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Ein schmerzhafter Verrat. Ein zerbrechliches Bündnis.Ein riskantes Finale. Emikas Herz ist gebrochen. Hideo Tanaka, der geniale Erfinder von Warcross und ihre große Liebe, hat sie benutzt, um seinen Plan zu verwirklichen: Den Willen aller Warcross-User mit dem Neurolink zu kontrollieren. Waren seine Gefühle für Emika überhaupt echt? Um gegen Hideo vorzugehen, muss Emika sich Zero anschließen, dem skrupellosen Hacker, der die Meisterschaft sabotiert hat. Doch Zero und seine Verbündeten verfolgen ihre eigenen Pläne. Wem kann Emika noch trauen? Und wie weit wird sie gehen, um den Mann, den sie liebt, aufzuhalten? In dem rasanten Finale der Jugendbuchreihe Warcross verknüpft Bestsellerautorin Marie Lu die Themen künstliche Intelligenz und eSport virtuos miteinander und liefert eine perfekte Mischung aus Action und Romantik. Warcross – Neue Regeln, neues Spiel ist der letzte von zwei Bänden.
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Seitenzahl: 446
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Für Primo, der mich immer wieder aufrichtet
Weitere Schlagzeilen:
Bereits den dritten Tag in Folge werden weltweit die Polizeipräsidien von Menschenmassen belagert. Heute Morgen erschien der berüchtigte Gangsterboss Jacob »Ace« Kagan auf der Wache im achten Pariser Arrondissement und stellte sich den Beamten – eine überraschende Entscheidung, die allseits für Verwirrung sorgt. In den Vereinigten Staaten wurden zwei Flüchtige tot aufgefunden, die auf der Liste der zehn meistgesuchten Verbrecher des Landes standen – in beiden Fällen scheint es sich um Selbstmord zu handeln.
– MORGENMAGAZINTOKYO SUN
Im Traum bin ich bei Hideo.
Dass es ein Traum ist, weiß ich, weil wir in einem weißen Bett im obersten Stock eines mir unbekannten Wolkenkratzers liegen, in einem Raum ganz aus Glas. Wenn ich den Blick senke, kann ich durch die vielen Etagen unter uns sehen, Decke – Boden, Decke – Boden, bis sie ganz unten in der Erde zu verschwinden scheinen.
Vielleicht haben wir aber auch gar keinen festen Boden unter uns.
Obwohl die ersten sanften Strahlen der Morgensonne das matte Blau der Nacht verscheuchen und unsere Haut golden schimmern lassen, stehen noch immer eine Menge glitzernder Sterne am Himmel. Jenseits des Schlafzimmers erstreckt sich die Skyline einer endlosen Stadt, ihre Lichter sind wie ein Spiegelbild der Sterne, bevor sie mit der Wolkendecke am Horizont verschmelzen.
Es ist zu viel. Unendlichkeit in jede Richtung. Ich falle, ich weiß nicht, wohin.
Dann streifen Hideos Lippen mein Schlüsselbein und meine Orientierungslosigkeit löst sich in warmem Behagen auf. Er ist hier. Ich neige den Kopf zurück, sodass mein Haar über die Kissen fällt, öffne die Lippen und richte die Augen auf die gläserne Decke und die Sternbilder darüber.
Es tut mir leid, flüstert seine Stimme in meinem Geist.
Verdutzt schüttele ich den Kopf. Ich kann mich nicht erinnern, wofür er sich entschuldigt, und sein Blick ist so traurig, dass ich es auch nicht wissen will. Irgendetwas stimmt nicht. Aber was? Ich habe das ungute Gefühl, dass ich gar nicht hier sein sollte.
Hideo zieht mich fester an sich und das Gefühl wird stärker. Durch das Glas spähe ich auf die Stadt hinaus, frage mich, ob diese Traumlandschaft vielleicht nicht so aussieht, wie sie sollte, oder ob es die Sterne sind, die mich verwirren. Irgendetwas stimmt nicht …
Mein Körper versteift sich. Hideo runzelt die Stirn und legt mir die Hand an die Wange. Ich will ihn küssen, doch da regt sich etwas in einer Zimmerecke und lenkt mich ab.
Dort steht jemand. Eine Gestalt in schwarzem Panzeranzug, das Gesicht unter einem dunklen Helm verborgen.
Ich sehe den Mann an. Und alles Glas zersplittert.
TOKIO, JAPAN
Jemand beobachtet mich.
Ich spüre es einfach – dieses unheimliche Gefühl, verfolgt zu werden, ein Blick, der sich an meinen Rücken heftet. Er macht mir eine Gänsehaut und sorgt dafür, dass ich mich immer wieder umsehe, als ich auf Tokios verregneten Straßen unterwegs bin zu meinem Treffen mit den Phoenix Riders. Menschen eilen an mir vorbei, ein stetiger Strom aus bunten Regenschirmen, Anzügen, High Heels und übergroßen Mänteln. Unweigerlich stelle ich mir vor, wie sich ihre Gesichter mir zuwenden, egal, wohin ich gehe.
Vielleicht entspringt diese Paranoia nur meiner jahrelangen Erfahrung als Kopfgeldjägerin. Du bist auf einer überfüllten Straße, sage ich mir. Niemand verfolgt dich.
Es ist jetzt drei Tage her, dass Hideos Algorithmus aktiviert wurde. Theoretisch müsste die Welt nun sicherer sein denn je. Jeder NeuroLink-User, der irgendwann die neuen Kontaktlinsen von Henka Games benutzt hat – und sei es auch nur ein einziges Mal –, müsste nun komplett unter Hideos Einfluss stehen, unfähig, das Gesetz zu brechen oder anderen Schaden zuzufügen.
Nur die wenigen, die, so wie ich, noch die ältere Betaversion der Linsen benutzen, sind nicht betroffen. Das weiß ich inzwischen.
Also muss ich mir im Grunde keine Sorgen machen, dass irgendwer mir nachstellen könnte. Der Algorithmus würde so oder so nicht zulassen, dass mir jemand etwas tut.
Aber noch während ich mich zu beruhigen versuche, lässt mich die endlose Schlange vor der Polizeiwache langsamer werden. Es müssen Hunderte von Menschen sein. Sie liefern sich alle dem Gesetz aus, für jedes große und kleine Vergehen ihres Lebens, von unbezahlten Strafzetteln bis hin zu Diebstahl – manchmal sogar Mord. So geht das nun schon seit drei Tagen.
Mein Blick schweift zu der Absperrung am Ende der Straße. Wir werden um einen anderen Häuserblock geleitet. Das Licht eines Krankenwagens zuckt über die Fassaden und über eine mit einem Laken verhängte Trage, die soeben hineingeschoben wird. Ein paar Polizisten deuten auf das Dach eines nahen Gebäudes und mir wird klar, was passiert ist. Schon wieder ist ein Verbrecher in den Tod gesprungen. Solche Selbstmorde beherrschen momentan die Nachrichten. Und ich habe meinen Beitrag dazu geleistet.
Ich schlucke mein Unbehagen hinunter und wende mich ab. In den Augen der Menschen um mich liegt eine kaum wahrnehmbare, aber beunruhigende Leere. Sie wissen nicht, dass eine künstliche Hand in ihren Geist eingreift und ihren freien Willen manipuliert.
Hideos Hand.
Die Erinnerung überfällt mich so plötzlich, dass ich mitten auf der Straße stehen bleibe und für einen Moment die Augen schließe. Meine Fäuste ballen sich, mein Herz macht einen Satz bei seinem Namen. Ich bin so eine Idiotin.
Wie kann der Gedanke an ihn gleichzeitig Abscheu und Sehnsucht in mir hervorrufen? Wie kann ich voller Entsetzen auf die Leute starren, die im Regen vor der Polizeiwache anstehen – und im nächsten Moment beim Gedanken an den Traum erröten, in dem ich in Hideos Bett lag und mit den Händen über seinen Rücken strich?
Es ist aus zwischen euch. Vergiss ihn. Entschlossen öffne ich die Augen wieder und gehe weiter, während ich versuche, die Wut zu zügeln, die in meiner Brust auflodert.
Als ich schließlich in das beheizte Einkaufszentrum husche, klatscht der Regen in schrägen Böen herab und malt verschwommene Spiegelungen der Neonlichter auf den Asphalt.
