Stadtrausch - Fritz Gerald - E-Book

Stadtrausch E-Book

Fritz Gerald

4,8

Beschreibung

Farber: Prekäre Beschäftigung, ein Kind, getrennt und dann noch das gelegentliche Abendessen mit den neugierigen, sich sorgenden Eltern. Auf der Flucht vor sich selbst und seinem ohnehin schon komplizierten Leben verbringt er die Nächte in Bars und Absteigen. Als er Stück für Stück noch weiter in das Chaos abrutscht, drängt sich zunehmend die Frage nach dem Sinn auf.

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www.info-fritzgerald-stadtrausch.com

Nicht unsere Fehler, sondern die scheinbar absolute Gewissheit des Versagens ist es, die uns von ungewöhnlichen Taten abhält.

(F. Gerald, 2012)

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 1

Die Sonnenstrahlen fallen durch das Fenster. Die Straße gibt ihre üblichen morgendlichen 10-Uhr-Geräusche von sich: Das Aufstellen von Bänken, Stühlen und Tischen, das fröhliche Kindergeschrei von glücklichen Kindern, die mit ihren gut gelaunten Eltern den Tag verbringen dürfen. Seinen Sohn hatte er seit sechs Wochen nicht mehr gesehen.

»Bewege dich erst einmal wieder auf geordneten Bahnen«, hatte die Kindsmutter gesagt.

Das Radio überträgt die neuesten Nachrichten in den Äther. Der duzende Radiosprecher schreit übertrieben: »Überfall auf einen Geldtransporter, Country-Star Norbert Ross in zwei Monaten in Stadt, Stau auf der …«

Das Radio samt quälendem Inhalt gibt nun Ruhe. Langsam zieht er die Hand zurück. Mit halb geöffneten Augen murmelt er leise: »Staus … Stadt … Menschen … Mobilität … Autos … Abhängigkeit … Widerspruch.«

Er öffnet die Augen und schaut kopfüber liegend aus dem Fenster. Das Licht blendet. Staus interessieren ihn nicht. Menschen, die Geldtransporter hin und her fahren, kennt er nicht und Country-Musik mag er seit dem Beatles-Festival 1981 auch nicht mehr.

Sinnlos.

Wie jeden Tag.

Gestank. Gestank in seiner Wohnung. Seit einer Woche tritt in der 40-Quadratmeter-Wohnung ein unbekannter Geruch auf, mit jedem Tag stärker werdend. Trotzdem ist die Quelle nicht aus-zumachen. Der Kopf brummt, ein fader Geschmack am Gaumen und Belag auf der Zunge. Er begibt sich in die Dusche, macht sich die Haare, beseitigt das Pelzige aus dem Mund, zieht sich an und knallt die Tür hinter sich zu. Das Namensschild fällt herunter. Der doppelseitige Klebestreifen hält nicht besonders gut. Er klatscht es mit der flachen Hand an die Tür und schlägt mit dem Handballen dreimal kräftig dagegen. Die Nachbartür öffnet sich. Sein Nachbar, ausschließlich in weißen Baumwollfeinrippunterhosen, steht in seiner Wohnungstür und schaut ihn an.

»Ist runtergefallen.«

Sein Nachbar schaut ihn regungslos an.

»Das Schild meine ich.«

Die Emotionen seines Gegenübers werden nicht mehr.

»Jetzt ist es wieder an der Tür«, sagt er freudig nickend, leicht zu seinem Nachbarn geneigt.

Die Tür fällt ohne einen Kommentar krachend ins Schloss. Das Schild ist falsch herum. Farber steht auf dem Kopf. Er fährt zur Arbeit. Mit dem Fahrrad.

Kapitel 2

Das Glied läuft gemeinsam mit seinen zahlreichen geklonten Geschwistern über die Schaltschwinge mit den beiden kleinsten Kettenrädchen. Am vorderen Kettenblatt vereinigt sich das Kettenglied des Fahrrads auf kraftvolle Weise mit dem Kranz. Jubelnd läuft das kleine Glied, gefolgt von seinen Brüdern des Ferrums, der zweiten kraftvollen Vereinigung zum hinteren Ritzel entgegen, um die volle Energie der Fahrradpedale auf das Hinterrad und so auf die Straße zu übertragen. Diese kleinen zahlreichen Glieder haben ihre Natur gefunden, die Natur der Bewegung. Darin gehen sie auf. Das kleine Glied der Fahrradkette, das vermutlich den Namen »Schmerz ist schön« trägt, macht sich wieder einmal den Spaß, sich nicht mit seinem dafür bestimmten Zahn zu verbinden. Mit vollem aufgebrachten Gewicht rutscht die Fahrradkette ohne Widerstand über das hintere kleine Zahnrad. Der Fußballen rutscht von der Pedale und das rechte Schienbein übernimmt außerplanmäßig die zweite kraftvolle Vereinigung.

Nachdem der pochende Schmerz zu einem dumpfen Gefühl abgeklungen ist und der Fuß wieder die typischen anatomischen Bewegungen ausführen kann, startet Farber einen neuen Versuch. Der Fahrtwind kühlt und trocknet das Blut. »Zeit für eine neue Fahrradkette und neue Ritzel«, denkt sich Farber.

Nach der Hälfte des morgendlichen Wegs zur Arbeit: Vollbremsung. Farber zieht ruckartig an beiden Bremsbügeln, wobei das Hinterrad nach oben steigt. Das Fahrrad stellt sich senkrecht auf, bevor es krachend zur Seite fällt. Mit der linken Hand fängt Farber sein eigenes Gewicht ab, um nicht mit dem Gesicht auf den Boden zu klatschen. Dabei bleibt sein linkes Schienbein schmerzhaft an der Lenkerstange hängen.

Farber betrachtet in anfänglich bodennaher Haltung den Grund für die Notbremsung und den damit zusammenhängenden Sturz. Er sieht weiße Socken mit rotblauen Ringeln. Diese stecken in Kunstledersandalen in einer Farbe, die sich ergibt, wenn Braun, Beige und Blau zu gleichen Teilen in einen Topf gegeben und umgerührt werden. In den weißen Socken stecken weiße Wadenbeine mit bläulich leuchtenden Krampfadern.

An der Hüfte des Mannes klebt eine zu kurze, zu enge und Genitalien betonende Hose in einer den Schuhen ähnelnden Farbe. Neben dem übergroßen Kugelbauch baumelt eine quaderförmige Wildlederhandtasche für Männer mit braunweißen Kuhflecken darauf. Auf der anderen Seite, vollgestopft und dem Platzen nahe, hängt mit einer gewissen Ähnlichkeit zum Bauch eine beachtliche Plastiktüte. Auf dem ausgewaschenen Designer-Poloshirt, das seine, damals noch azurblaue, Geburtsstunde in den Achtzigern hatte, sitzt der zerknautschte Männerkopf. Aus dem weiten geöffneten V-Ausschnitt kräuseln sich, wie kleine fiese Würmer, graue, wundersam dicke Haare. Der rote Kugelkopf ist mit vereinzelten weißgrauen Fusseln versehen, die schmierig und ohne nennenswerten Erfolg versuchen, den nördlichen Teil zu überdecken. Die knollig-rote Nase mit blauen Punkten, die einer Kartoffel gleicht, lässt auf den regelmäßigen Konsum von Spirituosen schließen. Braunschwarze Kullern mustern das Aufstehen und das Aufheben des Fahrrads. Als Farber wieder steht, bewegt sich der scharlachrote Kopf auf dem hellblauen Korpus mit Unverständnis leicht hin und her, dreht sich ohne eine Entschuldigung um und geht in der wuselnden Menge überwiegend alter Menschen unter. Farber überlegt, hinterherzulaufen, den Verantwortlichen durchzuschütteln und anzuschreien: »Weniger saufen und mehr auf seine Mitmenschen achten, du alter Suffkopp!« Es bleibt bei dieser Überlegung. Mit schmerzenden Schienbeinen steigt Farber grummelnd auf sein Fahrrad. »Markttag. Scheiß Markttag. Braucht kein Mensch, den Schrott, der hier verkauft wird. Und zu viele alte Menschen, die die wenigen Radwege kreuzen.«

