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Ein Superstar. Eine Geheimagentin. Die Mission ihres Lebens.
Winter Young ist DIE neue internationale Sensation am Popmusikhimmel – mit einer Stimme wie Samt und einem Aussehen, für das andere morden würden. Seine Starpower bricht regelmäßig alle Rekorde und ausverkaufte Stadien sind für ihn an der Tagesordnung. Sydney Cossettes Leben hingegen könnte nicht unterschiedlicher sein. Denn sie ist Teil einer Elite-Undercovereinheit, der sie als jüngstes Mitglied aller Zeiten beigetreten ist. Doch als der Boss eines globalen Syndikats seiner Tochter ein Privatkonzert mit Winter schenkt, kreuzen sich ihre Wege. Denn Winter wird kurzerhand als Spion angeheuert – und Sydney ihm als Bodyguard an die Seite gestellt. Zum Glück ist Sydney offenbar der einzige Mensch auf der Welt, der gegen Winters Charme immun ist. Als ihre Mission die beiden einander näherbringt, muss sich Sydney jedoch eingestehen, dass Winter Young vielleicht doch mehr ist als nur ein hübsches Gesicht …
Liebe, Glamour und doppeltes Spiel – der romantische und actiongeladene Auftakt zur neuen Reihe von Bestsellerautorin Marie Lu!
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Seitenzahl: 481
MARIE LU
Aus dem Englischen von Yola Schmitz
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Quellen:
William Shakespeare: »Der Kaufmann von Venedig«,
1. Akt, 3. Szene; Übersetzung von Schlegel/Tieck
William Shakespeare: »Was ihr wollt«,
2. Akt, 5. Szene; Übersetzung von Schlegel/Tieck
Erstmals als cbt Taschenbuch Mai 2024
© 2023 für die deutschsprachige Ausgabe
cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Copyright © 2023 by Xiwei Lu. All rights reserved.
Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »Stars and Smoke« bei Roaring Brook Press, a division of Holtzbrinck Publishing Holdings Limited Partnership, New York
Aus dem Englischen von Yola Schmitz
Lektorat: Ulla Mothes
Umschlaggestaltung: Carolin Liepins, München, unter Verwendung eines Motivs von © Shutterstock.com (Tao Jiang)
sh · Herstellung: UK
Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss
ISBN 978-3-641-30920-6V003
www.cbj-verlag.de
Für euch, meine Leser:innen.
Vielen Dank für all die Liebe und Zuneigung, die ihr mir über die Jahre geschenkt habt. Ich hoffe, dieses Buch macht euch ebenso große Freude und dass wir noch viele Geschichten miteinander teilen werden.
Missionsprotokoll
Agent A: »Winter Young?«
Agent B: »Das habe ich doch gesagt.«
Agent A: »Du machst Witze.«
Agent B: »Glaubst du nicht, dass er das hinkriegt?«
Agent A: »Er ist ein Popstar, .«
Agent B: »Falsch: Er ist der größte Superstar der Welt.«
Agent A: »Solche Wortklauberei akzeptiere ich nur freitags.«
Agent B: »Ach, entspann dich, . Gibt es eine bessere Tarnung als Weltruhm? Der Junge ist genau, was die Mission braucht.«
Agent A: »Warum? Weil er einen Salto rückwärts machen kann?«
Agent B: »Weil er der Einzige ist, der uns da reinbringen kann.«
Agent A: »Er hat nicht die leiseste Ahnung von dem, was wir tun!«
Agent B: »Soll das nicht so sein? Wir haben eben unkonventionelle Agenten.«
Agent A: »Ich bezweifle, dass er diesen Job erledigt bekommt.«
Agent B: »Wir haben aber keine andere Wahl.«
Agent A: »Die CIA wird von der Idee überhaupt nicht begeistert sein.«
Agent B: »Wir sind die Group. Und die CIA ist von unseren Ideen nie begeistert. Trotzdem beauftragen sie uns immer wieder. Witzig, oder?«
Agent A: »Zum Totlachen.«
Agent B: »Habe ich also deinen Segen?«
Agent A: »Na gut. Aber du schuldest mir was.«
Agent B: »Was soll es diesmal sein?«
Agent A: »Das beste Abendessen in der Stadt.«
Agent B: »Orleana?«
Agent A: »Naka.«
Agent B: »Wenn ich bei Naka einen Tisch bekomme, dann kündige ich aber.«
Agent A: »Und ich kündige, wenn Winter Young den Auftrag erfolgreich erledigt.«
Wer Besessenheit erzeugt
Der Wagen, der sich an parkenden Autos vorbeischlängelte und dessen glatte Oberfläche im Vorbeifahren im hypnotisierenden Rhythmus der Straßenlaternen gestreift wurde, war nicht sonderlich auffällig.
Nur die beiden schwarzen SUVs, die ihm folgten und die mit Sicherheitspersonal besetzt waren, fielen auf. Die kleine Karawane näherte sich geräuschlos dem hinteren Teil des Stadions und umfuhr die Barrikaden davor, wo sich bereits neunzigtausend Fans in einer drängelnden Masse versammelt hatten.
Hinter den getönten Scheiben des ersten Wagens saß ein hagerer junger Mann, der, ein Bein über das andere geschlagen, das Kinn nachdenklich auf die Hand gestützt hatte und die Menschenmassen in der Ferne beobachtete.
Auf den ersten Blick fiel nicht auf, wie luxuriös er gekleidet war. Der schwarze Jogginganzug ohne Logos, den er trug, sah schlicht aus. Doch bei näherem Hinsehen erkannte man, wie sorgfältig alles ausgewählt war. Die handgenähten Details entlang der Säume, die feine Qualität des maßgeschneiderten Stoffes, die schmalen Ringe an seinen Fingern. Einer war mit winzigen schwarzen Diamanten besetzt, der andere aus Platin und mit seinem Logo graviert, einem stilisierten Kaninchenkopf, dessen Ohren zwei Hälften eines gebrochenen Herzens formten. Er trug seine Lieblingssneaker von Gucci, ein Geburtstagsgeschenk des Modehauses, und eine rosa getönte Fliegerbrille. Dieses Modell würde, eine Stunde nachdem er mit ihr in der Öffentlichkeit gesehen wurde, weltweit ausverkauft sein.
Auch wenn seine Kleidung nicht sofort Aufmerksamkeit auf sich zog, so doch alles andere an ihm.
Winter Young, der berühmteste Superstar der Welt, der junge Mann, über den alle redeten, war so schön, dass man kaum glauben konnte, dass es ihn wirklich gab. Er hatte eine leuchtende Ausstrahlung, die Leute drehten sich auf der Straße nach ihm um. Sein verwuscheltes Haar war so voll und schwarz, dass es im Licht blau schimmerte. Auf den linken Unterarm hatte er geometrische Formen tätowiert, die in einer Schlange endeten, deren Kopf sich um sein Handgelenk wand. Er hatte schmale, dunkle Augen mit langen schwarzen Wimpern. Seine Bewegungen waren geheimnisvoll und anmutig. Und innerhalb einer Sekunde konnte sein Gesichtsausdruck von schüchtern zu schelmisch wechseln. Aber es war mehr als das. Viele Menschen sahen objektiv hinreißend aus, doch dann gab es diese wenigen, diese strahlenden Sterne, die mit einer undefinierbaren Qualität so hell leuchteten, dass sie die Welt besessen machen konnten. Ein Blick genügte, um alles dafür zu tun, sie nie wieder aus den Augen zu verlieren.
Winter starrte auf die Fensterscheibe, beobachtete die Regentropfen auf dem Glas und die vielen verschiedenen Farben, die sich darin brachen. Er summte vor sich hin, experimentierte mit einem alternativen Übergang, sein Geist arbeitete an einer neuen Melodie. Neben ihm tippte seine Managerin auf ihr Telefon.
»Wenn Alice dich morgen früh um sechs Uhr dreißig für ein schnelles Fotoshooting einplant«, sagte sie, »reichen dir dann fünfzehn Minuten zum Frühstücken gegen fünf? Keine Antwort bedeutet Ja. Und vergiss nicht, den CEO von Elevate zurückzurufen. Miss Acombe möchte, dass du der Markenbotschafter für ihr kommendes Turnschuh-Redesign wirst. Oh, und wenn du nicht alle deine Auftritte in New York absolvieren willst, dann sag es mir lieber gleich.« Das Licht der Stadionscheinwerfer, das durch die getönten Scheiben des Wagens fiel, gab der dunklen Haut der Frau und ihrer Brille einen Grünstich. Ihr Tonfall war zwar durch den Regen gedämpft, ließ aber keinen Zweifel daran, dass sie es gewohnt war, Auseinandersetzungen mit ihm zu gewinnen. »Ricky Boulets Tourneeplan überschneidet sich mit deinem, und ich habe überhaupt keine Lust, mich eine Stunde lang mit seinem Manager darüber zu streiten, warum wir …«, ihre Stimme klang jetzt übertrieben und sie verdrehte die Augen, »… ihm das Wochenende stehlen.«
»Lass uns alle Auftritte machen«, sagte Winter immer noch zum Fenster gerichtet.