Nicht, dass das Unwetter die allgemeine Vorfreude auf die nahende Warcross-Abschlussfeier schmälern würde, die das Ende der diesjährigen Meisterschaft markiert. Auf dem Weg hierher erstrahlten die Straßen und Gehwege durch meine Betalinsen in Rot- und Goldtönen. Ganz Tokio ist auf diese Weise geschmückt, jede Straße in den Farben der dort jeweils beliebtesten Mannschaft. Über mir geht gerade ein üppiges virtuelles Feuerwerk in die Luft. Hier in Shinjuku sind die Phoenix Riders das favorisierte Team, daher formen die Raketen nun einen Phönix, den flammenden Kopf zum Triumphschrei erhoben.
In den nächsten Tagen werden nach und nach die Namen der zehn besten Spieler der Meisterschaft bekannt gegeben, nachdem alle Warcross-Fans weltweit darüber abgestimmt haben. Diese zehn treten dann während der Abschlussfeier noch einmal in einem All-Star-Turnier gegeneinander an und sind dann ein Jahr lang die wohl größten Berühmtheiten der Welt, bevor sie im kommenden Frühjahr am nächsten Eröffnungsspiel teilnehmen. Das Spiel, in das ich mich damals eingehackt habe und das mein ganzes Leben auf den Kopf gestellt und mich hierhergeführt hat.
Überall haben sich die Leute als ihre Lieblingsspieler verkleidet. Ich erspähe ein paar stolze Asher-Lookalikes in seinem Outfit von unserem Meisterschaftsspiel in der Eiswelt; jemand anders sieht aus wie Jena, der Nächste wie Roshan. Viele diskutieren noch immer hitzig über das Finale, in dem doch ganz offensichtlich etwas nicht mit rechten Dingen zugegangen sein muss – schließlich waren Power-ups dabei, die es gar nicht hätte geben dürfen.
Was natürlich meine Schuld ist.
Ich rücke meine Gesichtsmaske zurecht und ziehe mir die Kapuze meines roten Regenmantels vom regenbogenbunten Haar. Meine Gummistiefel quietschen beim Gehen. Ich trage ein zufallsgeneriertes virtuelles Gesicht über meinem eigenen, sodass zumindest die NeuroLink-User mich als komplett Fremde sehen. Was die wenigen anderen angeht, sollte die Maske genug verdecken, um mich im Gewimmel der Maskenträger verschwinden zu lassen.
»Sugoi!«, ruft jemand im Vorbeigehen. Als ich mich umdrehe, sehe ich zwei Mädchen, die begeistert auf mein Haar deuten. Ihr Japanisch wird in meinem Blickfeld ins Englische übersetzt. »Wow! Tolles Emika-Chen-Kostüm!«
Sie bitten mich pantomimisch um ein Foto und ich spiele bereitwillig mit und hebe die Hände zum Victory-Zeichen. Steht ihr beide auch unter Hideos Einfluss?, denke ich.
Die Mädchen nicken mir dankend zu und schlendern weiter. Ich schiebe den Tragegurt des Elektroskateboards auf meiner Schulter höher. Schon seltsam, als ich selbst verkleidet zu sein, aber die Tarnung funktioniert. Weil ich es gewohnt bin, dass ich diejenige bin, die anderen nachstellt, komme ich mir dennoch seltsam ungeschützt vor.
Emi, bist du bald da?
Hammies Nachricht erscheint als gestochen scharfer Text vor meinen Augen und meine Anspannung löst sich ein wenig. Unwillkürlich muss ich lächeln und lege einen Schritt zu.
Ja, fast.
Wäre viel einfacher gewesen, wenn du direkt mit uns mitgekommen wärst.
Wieder werfe ich einen Blick über die Schulter. Einfacher auf jeden Fall – aber Zero hat uns schon einmal beinahe mit einer Explosion getötet, als die anderen in meiner Nähe waren.
Ich bin kein offizielles Mitglied der Riders mehr. Wenn die Leute heute Abend gesehen hätten, wie wir zusammen losziehen, hätte das nur Fragen aufgeworfen.
Aber es wäre viel sicherer gewesen.
Nein, wäre es nicht.
Ich kann sie regelrecht seufzen hören. Dann schickt sie mir noch mal die Adresse der Bar.
Inzwischen habe ich das Einkaufszentrum durchquert und verlasse es auf der anderen Seite. Hier weichen die bunten Häuserblocks von Shinjuku den schäbigen Straßen von Kabukichō, Tokios Rotlichtbezirk. Ich straffe die Schultern. Es ist nicht direkt gefährlich hier – erst recht nicht verglichen mit meiner alten Wohngegend in New York –, aber die Fassaden hängen voller bunter Bildschirme, auf denen die Dienste hübscher Mädchen und gut aussehender Jungs mit Mangafrisur angepriesen werden, neben noch weitaus unanständigeren Bannern, deren Übersetzungen ich mir lieber gar nicht erst angucke.
Virtuelle Models in knappen Outfits versuchen, die Leute in Bars zu locken. Mir schenken sie nach einem Blick auf mein Profil, das mich als Ausländerin entlarvt, keine weitere Beachtung und wenden ihre Aufmerksamkeit den lukrativeren Einheimischen zu.
Trotzdem gehe ich schneller. Kein Rotlichtbezirk auf der Welt ist ohne Risiko.
Ich biege in eine schmale Straße am Rand von Kabukichō ein. Die Riders haben sich Piss Alley, wie dieses Viertel mit den kleinen Gassen liebevoll genannt wird, für diesen Abend ausgesucht, weil es während der Warcross-Meisterschaft für Touristen gesperrt ist. An allen Zugängen stehen Sicherheitsleute in Anzügen und scheuchen mit finsterer Miene neugierige Passanten weiter.
Ich deaktiviere kurz meine Tarnung, sodass sie meine wahre Identität sehen können. Einer der Männer neigt den Kopf und winkt mich durch.
Zu beiden Seiten der Gassen reihen sich winzige Sake-Bars und Yakitori-Stände. Durch die beschlagenen Glastüren kann ich die Mitglieder anderer Mannschaften sehen, die sich vor rauchenden Grills drängen und lautstark über die an die Wände projizierten Spielerinterviews diskutieren. Der frische Regengeruch mischt sich mit dem Duft nach Knoblauch, Misopaste und gebratenem Fleisch.
Ich schlüpfe aus meinem Regenmantel, schüttele ihn aus und falte ihn auf links, damit ich ihn in meinem Rucksack verstauen kann. Dann steuere ich die letzte Bar an. Sie ist etwas größer als die anderen und liegt an einer unbelebten kleinen Straße. Der Eingang wird von einer Girlande fröhlich-roter Laternen beleuchtet und ebenfalls von zwei Türstehern bewacht. Einer von ihnen tritt zur Seite, als ich mich nähere.
Ich gehe durch die Glasschiebetür. Warme Luft hüllt mich ein wie ein Umhang.
Eingecheckt in Midnight Sense Bar!
+500P. Tagesspielstand: +950
Level84|120064
Ich finde mich in einem gemütlichen Raum mit einer Theke wieder, an der ein paar Plätze besetzt sind. Der Koch dahinter teilt gerade fleißig Schüsseln mit Ramen aus. Jetzt jedoch hält er inne, um mein Eintreffen zu verkünden.
Ein Schwall von Begrüßungen schlägt mir entgegen, als alle sich in meine Richtung wenden.
Da sind Hammie, unsere Diebin, und Roshan, unser Verteidiger. Asher, der Mannschaftskapitän, sitzt auf einem Barhocker, seinen schicken Rollstuhl zusammengeklappt hinter sich. Sogar Tremaine, der eigentlich für die Demon Brigade spielt, ist gekommen. Die Ellbogen auf die Bar gestützt, nickt er mir durch den Dampf zu, der von seiner Nudelsuppe aufsteigt. Er sitzt mit demonstrativem Abstand zu Roshan, der an seinem Gebetsperlenarmband herumfingert und seinen Ex genauso geflissentlich ignoriert.
Meine Mannschaft. Meine Freunde. Beim Anblick der vertrauten Gesichter lässt das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden, ein wenig nach.
Hammie winkt mich zu sich und ich rutsche dankbar auf den leeren Hocker neben ihr. Der Koch stellt eine Schüssel Ramen vor mir auf die Theke und geht dann nach draußen, damit wir ungestört sind.
