Icon and Inferno - Marie Lu - E-Book

Icon and Inferno E-Book

Marie Lu

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Beschreibung

Ihr Leben. Ihre Liebe. Die Sicherheit der Welt.

Seit Superstar Winter Young und Geheimagentin Sydney Cossette gemeinsam undercover unterwegs waren, ist ein Jahr vergangen. Ein Jahr, in dem Winter kein Wort von Sydney gehört hat und in dem er nicht aufgehört hat, an sie zu denken. Dabei möchte Winter nichts mehr, als wieder in die Welt der Geheimagenten abzutauchen, denn Familiengeheimnisse und hetzerische Zeitungsartikel machen ihm das Leben zur Hölle. Aber es dauert nicht lange, bis er seine Chance bekommt: Eine schief gelaufene Rettungsaktion und ein Attentat bringen Winter und Sydney mitten zurück ins Geschehen ... und in ein Land, das am Rande des Chaos steht. Als dann noch Sydney eines Mordes bezichtigt wird und flüchten muss, steht plötzlich nicht nur ihr Leben auf dem Spiel, sondern die Sicherheit der ganzen Welt.
Die umwerfende Fortsetzung der »Stars and Smoke«-Reihe über Superstars, Geheimagenten und eine verbotene Liebe!

Alle Bände der »Stars and Smoke«-Reihe:
Stars and Smoke (Band 1)
Icon and Inferno (Band 2)

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 435

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Marie Lu

Aus dem Englischen von Yola Schmitz

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Erstmals als cbt Taschenbuch März 2025

© 2025 für die deutschsprachige Ausgabe

cbj Kinder- und Jugendbuch Verlag in der

Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

[email protected]

(Vorstehende Angaben sind zugleich

Pflichtinformationen nach GPSR)

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Copyright © 2024 by Xiwei Lu. All rights reserved.

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel

»Icon and Inferno« bei Roaring Brook Press, a division of Holtzbrinck

Publishing Holdings Limited Partnership, New York

Aus dem Englischen von Yola Schmitz

Lektorat: Ulla Mothes

Umschlaggestaltung: Carolin Liepins, München,

unter Verwendung mehrerer Motive von © Shutterstock.com

(Adriianova Maryna, Ensuper, Tao Jiang, Mugi_Mulya)

sh · Herstellung: DiMo · ChS

Satz: KCFG – Medienagentur, Neuss

ISBN 978-3-641-30921-3V001

www.cbj-verlag.de

Für alle, die nach Freude streben, und alle, die sie schenken.

MISSIONSPROTOKOLL

Agent A: »Möchtest du Kontakt zu aufnehmen? Oder soll ich das machen?«

Agent B: »Ich denke, das macht keinen Unterschied.«

Agent A: »Ich glaube schon.«

Agent B: »Befürchtest du, dass ich den Jungen verschrecke?«

Agent A: »Das könnte sein, ja.«

Agent B: »Ich bin ein grummeliger, alter Mann, kein tollwütiger Waschbär.«

Agent A: »Dein Verhalten hat unsere Praktikanten zu Tode erschreckt, als du letztes Jahr nach der Ursache des Orange Alerts gefahndet hast. Einen hast du sogar zum Weinen gebracht.«

Agent B: »Hör zu, ich habe kein Problem mit Aber ich weiß nicht, wie er auf eine zweite Mission mit uns reagieren wird. Außerdem haben Popstars meist einen ziemlich vollen Kalender. Und dann ist da noch die Sache mit dem Schakal.«

Agent A: »Welche Sache?«

Agent B: »Sie ist … kein großer Fan.«

Agent A: »Sie hat doch gesagt, sie hätten gut zusammengearbeitet.«

Agent B: »Ich glaube, ihre genauen Worte waren: Ich würde lieber in einem russischen Gefängnis festsitzen, als noch einmal mitzusammenzuarbeiten.«

Agent A: », mein Lieber, wann lernst du endlich, dass man keine sinnvollen Antworten vom Schakal erhält, wenn sie erkältet ist? Falls es dir nicht aufgefallen ist, seit ihrer Mission in London findet sie mindestens einmal im Monat einen Grund, um sich ganz beiläufig nach ihm zu erkundigen.«