Kapitel 3

Farber schlurft langsam über den Korridor. Tageslicht gelangt nur indirekt über die Verglasung der anliegenden Büroräume in den schmalen, langen Gang. Die Beleuchtung in Form von Neonröhren ist aus. Ein notorischer Stromsparer neigt dazu, in dieser Einrichtung stets alle Lampen auszumachen, irrelevant, ob es Tag oder Nacht ist oder ob es innen liegende Räume ohne Tageslicht-zufuhr sind.

Der Fußbodenbelag ist aus fusseligen, miteinander wild verzwirbelten Nylonfäden. Farblich ein graugelber Grundton mit grünlichen Punkten. Der Teppich besteht aus einzelnen Quadraten. In unregelmäßigen Abständen kommen Fugen und Aufwölbungen der Randbereiche zum Vorschein. Erbrochenes würde auf diesem Belag eher unscheinbar wirken. Es ist die Art von Belag, der zu einer statischen Aufladung führt, sollte man mit ungeeignetem Schuhwerk darüberlaufen.

Der Stromschlag, den Farber an der Türklinke erhält, ist so stark, dass er nicht nur das kurze Knacken hört, sondern auch den Funken sehen kann.

Als Farber sich aus seiner unvorteilhaften Haltung mit der zurückgezogenen Hand wieder gelöst und sich verstört umgeblickt hat, ob ein anderer die sonderbaren Zuckungen mitbekommen haben könnte, schließt er die Tür auf.

Es ist stickig, dunkel und stinkt. Wieder ist eine der Topfpflanzen verfault und fault nun stinkend vor sich hin. Er öffnet die Fenster und lässt die automatischen, außen liegenden Metallrollos hoch. Die am meisten genutzte Maschine meldet sich mit der üblichen Begrüßung: »Guten Tag – Gerät heizt auf.« Es folgt die Frage, ob der Spülvorgang eingeleitet werden soll. Farber hat keine Lust auf den langwierigen Spülvorgang und wählt: Nein. Die Maschine gibt zwei klackende Geräusche von sich und fordert: »Bitte beide Behälter leeren.« Farber leert beide Behälter und setzt diese wieder ein. Es folgt die Frage, ob beide Behälter gründlich geleert worden seien. Farber wählt: Ja. Die Forderung heißt nun: »Das Reinigungsfach reinigen.« Auch dies wird getan. Nach der rhetorischen Frage, ob das Reinigungsfach gründlich gereinigt wurde, die ebenfalls mit Ja beantwortet wird, folgt der zweiminütige Selbsttest. Im Anschluss folgt die bekannte Aufforderung, beide Behälter zu leeren, und der Zyklus startet von Neuem. 25 Minuten und drei Zyklen später kommt eine bis dahin unbekannte Anzeige: »Fehler AF15 – bitte wenden Sie sich an den Hersteller. Vielen Dank. Auf Wiedersehen.« Wenigstens wurden dem Kaffeevollautomaten gute Manieren einprogrammiert.

Farber geht in die Mensa auf der anderen Seite der Straße. »Dort scheint die Sonne.« Er hofft, dort eine Maschine oder einen Menschen zu finden, der ihm eine Tasse Kaffee geben kann.

In Abhängigkeit von der Gefühlslage suchen Farber die Tagträume heim. Je schlechter die Situation, desto mehr Tagträume. In letzter Zeit häufen sich die Tagträume.

Eine gläserne Schiebetür öffnet sich automatisch. Der Raum ist L-förmig, links und rechts stehen Tische. An diesen Tischen stehen bunte Stühle, in zahlreichen Farben. Viel zu bunt für seinen Geschmack. So jung und fröhlich wie das Leben der jungen bunten, fröhlichen Studenten, die hier täglich ihr Essen zu sich nehmen. Wer durch den mittig gelegenen Gang läuft, kann nur schwer übersehen werden. Der kürzere Raumteil des Ls ist schnell durchquert.

Er mag es nicht, wenn Menschen die Möglichkeit haben, ihn von allen Seiten anzustarren. Es gibt keine Rückzugsmöglichkeiten. Man muss von allen Seiten gleichzeitig gut aussehen. Unschlüssig, ob er nun unauffällig nach unten oder entschlossen geradeaus gucken soll, durchschreitet er den zweiten längeren Raumteil. Er kauft einen Automatenkaffee und setzt sich an einen der zahlreichen, zu dieser Zeit noch überwiegend leeren Tische. Der Kaffee schmeckt nicht sonderlich gut. Er ist in Gedanken versunken, als er Tischbegleitung bekommt. Sie ist blond. Er ist sich nicht sicher, ob das Haar gefärbt ist oder natürlich so hellblond wächst. Es hat etwas Anziehendes. Darunter kommen kastanienbraune Augen zum Vorschein, die von dunklen, vollen Augenbrauen geziert sind. Ihr dunkelblaues Top ist anliegend und betont in nicht übertriebenem, aber doch reizendem Maß ihren Oberkörper. Farber setzt sich zwei Plätze weiter, sodass er ihr gegenübersitzt, und fragt: »Gibt es eher mehr Tische als Menschen hier oder eher weniger Menschen als Tische?«

Sie ist kurz angebunden, eine Antwort auf seine Frage bekommt er nicht. »Und du hier?«

Er antwortet: »Kaffee. Also das, was man hier Kaffee nennt.«

Sie bestätigt die Kaffeeeinschätzung: »Angeblich wird der Mensakaffee aus dem alten Filtrat und den Resten aller Tankstellenkaffees der Umgebung gewonnen. Diese Flüssigkeit wird dann durch geröstete Kartoffelschalen mit Resten von Schweineleber gepresst.«

»Das erklärt zumindest den Geschmack, aber nicht den Preis.«

Sie lachen und schauen sich in die Augen. Ein verstohlenes Lächeln huscht über ihr Gesicht.

»Im Frühjahr fliegen die Schwalben tiefer als im Herbst«, beginnt Farber, »das liegt an den Mücken. Je älter sie werden, desto höher können sie fliegen. Im Winter sind die Mücken dann so groß, dass sie nur noch über den Wolken fliegen, wo sie dann auch die Schwalben aussaugen. Irgendwann gibt es dann keine Schwalben mehr über den Wolken. Nur noch die schwachen Schwalben unter den Wolken. Die Mücken sind vom Fressen und der Fortpflanzung erschöpft und die Weibchen sinken im schwangeren Zustand zu Boden. Im Frühjahr beginnt der Zyklus mit den jungen kleinen Mücken und den übrig gebliebenen schwachen Schwalben von Neuem. Darwinistisch führt dies zu immer schwächer werdenden Schwalben. Ein Grund, warum Schwalben vom Aussterben bedroht sind.«

Sie lacht und sagt in übertriebenem Ton: »Du bist so süß. Hast du heute Abend schon was vor?«

Farbers Chef übernimmt die Antwortet: »Ja, hat er, ein neues Projekt. Topbezahlung. Wenig Verantwortung. Und viel auf Reisen. Es startet heute Abend in London. Fantastisch, diese Stadt. Der Flieger ist gebucht. Vielleicht nimmst du deine kleine Freundin mit.«

Farber: »Sie ist nicht meine Freundin.«

Sie sagt: »Noch nicht, aber London gefällt mir.«

An dieser Stelle ist Farber sein eigener Tagtraum zu blöd. Der Kaffee ist auch leer. Er beschließt, einen weiteren nicht guten Kaffee zu holen.