Claire schaute skeptisch von ihrem Telefon auf. »Niemand spielt vier aufeinanderfolgende Tage in New York.«
Ohne sie anzusehen, hob er eine Hand. »Du weißt, dass wir alle Konzerte ausverkauft bekommen.«
Sie schlug das Angebot eines High-Five mit einer abwehrenden Geste aus. »Es geht mir nicht um deine Starpower, sondern um deine Gesundheit. Ich will nicht noch einmal erleben müssen, dass du auf der Bühne zusammenbrichst.«
Endlich wandte sich Winter ihr zu und schenkte ihr ein schiefes Lächeln. »Fünf Jahre und du hast immer noch kein Vertrauen in mich.«
»Überhaupt keins. Hast du heute überhaupt etwas zu Mittag gegessen?«
»Zählen drei Churros?«
Ihr Gesichtsausdruck wurde ernst und sie trat ihm mit dem Stiefel leicht gegen das Bein. »Winter Young. Ich habe dir extra Sandwiches mitgebracht, damit du nicht nur Süßkram isst.«
Er lehnte den Kopf an den Sitz und schloss die Augen. »Wie kannst du es wagen? Churros sind vollwertiges Essen, und ich lasse keine üble Nachrede zu.«
Sie seufzte und gab sich geschlagen. »Ich wünschte, du würdest weniger arbeiten und dich auch einmal um dich selbst kümmern. Geh wandern. Geh auf ein Date. Hab wenigstens einen Flirt. Soll ich die Agenten von irgendwem für dich anrufen?«
Der Vorschlag verärgerte ihn. Sie hatten dieses Gespräch schon einmal geführt, und er hatte keine Lust, sich wieder zu rechtfertigen. Nach zu vielen belanglosen Nächten konnte er damit nichts mehr anfangen. Und die Vorstellung, jemanden durch den ganzen Schlamm zu ziehen, der mit einer Beziehung zu ihm verbunden war, ließ Winter erschaudern. Bei seiner letzten Trennung hatte ihm seine damalige Freundin gesagt, dass der Medienzirkus es unmöglich machte, ihn zu daten.
Aber jetzt zuckte er nur mit den Schultern und sagte zu Claire: »Es gibt niemanden, der mich interessiert.«
»Willst du damit sagen, dass du der interessanteste Mensch der Welt bist?«
»So lange, bis das Gegenteil bewiesen ist.«
»Ich glaube, das Gegenteil wurde unter uns bereits mehrfach bewiesen.«
Winter legte sich scheinbar schockiert eine Hand aufs Herz.
»Außerdem«, fuhr sie fort, »geht es gar nicht darum. Es geht um kostenlose Publicity und ein bisschen Spaß.«
»Wirklich? Ich dachte, es ginge um die Liebe.«
»Ach, Winter.« Claire schüttelte den Kopf. »Neunzehn Jahre alt, und schon hast du den Glauben an die Liebe verloren.«
»Ich habe eben von der Besten gelernt. Bist du mit jemandem ausgegangen, seit du dich von dieser Redakteurin getrennt hast?«
Claire schnaubte. »Susan und ich haben uns genau genommen nicht getrennt.«
Winter warf ihr einen spöttischen Blick zu. »Stimmt. Ihr habt nur seit zwei Jahren nicht mehr miteinander gesprochen.«
»Hör auf, das Thema zu wechseln. Wir versuchen, dein Liebesleben in Ordnung zu bringen.«
Er lächelte sie verschmitzt an. »Aber ich liebe doch nur dich.«
Sie winkte ab. »Merkst du eigentlich, welchen Charme du hier versprühst? Warum machst du ihn dir nicht zunutze?«
Winter konnte sich ein Lachen nicht verkneifen. Einst war er nur ein unbeholfen aussehender, unbeliebter Highschool-Neuling mit schlaksigen Gliedmaßen und einem schlechten Haarschnitt gewesen. Er hatte seine Mittagspause allein damit verbracht, in der leeren Turnhalle nach dem Unterricht Tanzschritte zu proben, Melodien aufzuschreiben und einen großen Traum zu verfolgen. Dann bekam er einen Gig als Backgroundtänzer für Ricky Boulet. Damals war er noch der begehrteste Star der Welt. Winters Auftritt bei Rickys Eröffnungskonzert war so beeindruckend gewesen, dass sich ein Video davon über Nacht viral verbreitet hatte.
Claire, damals eine ehrgeizige junge Mitarbeiterin in einer Agentur, hatte sein Potenzial erkannt und ihn am nächsten Morgen angerufen, um ihn sich zu schnappen, bevor es jemand anderes tun konnte. Er war der Aufsteiger des Jahrzehnts, und sie war der Kompass für seinen Erfolg. Die beiden hatten gemeinsam Karriere gemacht, als das Leben ihn vom Backgroundtänzer über einen Plattenvertrag zu einem der größten Popstars der Geschichte katapultiert hatte.
Eines Tages wirst du berühmt sein, hatte ihm sein älterer Bruder Artie eingeschärft, als Winter erst zwölf Jahre alt war und gerade begonnen hatte, Songs zu schreiben.
Winter hatte nur gelacht. Du bist so optimistisch.
Optimismus ist meine geheime Superkraft, hatte Artie lächelnd erwidert und ihn direkt angesehen. Da ist eine Unruhe in dir. Die Überzeugung, dass du zu Größerem bestimmt bist.
Winter spielte gedankenverloren an seinem Telefon herum. Es dauerte einen Moment, bis er merkte, dass er es sperrte und entsperrte, dann den Namen seines Bruders aufrief und das Telefonbuch wieder schloss.
Artemis Young.
Während Winter auf sein Telefon starrte, kam die Erinnerung an ihren letzten gemeinsamen Tag zurück. Zwei Brüder, zwölf Jahre auseinander, die am Rande eines Piers saßen und zusahen, wie die Sonne im Meer versank. Das Salz und der Wind zerzausten ihnen das Haar. Am Riesenrad in der Ferne leuchteten blaue und gelbe Lichter, die Farben spiegelten sich auf ihren Gesichtern wider. Er konnte das Meer noch immer riechen, er konnte sich daran erinnern, wie er das Profil seines Bruders angestarrt und sich von ganzem Herzen gewünscht hatte, dass Artie am nächsten Morgen nicht wieder abreisen würde.
Verbringe nicht dein ganzes Leben auf der Suche, okay, hatte Artie zu ihm gesagt. Die Augen seines Bruders waren rund und dunkel, wohingegen Winters schmal waren, und er hatte gewelltes schwarzes Haar, das ihm über die Brauen hing. Er sah so anders aus als Winter, dass niemand auf die Idee gekommen wäre, sie seien verwandt.
Wie meinst du das, hatte Winter gefragt.
Manchmal hat man schon, was man will. Man weiß es nur noch nicht.
Winter hatte genickt, ohne wirklich zuzustimmen. Seinem Bruder fiel es leicht, so etwas zu sagen. Artie war der von langer Hand geplante Sohn, der Liebling, der aus Moms erster Ehe stammte. Winter war der Unfall, der Nachtrag, der Fehler aus ihrer zweiten Ehe. Vielleicht war es das, was Artie glauben ließ, Winter würde eines Tages berühmt werden. Er wusste, dass Winter sich nach Aufmerksamkeit sehnte, dass er sich die ganze Zeit nach Liebe sehnte, dass er sie bis ans Ende der Welt suchen würde. Artie hatte das verstanden und bedauerte ihn dafür.
Winter hatte damals mit den Schultern gezuckt. Ich will nur so sein wie du, hatte er zu Artie gesagt.
Artie hatte gelacht, ein satter, kehliger Klang, den Winter immer zu kopieren versuchte. Sei wie du selbst, Winter. Sei gut.
Artie war beim Friedenskorps gewesen und gestorben. Winter war ein seichter Superstar geworden und am Leben. Am Ende gewann nie das Gute.
Die Erinnerung verblasste zusammen mit den Melodien, an denen er in Gedanken gearbeitet hatte. Winter legte das Telefon weg und schüttelte die Hand aus. Trotzdem juckte es ihm in den Fingern. Er wusste nicht, warum er die Nummer seines Bruders behalten hatte. Artie war tot. Es würde nur ein Fremder abheben.
Schließlich hielt ihr Auto am Hintereingang des Stadions. Ein Team von Bodyguards war bereits vor den Absperrungen postiert, aber das hatte die riesige Flut von Bewunderern, die sich auf beiden Seiten des Weges vom Auto zum Stadioneingang drängte, nicht abgeschreckt. Es mussten Hunderte von Menschen hier sein. Er erkannte einige der Schilder, die sie hochhielten, wieder, einige der Fans waren beim Soundcheck am Vortag schon da gewesen.
»Kopf hoch«, sagte Claire zu Winter, als sie sich beide aufrichteten. »Du wirst das Publikum begeistern.«
Winter schob seine Gedanken wie einen dünnen Vorhang beiseite, erinnerte sich daran, wer er war und was die Leute von ihm erwarteten. Er holte tief Atem und zwinkerte Claire zu. »Das tue ich doch immer«, erwiderte er.
Die beiden stießen mit den Fäusten aneinander. Dann öffnete von draußen ein Bodyguard die Tür, und Claire wandte sich von Winter ab, um aus dem Auto zu steigen.