Agent B: »Das muss nichts heißen.«

Agent A: »Mhm.«

Agent B: »Was?«

Agent A: »Nichts. Ich finde nur, du benimmst dich wie ein besorgter Vater.«

Agent B: »Ich bin nicht ihr Vater.«

Agent A: »Ich weiß. Aber ich weiß auch, warum du dich sorgst.«

Agent B: »Und zwar?«

Agent A: »Weil das deine letzte Mission für ist. Weil du dann nicht mehr auf sie aufpassen kannst. Und weil du sie beschützen willst, wie immer.«

Agent B: »Sie ist eine erwachsene Frau. Und ziemlich eigenständig. Sie hat es nicht nötig, dass ich sie beschütze, genauso wenig, wie – ein weiteres Mal – einen verwöhnten Popstar zu babysitten.«

Agent A: »Es ist in Ordnung, sich um sie Sorgen zu machen, weißt du? Und es ist auch in Ordnung, dir Sorgen wegen deinem Ruhestand zu machen.«

Agent B: »Ich mache mir keine Sorgen. Ich freue mich auf meinen Ruhestand.«

Agent A: »Wirklich?«

Agent B: »Na ja, wenn ich in Rente bin, könnte ich dich theoretisch endlich auf ein richtiges Date einladen.«

Agent A: »Dann nehmen wir mal an, dass ich eine solche Einladung theoretisch annehme.«

Agent B: »Was, wirklich?«

Agent A: »Theoretisch, . Aber … ja. Das würde ich.«

Agent B: »Also gut.«

Agent A: »Du bist reizend, wenn du lächelst.«

Agent B: »Siehst du? Ein reizender Mann kann doch nicht verschrecken. Soll ich ihn also kontaktieren? Oder bestehst du wirklich darauf, das selbst zu machen?«

Agent A: »Der Schakal soll das übernehmen. Sie war schließlich seine Partnerin. Sie sollte wissen, wie wir ihn überzeugen. Außerdem wird sie ihn trotz allem weniger erschrecken als du.«

Agent B: »Witzig, dass du das so siehst. Irgendwie bezweifele ich, dass der Schakal es ihm leicht machen wird.«

Agent A: »Ich denke, rechnet mit nichts anderem.«

Agent B: »Wenn das stimmt, werden sie eine großartige Zeit miteinander haben.«

1

Liebe hat einen Preis

Der Wetterbericht hatte wie so oft vereinzelte Regenschauer für Honolulu vorhergesagt. Aber am Nachmittag war der warme Regen zum Glück weiter die Insel O’ahu hinaufgewandert und der Himmel über Waikiki Beach zeigte sich sommerlich blau mit einzelnen Wölkchen. Es wehte eine warme Brise, das Meer änderte die Farbe je nach Einfall der Sonnenstrahlen wie ein schimmernder Edelstein, mal war es dunkelgrün wie Jade, dann wieder so strahlend türkis, dass es beinahe unecht aussah.

Es war der perfekte Tag für das Interview des Jahres, und die Menge, die sich um die Bühne am Strand versammelt hatte, war außer sich. Immer wieder schwoll aufgeregter Jubel an, wie in Wellen, die von dem jungen Mann, der mit lässig übereinandergeschlagenen Beinen unter einem weißen Sonnensegel in der Mitte der Bühne saß, ausgelöst wurden.

Er trug ein helles Hemd und Shorts und roch nach Sonnencreme, Zitrus und salzigem Wind. Sein volles, verstrubbeltes Haar war so tiefschwarz, dass es in der Sonne blau schien, und seine dunklen, schmalen Augen betrachteten hinter einer Fliegerbrille nun seine Interviewerin mit einer Mischung aus Höflichkeit und Unbehagen.

Winter Young, der berühmteste Superstar der Welt, hatte sich nur seiner Managerin Claire zuliebe hierzu bereit erklärt, da sie sich ein Jahr lang mit der Starreporterin Evelyn Dace hatte herumschlagen müssen, die auf ein exklusives Interview mit ihm aus war.