»Fast die ganze Stadt ist in Partylaune«, murmele ich. »Die haben alle keine Ahnung, was Hideo gemacht hat.«
Hammie nimmt ihre Locken zu einem dicken Knoten hoch auf dem Kopf zusammen. Dann deutet sie mit dem Kinn auf einen virtuellen Bildschirm an der Wand, auf dem Ausschnitte aus dem Finale laufen. »Du kommst genau richtig«, erwidert sie. »Hideo macht jeden Moment seine Bekanntgabe.«
Während Hammie mir eine Tasse Tee einschenkt, starre ich auf den Bildschirm, der nun einen Raum voller Reporter zeigt. Die Gesichter einer beeindruckend großen Bühne zugewandt, erwarten sie alle ungeduldig Hideos Auftritt. Kenn Edon, der Kreativdirektor von Warcross, und Mari Nakamura, die leitende Geschäftsführerin von Henka Games, sind bereits dort und unterhalten sich im Flüsterton.
Plötzlich gibt es Tumult: Hideo betritt den Raum. Er streicht sein Jackett glatt und schreitet zügig auf seine Mitarbeiter zu, während er im Gehen links und rechts Hände schüttelt, wie immer voll kühler, distanzierter Eleganz.
Allein sein Anblick auf diesem Bildschirm überwältigt mich so sehr, als wäre er schnurstracks in die Bar marschiert. Ich sehe nur den Jungen, den ich schon mein halbes Leben lang beobachte, das Gesicht, für das ich an Zeitungsständen stehen geblieben bin und das ich im Fernsehen bewundert habe. Die Finger um den Rand der Theke gekrallt, versuche ich mir nicht anmerken zu lassen, wie erbärmlich ich mich fühle.
Hammie merkt es dennoch und wirft mir einen mitleidigen Blick zu. »Niemand erwartet, dass du schon über ihn hinweg bist«, sagt sie. »Ich weiß, er will die Weltherrschaft an sich reißen und so, aber das ändert halt nichts daran, dass neben ihm in seinem Anzug jedes Balmain-Model einpacken kann.«
Asher guckt grimmig. »Hallo? Ich sitze direkt neben dir.«
»Ich hab ja nicht gesagt, dass ich was von ihm will«, entgegnet Hammie und tätschelt Asher kurz die Wange.
Ich sehe zu, wie Hideo und Kenn sich leise unterhalten, und frage mich, wie viel Kenn und Mari von Hideos Plänen wissen. Steckte von Anfang an die ganze Firma mit in dieser Sache drin? Ist es überhaupt möglich, ein Vorhaben dieser Größenordnung geheim zu halten? Würde eine solche Menge von Menschen bei so etwas Schrecklichem mitmachen?
»Wie Sie alle wissen«, fängt Hideo nun an, »wurde während des diesjährigen Meisterschaftsfinales ein Cheat aktiviert, der einer der Mannschaften – den Phoenix Riders – einen Vorteil über die andere – Andromeda – verschafft hat. Nachdem mein Kreativteam und ich den Vorfall untersucht haben« – er hält kurz inne und sieht zu Kenn rüber – »scheint es nun, als wäre der Cheat nicht von einem der Mannschaftsmitglieder ins Spiel gebracht worden, sondern durch einen Außenstehenden. Daher haben wir beschlossen, dass es am fairsten ist, das Finale zu wiederholen, und zwar in drei Tagen. Nach weiteren vier Tagen folgt dann die Abschlussfeier.«
Unter den Journalisten erhebt sich Gemurmel. Asher lehnt sich zurück und betrachtet stirnrunzelnd den Bildschirm. »Okay, dann ist es jetzt offiziell«, sagt er. »Das Spiel wird wiederholt. Wir haben zwei Tage, um uns vorzubereiten.«
Hammie saugt schlürfend eine Nudel ein. »Wiederholt«, echot sie alles andere als begeistert. »So was ist ja in der ganzen Geschichte der Meisterschaft noch nie vorgekommen.«
»Das wird jede Menge Riders-Hasser auf den Plan rufen«, merkt Tremaine an. Und wie aufs Stichwort ertönen die ersten »Schiebung!«-Rufe aus den Bars ringsum.
Asher zuckt mit den Schultern. »Ach, das sind wir doch schon gewohnt. Stimmt’s, Blackbourne?«
Tremaines Miene bleibt ausdruckslos. Die Wiederholung des Finales lässt uns alle eher kalt und wir starren weiter auf den Bildschirm. Das ist nichts im Vergleich zu dem, was wir herausgefunden haben. Wenn all diese Journalisten wüssten, was Hideo in Wirklichkeit mit dem NeuroLink anstellt …
Ich habe genug von all dem Grauen in der Welt, hat er zu mir gesagt. Also werde ich ihm ein Ende bereiten.
»Tja«, sagt Roshan und reibt sich mit der Hand übers Gesicht. »Falls irgendwas von dem, was in den letzten Tagen passiert ist, Hideo Sorgen bereiten sollte, dann lässt er es sich jedenfalls nicht anmerken.«
Tremaine ist auf etwas Unsichtbares in seinem Blickfeld konzentriert und tippt hastig auf der Theke herum. Noch vor ein paar Wochen hätte ich es kaum im selben Raum mit ihm ausgehalten und er ist immer noch alles andere als mein bester Freund – ich warte nur darauf, dass er mich wieder höhnisch grinsend Prinzessin nennt –, aber er steht jetzt auf unserer Seite. Und wir müssen alles an Hilfe annehmen, was wir kriegen können.
»Und, was gefunden?«, erkundige ich mich bei ihm.
»Ein paar fundierte Zahlen, wie viele Leute schon die neuen Kontaktlinsen haben.« Tremaine lehnt sich zurück und stößt einen Seufzer aus. »Achtundneunzig Prozent.«
Die Stille, die sich daraufhin ausbreitet, liegt schwer im Raum. Achtundneunzig Prozent aller User werden von Hideos Algorithmus kontrolliert. Ich denke an die langen Schlangen, die Polizeiabsperrungen. Das schiere Ausmaß des Ganzen macht mich benommen.
»Und die restlichen zwei Prozent?«, fragt Asher schließlich.
»Umfassen die Leute, die die Betaversion benutzen«, antwortet Tremaine, »und bislang noch nicht gewechselt haben. Die sind fürs Erste in Sicherheit.« Er sieht sich prüfend in der Bar um. »Also wir und ein paar andere von den Meisterschaftsteilnehmern, weil wir die Betalinsen bekommen haben, bevor die Version für die Endverbraucher rauskam. Außerdem ’ne Menge Leute in der Darkworld, darauf möchte ich wetten. Und dann noch die paar Menschen auf der Welt, die den NeuroLink überhaupt nicht verwenden. Fertig. Alle anderen hat’s erwischt.«
Dem hat niemand etwas hinzuzufügen. Ich spreche es nicht aus, aber mir ist klar, dass wir nicht ewig mit den Betalinsen weitermachen können. Gerüchten zufolge sollen diese Linsen bei der Abschlussfeier ein Update erhalten – Algorithmus inklusive.
Das heißt: in sieben Tagen.
»Noch sechs Tage in Freiheit«, fasst Asher schließlich in Worte, was wir alle denken. »Wenn ihr noch schnell eine Bank ausrauben wollt, dann ist das hier eure Chance.«
Ich werfe Tremaine einen Blick zu. »Und wie sieht’s mit dem Algorithmus selbst aus, hast du darüber irgendwas ausgraben können?«
Er schüttelt den Kopf und ruft einen Bildschirm auf, damit wir alle gut sehen können. Er zeigt ein Labyrinth aus glühenden Buchstaben. »Keine Spur. Seht ihr das hier?« Er deutet auf einen Absatz mit Codes. »Die Einlogsequenz. Da müsste doch irgendwas sein.«
»Du meinst also, da drin kann sich unmöglich ein Algorithmus verbergen?«, hake ich nach.
»Ja, unmöglich. Das ist, als würde man einen Stuhl in der Luft hängen sehen, und so sehr man auch sucht, man findet einfach keine Fäden.«
Es ist derselbe Schluss, zu dem auch ich in den letzten schlaflosen Nächten gekommen bin, in denen ich bis in die verborgensten Nischen und Winkel des NeuroLinks vorgedrungen bin. Nichts. Auf welche Weise Hideo seinen Algorithmus auch immer installiert, ich kann nichts finden.
Ich seufze. »Vielleicht kommt man nur über Hideo selbst daran.«
Auf der Pressekonferenz beantwortet er inzwischen die Fragen der Journalisten. Seine Miene ist ernst, seine Haltung entspannt und sein Haar gerade richtig zerzaust. Perfekt wie eh und je. Wie schafft er es bloß, so ruhig zu bleiben? Ich beuge mich vor, als hätte ich ihn in unserer kurzen Beziehung gut genug kennengelernt, um seine Gedanken zu lesen.