Die Menge jubelte bei ihrem vertrauten Anblick, denn jeder wusste, was ihre Ankunft bedeutete. Dann, als Winter ausstieg, verwandelte sich der Jubel in wildes Geschrei.
Kalter Regen schlug ihm ins Gesicht. Als ihn das grelle Blitzlichtgewitter traf, warf er einen flüchtigen Blick in die Menge und sah, dass ein Meer von Telefonen auf ihn gerichtet war. Frenetische Rufe durchdrangen das Chaos.
»Winter! Oh mein Gott, oh mein Gott! WINTER!«
»WINTER!!!«
»HIER, WINTER!!«
»ICHLIEBEDICH, WINTER!!!«
Seine Fans hatten offensichtlich seit Stunden gewartet, ihre Haare waren vom Regen durchnässt. Sie winkten ihm verzweifelt zu, als seine Leibwächter ihn den Weg entlangführten, und kreischten, als er seine Finger für einen schnellen Kuss an die Lippen legte.
Plakate und Banner umzingelten ihn, verzweifelt griffen Hände nach ihm, als er durch die Menge ging. Das Dutzend Sicherheitskräfte versuchte sie zurückzudrängen, aber Winter ging dennoch am Rand der Absperrung vorbei und zwang seine Entourage zum Anhalten, damit er ein paar eilige Autogramme auf einige der Plakate kritzeln konnte. Er wollte gerade ein Schild für ein kleines Mädchen signieren, als ihn einer seiner Bodyguards wegzog.
»Gehen wir weiter, Mr Young«, sagte er kopfschüttelnd.
Winter warf dem Mädchen einen entschuldigenden Blick zu, als er in Richtung Eingang geführt wurde. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, hörte der Lärm des Regens und der Rufe abrupt auf.
Vor ihm wurde Claire langsamer und warf ihm einen missbilligenden Blick zu. »Wir haben doch besprochen, dass wir das nicht mehr machen«, sagte sie. »Ich weiß, du denkst, es sind nur ein paar Unterschriften, aber es ist nicht sicher.«
Winter runzelte die Stirn. »Komm schon. Sie stehen schon seit Stunden im Regen. Können wir nicht wenigstens ein Zelt für sie aufstellen?«
»Ich kümmere mich darum«, rief Claire ihm über die Schulter zu, und eilte einen Gang entlang.
Winter kramte ein kleines Notizbuch aus seiner Hosentasche. Er trug seine Sammlung hingekritzelter Texte und halb fertiger Melodien, Worte, die er schön fand, und Refrains, die er mit seinen Produzenten durchgehen wollte, immer bei sich. Jetzt warf er eilig ein Autogramm auf ein leeres Blatt, riss es heraus und reichte es einem seiner Bodyguards.
»Für das kleine Mädchen in dem blauen Regenmantel, das da draußen gewartet hat«, erklärte er. »Bitte.«
Der Leibwächter schenkte ihm ein schmales Lächeln, nickte und nahm das Papier an sich.
Winter sah ihm mit trockener Kehle nach. Vor nicht allzu langer Zeit hatte er es sich noch leisten können, sich stundenlang mit seinen Fans zu unterhalten, mit einem nach dem anderen, und sie mit dem Gefühl zurückzulassen, durch ihre Liebe gestärkt worden zu sein. Er konnte sich nicht mehr genau erinnern, wann er zu dieser gehetzten, seelenlosen Routine übergegangen war. Er schaute noch zu, bis sein Bodyguard um die Ecke verschwand, dann folgte er Claire den Flur hinunter.
Sie erreichten den Greenroom, einen Raum, der mit Schminkstühlen und einem Tisch mit Snacks vollgestopft war, wo Claire ihn schließlich allein zurückließ. Winter machte ein paar schnelle Dehnübungen, bis sich seine Muskeln warm und locker anfühlten. Dann stöberte er halbherzig auf dem Snacktisch herum. Sein Magen knurrte. Claire hatte recht, er hätte mehr als nur Churros essen sollen, aber jetzt war es zu spät, und er wollte keinen Magenkrampf riskieren.
Gerade hatte er seinen Blick von dem Teller mit den Croissants und den Sandwiches lösen können, da stieß ihm jemand grob in die Rippen. Er ächzte und sah zur Seite. Dort stand ein gut aussehender brauner Typ mit einem Stirnband, das seinen Schopf aus üppigen dunklen Locken zurückhielt. Er starrte auf den Keksteller. Leo.
»Wenn du schon nichts nimmst«, sagte er, »kannst du dann wenigstens zur Seite gehen, damit ich drankomme?«
Winter verdrehte die Augen und machte einen Schritt zurück. »Meinst du nicht, du solltest ein bisschen früher essen? In einer Stunde geht es los.«
Leo trat an den Tisch, nahm sich einen Keks und schob sich die Hälfte in den Mund. Dann antwortete er. »Von dir muss ich mir zum Thema Essen wirklich nichts sagen lassen«, antwortete er. Gerade wollte er sich die Hände an seinem Hemd abwischen, als ihm einfiel, dass er bereits seine Bühnenkleidung und Make-up trug. Einen Moment überlegte er, dann wischte er die Hände an einem großen schwarzen Mann ab, der gerade an ihnen vorbeiging. Dameon.
Dameon sah Leo entsetzt an. »Ernsthaft?«
Leo zuckte mit den Schultern. »Du bist ja noch nicht umgezogen.«
»Das Hemd mag ich aber trotzdem.« Dameon schüttelte den Kopf und betrachtete mit schwingenden Dreadlocks den Fettfleck, den Leo auf seinem Ärmel hinterlassen hatte. Dann sah er zu Winter. Selbst kurz vor einem Konzert hatte Dameon eine Gelassenheit an sich, die Winter als enorm beruhigend empfand. »Ich gehe jetzt in den Übungsraum. Willst du noch einen Durchgang machen, bevor wir rausgehen?«
Winter wandte seufzend den Blick vom Snacktisch ab und schüttelte den Kopf. »Nein, ich muss mich noch umziehen«, antwortete er. »Geht ihr schon mal vor.«
Leo legte Dameon beim Gehen eine Hand auf die Schulter. »Wie viele Durchgänge brauchst du, bis du zufrieden bist?«
Dameon zuckte mit den Schultern. »Bis du nicht mehr immer einen halben Takt zu spät bist.« Er blickte zurück zu Winter und lächelte ihn an. »Wir sehen uns da draußen.«
Winter winkte ihnen zu und sah ihnen einen Moment lang nach. Dann brach das reinste Chaos aus. Stylisten und Garderobieren flatterten um ihn herum und verwandelten seine lässige Erscheinung mithilfe des ersten Bühnenensembles in eine schillernde. Selbst in dem entlegenen Raum, weit entfernt vom Zentrum des Stadions, konnte Winter das Beben des Applauses und die Rufe seiner Fans spüren, hörte die sporadischen Wellen ihres Jubels.
Endlich kam der Aufruf. Winters Bodyguards verteilten sich vor und hinter ihm, während er den Gang hinunterging, seinen Ohrhörer einstellte und das kleine Mikrofon an den Mund bog. Schon jetzt fachte der spannungsgeladene Puls der Fans in der Arena das Feuer in ihm an und gab ihm die Kraft zurück, die er noch vor einer Stunde nicht zu haben glaubte. Seine Schritte wurden selbstsicherer, und seine junge, unsichere Seite – er, wie er vor all den Jahren auf dem Pier gesessen und mit Artie gelacht hatte – trat hinter die sorgfältig ausgearbeitete Erscheinung zurück, die der Rest der Welt sah. Ein verführerisches Lächeln, ein geübtes Augenblinzeln, der beschwingte Gang, seine Figur, die sich mit hypnotischer Anmut bewegte.
In der Arena schwoll die Musik an, die Beats der Bässe waren so stark, dass sie den Boden erschütterten. Die Schreie der Fans wurden lauter und leiser. Winter duckte sich vorsichtig unter dem Gitterwerk unter der Bühne hindurch, bis er den ihm zugewiesenen Platz erreichte. Dort ging er in die Hocke, und Bühnenarbeiter schnallten ihn eilig in eine Reihe von Gurten. Gehorsam befolgte er ihre Anweisungen, bewegte seine Gliedmaßen, wie sie es verlangten, und überprüfte seine Geräte, um sicherzustellen, dass sie funktionierten. Jeder Schritt war wie schon seit Jahren derselbe. Er arbeitete mechanisch, ohne nachzudenken.
Endlich entfernte sich sein Team und ließ ihn allein zurück. Er senkte den Kopf und bereitete sich vor.
Dann erklang der Rhythmus, der sein Stichwort ankündigte.
Die Plattform, auf der er kauerte, setzte sich in Bewegung und hob ihn auf die Hauptbühne.
Das Publikum brach in Jubel aus. Die Gurte um Winters Arme und Beine wurden plötzlich hochgezogen, und Winter wirbelte in die Luft. Als der Beat abebbte, fielen die Gurte mit ihm. Winter landete leichtfüßig vor seinen Backgroundtänzern, die bereits auf der Hauptbühne hinter einer riesigen neonbeleuchteten Skulptur seines Kaninchenlogos standen.
