ein Gespräch gewährte. Schließlich hatte Bolden einem Treffen zugestimmt, das von Vorsicht und Argwohn geprägt war … gegenüber ihrer Umgebung, natürlich, aber hauptsächlich voreinander. In sorgfältig verschlüsselten Wendungen hatte Shaw seinen Lebenslauf geschildert und Mickey dargelegt, über welche Erfahrungen er auf diesem ungewöhnlichen Tätigkeitsgebiet verfügte.
Irgendwie hatte er Mickey überzeugt, dass er gut in seinem Job war, vielleicht durch seine zurückhaltende und bescheidene Art. Zum Abschluss ihres Kaffeekränzchens hatte Mickey ihm versichert, er werde sich melden, falls er einmal Shaws Dienste benötigen sollte. Das war vor sechs Monaten gewesen. Shaw hatte fast die Hoffnung aufgegeben, je wieder von ihm zu hören.
»Immer noch an einem Job interessiert?«
Shaw schaute auf die Terrasse, wo das Dessert zu einer wüsten Orgie ausgeartet war. »Solo?«
»Als mein Partner.«
»Muss was ganz Besonderes sein.«
»Interessiert oder nicht?«
»Wie ist die Aufteilung?«
»Fünfzig-fünfzig.«
Fairer ging es nicht. »Wann geht’s los?«
»Donnerstag.«
Mickey hatte am Dienstagabend angerufen, womit Shaw nur noch wenige Stunden geblieben waren, seinen Job vor Ort zu Ende zu bringen, wenn er rechtzeitig in New Orleans sein wollte.
Er hätte Mickey Bolden noch hundert Dinge fragen können, doch weil die Gelegenheit zu günstig war, um sie auszuschlagen, und er davon ausging, dass er noch früh genug Einzelheiten erfahren würde, hatte er seine Neugier gezügelt und dem Mann erklärt, er könne auf ihn zählen.
Er hatte sein ganzes Geschick aufbieten müssen, doch er hatte seinen Auftrag in Mexiko noch am selben Abend abgewickelt und war auf abenteuerlichen Wegen sogar vor der vereinbarten Zeit in Louisiana angekommen. Gestern hatte er sich dann mit Mickey getroffen, und heute Morgen waren sie gemeinsam in diesen Ort gefahren, der den merkwürdigen Namen Tobias trug.
Den ganzen Tag hatten sie die Gegend ausgekundschaftet und Pläne geschmiedet, wie sie Jordan Elaine Bennett, Besitzerin von Extravaganza, einer extrem begehrten Eventmanagement-Agentur in New Orleans, am besten umbringen könnten. Jordan war die Schwester und einzige lebende Verwandte von Joshua »Josh« Raymond Bennett, einem extrem berüchtigten Gangster.
Er und Mickey waren Jordie Bennett durch den Ort gefolgt, während sie allen möglichen Besorgungen nachgegangen war. Kurz nach achtzehn Uhr war sie nach Hause gefahren. Sie hatten drei Stunden gewartet, doch Jordie war nicht wieder aufgetaucht. Weil sie davon ausgegangen waren, dass ihre Zielperson sich zurückgezogen hatte und einen ruhigen Freitagabend zu Hause verbringen würde, waren er und Mickey zu einem Diner gefahren und hatten gegessen. Über einem zähen Steak mit fettigen Fritten hatte Mickey einen Plan entworfen.
Shaw hatte überrascht reagiert, als Mickey ihm am Vortag eröffnet hatte, wer ihre Zielperson war. Jetzt wollte er wissen, warum sie so schnell handeln sollten. »Warum morgen?«
»Warum nicht?«
»Kommt mir überstürzt vor. Ich dachte, wir würden sie erst ein paar Tage beobachten, ein Gefühl für ihren Tagesablauf entwickeln und danach Zeit und Ort bestimmen.«
»Panella hat den Zeitpunkt bestimmt«, eröffnete ihm Mickey, während er sein T-Bone-Steak zersäbelte. »Und der Kunde hat immer recht. Er will, dass wir es morgen erledigen, also erledigen wir es morgen.«
»Er steht unter Druck?«
»Sieht so aus.«
Beim Bezahlen hatten sie beschlossen, das miese Essen mit einem Drink hinunterzuspülen, bevor sie die einstündige Rückfahrt nach New Orleans antraten. Diese Bar war ihnen vom Kellner des Diners empfohlen worden; offenbar hatte er keine allzu hohen Ansprüche.
Allerdings war ihnen das nur entgegengekommen, weil sich in namenlosen Bars wie dieser jeder so unauffällig wie möglich verhielt.
Jordie Bennett tat es jedenfalls. Während Shaw durch die Bar in ihre Richtung ging, konzentrierte sie sich auf ihr Weinglas, als würde sie darauf warten, dass der Inhalt wieder zu fermentieren begann. Als er das Ende der Theke erreicht hatte, wurde er nicht einmal langsamer, sondern ging direkt an ihr vorbei, mitten durch eine dezente Schwade teuren Parfüms. Mit würziger Duftnote. So flüchtig und exotisch, dass es in einem Mann den Wunsch wecken musste, jedes einzelne Fleckchen Haut ihrer hundertsiebenundsechzig Zentimeter zu beschnuppern.
Er blieb erst stehen, als er die Wurlitzer erreicht hatte. Einen Arm auf die gekrümmte Abdeckung gestützt, beugte er sich im Schein der bunt leuchtenden, blubbernden Röhren vor. In dieser halb abgewinkelten Haltung konnte er, während er mit geheucheltem Interesse die Liedauswahl durchging, Jordie aus den Augenwinkeln im Blick behalten.
Sie setzte das Weinglas an ein Lippenpaar, das direkt aus einem schmutzigen Traum zu stammen schien, stellte es nach einem Schluck wieder ab und ließ die Hand am Stiel ruhen. Lange schlanke Finger. Keine Ringe. So heller, unscheinbarer Nagellack, dass Shaw sich fragte, wofür sie am Nachmittag eine ganze Stunde im Salon zugebracht hatte. Ihre Armbanduhr war ein schlichtes rechteckiges Modell mit sachlich braunem Krokodillederband, eher praktisch als hübsch; trotzdem konnte man mit dem Kaufpreis wahrscheinlich einen guten Gebrauchtwagen erstehen.
In dem ärmellosen Armausschnitt ihres schlichten weißen Tops war der Satinträger ihres BHs zu sehen, und nach einer winzigen Kopfbewegung strichen lange Strähnen von mahagonibraunem Haar darüber, das noch satinweicher glänzte. Sie trug Sandalen mit Absätzen und hautenge Jeans. So auf dem Barhocker sitzend, war ihr Hintern einfach zum Anbeißen.
Shaw war nicht der Einzige im Raum, dem ihre Erscheinung aufgefallen war. Ein Mann, mindestens ein Jahrzehnt jünger als sie und mindestens zwei jünger als Shaw, wurde von seinen Kumpels am Billardtisch vorgeschickt. Vom Whisky aufgeputscht und vom Gelächter seiner Freunde beflügelt, schlenderte er zu dem leeren Hocker neben ihrem.
»Darf ich?«
Ihre kleine Handtasche, nicht größer als ein Briefumschlag, lag auf der Theke, die dünne silberne Tragekette schlängelte sich darunter hervor. Sie zog die Tasche zu sich und signalisierte damit dem tapferen Landei, dass es sich setzen konnte.
Vielleicht hatte Mickey doch recht, und sie suchte was fürs Bett. Allerdings hatte sie den Möchtegern-Romeo weder abschätzend noch aufmunternd angesehen, und Shaw würde darauf wetten, dass er nicht mehr bei ihr erreichen würde, als ihr gehörig auf die Nerven zu gehen.
Shaw sah zu Mickey, um festzustellen, ob er mitbekommen hatte, dass sie jetzt Gesellschaft hatte. Hatte er. Sein feistes Gesicht war rot angelaufen und schwitzte. Er sprach in sein Handy. Shaw brauchte sich nicht zu fragen, mit wem er telefonierte. Zweifellos hielt Mickey mit ihrem Auftraggeber Rücksprache, wie sie weiter vorgehen sollten, nachdem Miss Bennett mit ihrem Überraschungsbesuch ihren ursprünglichen Plan über den Haufen geworfen hatte.