Jetzt lehnte sich die Reporterin auf ihrem Stuhl Winter gegenüber vor und fixierte ihn mit ihren grünen Augen so eingehend, dass er den Eindruck hatte, sie könne seine Gedanken lesen. Er behielt einen ruhigen Gesichtsausdruck bei, sein Blick war gelassen und unbeeindruckt, sollte ihr eine stille Herausforderung bieten.

»Verraten Sie uns doch«, fing Evelyn freundlich, aber zugleich etwas herablassend an, »sind Sie im Augenblick liiert?«

Wie immer hatte Claire sowohl eine Liste von Fragen abgesegnet als auch geklärt, welche Themen tabu waren, aber Evelyn hatte sich von Anfang an nicht daran gehalten. Erst hatte sie einen spitzen Kommentar zu Winters Ernährungsplan gemacht – so etwas hatte er nicht –, dann eine abfällige Bemerkung über die enge Beziehung zu seinen Backgroundtänzern. Und jetzt das. Winter wurde unter seinem Hemdkragen heiß, aber er würde ihr nicht die Genugtuung geben, sich darauf einzulassen.

Stattdessen schenkte er Evelyn ein schüchternes, einstudiertes Lächeln und schob die Ärmel seines Hemds weiter nach oben, wobei er den Blick auf seine tätowierten Unterarme freigab. »Im Moment nicht«, antwortete er. »Ich war mit dem neuen Album zu beschäftigt, um jemanden kennenzulernen.«

Anstatt, wie gehofft, zurück zu seinem neuen Album zu kommen, sah die Reporterin mit gespielter Irritation in ihre Notizen, als wüsste sie, dass Winter ihr etwas verheimlichte. »Kommen Sie schon, Winter. Sie haben in all Ihren neuen Songs Anspielungen versteckt.«

Er zuckte mit den Schultern. »Jeder Künstler lässt sich vom Leben inspirieren. Und die Liebe ist eine der größten Inspirationen des Lebens«, konterte er, und das Publikum reagierte mit vereinzelten Rufen.

Evelyn lächelte und nickte zu dem Bildschirm hinter ihnen, auf dem Highlights seiner Karriere zu sehen waren. Das Video zeigte Winter mit vierzehn, einen großen, schlaksigen Jungen, als er gerade bekannt geworden war, fürchterliche Angst vor Menschenmengen hatte und zum ersten Mal eine Konzertbühne betrat.

Manchmal vergaß er, wie jung er noch gewesen war, als er dieses aufregende Leben begonnen hatte. Jahre später kam ihm das immer noch seltsam vor, wenn er daran zurückdachte.

»Das hier ist mein allererstes Konzert«, erzählte dieser Junge schüchtern im Video und schenkte dem Publikum sein berühmtes, geheimnisvolles Lächeln. Die Menge brach in Jubel aus.

Winter löste den Blick vom Bildschirm und sah wieder zu Evelyn, die die Arme verschränkt hatte. »Manche Leute behaupten, Sie erleben eine Renaissance in Ihrem Schaffen«, sagte sie. »Mutigere Melodien und komplexe Texte, die neue Geheimnisse andeuten.«

»Gehören Sie zu diesen Leuten?«

»Klar. Schon.«

Er nutzte die Gelegenheit, um wieder auf sein Album zurückzukommen. »Dann bedanke ich mich«, antwortete er. »Ich freue mich darauf, diese neuen Lieder zu spielen. Ich hoffe, viele erkennen sich darin …«

Die Reporterin unterbrach ihn. »Es ist doch recht eindeutig, dass Ihre Reife nicht von ungefähr kommt. Wollen Sie uns wirklich weismachen, dass Sie keine neue Leidenschaft – eine neue Liebe – haben, die Sie inspiriert hat?« Sie ließ einfach nicht locker. »Was hat sich wirklich verändert, oder vielmehr, wer hat Sie verändert?«

Sydney Cossette.