Die Menge kreischte vor Begeisterung. Um die Flut der Liebe aufzusaugen, die ihn umgab, schloss Winter die Augen und atmete tief ein. Das war es, wonach er sich wirklich sehnte, der einzige Moment, in dem er eine echte, leidenschaftliche Verbindung zur Welt verspürte, doch sie wurde nie gestillt.
Er hob eine Hand zum Himmel.
»Seid ihr bereit?«, rief er aus voller Kehle.
Die Menge antwortete mit derselben Inbrunst. Winter hob den Kopf, seine Gestalt erschien gespenstisch inmitten von Rauch und Nebel auf der Bühne, dann stürzte er sich in den ersten Song.
* * *
Wie immer nahm er alles danach wie im Rausch wahr. Sobald er von der Bühne trat, scharten sich ein Dutzend Menschen um ihn. Er lächelte abwesend, während ihm Hände auf die Schulter klopften, und bedankte sich bei der Crew, die ihm die Gurte vom Körper löste. Nach dem Konzert war er wie benebelt, konnte sich kaum rühren. Der Boden bebte, als die Arena noch lange nach seinem Abgang jubelte und die Fans in spontane Gesänge ausbrachen.
Die Show war gut gelaufen. Das freute ihn, auch wenn er bereits spürte, wie der Rausch aus seinen Gliedern sickerte und einer bleiernen Erschöpfung wich. Als er dem Begleitteam durch denselben Korridor wie Stunden zuvor folgte, wurde das Dröhnen des Stadions immer leiser, bis es nur noch wie ein Hintergrundgeräusch zum Klappern seiner Absätze klang.
Claire war jetzt wieder an seiner Seite. Er konnte sich nicht erinnern, wann sie wieder zu ihm gestoßen war. Sie lächelte ihn an, aber in ihrem Blick konnte er Besorgnis sehen. Sie wusste, wie es ihm nach Konzerten ging.
»Das war legendär«, gratulierte sie ihm. Sie legte ihre kühlen Finger um einen seiner Arme und führte ihn den Flur entlang.
»War sie da?«, fragte er.
Claire sah ihn an und schüttelte dann den Kopf. Sie musste nicht fragen, um zu wissen, dass er seine Mutter meinte.
Winter nickte mit ausdrucksloser Miene. »Kannst du jemanden schicken, der schaut, ob sie sicher zu Hause ist und nicht an irgendeinem Flughafen festsitzt?«
»Ich kümmere mich darum«, versicherte Claire. Die Tänzer kamen von der Bühne und jubelten Winter zu, als sie ihn sahen. Dameon und Leo gaben ihm im Vorbeigehen High-Five.
»Abendessen bei dir im Zimmer!«, rief Leo. »Wir kaufen den ganzen Champagner des Hotels auf.«
Dameon lächelte etwas verhaltener. Er sah Winter nach und studierte ihn in seiner ruhigen Art. Er schien Winters Gesichtsausdruck zu bemerken, so wie er immer alles an Winter bemerkte, es aber nicht kommentierte.
»Lass dir Zeit«, rief er Winter zu.
Winter sah ihm einen Moment lang dankbar in die Augen. Dann waren Dameon und Leo verschwunden und bewegten sich mit dem Strom der Leute den Flur hinunter zum Hinterausgang. Winter folgte Claire in den Greenroom.
»Nimm dir etwas Zeit für dich«, sagte sie zu ihm. »Aber ich möchte, dass du hier rauskommst, bevor wir die Tore öffnen. Zehn Minuten, höchstens. Okay?«
Er schenkte ihr ein Grinsen und wischte sich die Stirn ab. Er wusste nicht einmal, wer ihm ein Handtuch in die Hand gedrückt hatte. »Verstanden.«
Sie fasste ihm fest ans Kinn und schüttelte es leicht. »Und iss um Himmels willen was.«
»Versprochen«, antwortete er, dann ließ sie ihn los und wieder allein.
Der Greenroom war jetzt leer. Winter schlenderte durch den Raum, vorbei am Tisch und den leeren Schminkstühlen. Die Stille war überwältigend nach dem Geschrei von Zehntausenden von Menschen.
In etwa einer Stunde würden die Schlagzeilen wie immer die gleichen sein. Wie sein neues Konzert gewesen war. Wie er ausgesehen und welche Outfits er getragen hatte. Neben den Nachrichten über Krieg und Proteste würde es auch darum gehen, wie viele Tausende von Dollar die Tickets für seine bevorstehende Tournee beim Wiederverkauf einbringen würden. Er würde bei einem späten Abendessen mit Dameon und Leo zusammensitzen und die besten Momente des Konzerts Revue passieren lassen. Dann würde er wieder wach liegen, allein und lustlos, und spüren, wie seine Seele schwach im Takt seines Pulses schlug.
Er lehnte sich an einen der Schminkstühle und senkte den Kopf. Schweißnasse Haarsträhnen hingen ihm in die Augen. Aus irgendeinem Grund musste er wieder an die durchnässten Fans denken, die vor dem Seiteneingang gestanden und darauf gewartet hatten, dass er aus dem Auto stieg. Er dachte an das kleine Mädchen, das im Regen gezittert hatte, nur um ein Stück Papier mit seiner Unterschrift zu ergattern.
Der letzte Text, den er in sein Notizbuch geschrieben hatte, hallte ihm im Kopf nach.
Denn was mache ich hier? Was machen wir alle hier?
Sie alle kamen zu ihm, gaben ihm ihr hart verdientes Geld und schenkten ihm dieses magische Leben. Was gab er ihnen im Gegenzug? Früher einmal hatte er das Gefühl gehabt, dass er ihnen etwas Wesentliches gab. Musik, seine Performance, sein Herz. Etwas, das ihnen half, die Sorgen zu vergessen, die ihr Leben plagten. Aber jetzt fühlte es sich weniger so an und mehr als … tja, er wusste es nicht. Sich ewig wiederholende Interviews und breite Absperrgitter. Meetings und Anwälte. Fans, die glaubten, ihn zu lieben, ihn aber gar nicht kennenlernen konnten. Ein nicht enden wollender Zyklus von Routinen. Aufwachen, auftauchen, aufhübschen. Posieren. Antworten auf dieselben Fragen aufsagen. Lächeln für die immer gleichen Fotos. Essen und schlafen in Hotelzimmern.
Und die Liebe, die er brauchte, um zu wachsen, um zu überleben, fühlte sich von Tag zu Tag weiter entfernt an. Waren seine Schöpfungen noch Schöpfungen, ein Ausdruck der Liebe? Oder war das alles nur noch Geschäft? War er es wert, von der Welt so bewundert zu werden? Verdiente er ihre Liebe, nach der er sich so verzweifelt sehnte?
Er war sich nie sicher. Genauso wenig wusste er, ob seine Mutter sich noch an seine Existenz erinnerte, oder ob sie ihre Medikamente einnahm, oder ob sie stolz auf seine Erfolge war, oder ob sie ihn liebte.
Und er wusste nicht, warum sein Bruder hatte sterben müssen.
Ach, Winter, hatte Artie einmal liebevoll nach einer Absage zu ihm gesagt. Man muss nicht berühmt sein, um etwas wert zu sein.
Aber Winter wusste nicht, wie man etwas wert sein konnte, ohne berühmt zu sein.
Artie hatte sein Leben für etwas gegeben, das die Welt besser gemacht hatte. Was trug Winter dazu bei?
Auf einmal ertrug er es nicht mehr. Das Hochgefühl des Konzerts war verflogen und hinterließ nur noch Erschöpfung. Die Unruhe, die schon immer in ihm gebrannt hatte, schmerzte jetzt und zog ihn unaufhörlich zu einer unerreichbaren Version seiner selbst, die einen besseren Menschen darstellte als der, der er jetzt war.
Wenn er bloß so sein könnte, dann wäre er etwas wert.
Aber das gelang ihm nicht. Also wollte er sich nur noch in ein Hotelzimmer zurückziehen. Vielleicht würde er auch das Abendessen mit den Jungs sausen lassen. Claire hatte zehn Minuten gesagt, er sah auf die Uhr an der Wand.
»Fünf Minuten«, murmelte er.
Das musste reichen. Wie er sie kannte, standen die Autos wahrscheinlich ohnehin schon früher für ihn bereit. Er richtete sich auf und fuhr sich mit der Hand durch das wirre Haar, dann ging er hinaus auf den Gang und weg von der Bühne in der Arena.
Seine Leibwächter waren noch nicht zu sehen. Vielleicht war er zu früh dran, und sie warteten alle irgendwo in der Nähe des Hintereingangs. Er ging allein den Korridor hinunter, bis er die kleine, unscheinbare Seitentür erreichte, die hinausführte.
Winter trat in die kühle, feuchte Nacht. Sein Blick fiel sofort auf einen schnittigen schwarzen SUV, der direkt am Eingang parkte. Als er darauf zuging, öffnete sich die Tür des Wagens automatisch und gab den Blick auf ein vornehmes Interieur frei.
Winter stieß dankbar einen kleinen Seufzer aus, als er hineinschlüpfte. Claire musste die Autos während des Konzerts aufgerüstet haben. Dieses hatte getönte Scheiben, auf denen gerade ein beruhigendes Video mit einer Meeresszene lief, das hatte sein anderes Auto definitiv nicht zu bieten gehabt. Außerdem hatte es neue Ledersitze, die bereits auf eine angenehme Temperatur geheizt waren.