Shaw konzentrierte sich wieder auf die erblühende Romanze. Wie zu erwarten, reagierte Jordie Bennett zunehmend unwirsch auf die gelallten Annäherungsversuche des jungen Mannes. Er war unbedarft, betrunken und wollte um jeden Preis seine Wirkung auf das schönere Geschlecht unter Beweis stellen – aber merkte er nicht, dass sie in einer ganz anderen Liga spielte als er? Auch wenn Shaw es dem jugendlichen Großmaul nicht verübeln konnte, dass es sein Glück versuchte. Wenn es Jordie Bennett ins Bett bekäme, könnte es damit bis an sein Lebensende prahlen.
Auf Shaws abgewandter Schulter landete eine schwere Hand. Unwillkürlich zuckte seine Hand zu seiner Pistole.
»Entspann dich«, knurrte Mickey. »Ich bin’s.« Er deutete auf die Songliste. »Haben sie auch was von Merle Haggard?«
Shaw blätterte im Menü ein paar Songs zurück. »Mit wem hast du telefoniert?«
»Was glaubst du denn?«
»Was hat er gesagt?«
»Er hat geflucht, dass mir die Ohren geblutet haben, und dann meinte er, das Loch hier sei bald gerammelt voll, wir sollten uns verziehen. Sofort.« Er nickte unauffällig zu der Szene in seinem Rücken hin, wo der junge Trinker sich so angestrengt zu Jordie Bennett vorbeugte, dass er sich kaum noch auf seinem Barhocker halten konnte. »Was machen die da? Was ist mit ihm? Siehst du irgendwas, was uns Sorgen machen sollte?«
Shaw beobachtete das Paar ein paar Sekunden und schüttelte dann den Kopf. »Der will nur in ihr Höschen.«
»Sicher?«
»Sicher.«
»Okay. Abflug!« Mickey wandte sich von der Jukebox ab und ging voran in Richtung Ausgang.
Shaw folgte ihm und widerstand der Versuchung, einen letzten Blick auf Jordie Bennett zu werfen.
Sobald er und Mickey aus der Tür waren, holte er tief Luft, um so weit wie möglich die Verspannungen zwischen seinen Schulterblättern zu lösen und den Bierdunst aus seinem Kopf zu vertreiben.
Doch draußen war es heiß und dampfig, kaum frischer als in der Bar. Seine Schultern blieben verspannt, während er Mickey zu ihrem Wagen folgte. Das Auto stand am hintersten Ende des Parkplatzes vor der Taverne, der aus einem breiten Fächer zerstoßener Austernschalen bestand.
Mickey zwängte sich auf den Beifahrersitz. Nachdem Shaw bei diesem Job der Juniorpartner war, musste er das Steuer übernehmen. Womit er kein Problem hatte. Er hasste es, Beifahrer zu sein. Er hatte lieber die Kontrolle über das Fahrzeug, falls es unerwartet hart auf hart kam.
Er schob den Schlüssel ins Zündschloss, doch Mickey bremste ihn. »Nicht so schnell. Wir fahren noch nicht los.«
Shaws Herz klopfte kurz. »Warum nicht?«
»Weil wir es gleich hier erledigen.«
Shaw schaute ihn sekundenlang nur an. »Das soll ein Witz sein, oder?«
»Nein. Panella meinte, warum bis später warten?«
»Das kann ich dir sagen«, zischte Shaw und deutete dabei zur Bar. »Weil man uns da drin gesehen hat.«
»Für Panella nur ein weiterer Grund, sofort zuzuschlagen.«
»Das ergibt doch keinen Sinn.«
»O doch, das tut es.«
»Nur wenn man erwischt werden will. Und ich will es nicht.«
»Dann lass dich nicht erwischen.« Mit einem angestrengten Grunzen zerrte Mickey die Pistole aus dem Holster, das zwischen seinen Speckfalten klemmte. »Davon rät übrigens auch Panella ab.«
»Der hat leicht reden. Schließlich muss nicht er seinen Arsch hinhalten, oder?«
Mickey sah ihn von der Seite an. »Unser erster Auftrag, und schon kommst du mir mit Bedenken.«
»Nicht mit Bedenken, Alter. Mit Vernunft. Ich verstehe nicht, was die plötzliche Hast soll.«
»Habe ich dir doch erklärt.«
»Schon, aber morgen würde auch reichen.«
»Nicht mehr. Panella hat seine Meinung geändert. Ein Kaff wie das hier, wo jeder jeden kennt? Da spricht es sich schnell rum, wenn zwei ›Fremde‹ im Ort sind.«
»Okay. Dann warten wir eben, bis sie wieder in New Orleans ist.«
»Das könnte noch Tage dauern. Sie fährt nicht regelmäßig in die Stadt. Arbeitet viel von zu Hause aus. Und sowieso haben nicht wir das zu entscheiden. Panella sagt, wir sollen sie erledigen, vor allem jetzt, wo man uns unter demselben Dach wie unser Ziel gesehen hat.«
Shaw konnte das nachvollziehen, trotzdem gefiel es ihm nicht. Ganz und gar nicht.
Mickey war noch nicht fertig. »Genau wie du hat Panella Bedenken, dass sie nicht zufällig heute Abend hier aufgetaucht sein könnte.«
»Das habe ich zwar gesagt, aber das war nur Gerede. Dass sie hier ist, muss ein blöder Zufall sein. Sie kann unmöglich von uns wissen.«
»Scheiße, egal. Panella hat befohlen, wir sollen es gleich hier erledigen, also …« Um seine Worte zu unterstreichen, zog Mickey den Schlitten seiner Neun-Millimeter zurück und beförderte damit eine Kugel in die Kammer.
Shaw begriff zwei Dinge gleichzeitig: Seine Stimme zählte nicht, und jeder weitere Widerspruch war zwecklos. »Mist.« Er zog seine Pistole aus dem Holster und drehte sich zu der Tür mit dem flackernden Neonschild um. »Und wie willst du es machen?«
»Wir warten hier, bis die Bennett rauskommt. Falls dieser Arsch mit ihr rauskommt, übernimmst du ihn. Ich kümmere mich um sie.«
»Und wenn sie allein rauskommt?«
»Übernehme ich sie.« Mickey pfriemelte seine Hände in Latexhandschuhe. Er reichte Shaw ein zweites Paar. »Du greifst dir ihre Handtasche. Panella sagt, es soll wie ein missglückter Raubüberfall aussehen. Ein Zufallsverbrechen.«
»Ohne jede Verbindung zu ihm oder ihrem Bruder.«
»Ohne jede Verbindung zu irgendwas.«
Shaw schnaubte. »Als würde das irgendwer glauben.«
Mickey lachte kehlig. »Ist doch nicht dein Problem, wer was glaubt. Bis dahin bist du über alle Berge und genießt deine zweihundert Riesen.«
»Das reicht für ein schönes Boot.«
»Oder eine schöne Pussy.«
»Deine Fantasie ist wirklich unter aller Sau, Mickey.«
Er lachte noch mal. »Da fühlt sie sich am wohlsten.«
Shaw nahm im Augenwinkel eine Bewegung wahr und schaute kurz durch das Heckfenster. »Da kommt sie.«
»Allein?«
Shaw wartete mit seiner Antwort, bis die Tür hinter Jordie Bennett zugefallen war, ohne dass jemand ihr gefolgt wäre. »Ja.«
Da es keinerlei Außenbeleuchtung gab, lag der Parkplatz fast völlig im Dunkeln. Ein blasser, dünner Mond wurde von den moosbärtigen Ästen der alten Eiche verdeckt, die drei Viertel des Parkplatzes überschattete. Nirgendwo auf der schmalen Landstraße waren Scheinwerfer zu sehen.