Er mag die Tagträume dennoch. Sie lassen ihn gelegentlich glauben, dass er das tun wird, was er möchte. Was er tatsächlich aber nie tun wird, obwohl es in den meisten Fällen noch nicht mal ein Hindernis gibt.

Schnellen Schrittes durchquert Farber den länglichen Gang mit dem grünen Teppichboden. Die drei mittelmäßigen Kaffees, welche er in der Mensa getrunken hat, zeigen ihre Wirkung. Es kommt lautstark mit viel Kraft herausgeschossen. Ein angenehmes Gefühl der Entspannung stellt sich ein. Er zückt sein Handy, um sein Klospiel weiterzuspielen. Wenig später kommt schlurfend eine weitere Person in die Toilette. Den Geräuschen nach zu urteilen, stellt die Person sich an eines der Pissoirs und lässt der flüssig-gelben Natur ihren Lauf. Es wird nicht gespült, auch die Hände werden nicht gewaschen. Dafür wird gewissenhaft das Licht gelöscht. Farber, noch immer auf Toilette sitzend, interveniert, dass hier noch jemand sei. Ein müdes Lachen ist die Antwort, dann fällt die Tür wieder ins Schloss.

Es ist nun finster. Kein Licht. Er tastet nach dem Papier und beendet sein Geschäft. Sein Handy benutzt Farber als schwache Lichtquelle, bis er einen der beiden Lichtschalter erreicht. Er wäscht sich gründlich die Hände, als ob er so den entfallenen Waschgang seines Vorgängers nachholen könnte. Er lässt alle Lichter in der Toilette an. Auch im Flur betätigt er jeden Lichtschalter. Der lang gezogene Korridor mit seinem grünlichen Teppichboden erstrahlt in vollem Glanz.

Ihre Haare sind dunkel. Im offenen Zustand hängen sie bis zwischen ihre Schulterblätter. Heute sind sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Sie trägt ein schwarzes langärmliges Top und eine eng sitzende Bluejeans. »Geile Kiste«, denkt sich Farber. Ara. Aus welchen Gründen ihre Eltern ihr diesen Namen gegeben haben, ist Farber schleierhaft. Nicht im Geringsten gleicht sie einem bunten schreienden Vogel. Die Kleidung vornehmlich schlicht und schwarz. Trotzdem ist der Klang des Namens kurz, streng und klar. So wie sie. Alle stehen auf Ara, zumindest ist Farber davon überzeugt. Die Frau mit dem Anagramm als Personifizierung. Otto ist auch ein Anagramm. Dieser Name hätte jedoch nicht zu Aras Figur gepasst. Sie ist nicht dominant, vielmehr introvertiert, was der Anziehung keinen Abbruch tut.

Sie ist verheiratet und hat zwei Kinder. Ihren Zenit hat sie, trotz des mittleren Alters, noch lange nicht erreicht. Sie ist der Typ Frau, der sich im Laufe der Jahre immer wieder neu definiert. Sie hat keinen Höhepunkt. Vielmehr schiebt sie diesen mit jährlich neuen Facetten vor sich her.

Den Gang betritt Ara durch die hintere Seitentür. »Warum ist hier überall das Licht an? Ist doch keiner heute hier.«

Farber murmelt und zuckt nur die Schultern. »Schöner Teppich.« Er schließt die Tür zum Büro auf und sie gehen hinein.

»Es stinkt«, sagt sie, »eine eurer Topfpflanzen ist umgekippt. Ist dein Chef nicht da? Ich muss mit ihm sprechen.«

»Nein, der ist weg. Ich weiß auch nicht, wann er wiederkommt. Willst du einen Kaffee?«

Sie bejaht die Kaffeefrage.

Er bewegt sich in den abgetrennten hinteren Raum zur Kaffeemaschine und schaltet sie ein.

»Kann es sein, dass du humpelst?«

»Ja, etwas. Mir ist die Fahrradkette heute Morgen durchgerutscht und mein Schienbein hat unangenehme Bekanntschaft mit dem Pedal gemacht.«

Ohne wirkliche Besorgnis, mehr anstandshalber und um die unangenehme Stille zu vertreiben, erklingt Aras Stimme aus dem vorderen Raum: »Das wird schon wieder.«

Die Fehlermeldung erscheint. Er ruft: »Die Maschine geht nicht. Willst du vielleicht einen Tee?«

Sie will keinen Tee und verlässt nach einem »Bis später!« das Büro.

Er lässt sich in den Stuhl seines Chefs fallen und schaut aus dem Fenster. Direkt vor dem Fenster breitet sich ein lang gezogenes Flachdach mit Kies und wild wuchernden Pflanzen aus. Zwischen der grünen Vielfalt durchstoßen Lichtfenster das Gras. Weiße glänzende Kuppeln, in denen sich bei einem bestimmten Lichteinfall der Himmel mit Wolken widerspiegelt. Sie sehen aus wie eingewachsene Ufos, welche vor vielen Jahren auf diesem Dach landeten. Nun warten sie sehnsüchtig auf das Startsignal ihres Mutterschiffes, das unsichtbar im Orbit der Erde kreist, um die lang erwartete Heimreise anzutreten. Dahinter ragen die Baumkronen von Kastanienbäumen hervor. Der Himmel ist tiefblau. Ungewöhnlich blau für diesen Breitengrad. Dieses Blau kennt er nur aus dem Norden. Ein paar Wolken, die sich gegenseitig vor sich her schieben. Die Kastanien sind übersät mit gelblich weißen Blütenbüscheln. Mit ihrer kegelartigen Form heben sie sich deutlich von dem satten Grün des Baumes ab.

Er nimmt einen Zettel und einen Stift.

Ich brauche Geld. Habe seit sieben Wochen nichts mehr bekommen und habe auch keinen Honorarvertrag zurzeit. Bitte ruf mich an. Farber.

Er steckt den Zettel zwischen die Buchstabentasten in die Tastatur. Wenn sein Chef da ist, verstehen sie sich gut.

Er verschließt die Tür und macht sich wieder auf den Heimweg.

Kapitel 4

Die Wohnung liegt zentral. Das Wohnviertel ist ruhig und eher alternativ. Man hat seine Ruhe. Man wird nicht komisch angeguckt, wenn man im Bademantel einkaufen geht oder sich auf seine eigenen Schuhe übergeben hat.

Punks entspannt, Freaks entspannt, Anzugträger entspannt. Die ungeschriebene Regel: »Alles erlaubt, nur nett dabei sein.«

Die Mischung des Viertels verläuft von gut verdienenden Doktortitelträgern bis hin zu dauerarbeitslosen Sozialhilfeempfängern, die ihr Taschengeld mit Flaschensammeln und Hilfsarbeiten für die kleinen Läden verdienen.