Automatisch schloss sich die Tür, nachdem er eingestiegen war. Dann fuhr der Wagen los.
Da merkte er, dass etwas nicht stimmte. Die Frau, die im Zwielicht neben ihm saß, war nicht Claire. Und den Fahrer erkannte er auch nicht.
Winter blinzelte. »Bin ich im falschen Wagen?«, fragte er.
»Das ist genau der richtige Wagen«, antwortete die Frau.
Und in diesem Moment wurde Winter klar, dass er gerade entführt wurde.
Die im Schatten wandeln
Es dauerte einen weiteren Moment, bis Winter endgültig davon überzeugt war, dass er keine voreiligen Schlüsse gezogen hatte. Er war schon in viele schwarze SUVs eingestiegen, deren Fahrer er nicht kannte oder die aus irgendeinem Grund schnell wegfahren mussten. Claire hatte nicht immer die Zeit, ihm alles zu erklären, und im Laufe der Jahre hatte er einfach gelernt, erst einzusteigen und dann Fragen zu stellen.
Vielleicht gab es auch hierfür eine Erklärung.
Aber irgendetwas an diesem Fahrer und der Frau in dem makellosen Anzug schien anders zu sein. Winter spürte, wie sein sechster Sinn ihm die Nackenhaare sträubte.
»Fahren wir zurück zum Hotel?«, wollte er von den beiden wissen.
Sie antworteten ihm nicht. Die beruhigenden Meeresvideos liefen weiter über die Fenster und gaben ihm die Illusion, an einer Mittelmeerküste entlangzufahren. Nur die Windschutzscheibe blieb frei. Sie fuhren zur falschen Ausfahrt.
»Halten Sie bitte an«, sagte Winter also.
Keine Antwort.
Jetzt wusste er, dass er in Schwierigkeiten steckte. Sein ganzes Leben lang hatte keiner seiner Fahrer jemals nicht getan, was er verlangte. Aber der Fahrer fuhr einfach weiter, den Blick auf die Tore am anderen Ende des Stadiongeländes gerichtet. Die Brauen des Mannes waren so dunkel und buschig, dass sie seine Augen ganz zu verdecken drohten.
»Halten Sie den Wagen an«, forderte Winter erneut, diesmal nachdrücklicher. »Und lassen Sie mich sofort raus.«
»Ich fürchte, das geht nicht, Mr Young«, erwiderte der Fahrer über die Schulter, und das Straßenlicht zeichnete die Stoppel seines kurzen Barts nach.
Ich werde entführt. Jetzt ist es so weit. Der Gedanke durchfuhr Winter wie ein Strom aus Eis. Diese Möglichkeit bestand immer und war der wahre Grund, warum Claire ständig paranoid um seine Sicherheit besorgt war. Er konnte das Blut in den Ohren pochen hören. War das der Grund, warum keiner seiner Leibwächter in der Nähe gewesen war? Hatten diese Leute ihnen etwas angetan?
»Und warum nicht?«, fragte Winter so ruhig, wie er konnte. Dabei fuhr er mit der Hand an der Tür entlang auf der Suche nach dem Griff.
»Die Türen sind alle von der Fahrerseite aus automatisch verriegelt«, erklärte die Frau, die neben ihm saß. Sie strich mit der Hand leicht über die Seite ihres blauen Hijabs und betrachtete ihn dann aus einem Paar ruhiger, tief liegender Augen.
Winter hielt inne und griff stattdessen nach seinem Telefon, bereit, die Notruffunktion auszulösen. »Wenn Sie Lösegeld wollen«, sagte er leise, »kontaktieren Sie meine Managerin. Aber ich warne Sie. Claire wird nicht erfreut sein, das zu hören, und mit ihr ist nicht zu scherzen.«
»Wir sind nicht auf Lösegeld aus. Es geht uns nicht um Geld, Mr Young.« Die Frau deutete auf seine Hand. »Lassen Sie Ihr Handy stecken. Es wird hier sowieso nicht funktionieren. Das ist nur ein AK.«
Winter gab die Suche nach seinem Telefon auf. »Ein was?«, fragte er.
Sie winkte genervt mit der Hand. »Ein Abholkomitee. Eine Besprechung. Es wird nur ein paar Minuten dauern.«
Jetzt klang sie weniger nach einer Entführerin als nach … einer Anwältin. Winter sah sie verärgert an, sein Missmut stieg. »Ein paar Minuten? Was zum Teufel ist hier los? Wer sind Sie?«
Sie hatten das Stadiontor durchquert und fuhren die Straße hinauf. Die Frau griff in ihre Tasche und holte etwas heraus. Winter verkrampfte sich und überlegte kurz, ob er ihr eine Waffe aus der Hand reißen müsste, doch dann hielt die Frau einen Ausweis in die Höhe und klappte ihn auf.
»Sauda Nazari, Panacea Group«, stellte sie sich vor. Winter schüttelte den Kopf. Sein Herz hämmerte ihm immer noch in den Ohren, er blinzelte und versuchte, sich einen Reim auf die Situation zu machen. »Was?«
»Die Panacea Group. Panacea bedeutet …«
»Ich weiß, was Panacea bedeutet«, schnauzte Winter. »Was soll das? Wer sind Sie, eine Art CIA-Agentin?«
Der Mann vorn schnaubte. »Fast. Aber gut geraten.«
Winter schüttelte den Kopf. Das wurde immer verwirrender.
»Die CIA heuert uns für die Jobs an, die sie nicht selbst machen wollen«, erklärte Sauda.
»Ich kann Ihre Witze jetzt wirklich nicht gebrauchen.«
Sie sah ihn an. »Mache ich den Eindruck, ein Witzbold zu sein, Mr Young?«
Er starrte sie an, bevor sie schließlich ihren Blick abwandte und zur Windschutzscheibe sah. Vorn seufzte der Mann.
»Was habe ich gesagt?«, brummte er. »Wir haben noch Zeit, ihn zum Stadion zurückzubringen. Sollen wir ihn einfach absetzen und jemand anderen mitnehmen?«
»Gib ihm einen Augenblick, Niall.« Sie sah den Mann durch den Rückspiegel an und schenkte ihm ein kleines, gewinnendes Lächeln. »Bitte, mir zuliebe.«
Er murmelte etwas Unverständliches, schwieg dann aber.
Sie wandte sich wieder Winter zu. »Die CIA wendet sich an uns, wenn sie eine Mission nicht selber ausführen kann«, erklärte sie. »Die Panacea Group ist ein privates Unternehmen, und wir suchen nach unkonventionellen Agenten. Wir haben einen gewissen Spielraum, den unsere staatlichen Kollegen nicht haben. Weniger Bürokratie, bessere Finanzierung, wenn Sie so wollen. Wir sind in der Lage, schneller zu handeln. Also übernehmen wir alles, was der CIA durch die Lappen geht.«
»Sie meinen das wirklich ernst«, murmelte Winter.
»Das habe ich doch gesagt«, antwortete Sauda.
»Die CIA.«
»Die Panacea Group.«
»Panacea. Okay.« Winter rieb sich die Stirn. »Ist das Ihr Standardverfahren, Leute zu entführen, ohne ihnen zu sagen, worum es geht? Ist das legal? Denn ich hoffe, Sie wissen, dass in etwa einer halben Stunde mein Vermisstenstatus die Schlagzeile in allen Nachrichtensendungen der Welt sein wird.«
Sauda stützte die Arme auf die Knie. »Seien Sie versichert, Mr Young, sobald wir dieses Gespräch beendet haben, werden wir Sie dort absetzen, wo Sie hinwollen.«
»Und worum geht es in diesem Gespräch?«
»Wir brauchen Ihre Hilfe.«
Daraufhin brach Winter in schallendes Gelächter aus. »Okay. Das ist jetzt doch witzig.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn das einer von Claires Streichen ist, feuere ich sie, sobald ich aus dem Auto steige.«
Die Frau lachte nicht. Irgendwie brachte etwas in ihrem Gesichtsausdruck Winters Lachen zum Ersticken. Sie hatte eine Intensität, die Winter unter die Haut ging.
»Sie sind Winter Young«, stellte sie fest.
»Ja. Beeindruckende Spionagearbeit.«
»Wie Sie wissen, sind Sie einer der berühmtesten Superstars der Welt und haben eine große Fangemeinde.« Sie verschränkte die Arme. »Und wir sind an einem dieser Fans interessiert.«
Nun verschränkte auch Winter die Arme. »Ach ja?«
»In den letzten Jahren haben wir die Aktivitäten von Eli Morrison verfolgt. Wissen Sie, wer das ist?«
Der Name kam Winter vage bekannt vor. »Nicht wirklich«, gestand er.