Ihr Name drängte sich ungebeten in seine Gedanken, und er musste sich konzentrieren, um einen neutralen Gesichtsausdruck zu wahren.

Manchmal vergaß Winter, dass er einen Monat lang wirklich ein Spion gewesen war.

Manchmal kam ihm das, was letztes Jahr geschehen war – dass er von einem Geheimdienst namens Panacea Group rekrutiert worden war, um einen kriminellen und milliardenschweren Tycoon zur Strecke zu bringen – wie ein Fiebertraum vor. Manchmal vergaß er, dass die junge Frau, die vorgegeben hatte, sein Bodyguard zu sein, in Wirklichkeit Geheimagentin und seine Partnerin gewesen war.

Sydney Cossette.

Wenn sie doch nur mehr hätten sein können.

Anfangs hatten sie einander gehasst, dann waren sie zu Verbündeten geworden. Und schließlich … nun ja, hatte es einen Moment zwischen ihnen gegeben, der über Freundschaft hinausgegangen war. Aber jetzt tat das alles nichts mehr zur Sache, da sie sich vermutlich nie wiedersehen würden.

In den ersten Wochen nach seiner Rückkehr aus London, in denen er sich zu Hause erholen sollte, hatte er fast stündlich an sie gedacht, manchmal waren seine Erinnerungen an sie so überwältigend gewesen, dass er es beinahe nicht aus dem Bett geschafft hatte. Inzwischen waren sie zu einem erträglichen Maß verblasst, das Bild ihres schmalen, entschlossenen Gesichts, das von blondem Haar eingerahmt wurde, war zwangsläufig von all den Konzerten und Partys und Banketten und Galas und Interviews überlagert worden, die nach seiner Rückkehr mit voller Wucht wieder über ihn hereingebrochen waren.

Manchmal trat diese andere, fremde Welt so sehr in den Hintergrund und kam ihm so weit weg vor, dass er sich fragte, ob er sich das alles nur eingebildet hatte.

Aber dann ging er an einer ruhigen Kopfsteinpflasterstraße oder einem stillen, hinter Hecken versteckten Garten vorbei. Manchmal sah er eine elegante Brücke oder einen bestimmten Flugzeugtyp. Manchmal entdeckte er einen blonden Bob in der Menge. Dann kehrten all die Erinnerungen zurück.

Sie kehrte in seine Gedanken zurück.

Er hatte sich auf die einzige Weise, die er kannte, abgelenkt: Er hatte gearbeitet. Im vergangenen halben Jahr hatte er wie besessen komponiert, ein paar der besten Songs seines Lebens geschrieben, einen ganzen Stapel an Notizbüchern gefüllt, die nun zu Hause auf seinem Schreibtisch lagen. Es schien so, als wäre ihm ein Licht aufgegangen, und wenn er diesem Schein nur folgte, kam die Musik ganz von allein.

Er zwang sich zurück in die Gegenwart, wies als Antwort auf die Frage der Reporterin auf die Menge. Jubel übertönte einen Moment alles andere.

Er lächelte dem Publikum zu, bevor er sich wieder an die Reporterin wendete. »Ich war in letzter Zeit einfach nur sehr dankbar«, sagte er. »Und jede Romantik in meinen Texten rührt daher, von meiner Dankbarkeit meinen Fans gegenüber. Das ist alles.«

Evelyn spannte ihren Kiefer beinahe unbemerkt an, ein Anflug von Irritation huschte über ihr Gesicht. Kurz sah Winter zu Claire, die mit verschränkten Armen und zu einer dünnen Linie zusammengekniffenen Lippen neben der Bühne stand. Ihre Blicke trafen sich und sie nickte ihm kaum merklich zu.

Halte durch, schien sie ihm sagen zu wollen. Gleich hast du es geschafft.

»Das ist eine reizende Aussage«, fuhr Evelyn mit einem so professionell einstudierten Lächeln fort, dass es an Winters Nerven zerrte. »Von Ihren aktuellen Songs geht jedenfalls wahre Freude aus. Vielleicht konnten Sie ein paar Schicksalsschläge der Vergangenheit verarbeiten. Können Sie das bestätigen?«

Winter spannte sich an und verkniff sich ein gereiztes Seufzen. Sie ließ einfach nicht davon ab. »Was meinen Sie damit?«, fragt er zurück.