Das Geld ansehen kann man den Leuten hier nicht. Nicht dass der Pelz einfach nach innen getragen wird, vielmehr gibt es zum Teil eine Verweigerung des Konsums und des Protzigen. Es ist schlichtweg uncool, teure Kleidung zu tragen oder gut gekleidet aufzutreten. Es wird von niemandem erwartet und ist darüber hinaus auch vollkommen überflüssig. Die Bildungselite im Viertel verdient das Geld ja nicht mit dem Äußeren, sondern mit dem Kopf. Farber stellt gelegentlich fest, dass ein regelrechter Wettbewerb in heruntergekommenem Auftreten stattfindet. So sitzen am Sonntagmittag Menschen in der Öffentlichkeit beim Brunch mit ungewaschenen, zerzausten Haaren, durchlöcherten Jeans und ausgewaschenen, geflickten T-Shirts, die zum arbeitenden Volk zählen. Nicht wenige von diesen sogar mit einer beachtlichen Eigentumswohnung.

Im Supermarkt kann der Anzugträger ein gescheiterter Vertreter sein, der, völlig fehl am Platz, über sein Erscheinungsbild Eindruck zu schinden versucht, während der Typ mit der zerrissenen Hose in einem 10-Euro-T-Shirt als Doktor des Maschinenbaus seit Jahren nicht mehr weiß, was er mit all seinem Geld anfangen soll.

Will man die Menschen einschätzen oder einstufen, muss man mit ihnen sprechen. Farbers Kontakt zu anderen Menschen kann als geringfügig beschrieben werden. Seit der Trennung lebt er zurückgezogen. Lediglich der Spätshop an der Ecke bildet den Anlaufpunkt für neue Bekanntschaften im Viertel. Ein Laden zum Trinken, Bierkaufen und Rauchen. Für Farber ein Ort der Entspannung, wenn er nachts nicht schlafen kann.

Er schließt die Tür zu seiner Wohnung auf. Die 2-Raum-Wohnung ist spärlich eingerichtet. Im großen der beiden Räume stehen ein Holztisch, eine beigefarbene Couch, ein 1-mal-1-Meter-Ikearegal und ein Küchenbuffet aus der Gründerzeit. Der Fußboden ist rot getöntes Eichenparkett, das noch nach alter Tradition im Fischgrätenmuster verlegt wurde. Das Schlafzimmer besteht aus einem Kleiderschrank, einer Matratze auf dem Boden und einer Nachttischlampe. Eine Küche hat Farber bisher noch nicht eingebaut. Abgewaschen wird nunmehr seit drei Monaten in der Duschkabine. Nach dem Auszug aus seiner alten WG entschied er sich, nur noch das Nötigste zu behalten. Die Hälfte seines Hausrats flog so auf den Müll oder wurde verschenkt.

Er setzt sich an den Küchentisch. Klappt den Laptop auf und schaltet ihn ein. Er braucht Geld. Geld für Unterhalt. Geld für die Wohnung. Geld für Essen.

Der Verlag, für den er schreibt, veröffentlicht Artikel in einer Fachzeitschrift. Er bekommt für jede Seite 50 Euro. Die Artikel handeln in der Regel von Bauschäden und deren Sanierungsmöglichkeiten. Er steht auf und öffnet die Fenster. Der unbekannte Geruch hat sich zu Gestank entwickelt. Er muss die Quelle finden. Er setzt sich an den Tisch. Er steht wieder auf und nimmt die Digitalkamera aus einer Kiste aus dem Ikearegal und macht fünf Fotos von seiner Wohnküche ohne Küche und der Ecke im hinteren Raumbereich. Die Speicherkarte der Kamera schiebt er in den Schlitz des Computers. Er öffnet die Bilder in dem Fotobearbeitungsprogramm. Nach einer halben Stunde hat er auf drei ausgewählten Bildern einen gewaltigen Schimmelschaden erzeugt. Aus dem Internet lädt er einen Grundriss einer 5-Zimmer-Gründerzeitwohnung herunter und fügt diesen mit den Bildern zusammen in ein Word-Dokument ein. Aus drei alten Gutachten seines Chefs fügt er unterschiedliche Textteile über die Gefahr von Schimmelbildung ein. Auf einer Baumarkt-Internetseite findet er eine gut formulierte Anleitung, wie mit einem Schimmelschaden in größerem Ausmaß umzugehen ist. Für die Einleitung und die Schadensanalyse benötigt er zwei Stunden. Er vereinheitlicht Schriftgröße, Schriftart und Zeilenabstände und speichert den fertigen Artikel, welcher zehn Seiten umfasst, unter einem neuen Dateinamen ab. Nach dem Versand als Anhang per Mail an den Verlag, schaltet er den Laptop aus und stellt ihn wieder in den Schrank.

Der Geruch ist weggelüftet. Farber stellt sich mittig in den Raum und dreht sich langsam um seine eigene Achse, dabei holt er durch Nase und Zähne gleichzeitig tief Luft. Die Quelle der geruchlichen Beeinträchtigung scheint aus Richtung der Waschmaschine zu kommen. Doch selbst eine Socke im Ablauf kann solch einen Gestank nicht entwickeln. Er untersucht die Trommel und das Dichtungsgummi. Alles macht den Eindruck, so zu sein, wie es sein soll. Farber nimmt einen tiefen Atemzug am Abflussrohr. Es stinkt, aber es ist nicht das Problem. Er beugt sich über die Maschine und sieht dahinter eine weiße Tüte zwischen Maschine und Wand stecken. Er legt sich seitlich auf den Kühlschrank und die Maschine und zieht die Tüte, die nun eindeutig als Gestankquelle identifiziert werden kann, hervor. Die Neugier lässt ein einfaches Wegwerfen, ohne genau zu wissen, was es nun ist, nicht zu. Es purzeln keulenartige Gegenstände heraus. Reich verziert mit bunten Farben – Rot, Blau, Gelb und Schwarz. Einer der Schimmelpilze ist Farber in seinen Experimenten schon mal begegnet, ein vergleichsweise harmloser Pilz mit dem Namen Aspergillius restrictus. Dumpf fallen die Keulen auf den Mülltonnenboden. Neben verschimmeltem Fleisch sind Beinknochen zu erkennen. Es handelt sich um Schweinshaxen, drei Stück, kaum angegessen. Die Herkunft der Schweinshaxen und wie diese in seine Wohnung oder gar hinter die Waschmaschine gelangten, ist ihm ein Rätsel.

Farber legt sich auf seine Couch. Auf dem Rücken liegend, den Kopf leicht erhöht, fehlt nur noch der Psychiater. Farber mag die Haltung nicht, legt sich auf die Seite und lässt seinen linken Arm über den Schafwollteppich streifen. Der Teppich ist schmutzig und verdreckt. Ein großer rotbrauner Fleck klafft am oberen Ende. Er steht auf und versucht den Fleck mit Spülmittel, warmem Wasser und einem Schwamm zu entfernen. Ohne Erfolg. Die Verunreinigung wirkt noch schlimmer als zuvor. Er rollt den Teppich zusammen und trägt diesen durch das Treppenhaus 300 Meter die Straße hinunter zur Reinigung »Blitze Blanco«.

Farber fragt, ob Roberto da sei. Der Mann hinter dem Tresen versteht den Witz nicht oder findet ihn nicht witzig. Farber stemmt die schwere Rolle auf den hüfthohen gläsernen Raumteiler zwischen ihnen. Sein Gegenüber trägt eine Brille mit hellbraunem bis gelblichem dickem Rahmen und mit daumendicken Gläsern. Je nach Kopfhaltung erscheinen seine Pupillen in einer anderen übergroßen unnatürlichen Form. Auch die ausgeprägte Sehhilfe schafft dem Silberblick keine Abhilfe.