Wieder fällt mir mein Traum von letzter Nacht ein und ich spüre beinahe, wie seine Hände über meine nackten Arme streichen, sehe sein aufgelöstes Gesicht vor mir. Es tut mir leid, hat er geflüstert. Und dann die dunkle Gestalt in der Zimmerecke. Das zersplitternde Glas.
»Und du?«, holt Tremaine mich in die Wirklichkeit zurück. »Hast du was Neues von Zero gehört? Oder Hideo kontaktiert?«
Ich atme tief durch und schüttele den Kopf. »Keins von beidem. Jedenfalls noch nicht.«
»Du denkst doch wohl nicht immer noch über Zeros Angebot nach, oder?« Asher hat den Kopf auf die Hand gestützt und mustert mich argwöhnisch. Genauso, wie er es immer in seiner Funktion als Mannschaftskapitän tut, wenn er den Verdacht hat, dass ich nicht vorhabe, auf seine Befehle zu hören. »Tu’s nicht. Das ist ganz offensichtlich eine Falle.«
»Die Sache mit Hideo war auch eine Falle, Ash«, gibt Hammie zu bedenken. »Das hat keiner von uns kommen sehen.«
»Mit dem Unterschied, dass Hideo nie versucht hat, unser Wohnheim in die Luft zu jagen«, murrt Asher. »Überlegt doch mal – selbst wenn Zero es ernst meint und wirklich mit Emi zusammenarbeiten will, um Hideo zu stoppen, muss die Sache doch einen Haken haben. Er ist ja selbst nicht gerade ein Unschuldslamm. Wenn der einem seine Hilfe anbietet, dann verursacht das vermutlich mehr Probleme, als es löst.«
Tremaine stützt wieder die Ellbogen auf die Theke. Ich habe mich noch immer nicht ganz an den Ausdruck aufrichtiger Sorge in seinem Gesicht gewöhnt, aber zumindest ist er tröstlich. Wie eine Erinnerung daran, dass ich nicht allein bin. »Wenn du und ich zusammenarbeiten, Em, dann kommen wir vielleicht um Zeros Hilfe herum. Es muss da draußen einfach irgendwelche Hinweise auf Sasuke Tanaka geben.«
»Sasuke Tanaka ist spurlos verschwunden«, merkt Roshan an und wickelt mit seinen Essstäbchen eine lange Nudel auf. Seine leise Stimme klingt kühl und schneidend.
Tremaine sieht ihn an. »Es gibt immer eine Spur«, widerspricht er.
Bevor die Spannung zwischen den beiden noch größer werden kann, unterbricht Asher sie. »Und wenn du dich doch mal bei Hideo meldest?«, wendet er sich an mich. »Sag ihm einfach, du hättest rausgefunden, dass sein Bruder noch am Leben ist. Du hast doch erzählt, er hätte das alles – Warcross, den Algorithmus – nur seinetwegen erschaffen, oder nicht? Würde er dann nicht so ziemlich alles für ihn tun?«
Wieder sehe ich im Geiste Hideo vor mir. Alles, was ich tue, tue ich für ihn. Das hat er erst vor wenigen Wochen zu mir gesagt, eingehüllt in den Dampf einer heißen Quelle, während über uns am Himmel ein Stern nach dem anderen aufleuchtete.
Schon damals war der Algorithmus längst beschlossene Sache, was seinen Worten im Nachhinein eine völlig neue Bedeutung verleiht. Mein Inneres zieht sich zusammen, als die Wärme der Erinnerung zu Eis erstarrt.
»Vorausgesetzt, Zero ist wirklich sein Bruder«, wende ich ein.
»Glaubst du, er ist es nicht? Wir haben es doch alle gesehen.«
»Ich meine nur, dass man sich nie sicher sein kann.« Ich rühre in meiner Nudelsuppe, doch ich habe einfach keinen Appetit.
Hammie legt nachdenklich den Kopf schief und ich höre förmlich die Rädchen in ihrem Schachmeisterinnenhirn rattern. »Es könnte ja auch jemand sein, der Sasukes Identität gestohlen hat. Jemand, der versucht, die Leute mit dem Namen eines toten Jungen auf die falsche Fährte zu locken.«
Ich nicke. Diese Methode kenne ich nur zu gut, ich habe sie selbst schon angewendet.
»So was Wichtiges kann man jedenfalls niemandem erzählen, ohne zu wissen, ob es stimmt«, fährt Hammie fort. »Wer weiß, wie Hideo darauf reagiert. Zuerst brauchen wir Beweise.«
In diesem Moment springt Roshan von seinem Hocker, der unangenehm laut über den Boden scharrt. Als ich aufsehe, hat er uns schon den Rücken zugekehrt und ist auf halbem Weg zur Tür.
»Hey«, ruft Hammie ihm nach. »Alles okay?«
Er bleibt stehen und dreht sich um. »Was soll denn bitte okay sein? Dass wir hier alle rumsitzen und fröhlich Pläne schmieden, wie Emi sich am besten in Lebensgefahr begibt?«
Wir verstummen und unsere Worte hängen unausgesprochen in der Luft. So wütend habe ich Roshan noch nie erlebt; der Tonfall scheint gar nicht zu seiner sonst so sanften Stimme zu passen.
Sein Blick schweift langsam in die Runde und verharrt schließlich bei mir. »Du bist Hideo nichts schuldig«, beschwört er mich sanft. »Du hast nur getan, wofür er dich eingestellt hat. Es liegt nicht in deiner Verantwortung, noch tiefer zu graben – in Zeros Vergangenheit oder nach dem, was zwischen ihm und Hideo vorgefallen ist oder was er mit ihm vorhat.«
»Aber Emi ist die Einzige, die –«, fängt Asher an.
»Als hättest du dich jemals für ihre Bedürfnisse interessiert«, blafft Roshan ihn an. Ich ziehe erstaunt die Augenbrauen hoch.
»Roshan«, mahnt Asher, ohne ihn aus den Augen zu lassen.
Doch Roshan presst die Lippen zusammen. »Hör zu«, sagt er dann wieder zu mir, »wenn Zeros Team immer noch vorhat, Hideo aufzuhalten, dann lass ihn doch. Lass die zwei aufeinander losgehen. Guck einfach zu und halt dich raus. Du musst das nicht machen. Und keiner von uns sollte versuchen, dich vom Gegenteil zu überzeugen.«
Bevor ich antworten kann, wendet Roshan sich endgültig ab und verschwindet in der Dunkelheit. Die Tür schließt sich mit einem leisen Knall hinter ihm. Um mich herum atmen alle geräuschvoll aus.
Als ich Hammie ansehe, schüttelt sie den Kopf. »Das liegt alles nur an ihm«, flüstert sie und nickt in Tremaines Richtung. »Er macht Roshan immer noch ganz kirre.«
Tremaine räuspert sich beklommen. »Ganz unrecht hat er ja nicht«, räumt er schließlich ein. »Was das Risiko angeht, meine ich.«
Ich starre auf Roshans leeren Platz und denke an die Gebetsperlen an seinem Handgelenk. In meinem Archiv kann ich noch immer Zeros letzte Nachricht sehen, die vier Wörter, die nur auf meine Antwort zu warten scheinen.
Mein Angebot steht noch.
Hammie lehnt sich mit verschränkten Armen zurück. »Warum machst du überhaupt weiter?«, will sie wissen.
»Ist die Zukunft der Welt nicht Grund genug?«
»Nein, da steckt noch mehr dahinter.«
Verärgerung steigt in mir auf. »Na, das passiert schließlich alles meinetwegen – ich war direkt darin verwickelt.«
Trotz meines ruppigen Tonfalls gibt Hammie nicht klein bei. »Aber du weißt doch, dass es nicht deine Schuld ist. Also: Warum?«
Ich zögere, will es nicht aussprechen. In einem Winkel meines Blickfelds sehe ich Hideos Profil, grün umrandet. Er ist wach und online. Am liebsten würde ich mich mit ihm verlinken.