»Erzählen Sie mir von Ihrem Bruder«, forderte sie ihn auf. »Es ist gemeinhin bekannt, dass sein Tod großen Einfluss auf Ihr Leben hat, richtig?«

Artie.

Im Hintergrund konnte Winter das unmissverständliche Zischen hören, als Claire scharf einatmete. Er musste nicht zu ihr sehen, um zu wissen, dass sie über diese Frage vor Wut schäumte.

»Ja«, antwortete er knapp. »Selbstverständlich.«

»Haben Sie einen Weg gefunden, diesen Verlust zu verarbeiten?«

Hatte er das? Kurz stellte Winter sich vor, dass er nicht in diesem endlosen Interview gefangen war, sondern an der Seite seines großen Bruders, der zwölf Jahre älter war als er, und zwar dieselbe Mutter, doch einen anderen Vater hatte, am Strand von Santa Monica entlangspazierte.

Schau nur, hatte Artie an jenem nebligen Morgen gesagt. Eine geschlossene Muschel.

Er beugte sich hinunter und hob eine makellose pinkfarbene Muschel auf, wusch sie in der Brandung und reichte sie Winter. Wirf sie zurück ins Meer und wünsch dir etwas, hatte er gesagt.

Macht man das so, hatte Winter gefragt.

Artie hatte gelacht und Winter die Haare zerzaust. Du kannst das so machen.

Also hatte Winter die Muschel zurück ins Wasser geworfen und sich gewünscht, berühmt zu sein, von seiner Mutter geliebt, von irgendjemandem erinnert zu werden.

Er hätte sich stattdessen wünschen sollen, dass Artie am Leben bliebe.

Die Erinnerung verblasste. »Den Tod verarbeitet man nie«, antwortete Winter ruhig. »Man findet nur bessere Wege, damit umzugehen.«

»Es ist Ihnen also gelungen, die Trauer der Vergangenheit durch Liebe zu ersetzen.«

»Trauer ist Liebe. Es ist der Preis, den wir dafür zahlen, jemand Besonderen in unserem Leben zu haben.« Die Stunde sollte nun bald um sein. Fast geschafft.

Die Reporterin musste etwas über ihren Kopfhörer mitgeteilt bekommen haben. Sie hielt inne und wartete ab.

Dann schoss ihr Blick zu Winter, und ein Ausdruck lag darin, den er nur als freudige Erwartung beschreiben konnte. Sie nickte. »Gerade habe ich erfahren, dass ein großes Verlagshaus soeben ein umfassendes Enthüllungsbuch über Sie angekündigt hat, das noch diesen Herbst erscheinen soll. Was sagen Sie dazu?«

Winters Lächeln gefror, und gleichzeitig ging ein verwirrtes Murmeln, gefolgt von erschrecktem Keuchen durch die Menge. Er musste sie missverstanden haben. Hinter Evelyn konnte er Claire sehen, die mit steigender Panik auf ihr Handy starrte. Die Neuigkeit musste mitten während des Interviews veröffentlicht worden sein.

Evelyn schien den Bruch in seiner Fassade zu bemerken, denn ihre Augen begannen zu leuchten. »Das kommt überraschend für Sie, wie ich sehe.«

Ein Enthüllungsbuch. Wer sollte ein unautorisiertes Enthüllungsbuch über ihn schreiben?

Sag etwas, herrschte er sich selbst an. »Dieses Gerücht ist mir neu«, erwiderte er.

Sie nickte voller falschem Mitgefühl und lehnte sich mit besorgter Miene vor. »Es tut mir leid, dass ich Sie damit überrumple, denn ich hatte erwartet, Sie wüssten davon. Bisher wurde der Autor noch nicht bekannt gegeben. Vielleicht wissen Sie mehr?«

»Ich bin nicht informiert«, hörte er sich verkrampft antworten, aber die Worte klangen, als kämen sie von jemand anderem. Sein Blick wanderte wieder zu Claire, die sich nun mit einem der Produzenten herumstritt. Als der Mann den Kopf schüttelte, sah sie ihn außer sich vor Wut an.