»Was wollen Sie?«, fragt der Thekenteppichmann lispelnd. »Wir haben son so viele Tepise diese Woche bekommen.«

Farber in beherrschtem Ton: »Ich möchte den Teppich zum Reinigen abgeben.«

»Is weiß nist, ob das geht.«

Farber verwundert: »Sie wissen nicht, ob das geht? Und wer weiß es dann?«

Auf seiner grauen Weste ist ein Namensschild mit Arnold Blanco angetackert. Arnold schließt ein Rechnungsbuch und tippt mehrere Nummern in die Kasse ein. Farber wartet und wundert sich, ob noch eine Reaktion von ihm kommt. Ruckartig dreht sich Arno, als ob er gerade erwacht sei, mit einer Viertelumdrehung in Richtung des anliegenden Raumes und ruft: »Heins Smidt, kommst du mal?«

Farber zuckt zusammen. Ein weiterer Mann betritt den Kassenbereich. Er gleicht der Statur und den Gesichtszügen nach seinem Bruder, nur dass er die Makel aufweist, die seinem Bruder erspart blieben. Sein Gesicht ist mit Narben von jugendlicher Akne übersät. Ein dicker, kugeliger Bauch beult den grauen Kittel aus. Trotz seiner lediglich zwei verbliebenen bräunlichen Schneidezähne hat der Mann mit dem Namensschild Heinz Schmidt Blanco keinen Sprachfehler. Er betrachtet den Teppich und weist Farber mit einer Kopfbewegung an, den Teppich auf die Ablage zu legen und auszurollen. Er legt sein Butterbrot auf den mittelmäßig sauberen Teppich und sagt schmatzend mit halb vollem Mund: »Diese Woche nicht. Hier ist alles voll mit Teppichen. Nächste Woche auch nicht. Da hinten liegen noch mehr.« Bevor er weitergrunzt, nimmt er noch einen Bissen. »Vielleicht Anfang übernächster Woche, unten im Nebenraum sind auch noch Teppiche. Der Teppich ist ja nicht gerade eine Augenweide. Sie können sich auch einen neuen kaufen.«

»Ich finde den Teppich ganz schön. Nur sauber müsste er sein.«

»Eigentlich ist es ja totale Zeitverschwendung, so einen Bettvorleger zu reinigen.«

Farber versteht nicht, was ihm der dicke, untersetzte Blanco sagen möchte. »Was kostet mich denn die Reinigung?«

Er stöhnt über Farbers Beharrlichkeit, den Teppich wirklich reinigen lassen zu wollen: »30 Euro.«

Farber holt das Geld aus seiner rechten Hosentasche und legt es ihm hin.

»Das müssen Sie meinem Bruder geben«, blafft ihn dieser an. »Und das müssen Sie auch noch ausfüllen. Scheiße hier, immer nur Teppiche.«

Farber ist davon ausgegangen, dass ein Laden, der Teppichreinigung anbietet, auch Teppiche reinigen möchte – möglicherweise war dies ein Trugschluss. Er füllt den Zettel aus, gibt Arnold das Geld und erhält im Gegenzug den Durchschlag. Eine vierstellige Nummer wird von Arnold Blanco am Teppich festgemacht.

Farber verabschiedet sich, ohne eine Antwort zu erhalten. Er öffnet und schließt mit einem begleitenden DING-DONG die Tür.

Kapitel 5

Der Postbote verlässt den Hausflur. Farber öffnet seinen Briefkasten und entnimmt einen Brief, auf der Rückseite: Viele Grüße aus Neapel. Er kennt niemanden aus Neapel. Er öffnet den Brief, liest. Mit jedem Satz wird er langsamer und bewegt sich nun in Zeitlupe durch das Gründerzeittreppenhaus. Mit jedem Schritt, den er auf den Aluminiumleisten am jeweiligen Stufenrand macht, klackt es. Gut für Stepptanz geeignet. Durch die großen Holzfenster, die in Blei eingefasste kleine bunte Glasscheiben enthalten, fällt das Licht. Ohne den Absender oder die Grußworte gelesen zu haben, weiß Farber nach dem ersten Satz, wer ihm diesen Brief geschrieben hat. Gewesen ist er noch nie in Neapel, aber was er liest, klingt nach einem scheinbar reizend schönen Neapel, in dem sich zurzeit ein alter Freund befindet.

Hej Farber,

bin gerade in Neapel auf der Terrasse aufgewacht, hinter mir der Blick auf die Häuser, die sich terrassenförmig entlang des Felsens gruppieren, vor mir der Blick auf die funkelnde Bucht mit ihren Booten, den Straßengeräuschen, die hektisch leicht durch die Luft schwirren. Hupen gehört zum guten Ton. Die Menschen hier sind unglaublich gastfreundlich. Gerade habe ich einem Gespräch in drei Sprachen lauschen dürfen – Portugiesisch, Spanisch und Italienisch. Neben dem Mund sprechen Hände, Blicke und der Ausdruck des Gesichts mit. Manchmal beginne ich Sätze zu entschlüsseln und denke mir: »War das jetzt auf Deutsch?«, weil mir die Äußerung vertraut, verständlich wird. Ein Verformen, ein Annehmen von Gestalt der Sprache. Und die Menschen strahlen eine Schönheit und Lebenslust aus, die abfärbt, auch wenn unter dem Ganzen immer wieder ein melancholischer Grundton hervorscheint. Gestern war ich zu einer Tanzperformance in einer der großen Burgen direkt am Meer. Eine Bekannte von mir, Maria Giulia, hat das Stück choreografiert. Glücklicherweise kannte ich es schon aus den Proben, weil ich gestern mit dem Kajak vor der Küste von Neapel gekentert bin. So im Bann von der Vulkanlandschaft, den Gebäuden aus den verschiedensten Epochen, den Menschen, die auf Felsvorsprüngen grillen, Tüten rauchen, das Leben genießen, wie es kommt, auf so vielfältige Weise das Nichtstun genießen, bin ich gekentert und habe meine Brille verloren. Mal schauen, wie’s zurückgeht. Ohne Brille, ohne Italienisch, ohne Plan und mit wenig Geld. Meld mich, wenn ich’s geschafft habe. Sei umarmt, stell dir das funkelnde Mondlicht auf dem Wasser der Bucht von Neapel vor, den dunklen, warmen Blick schöner Portugiesinnen, die gerade Siedler von Catan auf dem Laptop spielen, dann weißt du, wo ich bin.

Sei umarmt und lass Sonne in dein Herz!

Vincent

In seiner Wohnung öffnet er den überschaubaren Kleiderschrank, entnimmt sein weißes Hemd, öffnet ein Bier und steckt das Bügeleisen in die Steckdose. Bei lauter Musik und kaltem Bier glättet er den weißen Stoff. Monatlich in unregelmäßigen Abständen laden seine Eltern ihn in ein Restaurant ein. Zwischenzeitlich gab es ein umlaufendes Verfahren. Jeder sollte abwechselnd bestimmen, wo der nächste Abend verbracht werden sollte.