Mickey nutzte die Gunst des Augenblicks, öffnete die Autotür und stieg aus, wobei er sich behänder bewegte, als Shaw für möglich gehalten hätte. Der Dicke lief zu Hochform auf. Mickey Bolden liebte seine Arbeit.
Genau wie Shaw. Der Tequila hatte ihn bei Weitem nicht so aufgeputscht wie jetzt das Adrenalin.
So lautlos wie möglich folgten sie Jordie Bennett auf ihrem gewundenen Weg. Der Parkplatz war zugestellt mit verbeulten Pick-ups und vom Salzwasser zerfressenen Rostlauben, da leuchtete Jordie Bennetts schicke Limousine mit ihrem Neuwagenglanz unübersehbar heraus. Per Fernbedienung entriegelte sie die Fahrertür.
Dann drehte sie sich unvermittelt um, und wieder wehte Shaw eine Schwade ihres verführerischen Parfüms an.
Offenbar waren er und Mickey nicht ganz so lautlos über die zerstoßenen Schalen geschlichen, wie sie gedacht hatten. Oder vielleicht hatte ein animalischer Instinkt sie gewarnt, dass sie sich in Todesgefahr befand. Auf jeden Fall öffneten sich ihre Lippen zu einem überraschten Luftholen, als sie die beiden auf sich zukommen sah, und ihre Augen weiteten sich vor Schreck.
Während Mickey mit langen Schritten die letzten Meter zurücklegte, zuckte seine Rechte präzise und todbringend nach oben.
Der Schalldämpfer auf der Mündung erstickte den Knall, doch in der Stille ringsum empfand Shaw das leise Ploppen wie einen Donnerschlag.
Mickey kippte wie ein Sack Zement zu Boden, und aus seinem zersplitterten Schädel ergoss sich eine rote Flutwelle über die zerstoßenen Austernschalen.
Entsetzt beobachtete Jordie Bennett, wie ein Bach aus Blut auf ihre Sandalen zuströmte. Dann hob sie den Blick und sah Shaw an.
Der hielt seine Pistole immer noch auf Schulterhöhe und zielte damit auf sie. »Und schon hat sich mein Anteil verdoppelt.«
2
FBI Special Agent Joe Wiley wollte gerade Platz nehmen und sich über seinen Schweineschmorbraten hermachen, als sein Handy läutete.
Seine Frau Marsha runzelte die Stirn. Sie hatte ihm das Essen aufwärmen müssen, weil er zu spät nach Hause gekommen war, um zusammen mit ihr und den Kindern zu essen. Trotzdem verkniff sie sich jeden Einwand.
»Entschuldige, Honey, da muss ich ran«, sagte er und drückte auf die Gesprächstaste. »Ist es wichtig, Hick? Ich sitze gerade beim Essen.«
»Ich störe dich nur ungern.« Agent Greg »Hick« Hickam klang ernst. »Aber ja, es ist wichtig. Ich bin sicher, dass du das so schnell wie möglich hören willst.«
Joe warf Marsha einen bedauernden Blick zu und verschwand in die Waschküche. »Okay, ich höre.«
»Vor ein paar Stunden wurde Mickey Bolden tot im Bezirk Terrebonne aufgefunden, vor einer Bierbar in den Sümpfen, etwa fünfzehn Minuten mit dem Auto von Tobias entfernt.«
Und schon war in Joes naher Zukunft kein Platz mehr für eine warme Mahlzeit.
Er fuhr sich mit der Hand übers Gesicht, über den Mund und weiter über das Kinn. »Könnte es nicht mehr als nur einen Mickey Bolden geben?«
»Wahrscheinlich schon, aber das hier ist der, den wir kennen und lieben. Liebten.«
»Definiere tot aufgefunden: Ich schätze mal, er ist nicht friedlich eingeschlafen?«
»Ein Hohlmantelgeschoss ist in seinen Hinterkopf eingedrungen und hat ihm praktisch das Gesicht weggepustet.«
»Woher wissen wir dann, dass es er ist?«
»Der Führerschein in seiner Brieftasche war gefälscht, aber der Rechtsmediziner hat ihm die Fingerabdrücke abgenommen. Die örtlichen Polizeibehörden waren ganz aus dem Häuschen, als sie feststellten, dass er was mit dem Panella- Fall zu tun hat. Sie haben, wie erbeten, sofort das nächste FBI-Büro informiert.«
»Wie schön für uns.« Joe schaute durch den Türrahmen in die Küche, wo Marsha am Küchentisch gegenüber seinem leeren Stuhl saß und sichtlich beunruhigt an ihrem Glas Eistee nippte. »Bolden geht also am Freitagabend in der Nähe von Tobias über den Jordan, nur drei Tage nach …«
»Dienstag. Es muss eine Verbindung geben.«
»Bist du da sicher, oder vermutest du das nur?«, fragte Joe.
»Praktisch sicher. Jordie Bennett war dort, als Bolden getötet wurde.«
»Was hast du gerade gesagt?«
»Jordie Bennett.«
»Vergiss es. Ich hab dich schon verstanden. Heilige Scheiße. Moment mal, hast du war gesagt?«
»Sie und Mickey Bolden waren zur gleichen Zeit in der Bar.«
»Zusammen?«
»Nein. Aber sie sind im Abstand von wenigen Minuten gegangen, sie kurz nach ihm. Und – jetzt halt dich fest – ihr Lexus steht immer noch auf dem Parkplatz. Mickey war etwa einen Meter davon entfernt, als er kaltgestellt wurde.«
»Von ihr?«
»Eher nicht.«
»Wieso nicht?«
»Wieso sollte ihr Wagen noch dort stehen, wenn sie ihn umgebracht hat?«
Das konnte Joe auch nicht beantworten. »Mir fehlen ein paar Puzzleteile. Erzähl mir mehr.«
»In der Bar hatte sich ein Typ an die Bennett rangemacht. Erst erklärte sie ihm ganz höflich, dass er sich verziehen soll, doch als er nicht reagierte, verpasste sie ihm eine Abfuhr, nahm ihre Handtasche, marschierte aus der Bar und wurde seither nicht mehr gesehen.«
»Jesus. Bitte sag mir, dass ich das gerade nicht gehört habe.«
»Tut mir leid, aber so ist es«, sagte Hick. »Seither wird sie vermisst.«
»Ich dachte, sie würde seit Dienstag von den dortigen Kollegen beschattet.«
»Von einem einzigen Kollegen. Na gut, zwei Deputys, die sich abgewechselt haben. Der Officer von der Nachtschicht meldete um einundzwanzig Uhr zweiunddreißig, dass sie ihr Haus verlassen hatte. Ohne jede Eile fuhr sie durch die ganze Stadt, er hinterher. Aber sobald sie draußen im Nichts waren, drückte sie aufs Gas und hängte ihn ab.«
»Weil sie in einer Bar ein Bier trinken wollte?«
»Jedenfalls wurde sie dort zuletzt gesehen. Ansonsten weder zu Hause noch in ihrer Firma. Beides ist verrammelt und verriegelt. Und beide sind allem Anschein nach nicht betreten worden. Die Alarmanlagen sind noch eingeschaltet. Das Sheriff’s Office befürchtet das Schlimmste …«
»Ach was.«
»… und hat bereits eine Suchmeldung für sie und den Typen rausgegeben.«
»Der Aufreißer ist ihr aus der Bar gefolgt?«
»Nicht für diesen Typen, den anderen Typen.«
»Welchen anderen Typen?«
»Mickeys Freund.«
»Unser Mickey und Freunde?«
»Unvorstellbar, ich weiß. Aber die beiden kamen zusammen in die Bar, tranken zusammen, schienen sich gut zu verstehen. Keine Stänkereien, keine schlechten Vibes. Nichts in der Art. Sie haben sich mit niemandem sonst unterhalten und sind zusammen wieder gegangen. Aber falls es der Kerl war, der Mickey das Gesicht weggeschossen hat, waren sie wohl doch keine so guten Freunde.« Hick machte eine Pause. »Das ist der momentane Stand, und deshalb habe ich dich vom Abendessen weggeholt. Sag Marsha, dass es mir leidtut.«
»Wurde der Tatort gesichert?«
Der Agent grunzte. »Der Detective, der mich angerufen hat, ist für Mordfälle zuständig und arbeitet von Tobias aus, in einer Zweigstelle des Sheriff’s Office. Er klingt ganz vernünftig. Er traf direkt nach den Streifenpolizisten ein, aber trotzdem zu spät. Er sagte, als die Leiche entdeckt wurde, seien die Gäste des Hauses in alle Himmelsrichtungen verduftet wie Kakerlaken vor plötzlichem Licht. Er meinte, wahrscheinlich werde ein guter Teil von ihnen mit Haftbefehl gesucht. Männer, die gegen ihre Bewährungsauflagen verstoßen haben. Kautionsflüchtlinge. Kleine Drogendealer. Du kannst es dir vorstellen. Er und ein paar Deputys haben die letzten Nachzügler zusammengetrieben. Es sind nicht viele, und auch die sprechen nur ungern mit der Polizei.«
»Geht ihnen gegen den Strich.«
»Zum einen, außerdem sind sie sauer, weil sie wegen einer Sache festgehalten wurden, in der Josh Bennett seine Finger im Spiel hat. Ich habe gehört, einer von ihnen habe ausgespuckt, als er den Namen aussprach.«
»Ich nehme nicht an, dass er oder Billy Panella dort gesichtet wurden.«
»Nur in Stellvertretung.«
»Durch Bennetts Schwester Jordie.«
»Und Mickey Bolden. Wir wissen, dass er Panellas Mann fürs Grobe war.«
»Was wir ihm aber nie nachweisen konnten«, wandte Joe ein.