»Könnte es jemand aus Ihrem Bekanntenkreis sein? Ein Familienmitglied?«, legte die Reporterin nach.

»Das weiß ich nicht«, antwortete Winter.

»Winter«, fuhr die Frau schmeichelnd fort. »Erzählen Sie mir von Ihrer Mutter.«

Seine Mutter?

»Wollen Sie andeuten, dass sie das Buch geschrieben hat?«, fragte er.

»Auf gar keinen Fall.« Evelyn hob beschwichtigend die Hände. »Aber das Buch scheint von einer internen Quelle zu stammen. Vielleicht jemand, der Ihnen nahesteht, mit Ihnen verwandt ist. Ich habe gehört, das Verhältnis zu Ihrer Mutter ist eher angespannt. Stimmt das?«

»Das werde ich nicht beantworten«, sagte er, seine Stimme klang gepresst. »Und es gibt nichts, was ein solches Buch enthüllen könnte, wovon die Öffentlichkeit nicht ohnehin schon weiß.«

Aber Evelyns Worte hatten bereits Zweifel gesät. Könnte es doch seine Mutter gewesen sein? Hatte irgendein Verlag sie kontaktiert, sie überredet, über ihn zu schreiben? Hatte sie vergessen, ihm das mitzuteilen? Es war schon vorgekommen, dass sie Magazinen, die an sie herangetreten waren, unautorisierte Interviews gegeben hatte. Einmal hatte sie eines seiner Notizbücher aus Schulzeiten für eine Auktion hergegeben, ohne ihm davon zu erzählen. Dessen Inhalt war daraufhin überall im Internet zu finden gewesen. Der Gedanke war zu viel für ihn, zumindest hier in der nun unerträglichen Nachmittagshitze Hawaiis, unter all den Blicken, die auf ihn gerichtet waren.

Er musste runter von dieser Bühne. Er musste hier weg.

Der süßliche, süffisante Gesichtsausdruck der Reporterin verzog sich zu einer Grimasse. »Im ersten Jahr Ihrer Karriere hatten Sie mit dem Gedanken gespielt, diese zu beenden, um sich um Ihre Mutter zu kümmern, da sie unter psychischen Problemen litt. Trifft das nicht zu?«

Da platzte Winter der Kragen. Wie ferngesteuert stand er plötzlich auf, riss sich das Mikrofon vom Hemd und zerrte an dem Kabel. Mit einem dumpfen Geräusch landete alles auf dem Holzboden der Bühne.

Unten auf dem Sand neben der Bühne nickte Claire ihm zu und machte mit dem Finger eine Kreisbewegung.

Wir gehen, wollte sie ihm damit bedeuten.

Das Publikum raunte und wunderte sich über den Aufruhr. Das Lächeln der Reporterin verschwand. Sie war zu weit gegangen, und ihr Verhalten änderte sich schlagartig, nun gab sie sich naiv und verwundert. »Mr Young«, sagte sie, »gerne können wir das Thema wechseln, wenn Ihnen das hier unangenehm ist …«

»Sorry.« Es verlangte Winter all seine Professionalität im Umgang mit den Medien ab, um diese schlichte Entschuldigung herauszubringen. Dann sah er direkt in die Kamera und wiederholte sie, diesmal aufrichtig. »Es tut mir leid.« Dann verließ er die Bühne.

Auf dem Strand um ihn herum herrschte reges Treiben. Fans riefen ihm zu und griffen nach ihm, fotografierten ihn im Vorbeigehen, und er schaffte es gerade so, ein Lächeln aufzusetzen und zu winken, bis er endlich bei Claire war. Sie hakte sich bei ihm ein, während die Bodyguards sich um sie herum gruppierten, dann wurden sie einen Weg entlanggeleitet, der sie zurück zur Straße brachte, wo sein Wagen auf sie wartete. Hinter ihnen versuchten die Produzenten, ihn zurück auf die Bühne zu rufen, aber Claire streckte nur, ohne sich zu ihnen umzudrehen, den Mittelfinger hoch. Einige Zuschauer machten sich, begleitet von Jubelschreien, auf zu seinem Wagen.