»Eli Morrison ist einer der reichsten Männer der Welt«, erklärte Sauda. »Dank seines Reedereiimperiums ist er siebenunddreißig Milliarden schwer. Die CIA hat in der Vergangenheit versucht, ihn zu verhaften, allerdings mit wenig Erfolg.«
»Ich wusste nicht, dass der Vertrieb von Dingen illegal ist.«
»Von manchen Dingen schon. Zum Beispiel von Drogen. Und Waffen. Und Menschen.« Ihr Lächeln wurde noch grimmiger. »Wir nennen das Menschenhandel.«
»Was zum Teufel hat das mit mir zu tun?«
Sauda sah unbeeindruckt aus. »Morrisons Tochter, sein einziges Kind und sein Augenstern, wird demnächst neunzehn. Ihr Vater plant eine mehrtägige Feier, die – verzeihen Sie mir die Genauigkeit des Zitats – ›jede scheiß Geburtstagsparty in den Schatten stellen wird, die je jemand gefeiert hat‹.« Sie nickte ihm zu. »Und sie ist Ihr größter Fan.«
Winter fiel ein Stein vom Herzen. »Das höre ich oft«, murmelte er.
»Ich glaube, sie meint es wirklich ernst«, sprach Sauda weiter. »In etwa acht Stunden werden Morrisons Leute sich an Sie und Ihre Managerin wenden. Sie werden Ihnen anbieten, ein Privatkonzert für die Feierlichkeiten zu veranstalten.«
Für die Tochter eines kriminellen Tycoons aufzutreten. Das war mal etwas Neues. »Wo?«, fragte er. Seine Kehle wurde trocken. »Wann?«
»In einem Monat«, erklärte sie, »in London. Er lässt zehntausend Gäste einfliegen, alle mit seiner Flotte von Privatflugzeugen.«
»Heilige Scheiße.«
»Ich sagte doch, es wird eine größere Party.« Sie zuckte mit den Schultern. »Wie Sie sich vorstellen können, werden die Sicherheitsvorkehrungen in dieser Woche extrem hoch sein.«
Er sah zwischen ihr und Niall hin und her. »Sie wollen mich einschleusen?«
»Wir wollen Sie einschleusen«, bestätigte sie. »Sie sollen an dieser Woche exklusiver Veranstaltungen teilnehmen.«
»Um was genau zu tun?«
»Um uns zu helfen, ein entscheidendes Beweisstück zu bekommen, das wir brauchen, um Eli Morrison zu verhaften.«
Winter hob eine Augenbraue. »Ist das alles?«
Sie lächelte ein wenig. »Sie werden nicht irgendein Gast sein, Winter, Sie werden auf persönliche Einladung von Eli Morrisons Tochter dort sein, dem wichtigsten Menschen auf der Welt für ihn. Sie werden wahrscheinlich jeden Abend neben ihr und ihrem Vater beim Abendessen sitzen und zu jeder privaten Party nach den Hauptveranstaltungen eingeladen werden. So eine Gelegenheit bekommt man nicht alle Tage.«
Winter lehnte sich im Sitz zurück. »Nein danke«, sagte er.
Daraufhin verengten sich die Augen der Frau. »Mr Young, ich bitte Sie, sich das gut zu überlegen.«
»Ich habe es mir überlegt und bin zu einem Schluss gekommen. Die Antwort lautet immer noch Nein.«
»Mr Young …«
Winter schaute zum Fenster. »Halten Sie den Wagen an und lassen Sie mich raus.«
Sauda sah ihn ruhig an, als ob sie mit dieser Antwort gerechnet hatte. »Ein Schmetterling schlägt mit den Flügeln und verändert die Welt.« Ihre Stimme wurde sanfter. »Ihr Bruder. Artemis Young. Er war im Friedenskorps, stimmt’s?«
Winter erstarrte, sein ganzer Sarkasmus war verflogen. »Vorsicht«, knurrte er leise. »Jetzt betreten Sie gefährliches Terrain.«
»Er hat seinen Kollegen viel von Ihnen erzählt«, sagte sie. »Dass er stolz auf Sie war, aber dass Sie immer auf der Suche nach etwas waren, das größer war als das, was Sie hatten, nach einem Zweck, einem Grund, würdig zu sein. Ich vermute, dass Sie selbst jetzt, da Sie so berühmt sind, das Gefühl haben, diesen Sinn nicht gefunden zu haben.«
Winter hörte die Worte, als hätte Artie sie selbst gesagt, und plötzlich sah er den Geist seines Bruders im Auto neben sich sitzen, wie er sich in den Sitz lehnte und ihn mit einem freundlichen Lächeln ansah. Zu seiner Scham spürte er, wie ihm Tränen in die Augen stiegen und sich ihm die Kehle unwillkürlich zuschnürte. »Warum graben Sie Informationen über meinen Bruder aus?«, fragte Winter heiser.
»Weil ich annehme, dass Sie eine Menge über ihn nicht wissen«, antwortete Sauda. »Zum Beispiel, wie er gestorben ist. Und das würden Sie doch sicher gern erfahren.«
Die Welt schien zu kippen. Die Nacht außerhalb des Autos war neblig.
»Artie starb während eines Friedenskorps-Einsatzes in Bolivien«, sagte er langsam.
»Sind Sie sich da sicher?«, erwiderte Sauda.
Sein Herz begann zu klopfen. »Irre ich mich denn?«, fragte er.
Saudas Gesichtsausdruck wurde nun sanfter. »Jetzt ist nicht die Zeit und der Ort, um Ihnen alles zu erzählen. Und vielleicht wollen Sie es auch gar nicht wissen. Wenn das wirklich der Fall ist, dann sagen Sie es mir einfach, und ich lasse Sie zu Ihrem Hotel bringen, ohne weitere Fragen zu stellen.« Sie nickte. »Aber falls Sie mehr erfahren wollen, müssen Sie einige Papiere bei uns unterschreiben. Und um das zu tun, sollten Sie mein Angebot in Betracht ziehen.«
Nichts ergab mehr einen Sinn. Winters Hände kribbelten, seine Glieder fühlten sich taub an. Artie, der immer für etwas Größeres als sich selbst gekämpft hatte, der nie darüber gesprochen hatte, was er tat. Winter fühlte sich wie in einer Art Wachtraum, in dem er von seinem Bruder hörte, der wie durch einen Zirkusspiegel verzerrt war.
Was, wenn Sauda die Wahrheit sagte? Was war Artie wirklich zugestoßen? Wie viel wusste er nicht? Warum wusste Sauda darüber Bescheid? Winter wollte ihr die Fragen entgegenschreien, von ihr verlangen, dass sie ihm sagte, was sie ihm absichtlich vorenthielt. Seine Hände zitterten vor Beklemmung, sein Atem ging flach und unregelmäßig, und seine Tränen drohten überzulaufen.
Beschämt wischte er sich über die Augen und sah Sauda wütend an. »Meinen Bruder gegen mich zu benutzen, ist unter der Gürtellinie.«
Sauda sah unbeeindruckt aus. »Ich mache nur meinen Job. Nehmen Sie es nicht persönlich.«
»Das ist immer persönlich.«
»Es geht ums Allgemeinwohl.« Sauda legte den Kopf schräg. »Ich weiß, dass Sie ständig darüber nachdenken.«
Winter schnaubte spöttisch und sah mit hämmerndem Herzen weg. »Ich bin nur ein Entertainer«, murmelte er.
»Sie sind der perfekte Spion.«
Winters Ärger wuchs. »Ich bin das genaue Gegenteil eines Spions«, schnappte er. »Das verstehen Sie doch, oder?« Er fuchtelte mit der Hand. »Ist es nicht der Sinn Ihrer Arbeit, im Verborgenen zu bleiben und nie Anerkennung zu bekommen für das, was Sie tun?«
»Es ist ein wirklich undankbarer Job«, stimmte Sauda zu.
»Aber meine ganze Karriere baut darauf auf, dass ich gesehen werde.«
Sauda lehnte sich zu ihm und sah ihn eindringlich an. »Was ist eine Mission anderes als eine Performance? Sie wissen doch, wie man eine Show abzieht, wie man die Leute dazu bringt, dorthin zu schauen, wohin man will. Sie wissen, wie man mit einer Menschenmenge umgeht, wie man im richtigen Moment reagieren muss, wenn etwas schiefgeht, und wie man seine gesamte Persönlichkeit je nach Publikum anpasst. Sie wissen, wie man aus einer Laune heraus lügen kann. Und das Beste ist, dass Sie niemand verdächtigen wird. Das ist das Schöne daran, ein unkonventioneller Spion zu sein.« Sie tippte sich mit einem Finger an die Schläfe, ihre Nägel waren frühlingsgrün lackiert. »Nur Mut, Winter Young. Sie meinen vielleicht, dass Sie ins Rampenlicht gehören und ich in einer geheimen Welt agiere, aber vielleicht besteht da gar kein so großer Unterschied.«
Winter schluckte schwer. »Ich kann das nicht«, flüsterte er.
»Sie betrachten all den Erfolg in Ihrem Leben und fragen sich, ob es das wert ist. Sie liegen nachts wach, sind dankbar und fühlen sich Ihren Fans gegenüber schuldig. Sie grübeln darüber nach, ob Sie es wert sind.« Sauda neigte sich noch näher zu ihm. »Ich weiß, dass Sie Gutes tun wollen. Gut sein wollen.«
»Ich bin nicht mein Bruder«, murmelte er.
»Sie haben das gleiche Herz.« Sie tippte sich mit einem Finger auf die Brust. »Sie suchen nach etwas. Vielleicht nach Bestätigung.«
»Und Sie glauben, dass ich die finde, wenn ich für Sie arbeite«, erwiderte er kühl.