Bei dem Gedanken an unwillige Zeugen und einen bis zur Nutzlosigkeit kontaminierten Tatort fuhr er sich seufzend durch die dünner werdenden Haare. »Richte diesem Detective da unten aus, er soll die Zeugen festhalten, bis wir mit ihnen sprechen konnten. Mir egal, wie laut sie stänkern. Tank schon mal den Hubschrauber auf. Wir treffen uns am Heliport.«
»Und wann?«
»Ich fahre sofort los. Und schick unsere eigenen Kriminaltechniker hin.«
»Das habe ich schon erledigt, bevor ich dich angerufen habe. Wahrscheinlich sind sie noch vor uns da.«
»Gut. Dann bis gleich.«
Joe legte auf und kehrte in die Küche zurück. Die Lippen resigniert zusammengekniffen, belegte Marsha bereits ein Sandwich mit Schinken und Käse. Er streifte das Schulterholster über und hob das Sakko von dem Haken neben der Tür zum Garten. »Es geht um den Panella-Bennett-Fall, sonst würde ich garantiert zum Essen bleiben. Der Braten riecht jedenfalls köstlich. Ist das Rosmarin?«
Sie klatschte ihm das in Klarsichtfolie gewickelte Sandwich unsanft in die Hand. »Ich kann es nicht leiden, wenn du nachts in diesem verfluchten Helikopter herumschwirrst.«
»Ich weiß, aber …«
»Wie alt ist das Ding überhaupt?«
»Alt, aber zuverlässig.« Er küsste sie auf den Mund, bekam aber nur einen lustlosen Schmatzer zurück. »Sag den Kindern, es tut mir leid, dass ich sie verpasst habe. Ich melde mich später.«
»Keine Ahnung, ob ich dann rangehe«, sagte sie. »Ich schaue mir Top Gun an.«
Er blieb auf dem Weg zur Tür stehen. »Das ist mein Lieblingsfilm.«
»Genau. Und außerdem werde ich die doppelte Menge Butter über das Popcorn geben und eine Flasche Wein plattmachen.« Sie schenkte ihm ein maliziöses Lächeln. »Viel Spaß!«
Er kehrte noch mal zu ihr zurück, beugte sich vor und flüsterte: »Weißt du, was meine Lieblingsszene ist?« Er legte die Hand auf ihre Brust und drückte zu. »Das ist die, in der Maverick und das Mädchen rummachen.«
Sie schubste ihn weg. »Hau ab!« Ihre Stimme klang streng, aber sie lächelte dabei.
Shaw fuhr eine ganze Strecke, bis er das Gefühl hatte, dass er gefahrlos anhalten konnte, und bog dann von der Landstraße auf einen ausgefahrenen Weg, der in ein dichtes Gehölz führte. Er schaltete den Motor und die Scheinwerfer aus. Für das, was er jetzt tun musste, würde er die Taschenlampe an seinem Smartphone verwenden. Das Handy war neu, und nur er kannte die Nummer.
Er leuchtete mit dem Strahl über den Sitz, um nach Jordie Bennett zu sehen. Soweit er erkennen konnte, war sie immer noch bewusstlos und hatte sich nicht gerührt, seit er sie auf den Rücksitz gelegt hatte. Aber sie würde nicht ewig ohnmächtig bleiben, und er musste alles für diesen unvermeidlichen Zeitpunkt vorbereiten.
Er stieg aus, holte alles Nötige aus dem Kofferraum, öffnete dann die hintere Autotür und legte das Handy in den Fußraum, damit es ihm Licht spendete.
Sie lag vollkommen erschlafft da, was es ihm einfach machte, ihre Arme und Beine in Position zu bringen. Einmal murmelte sie etwas Unverständliches, woraufhin er kurz pausierte. Je länger sie ohnmächtig war, desto besser für ihn.
Und für sie.
Als Shaw sicher war, dass sie nicht aufwachen würde, streifte er eilig ihre Sandalen ab, nicht ohne die zierlichen Schließen an den Riemen zu verfluchen, und fixierte dann effizient ihre Füße und Hände. Noch während er sich aus dem Fond zurückzog, strich er ihr eine Haarsträhne von ihrer Wange. Dabei bemerkte er die Blutspritzer auf ihrem Gesicht.
»Scheiße.« Sie würde ausflippen. Er kämpfte kurz mit sich und kam dann zu dem Schluss, dass ein paar Minuten mehr oder weniger nicht ins Gewicht fielen.
Als er alles Notwendige erledigt hatte, schloss er vorsichtig die hintere Autotür und den Kofferraum und setzte sich wieder auf den Fahrersitz. Ihr Handy lag neben Mickeys auf dem Beifahrersitz, wohin er die beiden Geräte bei seinem überstürzten Aufbruch vom Parkplatz der Bar geworfen hatte.
Ihres nahm er zuerst und stellte erleichtert fest, dass es keinen Passwortschutz hatte. Er öffnete die Telefon-App, ging die Liste der Anrufe durch und überflog, mit wem sie heute und während der letzten Tage telefoniert hatte. Alle Namen waren unter ihren Kontakten aufgelistet. Nichts davon war irgendwie auffällig.
Bis auf den letzten Anruf, den sie bekommen hatte.
Er war kurz nach einundzwanzig Uhr an diesem Abend eingegangen, von einem Festnetzanschluss hier in der Gegend. Die Nummer war nicht in den Kontakten gespeichert. Sie hatte zweimal zurückgerufen.
Nachdenklich drehte er sich um und betrachtete sie einige Sekunden. Dann schaltete er ihr Handy aus, nahm den Akku heraus und legte beides ins Handschuhfach.
Er nahm Mickeys Handy, öffnete auch dort die Liste der Anrufe und entdeckte den Anruf der unterdrückten Nummer, hinter der sich, wie er wusste, Panella verbarg. Ihr Auftraggeber wartete bestimmt am Telefon darauf, dass Mickey Vollzug meldete.
»Pech gehabt, Arschloch«, flüsterte Shaw. »Jetzt hast du es mit mir zu tun.« Auch hier entfernte er den Akku und legte ihn mitsamt Smartphone zu Jordies Handy ins Handschuhfach. Inzwischen begann er den Zeitdruck zu spüren und startete den Motor.
Während er wieder auf die dunkle, verlassene Landstraße bog, ließ er sich noch einmal den Abend durch den Kopf gehen. Die Sache war nicht so gelaufen wie gedacht, sondern im Endeffekt weit besser. Er hatte den Hauptpreis eingesackt. Der jetzt bewusstlos auf dem Rücksitz lag.