Es ärgert mich, dass er noch immer diese Anziehungskraft auf mich ausübt. Klar, jeder lernt mal einen Menschen kennen, von dem er regelrecht besessen ist, aber irgendwann muss das doch auch wieder vorbeigehen. Schließlich hatte ich auch vorher schon kleine Affären, die nach ein paar Wochen vorüber waren. Aber jetzt …
Hideo ist mehr als bloß ein Flirt, mehr als ein saftiges Kopfgeld, mehr als eine Zielperson. Er ist für immer mit meiner Vergangenheit verflochten. Der Hideo, der der Menschheit ihren freien Willen genommen hat, ist immer noch derselbe, der so sehr um seinen Bruder getrauert hat, dass in seinem dunklen Haar nun eine silbergraue Strähne glänzt. Der seine Eltern liebt. Der mich aus der Finsternis geholt und dazu gebracht hat, von einer besseren Zukunft zu träumen.
Ich weigere mich einfach zu glauben, dass er plötzlich nichts weiter als ein Monster sein soll. Ich kann nicht mit ansehen, wie er so tief sinkt. Darum mache ich weiter, weil ich diesen Jungen wiederfinden will, das große Herz, das unter dieser Lüge begraben ist. Ich muss ihn aufhalten, um ihn zu retten.
Er hat mir einmal die Hand gereicht und mir aufgeholfen. Jetzt muss ich ihm denselben Dienst erweisen.
Als wir die Bar verlassen, ist es schon weit nach Mitternacht und der strömende Regen hat sich zu einem feinen Nieseln abgeschwächt. Ein paar Leute sind noch immer auf den Straßen unterwegs. Gerade sind die ersten beiden All-Stars verkündet worden, die nun als virtuelle Figuren über jeder Straßenlaterne schweben.
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Hammie würdigt die Einblendungen ihrer besten Manöver aus vergangenen Spielen kaum eines Blickes. »Du solltest mit uns nach Hause fahren«, sagt sie und sieht sich misstrauisch um.
»Ich komme schon klar«, beruhige ich sie. Falls mir wirklich jemand folgt, serviere ich ihm bestimmt nicht auch noch meine Mannschaftskameraden auf dem Silbertablett.
»Wir sind hier in Kabukichō, Em.«
Ich schenke ihr ein sarkastisches Lächeln. »Na und? Hideo hat doch sowieso bei den meisten Leuten seinen Algorithmus installiert. Was soll mir denn da passieren?«
»Sehr witzig«, erwidert Hammie und zieht genervt eine Augenbraue hoch.
»Wir sollten besser nicht alle zusammen fahren, das macht uns zu einem zu verlockenden Ziel, Algorithmus hin oder her. Ich rufe dich an, sobald ich wieder im Hotel bin.«
Hammie erkennt am Klang meiner Stimme, dass jede Widerrede zwecklos ist. Sie presst frustriert die Lippen aufeinander, nickt dann jedoch und setzt sich in Bewegung. »Wehe, wenn nicht«, ruft sie mir über die Schulter zu, bevor sie noch mal kurz winkt und davoneilt.
Sie und die anderen gehen in Richtung U-Bahn-Haltestelle, wo eine Limousine auf sie wartet. Ich versuche, mir die drei vorzustellen, bevor sie so richtig berühmt wurden, als sie zum ersten Mal in Tokio eingetroffen sind, und frage mich, ob sie sich damals unauffällig genug gefühlt haben, um die U-Bahn zu nehmen. Ob sie einsam waren.
Nachdem meine Mannschaft im Regendunst verschwunden ist, wende ich mich ab.
Ich bin es gewohnt, allein unterwegs zu sein. Jetzt jedoch spüre ich die Einsamkeit überdeutlich, der Raum um mich fühlt sich ohne meine Freunde leerer an. Ich stecke die Hände in die Taschen und versuche, das männliche virtuelle Model zu ignorieren, das lächelnd auf mich zugeschlendert kommt und mich auf Englisch in einen der Clubs an der Straße einlädt.
»Lass mal«, sage ich zu ihm. Sofort löst er sich in Luft auf, bevor er am Clubeingang neu startet und sich auf die Suche nach einer neuen Kundin macht.
Ich verstecke mein Haar unter der Kapuze und gehe weiter. Noch vor einer Woche hätte ich wahrscheinlich Hideo neben mir gehabt, sein Arm um meine Taille, sein Mantel über meinen Schultern. Vielleicht hätte er gerade über einen Witz von mir gelacht.
Aber jetzt bin ich allein und lausche auf das einsame Platschen meiner Stiefel in den dreckigen Pfützen. Das Geräusch des Regenwassers, das von Straßenschildern und Vordächern tropft, irritiert mich. Es klingt wie Schritte hinter mir. Das Gefühl, beobachtet zu werden, kehrt zurück.
Ich habe ein Summen in den Ohren. Kurz bleibe ich an einer Kreuzung stehen und wiege den Kopf von links nach rechts, bis es aufhört.
Wieder fällt mein Blick auf Hideos grün umrandeten Avatar in meinem Sichtfeld. Wo ist er gerade, was macht er? Ich stelle mir vor, wie ich ihn kontaktiere, wie seine virtuelle Gestalt vor mir erscheint, und noch immer schwirrt mir Ashers Frage durch den Kopf. Was, wenn ich Hideo wirklich von der Verbindung zu seinem Bruder erzähle? Wäre das wirklich so schlimm? Einfach, um zu sehen, was passiert, auch ohne dass wir uns hundertprozentig sicher sind?
Ich knirsche mit den Zähnen, wütend auf mich selbst, dass ich mir solche Ausreden ausdenke, nur um seine Stimme zu hören. Aber wenn ich innerlich auf Abstand gehe und die Angelegenheit behandle wie einen Job, hört diese nagende Sehnsucht nach ihm bestimmt bald auf.
Wieder summt es in meinen Ohren. Diesmal bleibe ich stehen und lausche. Nichts. Außer mir sind mittlerweile nur noch wenige Leute auf der Straße, gesichtslose Umrisse. Vielleicht versucht ja jemand, mich zu hacken. Ich starte einen Scan meines NeuroLink-Systems, um sicherzugehen, dass alles in Ordnung ist. Grüne Textblöcke rattern durch mein Blickfeld, aber alles sieht normal aus.
Bis der Suchlauf meine Nachrichten erreicht.
Ich runzele die Stirn, doch bevor ich mir das Ganze näher ansehen kann, verschwindet plötzlich der grüne Text. An seine Stelle tritt ein einzelner Satz.
Ich warte immer noch, Emika.
Sämtliche Nackenhärchen stellen sich mir auf. Es ist Zero.
Ich wirbele herum und mein Blick huscht von einer dunklen Gestalt zur nächsten. Die bunten Spiegelungen auf der Straße verschwimmen in der feuchten Nacht. Plötzlich sehen die Laternenpfähle aus wie Menschen und jeder noch so ferne Schritt klingt, als käme er auf mich zu.
Ist er hier? War er es, der mich die ganze Zeit beobachtet hat? Fast erwarte ich, seine vertraute Silhouette hinter mir zu entdecken, seinen eng anliegenden Panzeranzug, das Gesicht unter dem schwarz verspiegelten Helm verborgen.
Doch da ist niemand.
»Das waren gerade mal ein paar Tage«, flüstere ich nahezu tonlos und meine Worte werden in eine schriftliche Antwort umgewandelt. »Schon mal das Wörtchen Bedenkzeit gehört?«
Ich habe dir genug Zeit gegeben.
Ärger mischt sich in meine Angst. Trotzig schiebe ich das Kinn vor und gehe schneller. »Vielleicht ist das ja meine Art, dir mitzuteilen, dass ich kein Interesse habe.«
Kein Interesse?
»Kein bisschen.«
Warum nicht?
»Möglicherweise, weil du versucht hast, mich umzubringen?«
Wenn ich dich immer noch tot sehen wollte, wärst du es längst.
Wieder läuft mir ein Schauer über den Rücken. »Ist das eigentlich gerade ein Versuch, mich dazu zu bewegen, dein Angebot anzunehmen? Wenn ja, solltest du nämlich dringend an deiner Überzeugungstaktik arbeiten.«
Ich will dich nur wissen lassen, dass du in Gefahr bist.
Er spielt mit mir, wie immer. Aber irgendwas an seinem Tonfall lässt mich erstarren. Mir wird plötzlich klar, dass er sich in diesem Moment durch meine Schutzschilde hackt, in meinen Daten herumwühlt, in mir. Er hat mir schon einmal die Rückschauen mit den Erinnerungen an meinen Vater gestohlen. Er könnte es ganz leicht wieder tun.
»Die einzige Gefahr, in der ich je war, ging von dir aus.«
Dann warst du in letzter Zeit wohl nicht in der Darkworld.