»Ich kümmere mich darum«, flüsterte Claire ihm zu, als er ins Auto stieg. »Versprochen. Mach dir keine Sorgen.«

Er sah zu ihr auf. Sein Kiefer war angespannt, sein ganzer Körper prickelte vor Wut über Evelyns letzte Frage. »Aber stimmt es denn?«, fragte er leise.

Claire schenkte ihm einen seltenen, mitleidigen Blick. Er wusste, das konnte nur eines bedeuten.

»Wir reden später darüber. Das ist eine grobe Verletzung der Privatsphäre. Wir werden sie alle verklagen und auch gewinnen. Evelyn. Den Verlag. Den Autor, wer immer es ist.«

Winter nickte abwesend, ohne ihr recht glauben zu können. Ihm wurde flau im Magen, als der Wagen losfuhr. Die Nachricht über das Enthüllungsbuch stimmte also. Er gab es ungern zu, aber er konnte sich nur eine Schuldige vorstellen: seine Mutter. Und ihm graute bei dem Gedanken, dass sie es wieder einmal geschafft haben könnte, ihn tief zu verletzen. Vermutlich ohne es beabsichtigt zu haben.

Denn es machte einen Unterschied, ob Millionen von Menschen überall auf der Welt Winters Namen kannten, ob sie ihn auf Schritt und Tritt beobachteten, ob sie behaupteten, ihn zu lieben; ob sie alle es machten, weil sie im Gegenzug etwas erwarteten. Und ob er auch für seine Mutter keine echte Person war, sondern nur ein Produkt, das man ausnutzen konnte.

Und Produkten konnte man jederzeit überdrüssig werden.

Der Weg zurück ins Hotel kam ihm wie eine Ewigkeit vor. Das Publikum am Strand war von seinem plötzlichen Aufbruch vollkommen aufgewühlt, Fans und Paparazzi umzingelten das Auto, ihre Fragen und Rufe wurden durch die Fensterscheiben zu unverständlichem Rauschen gedämpft. Winter versteckte sich hinter seiner Sonnenbrille und winkte ihnen angespannt zu, während sich sein Fahrer langsam und hupend einen Weg durch die Menge bahnte. Schließlich verließen sie den abgesperrten Bereich, erreichten die Straße, und der Lärm wurde durch das Surren der Reifen auf dem Asphalt abgelöst.

»Wir kommen nie wieder in diese Show«, zischte Claire neben ihm, während sie wie verrückt auf ihr Handy eintippte. »Es tut mir leid, dass ich zugestimmt habe.«

»Es war Evelyn Dace«, erwiderte Winter matt. »Natürlich haben wir zugestimmt.«

Ihr Kiefer verkrampfte sich und sie knirschte mit den Zähnen. »Weißt du, was dieser Produzent zu mir gesagt hat, als ich ihn aufgefordert habe, das Interview abzubrechen? ›Denken Sie an all die Schlagzeilen, nachdem wir das hier ausgestrahlt haben.‹ Diese Dreistigkeit. Als ob wir die Schlagzeilen nötig hätten. Und das nach diesem Scheißverhalten?« Sie hielt inne, ihre Augen funkelten zornig. »Ich kümmere mich darum«, versprach sie erneut.