3
»Gott sei uns gnädig«, seufzte Hick, als sie aus dem Streifenwagen stiegen und den Tatort sahen. »So schlimm, wie ich befürchtet habe.«
Der Heli, der ihn und Joe hergebracht hatte, stand jetzt auf einem Feld, auf dem jeden Herbst ein Jahrmarkt stattfand. Von dort hatte ein Deputy aus dem Sheriff’s Office sie zu Mickey Boldens Leiche gefahren.
Transportable Scheinwerfer waren aufgestellt worden. Die hässliche Kaschemme war heller erleuchtet als der Strip in Las Vegas. Uniformierte Männer warfen gespenstische Schatten, die sich bis in den umgebenden Wald erstreckten und von ihm verschluckt wurden.
»Schlimmer«, erwiderte Joe auf Hicks Lageeinschätzung. Die beiden duckten sich unter dem gelben Band durch, das die Neugierigen vom Parkplatz fernhalten sollte, aber mehr oder weniger ignoriert wurde. Immerhin machten die meisten Schaulustigen einen großen Bogen um den Lexus, auf den er und Hicks jetzt zusteuerten.
Ein fleißiger junger Agent namens Holstrom, Tatort-Ermittler aus ihrem Büro in New Orleans, befand sich gerade im Gespräch mit einem Mann, dessen eleganter Seersucker-Anzug und elfenhafte Körperhaltung ganz und gar nicht hierher in die unwegsamen Bayous passte, wo niemand den Mut hatte, die diversen Fleischbrocken in einem Gumbo-Eintopf zu identifizieren, und wo der Begriff »Waffengesetz« höchstens hysterische Lachanfälle erzeugte.
Joe und Hick wechselten einen knappen Gruß mit ihrem Kollegen, der ihnen den kleinen Mann, mit dem er sich unterhalten hatte, als Dr. Sowieso vorstellte, Rechtsmediziner des Bezirks. Da sie alle Handschuhe trugen, gaben sie sich nicht die Hand, was ohnehin praktischer war; ansonsten hätten sie sich über den See aus klumpigem, gerinnendem Blut beugen müssen, der zwischen ihnen ausgebreitet dalag.
Der Rechtsmediziner kam sofort zum Punkt. »Er liegt schon bei mir auf dem Tisch, aber nachdem er identifiziert wurde, hat man mich wieder hergeholt, damit ich mit Ihnen rede. Ich habe Fotos gemacht und kann Ihnen zeigen, wie er aussah, als ich hier ankam.«
Er tippte auf sein iPad und hielt es hoch, sodass sie auf den Bildschirm sehen konnten. Dann blätterte er durch mehrere Aufnahmen von Mickey Boldens ausladendem Leichnam, fotografiert aus verschiedenen Positionen und Entfernungen. Keine war hübsch anzusehen. Joe tat der gesetzlose Bastard fast leid.
Hick, ein gläubiger Katholik, murmelte ein Gebet und bekreuzigte sich.
Joe, ebenfalls Katholik, aber weniger gläubig, stellte fest: »Nach der Todesursache brauchen wir jedenfalls nicht zu fragen.«
»Er hat nichts gespürt«, erklärte der Gerichtsmediziner leidenschaftsloser, als Joe es von einem Mann mit einem so gütigen Gesicht erwartet hätte.
Joe wies auf eines der Fotos und deutete auf die Pistole, die nur wenige Zentimeter neben Mickeys ausgestreckter Hand lag. »Wer hat seine Waffe gesichert?«
»Die Deputys, die zuerst hier waren, haben erklärt, dass sie in letzter Zeit nicht abgefeuert wurde«, erklärte Holstrom. »Aber sie haben es dem Detective aus dem Sheriff’s Office überlassen, sie einzusammeln.«
»Gut.« Joe sah auf den Fotos, dass Mickey Handschuhe getragen hatte. Er erkundigte sich danach.
»Wir haben sie auf dem Transport in die Gerichtsmedizin an seinen Händen gelassen«, antwortete Dr. Sowieso. »Ich habe sie gesichert. Inzwischen hat ein Deputy sie abgeholt, sie liegen also auch im Sheriff’s Office. Die Übergabe wurde protokolliert.«
»Danke. Wir hätten den Autopsiebericht gern so schnell …«
»Ich weiß, ich weiß. Ich hab noch nie gehört, dass einer von Ihnen gesagt hätte: ›Nur keine Eile, Doc. Machen Sie’s einfach, wenn Sie dazu kommen.‹«
Er sah vielleicht aus wie ein gutmütiger Kobold, aber er hatte das Gemüt einer Klapperschlange. Joe kam zu dem Schluss, dass er ihn nicht leiden konnte.
Er ließ den Blick über den Boden wandern und bemerkte dabei zwei Markierungen im Schotter. »Was lag dort?«
»Miss Bennetts Handtasche und die Fernbedienung für ihr Auto«, antwortete Holstrom. »Der Detective hat sie gesichert.«
Joe sah sich weiter um und suchte dabei nach Spuren, die darauf hingedeutet hätten, dass es einen Kampf gegeben oder jemand Jordie Bennett weggeschleift hatte. Aber er konnte keine entdecken. »Keine Hinweise auf einen Kampf?«
»Was Sie hier sehen, ist alles, was wir vorgefunden haben. Wir suchen aber noch weiter.« Holstrom deutete auf einen Helfer, der ein paar Meter entfernt auf dem Boden kauerte und den losen Schotterbelag studierte. »Allerdings schätzt der Manager, der auch hinter der Bar steht, dass fünfzehn bis zwanzig Fahrzeuge auf dem Parkplatz standen, als es passiert ist.«
Hick stellte fest, dass nur noch fünf geblieben waren. »War wohl ein richtiger Exodus«, meinte er lakonisch.
Holstrom nickte. »Wir haben Dutzende von sich überlagernden Reifenspuren gefunden und dazu ein paar vereinzelte Schuhabdrücke.« Er hob bedauernd die Hände.
»Und niemand hat einen Wagen wegfahren sehen?«
Holstrom schüttelte den Kopf. »Bis jetzt hat sich noch niemand gemeldet. Könnte aber noch passieren.«
Joe schnaubte. »Sicher, und es könnte auch anfangen zu schneien.« Er zupfte an seinem feuchten Hemd und zog es von seinem verschwitzten Oberkörper ab. Dann wandte er sich wieder an Holstrom. »Überwachungskameras?«
Der jüngere Agent lächelte humorlos. »Die Toilettenanlage ist hier der Gipfel der Technik. Und mit Anlage meine ich ein Außenklo ohne Deckel und mit handgeschriebener Warntafel, dass die Spülung nur manchmal funktioniert.«
»Also keine Überwachungskameras«, stellte Joe trocken fest.
»Überhaupt keine Sicherheitsmaßnahmen, abgesehen von zwei abgesägten Schrotflinten, die geladen hinter der Theke liegen.«
»Wahrscheinlich die effektivste Sicherheitsmaßnahme«, bemerkte Hick.
Joe deutete auf eine widerlich aussehende Pfütze knapp vor dem Kühlergrill des Autos. »Ist das Erbrochenes?«
»Ein halb verdauter Cheeseburger, Chili-Fries und jede Menge Whisky, um genau zu sein«, stellte der Rechtsmediziner klar.
»Und wer war der Vorbesitzer?«, fragte Hick.
»Laut einem der Deputys, die zuerst vor Ort waren, hat sich der junge Mann, der die Leiche fand, daraufhin die Seele aus dem Leib gekotzt«, erzählte Holstrom. »Erst hier, dann noch dreimal drinnen. Zum Glück haben sie für solche Gelegenheiten immer einen Eimer zur Hand.«
»Wo ist er jetzt?«, fragte Joe.
»Noch da drin. Wir haben ihn an die Kandare genommen, bis Sie ankamen.«
»Bin ich hier fertig?«, wollte der Rechtsmediziner wissen.