Mit einem Mal baut sich das Piratennest um mich auf. Ich zucke zurück angesichts des abrupten Wechsels. Noch vor Sekunden stand ich auf einer Straße mitten in der Stadt und jetzt bin ich an Deck eines Piratenschiffs.
Tremaine hatte recht – die gesamte Darkworld muss noch die Betalinsen benutzen, denn Hideos Algorithmus würde ganz sicher verhindern, dass sie nach down under gehen. Das Schiff ist voller virtueller Menschen, die sich alle um den Glaszylinder in der Mitte versammelt haben. Der Bildschirm, der die Attentatslotterie abbildet.
Immer noch erste Wahl, was?
Mein Blick wandert auf der Liste nach oben. Ich sehe ein paar bekannte Namen – Bandenchefs und Gangsterbosse, Politiker und auch einige Berühmtheiten. Aber dann –
Da stehe ich, Emika Chen, ganz oben. Und neben meinem Namen ein Kopfgeld von fünf Millionen Noten.
Fünf Millionen für meinen Tod.
»Das ist doch wohl ein Witz«, stoße ich hervor.
Das Piratennest verschwindet so schnell, wie es aufgetaucht ist, und ich bin zurück in Kabukichō.
Sofort kommt eine neue Nachricht von Zero.
Die ersten zwei Auftragskiller kommen gerade die Straße rauf. Die erwischen dich, bevor du es zum Bahnhof schaffst.
Mit einem Schlag spannen sich alle meine Muskeln an. Ich habe schon erlebt, was mit anderen passiert ist, die auf dieser Liste gelandet sind – und eine derart hohe Belohnung verspricht fast immer ein erfolgreiches Attentat.
Für den Bruchteil einer Sekunde wünsche ich mir, Hideos Algorithmus hätte schon ausnahmslos alle Menschen erfasst. Aber diesen Gedanken schüttele ich schnell ab.
»Und woher weiß ich, dass du die nicht selbst geschickt hast?«, flüstere ich.
Du verschwendest deine Zeit. An der nächsten Kreuzung biegst du rechts ab und betrittst das Einkaufszentrum. Geh durchs Untergeschoss, auf der anderen Seite wartet ein Wagen auf dich.
Ein Wagen? Vielleicht bin ich ja doch nicht paranoid. Also hat er mich die ganze Zeit beobachtet, vielleicht um zu kalkulieren, welchen Weg ich nehme, nachdem ich mich von den Riders getrennt habe.
Hektisch sehe ich mich um. Gut möglich, dass Zero mich anlügt, um mich verrückt zu machen. Ich öffne mein Telefonverzeichnis und rufe Asher an. Vielleicht sind die anderen ja noch in der Nähe. Dann könnten sie –
Bevor ich den Gedanken beenden kann, knallt es hinter mir. Irgendwas saust knapp an meinem Nacken vorbei und schlägt schräg vor mir in die Hauswand ein.
Eine Kugel. Jemand hat auf mich geschossen. Entsetzen packt mich. Ich werfe mich auf den Boden. Irgendwo vor mir schreit eine Passantin auf und rennt weg, sodass ich allein zurückbleibe, zumindest soweit ich erkennen kann. Ich spähe über meine Schulter, auf der Suche nach meinen Verfolgern – und diesmal sehe ich tatsächlich einen Schatten über eine Gebäudewand huschen. Aus dem Augenwinkel nehme ich eine weitere Bewegung auf der anderen Straßenseite wahr. Ich rappele mich auf.
Ein weiterer Schuss zerreißt die Stille.
Die Panik vernebelt mir die Sinne. Alle Geräusche klingen, als befände ich mich unter Wasser. Als Kopfgeldjägerin sind mir Schüsse vertraut, Patronen, die in Wände einschlagen und Glas zersplittern lassen –, aber die schiere Todesangst dieses Moments ist mir neu. Noch nie war ein Schuss für mich bestimmt.
Hat Zero die Angreifer geschickt? Aber warum hätte er mich dann vor ihnen warnen sollen? Er hat mir gesagt, ich sei in Gefahr. Warum hätte er das tun sollen, wenn er selbst derjenige ist, der mir schaden will?
Denk nach.
Ich drücke mich flach an die Mauer, dann werfe ich mein Board auf den Boden und springe auf. Mit der Ferse hole ich Schwung und das Board macht mit einem schrillen Wusch! einen Satz nach vorn. Zero hat geschrieben, dass ein Wagen auf mich wartet. Geduckt, sodass ich mich mit beiden Händen an den Seiten des Boards festhalten kann, rolle ich auf das Ende der Straße zu.
Doch der nächste Schuss geht – viel zu dicht – an meinem Bein vorbei und trifft das Board. Ein weiterer schlägt eine der Rollen los.
Kurz bevor das Board gegen die Wand kracht, hechte ich herunter, rolle mich ab und richte mich sofort wieder auf – aber mein Sneaker bleibt an einem Riss im Asphalt hängen. Ich stolpere. Hinter mir nähern sich Schritte. Noch während ich mich wieder auf die Füße kämpfe, kneife ich die Augen zu. Das war’s, jetzt kann es sich nur um Sekunden handeln, bis ein brennender Schmerz meine Eingeweide zerfetzt.
»Schnell. Um die Ecke.«
Mein Kopf ruckt zur Seite.
Neben mir in der Dunkelheit kauert ein Mädchen mit einer schwarzen Mütze, die sie sich tief in die Stirn gezogen hat. Sie trägt schwarzen Lippenstift und ihr Blick, grau und stahlhart, fixiert die finsteren Silhouetten weiter unten in der Straße. Sie hat eine Pistole in der Hand und ums Handgelenk ein schwarzes Armband, eine Art Manschette, die ich zunächst für real halte, bis ein virtuelles blaues Leuchten darüberzuckt. Sie bewegt sich so leichtfüßig, dass es scheint, als könnte sie jeden Moment abheben, und ihr ausdrucksloses Gesicht zeigt nicht die geringste Spur von Furcht.
Eine Sekunde zuvor war noch niemand neben mir. Es ist, als hätte sie sich hergebeamt.
Jetzt sieht sie mich an. »Lauf!« Ein Wort wie ein Peitschenknall.
Diesmal zögere ich nicht und renne los. Nach einigen Metern drehe ich mich im Laufen um und sehe, dass sich das Mädchen aus der Hocke erhebt und auf einen meiner vermummten Verfolger zugeht. Ihr Gang wirkt so ruhig, dass es beinahe gruselig ist – bis der Angreifer den Arm herumreißt, um auf sie zu schießen. Als er seinen Schuss abfeuert, hat sie den Oberkörper längst zur Seite gedreht und weicht ihm aus, während sie gleichzeitig ihre eigene Pistole hebt und in einer einzigen verschwommenen Bewegung auf ihn schießt. Ich erreiche die Straßenecke in dem Moment, in dem ihre Kugel den Attentäter in die Schulter trifft und ihn von den Füßen reißt.
Wer zum Teufel ist dieses Mädchen?
Zero hat nichts davon gesagt, dass er mit jemandem zusammenarbeitet – vielleicht haben die beiden ja auch gar nichts miteinander zu tun. Womöglich gehört sie zu den Angreifern und versucht, mich in eine Falle zu locken, indem sie vorgibt, mich zu retten.
Endlich erreiche ich das Einkaufszentrum. An Gruppen erschrockener Menschen vorbei stürme ich die erste Treppe hinunter. Durchs Untergeschoss, wiederhole ich im Geiste. In der Ferne heulen Polizeisirenen, vermutlich auf der Straße, von der ich gerade komme. Woher wussten die so schnell, wo sie hinmüssen?
Dann fällt mir die Passantin wieder ein, die vorhin beim ersten Schuss die Flucht ergriffen hat. Wenn sie die neuen Linsen mit dem Algorithmus benutzt, könnte ihre Reaktion dazu geführt haben, dass der NeuroLink automatisch die Polizei kontaktiert hat. Ist das möglich? Klingt jedenfalls ganz nach einem Feature, das Hideo einbauen würde.
Als ich am Fuß der Treppe durch einen Notausgang stürme, sehe ich, dass das Mädchen mit den grauen Augen schon dort ist – wie auch immer sie das geschafft hat. Sie rennt neben mir her. Als sie sieht, wie ich den Mund öffne, um sie danach zu fragen, schüttelt sie den Kopf. »Keine Zeit. Schnell«, kommandiert sie knapp. Benommen gehorche ich.