Als Farber an der Reihe war, lud er seine Eltern in ein rustikales Lokal ein. Über der Tür standen die warmen Begrüßungsworte: Familieneinkehr. Herzlich willkommen. Betrat man das Lokal, befanden sich auf der linken Seite des Eingangsbereiches zwei den ganzen Abend dudelnde Glücksspielautomaten, die Glück, Reichtum und Liebe versprachen. Geradeaus befand sich die Theke, das Herz des Ladens. Vampire des Alkohols konnten ihren Durst mit unterschiedlichen Biersorten aus der Zapfanlage stillen. Es gab rotes, gelbes und schwarzes Bier. Hinter dem Barkeeper, der mit Tätowierungen bis in das Gesicht gezeichnet war, prangte Lenin an der Wand. Den glatzköpfigen Tischbesetzern in dunkelblauen Bomberjacken auf der rechten Seite, die mit hoher Wahrscheinlichkeit der rechten Szene zugeordnet werden konnten, schien der kommunistische Gegenspieler kein Dorn im Auge zu sein. Die Kleidung Farbers und seiner Eltern, die auf der Suche nach kulinarischer Begeisterung waren, war neutral. Das Publikum im Hauptraum war durchmischt: Studenten, Touristen, die sich verlaufen hatten, und Anhänger des schwarzen Blocks aus der linken Szene. Ein Zusammentreffen der Stammtischkameradschaft und der sich selbst als Linksrevolutionäre Bezeichnenden auf engem Raum, wie beispielsweise auf den Toiletten, war ein Szenario, welches besser nicht eintreten sollte, da allein das Kopfkino unzählige gewalttätige, waffenfreie Optionen zum Vorschein brachte. Auch ohne gewalttätige Ausschreitungen gab dieser Abend Anlass zu beträchtlichen Schmerzen. Schmerzen im Kopf.

Sie setzten sich im Hauptraum an ein paar zusammengestellte Tische. Einige wiesen Unterkonstruktionen von aussortierten Nähmaschinentischen auf. Die geschwungene Gusseisenkonstruktion erinnerte Farber an alte Tage, als seine Mutter an der Singernähmaschine mit Fußantrieb Hemden und Jeans zusammennähte. Kurz hörte er das gleichmäßige Tackern der eindringenden Nadel und das Klappern der Spule. Die Luft war verraucht von Zigaretten und selbst gedrehtem »Halfzware Shag«-Tabak. Auf den Fensterbrettern wucherten in Blumentöpfen Zyperngraspflanzen und Affenbrotbäume. Die Wände waren behängt mit gemalten und gedruckten Bildern, mit abgeflachten Skulpturen und scheinbar wahllosen Gegenständen, die ihren Ursprung in einer Zeit noch vor Farbers Geburt hatten. Über den Tischen hingen Korblampen, Metalllampen oder angemalte Glühbirnen. Den hinteren Raumbereich belegte ein grüner Billardtisch mit drei grünen, kegelförmigen Glaslampen. An einer Wand stand ein altes, dunkles, holzfarbenes Klavier. Gerade diese durchgehende Unregelmäßigkeit und zusammengewürfelte Einrichtung brachte die angenehme Ruhe zum Versacken mit sich.

Nach dem Aperitif – Pfeffi, ein Pfefferminzschnaps, der das geschmackliche Nervenzentrum für rund 30 Minuten lahmlegt und liebevoll den Kosenamen Klostein trägt – kam das berühmt-berüchtigte obergärige Bier. Berühmt für seinen legendären fruchtigen Geschmack. Berüchtigt für Kopfschmerz und Sprühstuhl. Als Vorspeise gab es geröstete Weizenkörner, die zur Bierbrauerei verwendet werden. Es wurden anschließend an dem langen Tisch drei Tomatensuppen bestellt. Der Tisch füllte sich. Die zweite Runde obergäriges rotes Bier wurde eingeläutet. Der Kellner brachte ohne Bestellung vier Wodka, diese wurden von allen dreien plus Kellner getrunken, auf Lenin hinter der Theke. Der dritte Gang trug den Namen Würfelbecher. Enthalten waren Würfel mit einer Kantenlänge von ca. vier Zentimeter, bestehend aus Presswurst und preisgünstigem Emmentaler. Grob geschätzt enthielt der Würfelbecher 500 Gramm Käse und 700 Gramm Fleischwurst. Die freien Tischplätze füllten sich mit einer Mischung aus Punks, Alternativen und Linken. Man kam ins Gespräch. Der Würfelbecher war nach drei weiteren Bierrunden und einer Wodkarunde mit dem Barkeeper, auf Lenin, geleert. Es folgte der Hauptgang. Schweinshaxen. Eine für jeden. Es waren zu Lebzeiten große Schweine mit großen Haxen gewesen. Die Diskussion hatte Politikverdrossenheit und die Korruption der Politiker erreicht. Das Blickfeld Farbers vertunnelte sich. Irgendjemand äußerte die politische Weisheit: »Ich bin nicht frei und ich kann nur wählen, welche Diebe mich bestehlen und welche Mörder mir befehlen.«

Farbers Mutter brachte im Singsang-Ton ein, dass sie damals, als sie jung war, auch Rio-Reiser-Fan gewesen sei.

Die Antwort kam prompt und unerbittlich: »Rio Reiser hat sich dem Kommerz und dem Kapitalismus unterworfen.«

Mutter sah das anders: »Reiser hat völlig verarmt auf einem Bauernhof gelebt und seine Fans um Verständnis gebeten, dass er seine Platten für Geld verkaufen muss, da er sonst keine Musik mehr machen könne.«

Der Einwand wurde ignoriert, stattdessen kam: »Verkauft und uns verraten. Sich hat er verkauft und seine Musik, das ›König von Deutschland‹-Thema, an das kapitalistischmonetäre Media-Markt-Unternehmen verscherbelt.«

Der letzte Einwand ging im politikmüden Geraune der Menge und der lauter werdenden Klaviermusik unter: »Aber zu der Zeit war Rio doch …«

Der zufrieden lächelnde Lockenkopf am Klavier, das seinen Charme nicht zuletzt durch die leichte Verstimmtheit versprühte, spielte ein traurig-schönes Balkan-Jazz-Stück. Dabei wackelte er fröhlich mit dem Kopf hin und her und lächelte noch ein bisschen mehr, wenn ein paar Münzen in seinem Hut landeten. Je nach Gemütszustand konnte das Lied die totale Verzweiflung, aber auch den verliebten Höhenflug hervorrufen.

Bei Farber und dessen Eltern stand eine neue Runde Bier auf dem Tisch. Die Rundenzahl wurde nicht mehr gezählt, was nun zählte, war Trinken. Der letzte Wodka, mit Kellner, auf Lenin, wurde zur Hälfte beim Anstoßen verkippt, die andere Hälfte landete zwischen Unterlippe und V-Ausschnitt des T-Shirts. Verschwommen war die Familieneinkehr, mehr Lichter als vorhanden blinkten in bunten Farben. Das Interesse an Politik ließ nach. Ein schaurig-schönes Gefühl des Kontrollverlustes stellte sich ein. Das Klavier oder auch der Lockenkopf klimperte das »Tom und Jerry«-Thema The Entertainer fröhlich rauf und runter. Farber bekam einen starren Blick der völligen Gelassenheit. Er genoss den Augenblick der Verantwortungslosigkeit, der selten und nur durch eine erhebliche Menge Alkohol hervorgerufen werden konnte. Ein kurzer und letzter aufhuschender Gedanke der Vernunft machte Farber auf die bevorstehenden Kopfschmerzen aufmerksam. Das war es wert. Diesen Moment zu genießen und ihn mit ein wenig mehr Bier und Wodka noch ein wenig hinauszuzögern, rechtfertigte das Übel des morgigen Tages. Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal eine solche innere Ruhe im nüchternen Zustand verspürt hatte. Oft beobachtete er traurig und voll Neid seinen Sohn beim Spielen. Die Unbekümmertheit eines jeden Kindes, die ihm seit unbekannter Zeit verschlossen blieb. Für Farber lag der Unterschied zwischen Kindheit und Erwachsensein in der Fähigkeit des unbekümmerten Lebens.