Joe dankte ihm und ermahnte ihn nochmals, hauptsächlich um ihn zu ärgern, dass der Autopsiebericht einen wichtigen Faktor bei ihren Ermittlungen darstellte. Schnaubend und schimpfend stapfte der Rechtsmediziner davon.
»Netter Typ.« Joe wandte sich an Holstrom. »Haben Sie uns irgendwas Nützliches mitzuteilen, so unter dem Titel ›Was hat sich hier verflucht noch mal abgespielt?‹?«
Holstrom kratzte gedankenverloren an einem Fleck auf seiner Wange, der nach einem frischen Moskitostich aussah. »Nicht viel, fürchte ich. Der Wagen ist auf Jordan Bennett zugelassen. Als der erste Streifenwagen ankam, waren die Türen entriegelt, aber nicht geöffnet. Ein Deputy wird das Innere auf Fingerabdrücke untersuchen, aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass sie eingestiegen ist, nachdem sie aus der Bar kam.«
»Also ist sie mit demjenigen verschwunden, der Mickey kaltgemacht hat?«, fasste Joe zusammen. Als keiner der beiden anderen Agenten antwortete oder eine andere Hypothese anbot, fuhr er fort: »Okay, ist sie mit diesem Unbekannten dann freiwillig oder unter Zwang mitgegangen?«
Agent Holstrom sah Hick an, der mit den Achseln zuckte.
»Damit sind wir alle einer Meinung«, stellte Joe fest, »denn ich weiß es auch nicht.« Er ging langsam auf den Eingang der Bar zu und sagte dabei über die Schulter zu Holstrom: »Geben Sie mir sofort Bescheid, falls Sie irgendwas finden.«
»Versteht sich.«
»Wie heißt der Detective, mit dem du geredet hast?«, wandte sich Joe an Hick, während er die Tür zur Bar aufzog.
»Clint Morrow.«
Morrow war Mitte dreißig und absolut unauffällig – bis auf seine Kleidung. Er trug ein Baseballkappe, ein Trikot seines Teams, Trainer-Shorts und staubige Sneaker. Joe und Hick streiften die Latexhandschuhe ab und begrüßten ihn mit Handschlag.
»Ich trainiere die Softball-Mannschaft meiner Tochter. Wir haben gerade unseren Sieg in einer Pizzeria gefeiert, als der Anruf kam«, erklärte der Deputy. »Ich wollte mich nicht erst umziehen.« Er wirkte kompetent und durchaus gewillt, vielleicht sogar erleichtert, sie in die Ermittlungen einzubeziehen. »Die Leute hier sind nicht gut auf Josh Bennett zu sprechen«, sagte er. »Er ist immer noch einer von ihnen.«
»Aber ein krummer Hund«, ergänzte Hick.
»Das würden sie ihm verzeihen«, sagte der Deputy. »Aber für viele hier ist er vor allem ein Verräter.«
»Was wesentlich schlimmer ist als ein Betrüger«, fügte Joe hinzu.
Morrow grinste verlegen. »Für manche hier schon.«
»Und für Sie?«, fragte Hick.
»Ich stehe für das Gesetz. Und das hat Josh Bennett gebrochen.«
Er stellte das ganz sachlich fest, und Joe hörte es gern. »Das heißt, wir können uns trotz Bennetts Verbindungen in den Ort auf Ihre volle Kooperation verlassen?«
»Absolut, Sir. Sie haben die Unterstützung des gesamten Sheriff’s Office im Bezirk Terrebonne. Der Sheriff sagte, das soll ich Ihnen ausrichten. Und er hat diesem Deputy, dem Miss Bennett entwischt ist, den Arsch aufgerissen. Ein Grünschnabel, erst seit drei Wochen Deputy. Er wusste nicht mal, warum sie observiert wurde. Tatsächlich hat niemand erfahren, warum Sie die Frau beschatten lassen wollten.«
Joe überhörte das unausgesprochene Fragezeichen. Vielleicht hätte er seinerzeit dem Sheriff erklären sollen, warum Miss Bennett beschattet wurde und warum die Sache so wichtig war. Vielleicht hätte man dann einen erfahreneren Officer dafür abgestellt. Aber jetzt war es zu spät, das Kind war in den Brunnen gefallen, und er hatte nicht die Zeit und Muße, seine Entscheidungen zu hinterfragen. »Bringen Sie mich auf den laufenden Stand, Deputy Morrow«, bat er stattdessen.
»Als mein Partner und ich hier ankamen, haben wir die Zeugen voneinander getrennt und sie dann einzeln befragt.« Er deutete auf eine Handvoll Männer und Frauen, die einzeln in der Bar herumsaßen und ziemlich heruntergekommen aussahen.
Joe ließ den Blick über die finsteren Mienen rundum wandern und befand: »Lassen Sie mich raten. Niemand hat irgendwas gesehen.«
Morrow grinste. »Das trifft es im Wesentlichen. Aber bis jetzt habe ich auch nichts gehört, was mich stutzig gemacht hätte. Mein Partner vernimmt gerade den Barkeeper im Hinterzimmer, aber nach der ersten Befragung spricht alles dafür, dass er genau wie die anderen nur ein unbeteiligter Zuschauer war. Vielleicht etwas aufmerksamer als die anderen. Außerdem ist er der Einzige, der mit Bolden und seinem Begleiter direkt Kontakt hatte.«
»Den Begleiter konnte noch niemand identifizieren?«
»Alle hier haben behauptet, sie hätten ihn noch nie zuvor gesehen.«
»Natürlich«, sagte Joe. »Wir haben nie das Glück, dass man uns Namen und Adresse des Hauptverdächtigen auf dem Silbertablett serviert. Wo ist Boldens Waffe?«
Morrow begleitete sie an die Theke. Die Pistole steckte in einem beschrifteten Beutel. »Das typische Handwerkszeug in seiner Branche«, bemerkte Joe, während er die Pistole mit dem angeschraubten Schalldämpfer studierte.
»Sie wurde heute Abend nicht abgefeuert«, sagte Morrow. »Bis auf die Kugel in der Kammer ist das Patronenlager voll.«
Joe griff nach einem Beweismittelbeutel mit einer kleinen roten Handtasche. An ihr war nichts auffällig, außer dass sie teuer aussah. Er hoffte, Marsha würde sich nie in den Kopf setzen, so eine haben zu wollen.
Auf der Theke lagen außerdem, in jeweils eigenen Beuteln, der Schlüssel zu Jordie Bennetts Wagen, ein Lipgloss namens Gossamer Wings, eine Kreditkarte, ein Zwanziger und ein Führerschein aus Louisiana.
»Die Lady war mit leichtem Gepäck unterwegs«, stellte Morrow fest, während Joe und Hick die Beutel der Reihe nach untersuchten.
Bemerkenswert, dass sich kein Handy unter den Beweismitteln befand, was Hick schließlich ansprach.
»Das ist mir auch aufgefallen«, pflichtete Morrow ihm bei. »Die Handtasche war offen, als sie gefunden wurde. Ich würde sagen, er hat ihr Handy rausgenommen.«
»Aber den Zwanziger und die Kreditkarte drin gelassen«, sagte Hick.
»Dem Täter ging es nicht um die Beute«, meinte Joe seufzend. »Sondern darum, wer sie ist, wen sie kennt und was sie weiß.« Er wandte sich an Morrow. »Sind Sie in Tobias aufgewachsen?«
»Seitdem ich acht bin«, erklärte Deputy Morrow.
»Wie gut kennen Sie die Bennetts?«
»Gut genug, um sie zu grüßen und ein paar Worte zu wechseln. So in der Richtung. Josh war in der Schule im gleichen Jahrgang wie ich, aber wir haben nichts zusammen unternommen. Jordie war ein paar Jahrgangsstufen über uns.«
»Haben die Geschwister konkurriert?«, fragte Joe.