Im Laufen versuche ich, Informationen über sie abzurufen. Das Ergebnis ist dürftig. Genau wie ich scheint sie eine falsche Identität angenommen zu haben; die verschiedenen Profile, auf die ich stoße, sind leer und bewusst als falsche Fährten angelegt. Ihre gezielten, kontrollierten Bewegungen verraten mir, dass sie so etwas nicht zum ersten Mal macht.
So etwas? Was denn genau – eine Gejagte in Sicherheit bringen? Oder sie ins Verderben führen?
Ich erschaudere bei der Vorstellung. Das Ganze ist ein Spiel, bei dem ich mir keine Niederlage leisten kann. Darum muss ich bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit fliehen, für den Fall, dass sie mich wirklich bloß von ihren Killerkonkurrenten weglocken will.
Auf den ersten Blick scheint das Untergeschoss voller Kosmetikstände zu sein, wie ich es aus den New Yorker Einkaufszentren kenne. Dann erst fällt mir auf, dass an den kleinen Buden stattdessen dekadent verzierte Süßspeisen verkauft werden. Eine riesige Auswahl an Kuchen, Bonbons und Schokolade – alles so elegant verpackt, als handelte es sich um Schmuck, nicht um etwas zu essen. Die Etage ist bereits für die Nacht geschlossen, das Licht gedimmt.
Im Halbdunkel renne ich hinter dem Mädchen her. Gerade steuert es eine der Kuchenvitrinen an und lässt den angewinkelten Ellbogen mit voller Wucht auf die Scheibe krachen. Sie zerspringt in tausend Stücke.
Eine Sirene heult los.
Zufrieden greift das Mädchen in die Auslage, schnappt sich ein mit Blattgold garniertes Reisküchlein, schüttelt ein paar Splitter herunter und beißt hinein.
»Was machst du denn da?«, schreie ich ihr über den Lärm hinweg zu.
»Den Weg frei«, antwortet sie mit vollem Mund. Ungeduldig deutet sie zur Decke. »Der Alarm dürfte zumindest ein paar von ihnen verscheuchen.« Sie umfasst ihre Pistole fester und vollführt mit der anderen Hand eine Reihe angedeuteter Gesten in der Luft. Eine Einladung ploppt vor mir auf.
Mit [null] verbinden?
Ich nehme sie an. Plötzlich zieht sich eine gestrichelte Linie durch mein Blickfeld, ein Weg, den sie für uns markiert hat. »Dem folgst du, falls du mich verlierst«, sagt sie über die Schulter hinweg.
»Wie soll ich dich eigentlich nennen?«, erkundige ich mich.
»Ist das jetzt wirklich wichtig?«
»Damit ich weiß, nach wem ich um Hilfe schreien muss, falls wir getrennt werden und mich jemand angreift.«
Lächelnd dreht sie sich zu mir um. »Jax«, antwortet sie.
In dem Moment tritt eine leuchtend rot umrandete Gestalt hinter einer Säule am anderen Ende des Gangs hervor.
Ohne einen Sekundenbruchteil zu zögern, wendet Jax den Kopf und hebt die Pistole. »Duck dich«, warnt sie. Und schießt.
Ich werfe mich auf den Boden. Unser Gegner erwidert das Feuer, überall streifen Kugeln Funken sprühend die Säulen und zerschmettern eine weitere Glasvitrine. Ein Schrillen erhebt sich in meinen Ohren. Jax bewegt sich mit derselben Präzision wie zuvor, weicht aus, legt an, strafft die Schultern und schießt zurück. Ich renne mit eingezogenem Kopf neben ihr her.
Als eine Kugel so dicht an ihr vorbeizischt, dass sie sich seitwärts drehen muss, wirft sie die Pistole lässig von einer Hand in die andere.
Diesmal trifft sie. Ein schmerzerfüllter Schrei ertönt – und als ich aufblicke, sehe ich die rote Gestalt zusammenbrechen. Die Linie führt uns nach rechts, doch bevor wir abbiegen, eilt Jax auf die Person am Boden zu.
Sie hebt ihre Pistole und drückt ab, ein einziger, effizienter Schuss.
Ein heftiger Ruck geht durch den Körper des Auftragskillers, dann regt er sich nicht mehr.
Nach wenigen Augenblicken ist es vorbei, aber das Bild legt sich in meinem Kopf immer wieder über sich selbst, wie Wellen in einem Teich, in den jemand einen Stein geworfen hat. Die Wand ist voller Blutspritzer und unter dem Angreifer breitet sich eine dunkelrote Pfütze aus. In seinem Kopf klafft ein Loch.
Mein Magen krampft sich zusammen. Unterdrücken kann ich es sowieso nicht, also lasse ich mich auf die Knie fallen und erbreche mich.
Jax reißt mich hoch. »Ganz ruhig. Komm mit.« Sie bedeutet mir mit dem Kinn, dass wir weitermüssen.
Wieder und wieder spritzt das Blut in meinen Gedanken an die Wand. Das ging viel zu leicht. Sie ist es gewohnt zu töten. Erneut packt mich der Drang wegzulaufen – andererseits hat Jax mich ja beschützt und nicht selbst versucht, mich umzubringen. Oder gibt es etwa ein noch höheres Kopfgeld für den, der mich lebendig ausliefert?
Tausend Fragen liegen mir auf der Zunge, aber ich stolpere nur wie betäubt hinter Jax her. Es ist still bis auf unsere Schritte. Die Polizei und die Notärzte müssen immer noch oben sein, wo die ersten Schüsse gefallen sind, oder hat inzwischen schon jemand die Leiche entdeckt, die Jax hier unten zurückgelassen hat?
Sekunden scheinen sich zu Stunden auszudehnen, bis wir endlich unser Ziel erreichen: Die gestrichelte Linie endet vor einer schmalen Tür.
Jax tippt einen Code in das Nummernfeld neben der Tür ein. Es leuchtet grün auf, piept einmal und wir dürfen hinein. Jax scheucht mich weiter.
Wir scheinen uns in einem gewöhnlichen Abstellraum zu befinden, voller Holzkisten und Pappkartons, die sich bis zur Decke stapeln. Jax lehnt sich an eine Werkbank und fängt an, ihre Pistole neu zu laden. »Durch den normalen Ausgang kann ich dich nicht bringen«, murmelt sie dabei. »Da oben blockiert eine Polizeibarrikade unserem Wagen den Weg. Wir gehen hier lang.«
Unserem Wagen. Vielleicht gehört sie wirklich zu Zero.
Ich kauere mich in eine Ecke und schließe die Augen. Meine Kehle brennt noch immer vor Magensäure und in meinen Ohren hallt der tödliche Schuss nach. Ich stoße einen langen, bebenden Atemzug aus und richte den Blick fest auf Jax’ Pistole, bemüht, mich zusammenzureißen. Aber meine Hände zittern weiter, egal, wie fest ich die Fäuste balle. Ich kann einfach keine klaren Gedanken fassen. Sobald ich es auch nur versuche, lösen sie sich sofort wieder auf.
Jax merkt mir an, wie sehr ich zu kämpfen habe. Sie hält inne, macht einen Schritt auf mich zu und legt mir eine behandschuhte Hand unters Kinn. Das Leder ist blutverschmiert. Ich halte ganz still und frage mich, wie sie so ruhig und besonnen wirken kann, kurz nachdem sie jemandem eine Kugel in den Kopf gejagt hat. Frage mich, ob jetzt der Moment gekommen ist, in dem sie mir das Genick bricht wie einen trockenen Zweig.
»Hey.« Sie starrt mich eindringlich an. »Dir ist nichts passiert.«
Ich mache mich von ihr los. »Ist mir klar«, quäke ich.
»Gut.« Sie greift hinter sich und zieht eine weitere Pistole aus dem Gürtel, die sie mir zuwirft.
Ich fange sie linkisch auf. »Geht’s noch?«, schimpfe ich und halte die Waffe mit spitzen Fingern von mir weg. »Was soll ich denn bitte damit?«
»Wie wär’s mit Schießen, wenn nötig?«, gibt sie zurück.
Verständnislos starre ich sie an, bis sie die Augen verdreht und mir die Pistole wieder wegnimmt. Sie steckt sie zurück in den Gürtel. »Hast du etwa noch nie eine Waffe abgefeuert?«
»Keine echte.«
»Schon mal jemanden sterben sehen?«
Ich schüttele entsetzt den Kopf.