»Ich glaube, es könnte Ihnen Befriedigung verschaffen zu wissen, dass Sie Ihre beachtliche Berühmtheit für etwas Gutes einsetzen können, ja.« Sauda lächelte ein wenig, doch in diesem Lächeln steckte etwas Tragisches. »Vielleicht ist eine undankbare gute Tat zur Abwechslung genau das, was Sie brauchen.«
Winter antwortete einen Moment lang nicht. Er starrte auf den Rhythmus von Licht und Schatten, der sich durch das Auto bewegte.
»Ich hoffe, Sie erwarten nicht, dass ich jemanden umbringe«, murmelte er schließlich.
Amüsiert betrachtete sie ihn. Dann lehnte sie sich zurück. »Mord wird nicht nötig sein, das verspreche ich. Morrison wird zweifellos verlangen, dass seine eigenen Techniker die Bühne für Sie vorbereiten. Sie werden die meisten Ihrer eigenen Tänzer und Crewmitglieder nicht mitbringen können. Aber wir können eine unserer eigenen Agentinnen bei Ihnen einsetzen, die sich als Ihr Bodyguard ausgibt. Ich habe bereits die perfekte Person vor Augen.«
»Tatsache?«
»Wir nennen sie den Schakal.«
Winter hob eine Augenbraue. »Klingt ja reizend.«
»Ist sie nicht«, antwortete Sauda ebenso trocken. »Aber sie ist sehr gut in ihrem Job.«
Eine Panacea-Agentin als Leibwächterin. Eine begrenzte Anzahl seiner eigenen Leute dabei. Das musste ein Traum sein. Er würde gleich schweißgebadet in seinem Hotelbett aufwachen und die Bilder dieser Frau und dieses Autos dabei aus seinem Kopf verschwinden. Das war alles Wahnsinn. Warum sollte er das tun? Eigentlich hatte er ein äußerst erfolgreiches Leben. Er könnte einfach dahin zurückkehren, ohne auf die Forderungen dieser Agenten einzugehen. Er könnte sich einfach dazu zwingen zu vergessen, was diese Fremde ihm gerade über Artie erzählt hatte. Nichts würde ihn zurückbringen.
»Sie müssen der Mission nicht einmal sofort zustimmen«, sagte Sauda leise und studierte seinen Gesichtsausdruck. »Sie müssten nur etwas mehr erfahren wollen.«
Nur etwas mehr erfahren wollen.
Winter kam es vor, als ob er mit verbundenen Augen über einem Abgrund schwebte und sich vergebens bemühte, etwas zu sehen. Er spürte, wie die ewige Unruhe in ihm erwachte, unersättlich und gefräßig.
Eine undankbare gute Tat.
»Ich will, dass für die Sicherheit meiner Mutter gesorgt wird«, sagte Winter schließlich.
»Abgemacht.«
»Und wenn Leute aus meiner Crew mit mir kommen, sollten sie auch Schutz erhalten.«
»Das werden sie.«
»Und ich will ein schönes Auto.«
»Wir können Ihnen einen Mazda zur Verfügung stellen.«
Nun ja, einen Versuch war es wert gewesen. Winter starrte auf ihr ruhiges, gefasstes Gesicht. Wie konnten diese Leute diesen Job machen? Wie konnte man tagein, tagaus im Schatten der Welt stehen und Dinge tun, die andere nie sehen würden?
»Das werde ich noch bereuen, nicht wahr?«, fragte Winter.
»Das ist gut möglich.«
Winter seufzte. »Wie erfahre ich mehr?«
»Sie unterschreiben natürlich einen Vertrag«, antwortete Sauda. »Und selbstverständlich ist dieses ganze Gespräch streng vertraulich. Daran sind Sie gebunden, bis sich etwas an unserer Vereinbarung ändern sollte.«
Winter schürzte die Lippen. »Verträge. Endlich etwas, das ich verstehe.«
»Dann werden Sie gut bei uns zurechtkommen.« Sie lächelte. »Willkommen bei der Panacea Group, Mr Young.«
Der Schakal
Der Anruf erreichte Sydney Cossette, kurz nachdem sie die Bushaltestelle gegenüber ihres Wohnkomplexes verlassen hatte. Sie trug einen Rucksack, und der Wind zerzauste ihren blonden Bob. Die Straße war nass vom Nieselregen und voller geparkter Autos, und sie bahnte sich einen Weg zwischen ihnen hindurch, quetschte sich an einem Lieferwagen und einer schwarzen Limousine vorbei, um den Bordstein auf der anderen Seite zu erreichen. Ihre Lunge schmerzte noch immer von der Kickboxsession. Sie hatte es womöglich etwas übertrieben.
Der Nachrichtenticker am Dach der Bushaltestelle gegenüber lief auf Hochtouren. Die ganze Woche über hatte er dieselben Schlagzeilen ausgestrahlt wie auch die Plakatwände in der Nähe ihres Hauses.
WINTERYOUNGBEGEISTERTERNEUTAUFDERBÜHNE
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Sydney blinzelte in den Regen und murmelte leise einen Fluch auf Portugiesisch. Sie war keine Portugiesin, aber sie sammelte Sprachen wie Winter Young Grammys und suchte sich je nach Stimmung eine Sprache aus, die sie an ausgewählten Tagen benutzte.
Heute war ein portugiesischer Tag.
Puta que pariu, dachte sie jetzt. Millionen von Menschen litten auf der ganzen Welt unter irgendwelchen Katastrophen, aber das war in der letzten Woche die größte Schlagzeile in allen Nachrichtensendern gewesen? Auf den Reklamewänden in der Nähe ihres Wohnkomplexes waren Videos von Winter Young zu sehen, einige von seinem letzten Auftritt, andere, wie er sein Autogramm auf Plakate für Fans schrieb. Eines zeigte einen Ausschnitt aus einem Interview.
Ist Ihnen eigentlich bewusst, wie berühmt Sie in den letzten Jahren geworden sind, hieß es in den Untertiteln für den Interviewer.
Winter reagierte schüchtern. Wirklich, antwortete er. Bin ich das?
Sydney verdrehte die Augen.
Er war süß, klar. Umwerfend schön, musste sie zugeben. Sydney wusste dichte Wimpern und einen hübschen Mund wie alle anderen zu schätzen. Und ja, seine Musik war unkonventionell, die Verwendung chinesischer Trommeln bei Hip-Hop zum Beispiel. Ein einzigartiger Sound, der es ihm ermöglicht hatte, die Grammys des letzten Jahres zu gewinnen und hundert Nachahmer und sogar ein Subgenre der Musik zu inspirieren, das die Leute liebevoll Winterpunk nannten. Sie und der Rest der Welt hatten ihn in einigen der atemberaubendsten Outfits gesehen, die je auf einer Bühne präsentiert worden waren. Manchmal tanzte er in schwarzem Leder, das mit Silber behangen war, manchmal in Seide wie ein gottverdammter Märchenprinz und einmal in einem goldenen Businessanzug, der buchstäblich in Flammen stand.
Der Typ wusste, wie man eine Show abzog. Er war für die Bühne geboren, so viel war sicher.
Aber als Sydney in die warme Eingangshalle ihres Wohnkomplexes trat, überlegte sie sich halbherzig, wie Winter wohl sein würde. Hinreißend und sich dessen voll bewusst, vielleicht ein schamloser Flirt, wahrscheinlich ein Arschloch. Sie konnte es an seinem Grinsen sehen und an der Art, wie er den Kopf neigte, als wäre er in etwas eingeweiht. Er war ein junger Mann, der Forderungen stellte und erwartete, dass sie erfüllt wurden, und dem es wahrscheinlich egal war, von wem. Ein junger Mann, der auf jede in der Menge seiner schreienden Fans zeigen und sich eine neue Affäre aussuchen konnte.
Sie missgönnte ihm seinen Lebensstil nicht. Aber Musiker waren die schlimmste Sorte Promis. Sie hatte einmal einen im Rahmen eines Auftrags bewachen müssen und es waren die längsten achtundvierzig Stunden ihres Lebens gewesen. Die spontanen Wutausbrüche. Die Unfähigkeit, ohne Assistentin zu überleben. Sie wie eine Assistentin zu behandeln. Das unaufhörliche Summen. Sie hatte Panacea hinterher einen Vortrag darüber gehalten. Die ganze Energie, die die Musiker auf der Bühne verbrauchten, stieg ihnen direkt in den Kopf und verstopfte die Arterien. Wie selbstverständlich entschuldigten sie ihr Verhalten im Namen der Kunst.
Als sie einatmen wollte, stach es erneut in ihrer Lunge, und genervt holte sie zittrig Luft. »Schluss damit«, murmelte sie den Reklamewänden draußen zu. Je eher die Medien aufhörten, jede Einzelheit über ihn zu berichten, desto eher konnte sich die Welt mit etwas Wichtigerem beschäftigen.
Heute hatte man am Empfang eine neue Auslage aufgestellt, eine Auswahl an Glasnippes und eine Tasse mit Stiften sowie einen frisch gepflückten Blumenstrauß. Ihr Blick blieb an den Figuren auf dem Tresen hängen, und es juckte Sydney in den Fingern, die von ihrem Kickboxtraining immer noch weiß bandagiert waren.