»Nicht so, dass sie sich an die Gurgel gegangen wären, soweit ich weiß. Beide waren klug und gut in der Schule. Sie war in einer angesagten Clique.«
»Josh nicht?«
»Jedenfalls nicht besonders beliebt, und in einer Clique war er überhaupt nicht. Er war ein Computerfreak, aber das ist nicht abfällig gemeint. Hatte es mit Videospielen und so.«
»Sie war beliebt, er war der Nerd. Könnte man das so sagen?«
Morrow ließ sich Hicks Frage durch den Kopf gehen und nickte dann. »Könnte man. Aber für Geschwister standen sie sich ziemlich nahe.«
Joe horchte auf. »Ach ja?«
»Sie wissen, was Josh passiert ist, als er noch klein war?«
Joe und Hickam nickten im Takt.
»Na ja, ich schätze, deswegen hatte Jordie immer das Gefühl, auf ihn aufpassen zu müssen.« Als er verstummte, gab Joe ihm ein Zeichen weiterzusprechen. »In ihrem letzten Schuljahr war sie mit diesem Typen zusammen, einem Supersportler. Strohdumm, aber heiß umworben. Eines Tages saß Jordie nach Unterrichtsende mit diesem Trottel in seinem Auto auf dem Schulparkplatz. Es ging das Gerede um, dass sie streiten würden. Jedenfalls kam Josh auf seinem Roller angerauscht. Keine Harley, nichts mit wirklich Dampf unter der Haube. Er und der Strohkopf wechselten ein paar Worte durch das Fahrerfenster, und dabei rumpelte Josh, ob nun absichtlich oder aus Versehen – da gingen die Meinungen auseinander –, mit dem Vorderrad gegen den Kotflügel vom Auto des Schwachkopfs. War nicht mal eine Beule zu sehen, trotzdem flippte der Kerl aus und drohte, Josh den Kopf abzureißen. Er stieg aus, brüllte herum, wollte Josh von seinem Roller schubsen, beschimpfte ihn aufs Übelste. Josh wehrte sich nicht – oder konnte es nicht. Im Unterschied zu Jordie. Sie schoss aus dem Auto und ging auf den Arsch los. Wahrscheinlich war er über einen Zentner schwerer als sie, trotzdem hatte sie ihn im Handumdrehen zum Kuschen gebracht. Dann kletterte sie auf den Sozius von Joshs Roller, und weg waren sie. Das war das Ende der Romanze. Sie schickte den Kerl in die Wüste und sprach, soweit ich weiß, nie wieder ein Wort mit ihm.«
Joe ließ sich die Geschichte durch den Kopf gehen, sah Morrow dann nachdenklich an und versuchte abzuschätzen, wie glaubwürdig er war. »Sie haben sich gefragt, warum wir Anfang der Woche angeordnet haben, Jordie Bennett beschatten zu lassen? Na, was glauben Sie?«
Die klugen Augen des Deputy ließen erkennen, dass er die Tragweite dieser Erklärung erfasste. Er pfiff leise durch die Zähne. »Sie – das FBI, meine ich – hatten das bisher unter Verschluss gehalten.«
»Allerdings«, bestätigte Joe. »Und es wird nicht – nein, auf keinen Fall – an die Öffentlichkeit gehen, bis das Büro es genehmigt.«
»Weil niemand sagen kann, wie Billy Panella reagiert, wenn er Wind davon bekommt.«
Hick nickte. »Ganz genau. Unsere Hauptsorge ist, dass Panella, wo immer er sich auch verkrochen hat, schon Bescheid wissen könnte. Warum war Mickey Bolden sonst heute hier? Er war Panellas Auftragskiller.«
»Es stimmt mich absolut nicht traurig, dass wir uns um Mickey keine Sorgen mehr machen müssen«, sagte Joe. »Allerdings haben wir noch seinen Begleiter, der offenbar keinerlei Hemmungen hat, seine Waffe einzusetzen. Er bleibt unbekannt und auf freiem Fuß.«
»Und Jordie Bennett wird seit heute Abend vermisst.« Morrow begriff, was das bedeutete, und wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. »Wir kennen ihre Mobilnummer erst seit zehn Minuten. Es ist Freitagabend. Alle sind im Feierabend. Schließlich haben wir ihre Büroleiterin erreicht. Sie hat uns Miss Bennetts Nummer gegeben, und seither rufen wir an.«
»Lassen Sie mich raten«, sagte Hick. »Nichts.«
»Nicht einmal die Mailbox.«
»Unser Unbekannter war bestimmt so schlau, den Akku aus dem Gerät zu nehmen, damit das Handy nicht geortet werden kann«, sagte Joe. »Haben Sie bei Mickey ein Handy gefunden?«
»Negativ«, antwortete Morrow.
»Garantiert hat er das auch eingesteckt.« Joe stemmte die Hände in die Hüften und fluchte leise. »Dieser Unbekannte macht mir allmählich ziemliche Kopfschmerzen.«
4
Der eigentlich so unverfängliche Laut durchfuhr sie wie ein Schuss. Jordie erstarrte.
Als direkt auf das erste Klicken ein zweites folgte, begriff sie, was das bedeutete.
Mit einem Knopfdruck hatte er vom Fahrersitz aus die Kindersicherung für die hinteren Türen gelöst, sie dann mit einem zweiten Klicken wieder verriegelt und sich auf diese Weise über ihre vergeblichen Versuche mokiert, die Tür zu öffnen.
Etwa eine Stunde zuvor hatte ein dumpfer Schmerz über ihrem Ohr sie aus der Ohnmacht geholt. Ihr Überlebensinstinkt hatte sie gewarnt, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie wieder bei Bewusstsein war. Bis jetzt hatte sie sich totgestellt und ihm damit weisgemacht, sie sei immer noch besinnungslos. Offenbar war sie weniger überzeugend gewesen, als sie geglaubt hatte.
Nicht sie hatte ihn an der Nase herumgeführt, sondern er sie.
Nachdem sie aufgewacht war und ihre augenblickliche Lage so weit wie möglich erfasst hatte, ohne dabei die Augen zu öffnen, war sie zu dem Schluss gekommen, dass sie – gefesselt an Händen und Füßen – auf der Rückbank eines fahrenden Autos lag.
Zentimeter um Zentimeter und so lautlos wie möglich hatte sie die Beine ausgestreckt und dabei festgestellt, dass sie mit den bloßen Füßen knapp die hintere Autotür erreichen konnte. Zunehmend frustriert und erschöpft hatte sie mit den Zehen verstohlen den Griff anzuziehen versucht. Und die ganze Zeit hatte sie geglaubt, ihr Entführer würde nichts merken. Doch als sie begriff, dass er ihr zusah und höchstwahrscheinlich von Anfang an zugesehen hatte, verschmolzen Verzweiflung, Angst und Zorn zu einem bitteren Stöhnen.
Dies war nicht ihr Auto, das hatte sie schnell erkannt, nachdem sie wieder zu Bewusstsein gekommen war und sich die letzten Nebel in ihrem Kopf gelichtet hatten. Ihre Wange ruhte auf einem Polsterbezug. Die vertraute Glätte und der Geruch der Ledersitze in ihrem Auto hätten ihr wenigstens einen Anflug von Sicherheit vermittelt, so aber war ihr der Wagen genauso unbekannt wie der Fahrer, ihr Aufenthaltsort und ihr Fahrziel.
Nachdem sie nicht länger so zu tun brauchte, als wäre sie bewusstlos, schlug sie die Augen auf und blinzelte. Das Armaturenbrett war die einzige Lichtquelle im Wagen. Keine Straßenlaterne schien durch das Heckfenster. Es gab keine beleuchteten Schilder oder Schilderbrücken, die darauf hingewiesen hätten, dass sie auf einer großen Straße fuhren, und es kamen ihnen auch keine Scheinwerfer entgegen. Hinter den Scheiben waren nur der schwarze Himmel und ein paar versprengte Sterne zu sehen.
Was als Ausblick so gut war wie alles andere, wenn sie das Bild des übergewichtigen Mannes vor dem inneren Auge ausblenden wollte, der mit einer Pistole auf ihre Stirn zielte, ehe sich sein Gesicht in seine Bestandteile auflöste, er auf den Boden kippte und sein Blut wie vergossene Tinte auf ihre Füße zufloss.