Der Heimweg war nass und uneben. Er rutschte von der glatten Granitbordsteinkante ab und landete mit Gesicht und Oberkörper in einer Pfütze, die sich auf dem Kopfsteinpflaster gebildet hatte. Er zog die weiße, triefend nasse Tüte mit den nahezu unangetasteten Schweinshaxen aus der Pfütze. Die Straßen waren schräg. Seine Kleidung war nass und dreckig.

Er grinste in den Spiegel im Korridor und wischte sich freudig den Dreck durch die Haare. Er taumelte vor die Waschmaschine legte die Tüte mit den drei Schweinshaxen auf die Maschine und zog sich aus. Die Wäsche stopfte er hinein, schaltete an, ging duschen und ins Bett. Der darauffolgende Tag verlief ruhig. Nach der dritten Aspirin Complex konnte er sich wieder bewegen und das Tageslicht war ohne Schmerzen in den Augen erträglich. Er kaufte sich im Supermarkt auf der anderen Seite der Straße einen Liter Buttermilch, ein Konterbier für den Nachmittag und ein weiteres Bier zum Einschlafen. Nach fester Nahrung verlangte sein Magen nicht. Nachdem er die Waschmaschine ausgeräumt und die Wäsche aufgehängt hatte, ging er mit dem Einschlafbier ins Bett.

Das Rotationssystem kommt seit diesem Abend nicht mehr zur Sprache, wie auch der Abend selbst. Erinnern konnte sich sowieso keiner mehr daran. Was folgte, waren wieder Einladungen zum Essen in bessere Restaurants. So wie heute.

Kapitel 6

Farber trägt das maßgeschneiderte weiße Manschettenhemd. Er ist müde. Das Hemd ist strukturiert. Gegessen hat er heute noch nichts. Die Manschettenknöpfe sind silbern und mit hellem, fast weißem Perlmutt belegt. Anstatt zu schlafen, hat er die letzten Nächte mit Computerspielen verbracht. Zum Hemd trägt er die blaue Seidenkrawatte mit den schräg verlaufenden weißen Streifen in unterschiedlicher Stärke. Die graublauen Augen sind glasig. Die Streifen ergeben sich bei genauerem Hinsehen aus zahlreichen kleinen aufgestickten Punkten in unterschiedlicher Anordnung mit unterschiedlicher Größe. Auf leeren Magen wirkt das eine Bier wie drei. Diese Anordnung führt zu einem monochromen, schräg verlaufenden gestreiften Farbmuster. Dunkle Ringe sitzen unter den Augen. Das Jackett und die Anzughose sind schwarz und ebenfalls strukturiert. Ein schwarzer Ledergürtel mit großer silberner Schnalle läuft um die Hüfte. Seit fünf Tagen ohne Rasur. Die Schuhe im italienischen Stil, spitz zulaufendes, glattes, mattes Kalbsleder.

Seine Eltern freuen sich über den Anzug und das ordentlich gebügelte weiße Manschettenhemd mit blauer Krawatte. Die gläserne Schiebetür gleitet leise beiseite. Ein roter Teppich, rund drei Meter breit und neun Meter lang, bedeckt einen Teil des Foyers. Sie betreten das Restaurant über den Hoteleingang. An der Rezeption nickt ihnen die Empfangsdame freundlich zu und wünscht einen »Guten Abend«. Im Restaurant begrüßt der Kellner die drei mit ihrem Familiennamen. Angefangen bei der Mutter, weiter zum Vater, endend bei Farber selbst. Im zweiten Schritt nimmt er, in derselben Reihenfolge wie bei der Begrüßung, die Mäntel und die Jacke entgegen.

Der Tisch ist gedeckt. Eine schwere, graumetallicfarbene Stofftischdecke unter der dezenten Tischdekoration mit frischen Blumen in Wassergläsern sorgt für Gediegenheit. An den drei Plätzen steht jeweils ein Wasserglas. Zwischen dem hochpolierten Silberbesteck, zusammengesetzt aus zahlreichen Gabeln, Messern, Gäbelchen, Messerchen und Löffelchen, steht, wundersam gefaltet, eine weiße Stoffserviette.

Der Kellner befindet sich rund vier Meter vom Tisch entfernt und wartet mit der Getränkekarte in der Hand, bis Ruhe in das Trio eingekehrt ist und sich alle sechs Augen auf ihn richten. Er tritt an den Tisch heran, begrüßt seine Gäste erneut und spricht einen Dank für die Wahl des Restaurants für den heutigen Abend aus.

Zum Vater gewandt fragt er: »Möchten Sie zu Beginn einen Aperitif? Martini, Madeira oder eher etwas Frisches?«

Sie entscheiden sich für das Frische. Eine Flasche Taittinger. Vom dunkelblauen Etikett mit hell gesprenkelten Punkten perlen kondensierende Wassertropfen ab. Gerade als Farber das erste Glas Champagner ausgetrunken hat, betritt durch den Seiteneingang ein Rattledog den Raum. Ein Rattledog ist eine Mischung aus Hund und Klapperschlange. Die Mutation wird durch die häufig auftretende radioaktive Strahlung in der Mojavewüste hervorgerufen. Trotz der vier Beine sind die Bewegungen schlangenartig, nahezu wirr. Das Fixieren des Tieres, welches einen Schwanz wie eine Klapperschlange besitzt und sein Opfer mit Gift tötet, ist schwer. Das Zischen hat eine hypnotisierende Wirkung. Damit nicht genug, krabbelt durch den Haupteingang ein Giga-Skorpion. Ebenfalls eine Mutation der Mojave. Tiefviolett, mit einer 5-Liter-Giftdrüse, weist dieser eine Höhe von zwei Metern und eine Länge von fast vier Metern auf. Panisch sucht Farber neben dem Stuhl nach seinem Lasersturmgewehr und reißt schnell eine Atomic-Kaktusfrucht ab, für die Zielgenauigkeit, und stopft diese in den Mund. Seine Mutter sieht ihn besorgt an.

»Hast du wirklich so einen Hunger, dass du die Dekoblumen essen möchtest?«

Farber sitzt am Tisch, in der einen Hand das halb volle Champagnerglas. Der Kellner hat ihm, ohne dass er es gemerkt hat, nachgeschenkt. Mit der anderen Hand holt er die rosafarbene Rosenknospe mit zartbitterer Note wieder aus dem Mund. Er entschuldigt sich und spült den Taittinger herunter. Er kramt sein Notizbuch und einen kleinen Ikeableistift hervor und macht zwei Notizen.

– Computerspiel deinstallieren. DVD vernichten.

– Schlafen.

Der erste Gang besteht aus Froschschenkeln nach Burgunder Art. Geschmacklich und farblich ist eine gewisse Ähnlichkeit zu sehr zartem Hühnerfleisch vorhanden.

»Wie ist es mit der Arbeit?«, fragt Vater.

Farber räuspert sich: »Gut, gut. Alles in Ordnung. Viel los, viel zu tun. Wie immer.«

Vater: »Und mit dem Gehalt kommst du auch zurecht?«

»Ja, kein Problem«, antwortet Farber, »gewisse Unregelmäßigkeiten bei der Zahlung, aber wo hat man die heutzutage nicht?«

Der zweite Gang sind Jakobsmuscheln vom Grill auf in Vanillesoße geschwenkten Nudeln. Dazu ein Grüner Veltliner aus Österreich.