»Ich dachte, du bist Kopfgeldjägerin.«
»Bin ich auch.«
»Aber so was machst du nicht?«
»Was, Leute umbringen?«
»Ja.«
»Mein Job ist es, die Zielperson lebendig zu fangen, nicht, sie zu durchlöchern wie ein Sieb.« Ich sehe zu, wie sie ein neues Magazin in die Pistole schiebt.
»Ist das jetzt der richtige Moment, um zu fragen, was hier eigentlich vor sich geht? Hat Zero dich geschickt?«
Jax steckt die frisch geladene Waffe in ihr Holster. Der Blick, den sie mir dabei zuwirft, ist geradezu mitleidig. »Pass auf. Emika Chen, stimmt’s? Du hast ganz offensichtlich keinen Schimmer, wo du hier reingeraten bist.« Während sie redet, zieht sie ein Messer aus einem ihrer Stiefel. »Du warst heute Abend mit den Phoenix Riders essen.«
»Du hast mir nachspioniert?«
»Ich habe dich observiert.« Jax durchquert den Raum und schiebt am anderen Ende einen Stapel Kisten zur Seite. Dahinter verbirgt sich eine unauffällige Tür, die sich lediglich als dünner rechteckiger Umriss an der Wand abzeichnet. Vorsichtig schiebt sie das Messer in die Ritze. »Sag mir bitte, dass ich nicht bei Adam und Eva anfangen muss mit Erklären.«
»Wie wär’s, wenn du einfach mal bei dem Scheiß anfängst, der da draußen gerade passiert ist, und dann sehen wir weiter?« Ich verschränke die Arme. So lässt sich das Zittern leichter kaschieren und außerdem ist das Gefühl tröstlich. Vor diesem Mädchen Schwäche zu zeigen, scheint mir keine gute Idee zu sein.
»Ich habe dich gerade vor einer Bande von Attentätern gerettet«, sagt Jax und deutet mit dem Messer auf mich. »Die, vor denen Zero dich gewarnt hat.«
Die Bestätigung aus ihrem Mund zu hören, löst eine weitere Welle von Furcht in mir aus. Unauffällig suche ich Halt an der Wand. »Also hat er dich geschickt, um mir zu helfen?«
Sie nickt. »Sieht aus, als hätten ein paar von diesen Killern zusammengearbeitet, so wie die sich auf beiden Straßenseiten und hier im Untergeschoss postiert hatten. Und sie werden nicht die letzten gewesen sein. Solange dieser fette Jackpot im Piratennest lockt, versuchen sicher noch einige, dich zu erwischen.«
Sie kommt zu mir und drückt mir ein Stückchen Metall in die Hand. »Halt mal.« Dann geht sie zurück zur Tür und stochert weiter mit dem Messer in der Ritze herum.
Schockiert starre ich sie an. »Warum will mich denn überhaupt irgendwer tot sehen?«
»Dafür reicht schon allein deine Verbindung zu Hideo Tanaka.« Sie grunzt entnervt, als die Klinge stecken bleibt. »Die Leute geben dir die Schuld an so ziemlich allem, was dieses Jahr in der Meisterschaft schiefgelaufen ist, weil du dich ins Eröffnungsspiel eingehackt und dann auch noch was mit Hideo angefangen hast. Außerdem gibt es Gerüchte, dass du den Cheat ins Finale eingeschmuggelt hast, aus Rache dafür, dass du aus der Mannschaft geflogen bist.« Sie zuckt mit den Schultern. »Nicht komplett aus der Luft gegriffen, würde ich sagen.«
Meine Überraschung vermischt sich mit Wut. »Und dafür soll ich sterben?«
»Da draußen laufen jede Menge Glücksspieler rum, die beim Finale richtig hohe Wetten verloren haben. Aber egal. Du wirst jedenfalls noch eine Weile dein Vergnügen mit diesen Attentätern haben, also halt dich besser an mich.« Sie zieht das Messer aus der Ritze, rammt es an einer anderen Stelle wieder hinein und stemmt sich mit ihrem ganzen Gewicht dagegen.
Zero. Zum ersten Mal habe ich eine Bestätigung von jemand anderem als Hideo, dass es ihn überhaupt gibt. »Warum hat er dich geschickt?«
Sie nimmt die Mütze ab, unter der kurzes, silbernes Haar zum Vorschein kommt, und sieht zu mir hoch. »Warum wohl? Damit du nicht mit Blei vollgepumpt wirst. Gern geschehen übrigens.«
Ein Kribbeln läuft mir durch sämtliche Glieder. Zeros Warnung war also tatsächlich aufrichtig gemeint. Oder zumindest scheint es so. »Nein – ich meine, was ist dein Job?«
Sie fixiert mich. »Um einen Attentäter aufzuhalten, heuert man am besten jemanden vom gleichen Schlag an.«
Jemanden vom gleichen Schlag. Sie ist Auftragskillerin. Das dürfte mich kaum schockieren nach allem, was ich gerade erlebt habe, trotzdem muss ich plötzlich an das Piratennest in der Darkworld denken, wo die Attentäter schweigend die Lotterie beobachten und auf ihre Chance lauern. Vielleicht war Jax damals unter ihnen.
Ich schlucke. »Dann arbeitest du also für Zero? Gehörst du zu seinem Team, das versucht hat, Warcross zu sabotieren?«
Sie denkt kurz darüber nach, bevor sie antwortet. »Könnte man so sagen. Wir sind beide Blackcoats.«
Blackcoats.
Ich runzele die Stirn und denke an all die Gruppierungen, die mir in der Darkworld schon begegnet sind. Natürlich gibt es dort Namen, die auch der breiten Öffentlichkeit bekannt sind – die Hacker von der Wrecking Crew zum Beispiel, oder Anonymous – und haufenweise kleinere Gangs, die gern bei den Großen mitmischen würden.
Aber von irgendwelchen Blackcoats habe ich noch nie gehört. Keine Ahnung, wie viele Mitglieder sie haben, wofür sie stehen, was ihre Ziele sind. Und das macht sie in einer Welt wie dieser noch viel gefährlicher. Offenbar liegt ihnen nichts an publicityträchtigen Aktionen. Sie wollen bloß ernsthaften Schaden verursachen.
»Die kenne ich gar nicht«, sage ich.
Sie zuckt wieder mit den Schultern. »Hatte ich auch nicht erwartet. Und falls doch, wäre mir das sehr verdächtig vorgekommen.«
»Und was, wenn ich nicht will?«
»Wenn du was nicht willst?«
»Wenn ich nicht mehr wissen will? Nicht mit dir mitkommen will?«
Jetzt stiehlt sich ein schmales Lächeln auf Jax’ Lippen, das ihrer Miene etwas extrem Unheilverkündendes verleiht. Unwillkürlich vergegenwärtige ich mir, dass ich gerade mit einer Profikillerin in einem sehr engen Raum gefangen bin.
»Dann geh doch«, fordert sie mich auf und nickt in Richtung Tür.
Sie macht sich über mich lustig, will meine Entschlossenheit auf die Probe stellen. Aus purem Trotz gehe ich zur Tür und lege die Hand auf den Knauf, bereit, sie zu öffnen und auf demselben Weg davonzustürmen, auf dem ich gekommen bin. Fast erwarte ich den sengenden Schmerz einer Kugel in meinen Rücken, die mich zu Boden reißt.
»Wenn es dir nichts ausmacht, heute Nacht noch zu sterben«, fügt sie wie beiläufig hinzu.
Sosehr ich mich auch dafür hasse, bei diesen Worten bleibe ich wie angewurzelt stehen.
»Zero wird natürlich enttäuscht sein, dich zu verlieren«, redet sie weiter. »Aber er hat noch nie irgendwen gezwungen, gegen seinen Willen mit uns zusammenzuarbeiten. Wenn du jetzt da rausgehst, bist du frei, aber auch tot. Du hast die Wahl.«
Auf der anderen Seite dieser Tür warten die Jäger nur darauf, dass ich versuche, durch das schummrige Untergeschoss zu entkommen … und hier drin ist eine Mörderin, die behauptet, mir bei der Flucht vor ihnen helfen zu wollen.
Meine Hand krampft sich um den Knauf. Jax hat recht. Allein würde ich da draußen keine zwei Sekunden durchhalten, im Kampf gegen wer weiß wie viele Unbekannte, die allesamt den Lohn für meine Ermordung einstreichen wollen. Meine einzige Alternative ist, diesem Mitglied der sogenannten Blackcoats zu vertrauen, das mich immerhin vor einer Kugel in den Kopf bewahrt hat und – zumindest bislang – ernsthaft daran interessiert zu sein scheint, mich am Leben zu halten.