Sie erinnerte sich noch, wie sie in eine weitere Pistolenmündung gestarrt hatte und den zweiten Mann sagen hörte: »Mein Anteil hat sich gerade verdoppelt.«
Nach dem Aufwachen hatte sie sich zuallererst gewundert, dass sie überhaupt noch am Leben war.
Statt sie zu erschießen, musste der Große sie bewusstlos geschlagen haben, vielleicht mit dem Schalldämpfer an seiner Pistole, bevor er sie vom Tatort weg entführt hatte. Weshalb Jordie sich fragte, wieso er sie nicht gleich an Ort und Stelle mit umgebracht hatte. Wäre das nicht praktischer und zielführender gewesen, als sie zu entführen? Wieso also hatte er sie am Leben gelassen?
Sobald sie über seine Motive zu spekulieren begann, geriet sie in Panik und versuchte – sie musste sich schließlich nicht länger totstellen – ihre Hände zu befreien. Sie waren hinter ihrem Rücken mit einem dünnen Band aus Plastik gefesselt, das ihr ins Fleisch schnitt. Wahrscheinlich Kabelbinder. Ihre Bemühungen, sich loszumachen, wurden immer hektischer.
»Hören Sie auf damit.«
Das Kommando vom Fahrersitz kam so unerwartet, dass sie einen Moment vollkommen reglos dalag. Dann sagte sie: »Scheren Sie sich zum Teufel«, und begann erneut zu ziehen und zu zerren, um ihre Hände aus den Fesseln zu winden.
Nach fünf Minuten war Jordie in Schweiß gebadet, den die Klimaanlage im Wagen im Handumdrehen zu Eiswasser kühlte. Sie gestand sich ein, dass ihr erbitterter Kampf vergeblich war und nur zu Erschöpfung und aufgescheuerten, blutenden Handgelenken führen würde. Gegen ihren Instinkt ließ sie sich in die Polster sinken, atmete mehrmals tief durch den Mund ein und aus und kämpfte mit bloßer Willenskraft ihre Panik nieder.
Sobald sie wieder klarer denken konnte, versuchte sie irgendetwas zu finden, was sie eventuell zu ihrem Vorteil nutzen konnte. Schon bald erkannte sie, dass sich die Fesseln an ihren Füßen viel weicher und nachgiebiger anfühlten als die Handfesseln.
Sie hob den Kopf, sah an ihrem Körper entlang und musste die hochschießende Magensäure herunterschlucken, als sie die dunklen Spritzer auf ihrer weißen Bluse entdeckte.
Getrocknetes Blut. Das Blut des Toten.
Sie schauderte, erlaubte sich aber keinen Gedanken daran, wie er gestorben war. Andernfalls würde sie die Angst vor einem ähnlichen Ende geistig und körperlich lähmen.
Mit eiserner Willenskraft sah Jordie über die grotesken Flecken auf ihrer Kleidung hinweg und stellte fest, dass der Entführer ein Kopftuch, das ein Tarnmuster aufwies, um ihre Knöchel geknotet hatte. Sie begann ihre Füße aneinanderzureiben, um das Gewebe ganz allmählich zu dehnen und Zwischenräume zu schaffen, bis sie möglicherweise ihre Füße befreien konnte und …
Was dann?
Die Wagentüren im Fond blieben trotzdem verriegelt und verschlossen.
Sie könnte ihrem Entführer gegen den Hinterkopf treten. Ein gut platzierter Überraschungskick würde ihn vielleicht ein paar kostbare Sekunden außer Gefecht setzen.
Und dadurch womöglich zu einem Unfall führen.
Oder ihn dazu treiben, sie gleich hier und jetzt zu töten.
Vielleicht konnte sie ihn irgendwie ablenken. Wenn sie Geräusche von sich gab, zu ersticken vorgab oder sonst etwas anstellte, weswegen er den Wagen anhalten musste, dann hätte sie vielleicht eine Chance, aus dem Auto zu springen und zu flüchten, sobald er die hintere Wagentür öffnete und nach ihr sah. Vorausgesetzt …
Es gab eine entmutigende Anzahl von Voraussetzungen, und keine dieser Optionen versprach wirklich Erfolg. Aber Jordie würde verflucht noch mal nicht wehrlos hier liegen bleiben, damit er sie nach Lust und Laune aus dem Weg räumen konnte. Sie würde es ihm nicht so leichtmachen wie sein voriges Opfer. Sie würde sich nicht kampflos umbringen lassen.
Allerdings wusste sie auch instinktiv, dass sich dieser Mann nicht leicht austricksen oder überwältigen lassen würde.
Als sie aus der Bar getreten war, hatte der Parkplatz dunkel und allem Anschein nach verlassen vor ihr gelegen. Eilige Schritte auf dem Muschelkies hatten ihren Blick auf die heraneilenden Angreifer gelenkt. In der Nanosekunde zwischen ihrem Umdrehen und dem Abfeuern der Pistole hatte sie die zwei Männer wiedererkannt, denen sie gerade erst in der Bar begegnet war: das Schwergewicht, das keinen erinnerungswürdigen Eindruck bei ihr hinterlassen hatte, und ihn, der das sehr wohl getan hatte.
Als er an ihrem Platz an der Theke vorbeigegangen war, hatten sie sich kurz angesehen. Sie erinnerte sich an seine auffällige Größe, seinen gelassenen, aber irgendwie raubtierhaften Gang, sein ernstes Gesicht und seinen Blick, der so scharf war, dass man Diamanten damit schneiden konnte. Sofort hatte sie die Augen abgewandt, weil sie merkte, wie sie unwillkürlich auf diesen bohrenden Blick reagierte.
Sie hätte auf ihren Instinkt hören sollen, doch in diesem Moment hatte sie ihn irrtümlich für eine ganz andere Reaktion gehalten, hatte eine andere Art von Gefahr gewittert.
Jede abrupte Kopfbewegung verstärkte das Pochen in ihrem Schädel, darum drehte sie ihn nur ganz zaghaft, bis sie ihren Entführer besser sehen konnte. Über der Kopfstütze des Fahrersitzes konnte sie eine dicke Locke auf seinem Scheitel ausmachen. Sein Haar war lang und zerzaust, erinnerte sie sich. Im bläulichen Licht des Armaturenbretts wirkte es dunkler als vorhin unter den bernsteinbraunen verrauchten Einbauten in der Bar.
Im Spalt zwischen den beiden Vordersitzen war sein rechter Arm teilweise zu sehen, in blauen Chambray gehüllt.
Ihr fiel ein, dass das Hemd Perlmutt-Druckknöpfe hatte. Die Ärmel waren fast bis zu den Ellbogen hochgekrempelt.
Er hatte bei ihr keinen besonders muskulösen Eindruck hinterlassen, nicht den eines Bodybuilders. Doch offenbar war er stark genug, um sie zu seinem Auto zu tragen, denn sie hatte es ganz sicher nicht aus eigener Kraft dorthin geschafft.
Widerwillig gestand Jordie sich ein, dass es schwierig, wenn nicht unmöglich für sie war, ihn zu überwältigen.
Nein, wenn sie überleben wollte, musste sie ihn irgendwie austricksen, doch dafür konnte sie nicht im luftleeren Raum operieren. Sie brauchte Informationen, und er war ihre einzige Quelle.
Sie räusperte sich. »Herzlichen Glückwunsch. Sie haben mich erwischt. Wer sind Sie?«
Seiner Reaktion nach zu schließen hätte er taub sein können.
»Schwebt Ihnen ein bestimmtes Fahrziel vor, oder wollen Sie nur möglichst weit weg vom Tatort?«
Er fuhr einfach weiter.
»Wie lange war ich bewusstlos?«
Nichts.
»Stunden?« Er reagierte immer noch nicht. »Im Grunde tut das nichts zur Sache. Die Polizei wird schon bald herausgefunden haben, dass Sie diesen Mann ermordet und mich entführt haben.«
Eisernes Schweigen.