Mutter: »Und wann hast du deinen Sohn das letzte Mal gesehen?«

Farber, mit einer halben gegrillten Jakobsmuschel im Mund: »Wochenende.«

Mutter: »Welches?«

Farber: »Na, Wochenende. Letztes … oder so.«

Mutter: »Weißt du es nicht mehr genau?«

Farber: »Hatte viel zu tun.«

Der Gruß aus der Küche, Praline vom Kalbsbäckchen in Kartoffelkruste, befreit Farber aus der prekären Gesprächslage. Ein erzwungenes Lächeln und die Frage, was der Garten mache, können das Gespräch in seichtere Gewässer lenken.

Es folgt Carpaccio vom Kraken auf Rotweinrisotto. Der erste Hunger ist gestillt. Entspannung tritt ein. Das schwummrige Gefühl der Unterzuckerung verlässt Farber. An dessen Stelle tritt das schmeichelhafte Gefühl des Alkohols. Beinahe bedrohlich, mit schwarzer Schrift, schaut die Rotweinflasche mit der Aufschrift Black Print Farber und seinen Eltern beim Essen zu. Der zweite Gruß aus der Küche besteht aus geschälten Wachteleiern auf Röstkartoffeln mit einem Klecks hausgemachten Kräuterdressings.

»Aber nun mal weg vom Garten und wieder zu dir«, sagt Farbers Mutter. »Was machen denn die Frauen?«

Der Vater scheint von der Frage peinlicher berührt zu sein als Farber selbst.

Farber: »Kommen und gehen.«

Mutter: »Also ist bisher noch nichts Ernstes dabei gewesen?«

Farber: »Nö.«

Vater erleichtert: »Oh, der Hauptgang.«

Der Hauptgang wird von drei Kellnern gleichzeitig auf den Tisch gestellt. Gleichzeitig werden die silbernen Halbkugeln entfernt, die Farber an die sehnsüchtigen Ufos auf dem Dach vor dem Fenster seines Chefs erinnern. Der Kellner fasst das Gericht zusammen und schenkt einen dunkelroten badischen Spätburgunder auf der Maischegärung ein. Beim Schwenken bilden sich große ölige Kirchenfenster in den bauchigen Burgundergläsern. Beim Anschneiden des Rinderfilets bahnt sich eine gläserne rote Linie vom rosafarbenen zarten Muskel, der einst am Nervenstrang des Lebens und Steuerns des Tiers lag, langsam ihren Weg über den Teller. Auf diesem vereint die Rosenlinie des Blutes sich mit vereinzelten Sprenkeln von Soße, bevor sie die Gewürzblätter unterschiedlicher Sorten, frittiert in Tempurateig, erreicht.

Die wichtigen Themen sind vom Tisch. Nicht geklärt, nicht erklärt, aber abgehakt. Sie albern herum. Erzählen Witze und lustige Geschichten der letzten Wochen. Sie lachen und wischen sich die Augen, als der Nachtisch kommt. Schokokuchen mit Schokoladenmousse und Himbeersoufflé. Dazu einen Dessertwein, Weißburgunder, aus einem kleinen deutschen Anbaugebiet. Das Etikett bildet auf rotem Hintergrund zwei Menschen ab. Einen Mann und eine Frau. Der Mann steht hinter der Frau und hält diese im Arm. Die Frau ist blond und nackt. Der Mann hat rote Haare und ist ebenfalls nackt. Es scheinen Skulpturen zu sein. Das Gelächter der drei hält an bis zur Rechnung.

»Was ist? Haben die sich vertan?«, fragt Farber.

Farbers Vater antwortet: »Nein, aber die nehmen keine EC-Karte und das Bargeld reicht nicht. Was habt ihr noch dabei?«

Farber kramt in seiner Hosentasche rum. Verwundert holt er einen Bon heraus. »Wie kommt der denn in meine Anzughose? Also auf dem Pfandflaschenbon von Netto sind noch 3,16 Euro. Wie viel fehlt dann noch?«

Vater: »Was machen wir jetzt?«

Farber zynisch: »Essen wie Könige. Geld wie die Bettler.«

Vater zischt: »Deine Sprüche bringen uns jetzt auch nicht weiter.«

Die Mutter verschränkt das Gesicht in einer Hand und murmelt was von Peinlichkeit und Unannehmlichkeit. Es bilden sich rote Stressflecken an ihrem Hals und langsam breiten diese sich bis zu ihrem Kinn aus.

Der Kellner scheint die Bredouille zu spüren und lässt seine Augen, ohne dabei den Kopf zu bewegen, immer wieder leicht hektisch vom Tisch der drei zum Ausgang wandern. Als ob tatsächlich alle drei im nächsten Moment aufspringen würden und laut blökend, wie wild gewordene Schafe, aus der Höhle des Löwen paarhufern würden. Und in Panik vor dem Löwen selbst im Rennen auf den roten übergroßen Teppich pissen würden.

Farber: »Also, ihr bleibt sitzen, bestellt euch noch was zu trinken und ich hole Geld.«

Vater: »So machen wir das.«

Farber verlässt den Raum. Der nächste Geldautomat ist rund 800 Meter entfernt. Er hebt 150 Euro ab und läuft zurück in das Restaurant. Er betritt den Hauptraum. Seine Eltern sind nicht anwesend. Er dreht sich zum Kellner, dieser deutet auf die Zigarrenlounge. Farber betritt diese. Sein Vater sitzt mit dem Rücken zur Tür und pafft an einer daumendicken Zigarre. In der Linken ein Glas ölige goldbraune Flüssigkeit. Auf dem Beistelltisch, nahezu nebensächlich, eine Flasche Hennessy Paradise. Seine Mutter sitzt am Nebentisch in einer kleinen Runde und ruft zu Farber: »Komm her. Das sind Schweizer, du musst dir mal anhören, wie lustig die sprechen.«

»Aha. Und die Rechnung?«, gibt Farber von sich.

Seine Mutter steht mit einer übertriebenen Geste auf und läuft zu Farber. »Den Hennessy haben die Schweizer ausgegeben. Die reden ganz lustig. Ach so, und es sind noch 100 Euro offen, gib sie einfach dem Kellner. Der weiß Bescheid.«

»Mach ich.« Farber dreht sich auf der Stelle um. Verlässt den Raum und geht zur Bar, hinter welcher der Kellner steht und ihn mitleidig anguckt. »Da ist noch was offen, oder?«

In ruhigem Ton antwortet der Kellner: »Hmm, einhundert. Noch einen Cognac oder Whisky? Geht aufs Haus.«

Farber legt das Geld auf den kirschfarbenen Tresen: »Cognac.« Er bekommt ein Glas Hennessy. VS.

»Steht für Very Special«, erklärt ihm der Kellner.

»Danke.« Farber betrachtet länger als notwendig die goldbraune Flüssigkeit und atmet länger als notwendig die alkoholischen Düfte ein. »Very very special«, murmelt er, dabei nicht nur an den Cognac denkend.

Nach 15 Minuten und einem weiteren Hennessy kommen Farbers Eltern lachend aus dem Zigarrenraum und fragen lautstark, ob alles geklärt sei. Farber starrt auf den Hintern der zweiten Bedienung hinter dem Tresen. Die schwarze eng anliegende Stoffhose hebt ihre weiblichen Rundungen hervor. Der Kellner antwortet höflich: »Vielen Dank. Es ist alles geklärt.«