Der junge Mann am Schalter lächelte, als er sie bemerkte. »Guten Tag, Miss Madden.« Das war nicht ihr echter Name.
Sie schenkte ihm ein kokettes Lächeln und strahlte ihn an. »Hey, George.«
Er errötete und sein Blick folgte ihr. Sie kämpfte gegen das Verlangen an, auf den Tresen zuzugehen und mit ihm zu spielen, und dann, wenn er nicht hinsah, eine dieser Glasfiguren in die Tasche zu stecken. Es wäre so einfach. Natürlich würde sie die Figur nicht behalten. Was sie stahl, warf sie entweder weg oder verkaufte es. Denn der Reiz lag im Nehmen, nicht im Behalten.
Selbst nach Jahren des Trainings und der Therapie saß der Drang, etwas zu stehlen, immer noch tief in einer Ecke ihres Unterbewusstseins. Immerhin hatte sie es geschafft, ihm zu widerstehen, und heute wandte sie den Blick von den Figuren ab und den Aufzügen zu.
»Wir sehen uns«, rief sie George säuselnd zu.
»Wir sehen uns«, kam seine Antwort, in der immer ein winziger Hauch von Hoffnung mitschwang, dass sie mit ihm ausgehen oder ihn nach oben einladen würde.
An den Aufzügen gab sie den Zugangscode an der Tür ein und fuhr nach oben. Kurz darauf kam sie auf ihrer Etage an, ging zu ihrer Wohnung und trat ein.
Für eine Neunzehnjährige wurde sie gut bezahlt. Im oberen fünfstelligen Bereich, und es wurde ihr noch mehr versprochen, sobald sie zur Agentin befördert werden würde. Auch die Wohnung war schön, ein ordentliches Einzimmerapartment mit einem kleinen Balkon, von dem aus man die herrliche Skyline von Seattle sehen konnte. Tausendmal besser als die Bruchbude, in der sie aufgewachsen war.
Aber das Apartment war spärlich eingerichtet und wirkte wie eines, das jedem gehören könnte. Keine privaten Fotos an den Wänden, keine persönlichen Gegenstände ausgestellt, keine Fotoalben in den Regalen. Wenn jemand einbrach und die Wohnung durchwühlte, würde er in den Büchern auf dem Couchtisch oder den Speisekarten von Restaurants am Kühlschrank nichts finden, was etwas über Sydney aussagte. Sie würden keine erkennbare Persönlichkeit in ihrem Kleiderschrank finden, der voll mit Kleidern war, die in jedem Schrank einer jungen Frau zu finden wären. Sie würden keinen wertvollen Schmuck finden, keinen Hinweis auf Vorlieben außer einem Abonnement der New York Times (die ungelesen in einem ordentlichen Stapel auf dem Küchentisch lag), keine Souvenirs aus dem Urlaub, keine Familienerbstücke oder Andenken. Nichts, was sie individuell kennzeichnete, lag irgendwo offen herum.
Das gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Sie war eine Person, wie sie jeder Geheimdienst wollte. Umwerfend intelligent, gut darin, Geheimnisse zu bewahren, und ohne nennenswerte familiäre oder persönliche Bindungen, zumindest nicht solchen, die einen regelmäßigen Kontakt beinhalteten. Sydney Cossette wandelte allein durch die Welt, und das gefiel ihr.
Sie ging zum Kühlschrank und holte die Zutaten für ein Sandwich heraus. Delikatessschinken, amerikanischer Käse, Weißbrot. Auch das war zwar ein Klassiker, dennoch lag darin ein Stück ihrer selbst versteckt. Früher hatte sie Sandwiches gehasst, weil sie in der Cafeteria des Krankenhauses so viele davon gegessen hatte, wenn sie ihre Mutter dort besuchte. Doch dann hatte sich Sydney angewöhnt, sich immer dann Sandwiches zu machen, wenn sie etwas Trost suchte. Zumindest gab es ihr das Gefühl, ihr Leben selbst in der Hand zu haben.
Als sie in die Küche ging und die Zutaten für das Sandwich aus dem Kühlschrank holte, erschien eine Benachrichtigung auf ihrem Telefon.
Eingehender Anruf. Unbekannte Nummer.
Sydney wusste natürlich, dass der Anruf von Niall O’Sullivan kommen musste. Panacea hatte ihr eine Woche Urlaub gegeben, nachdem sie einen besonders anstrengenden Auftrag hinter sich gebracht hatte. Sie hatte einen weinerlichen Kriminellen beschattet, der zum Informanten geworden war. Doch jetzt rief Niall sie nach nur drei Tagen an.
Sie trat aus der Wohnung auf den Balkon mit Blick auf den Hafen. Dort lehnte sie sich an das Geländer und starrte hinaus auf die leere Bushaltestelle, von der sie gerade gekommen war. Wenigstens fühlte sich ihre Lunge jetzt etwas besser an, und sie konnte wieder atmen, ohne dass es stach.
»Nani?«, sagte sie auf Japanisch.
»Hören Sie auf damit, Sydney.«
Sie wechselte ins Englische. »Und ich dachte, Sie würden mir einen richtigen Urlaub gönnen, Boss.«
»Als ob Sie irgendetwas Spannendes in Ihrer Auszeit machen würden.«
»Das wissen Sie doch gar nicht. Ich könnte an einem Strand in Cabo liegen.«
»Und liegen Sie an einem Strand in Cabo?«
Einen Moment lang überlegte Sydney, ob sie ein beliebiges Video mit Meeresrauschen raussuchen sollte. »Ich bin sicher, Sie wissen genau, wo ich bin und was ich tue«, murmelte sie und blickte kurz zum Himmel. Es hätte sie nicht gewundert, eine winzige Drohne zu sehen, die sie beobachtete. »Ist das nicht unsere Spezialität?«
»Für jemanden, der erst seit zwei Jahren im Außendienst ist, sind Sie besonders großmäulig.«
»Entschuldigung. Ich bin kindisch. Was gibt es?«
»Eine Mission natürlich.«
»Sagen Sie mir nicht, dass ich wieder eine Woche lang einen Kleinkriminellen babysitten soll.«
»Oh, glauben Sie mir, es ist viel schlimmer als das.«
»Ach so?«, erwiderte sie. »Klingt nach reiner Zeitverschwendung.«
»Aber wenn Sie diese Mission erfolgreich abschließen, werden Sie nicht nur befördert, sondern erhalten auch einen ordentlichen Bonus.«
Beförderung. Das erregte ihre Aufmerksamkeit. »Ein echter Undercover-Einsatz? Sie schicken mich wieder nach Übersee? Nach Moskau letztes Jahr brauche ich immer noch einen neuen Reisepass.«
»Freuen Sie sich nicht zu früh. Ich zweifle immer noch, ob ich Sie überhaupt hätte anheuern sollen.«
Sydney musste lächeln. Sie hatte Niall noch nie zufrieden über eine von Panaceas Missionen reden hören. Der Analyst hielt alles immer für eine schreckliche Idee. Sie hatte angefangen, sein mürrisches Brummen am Telefon als gutes Omen zu betrachten.
»Sie sind doch jeden Tag dankbar dafür, dass Sie mich gefunden haben«, antwortete sie süßlich.
Er knurrte nur. Es war reiner Zufall gewesen, dass Niall den Campus ihrer Highschool besucht hatte, als er widerwillig einen CIA-Anwerber begleitet hatte. Dabei hatte er gesehen, wie sie die verschlossenen Türen der Turnhalle aufgebrochen hatte, um Teile der Boxausrüstungen der Schule zu stehlen. Als er sie damit konfrontiert hatte, wollte sie ihn davon überzeugen, dass sie nicht gut Englisch sprechen konnte, und einen Redeschwall auf Russisch so flüssig heruntergeleiert, dass er fast geglaubt hatte, es sei ihre Muttersprache.
Die Konsonanten, konnte sie sich noch erinnern, wie er sie belehrt hatte.
Sie hatte nur unschuldig den Kopf geschüttelt.
Sie aspirieren zu sehr, hatte er gesagt. Das verrät Sie. Aber wirklich gut gemacht.
Zu ihrer Überraschung hatte sie bei seinem Kompliment einen Anflug von Stolz verspürt. Nachdem er zugestimmt hatte, sie nicht zu verpetzen, hatte er ihr ein paar Fragen gestellt, um herauszufinden, wie viele andere Sprachen sie konnte und ob sie an einem Trainingsprogramm für die Panacea Group interessiert wäre.
Ist das im Tourismus oder so?
So etwas in der Art, hatte Niall geantwortet.
Ist mir egal, was es ist. Ich bin dabei.
Ausgezeichnet.
Aber ich habe eine Bedingung.
Niall hatte eine Augenbraue hochgezogen, wahrscheinlich amüsiert über die Forderungen eines mürrischen Teenagers. Geld?, hatte er gefragt. Wir bezahlen unsere Trainees gut.
Nein, hatte sie geantwortet. Ein Ticket raus aus dieser Stadt.
Er hatte sie fragend angesehen. Ohne Rückfahrt?
Sie hatte genickt. Morgen. Heute, wenn möglich.