Trotz allem musste Winter über ihren Zorn ein wenig lächeln. Niemand wusste sich so zu rächen wie Claire. »Ich hoffe, du hast es nicht auch auf ihre Familie abgesehen.«

»Oh, ich verschone nichts und niemanden. Ich habe dem Chefredakteur schon eine E-Mail geschrieben, und jetzt schicke ich dem Intendanten eine Nachricht, dass er Evelyn den Arsch aufreißen soll. Sie kann von Glück reden, wenn sie nach der Aktion ihre Stelle noch hat.«

»Sie hat nur ihren Job gemacht.«

»Und ich mache meinen.« Claire sah kurz von ihrem Handy zu ihm auf. »Glaub mir, der Verlag wird eine scharfe Mitteilung von unseren Anwälten erhalten. Wenn die nicht wollen, dass wir ihnen die Hölle heiß machen, denken die zweimal darüber nach, dieses Buch zu veröffentlichen. Ach, und außerdem schicke ich Evelyn einen ganz besonderen Präsentkorb.«

Winter schloss die Augen und seufzte. »Claire.«

»Keine Sorge. Ich schicke ihr ihre kandierten Lieblingsmandeln und eine Grußkarte, die enorm laute Musik spielt und deren Batterie sich nicht entfernen lässt. Und Glitzer. Einen Eimer voll Glitzer.«

Winter sah auf, lachte und schüttelte den Kopf, dann schloss er die Augen wieder. »Danke«, sagte er leise.

»Es tut mir wirklich leid, Winter«, sagte Claire nun etwas ruhiger.

»Schon in Ordnung.« Er war nicht mehr wütend oder benommen oder gereizt. Er war nur noch müde und sehnte sich nach dem Zimmerservice und dem kühlen Komfort eines fremden Hotelbetts. Hinter den getönten Scheiben konnte er immer noch an manchen Straßenecken Gruppen von Fans ausmachen, die ihm im Vorbeifahren zujubelten, und im Hintergrund die Gesteinsformation Diamond Head.

Sein Handy pingte ununterbrochen. Erschöpft sah er auf die Nachrichten seiner Freunde Dameon und Leo, die ihm schon in ihrem gemeinsamen Chat geschrieben hatten, bevor das Interview überhaupt ganz ausgestrahlt worden war.

Alles okay?

Leos Profil zeigte einen jungen, gebräunten Mann mit einem überdimensionierten Grinsen, dessen hellbraune Locken wild um seinen Kopf standen.

Natürlich ist nichts okay, willst du reden?

Dameons Profil war das genaue Gegenteil. Es zeigte einen jungen Schwarzen Mann im Profil mit langen Dreadlocks und ernstem Gesichtsausdruck, der von einem Wanderweg auf die Silhouette einer Stadt hinunterblickte.

Frag ja nur, das war schrecklich

Nicht du, sondern die Interviewerin. Du sahst nur unglücklich aus

Leo, wow. Hör auf

Ich hör ja schon auf

Winter, ich bin später im Bloom, komm, wir trinken was und vergessen das Theater

Ihr geht ins Bloom?

Bestes Essen in der Stadt

Ich bin neidisch, seufz, trinkt einen für mich mit

Du fehlst uns auch, Leo

Ihre Nachrichten nahmen kein Ende. Winter konnte sie förmlich hören, wie sie sich immer während der Proben zofften, seit sie zu Anfang seiner Karriere seine Backgroundtänzer geworden waren. Theoretisch waren sie immer noch Teil seiner Crew, weil er sie bezahlte, aber sie waren inzwischen zu Brüdern geworden, seiner zweiten Familie und besten Freunden.

Aber diesmal war nur Dameon hier mit ihm in Honolulu. Nach dem, was letztes Jahr in London geschehen war, hatte Leo sich eine Auszeit genommen, um sich zu Hause bei seiner Familie zu erholen. Der Gedanke daran bereitete Winter noch immer ein schlechtes Gewissen. Ohne Winter wäre Leo nicht in dieser Situation. Und Leo hatte es verdient, sich zu erholen, trotzdem vermisste Winter seinen Freund sehr.

Aber immerhin war Dameon noch bei ihm. Vielleicht würde Winter seine Gesellschaft heute Abend guttun, er könnte sich Luft machen und bei ein paar Drinks über alles lachen.

Mir geht es gut, antwortete er.Bin jetzt auf dem Rückweg.

Dann steckte er sein Handy weg und schloss erneut die Augen. Er sollte versuchen, seine Mutter zu erreichen, und sie direkt nach dem Buch fragen. Aber im Augenblick hatte er nicht die Kraft dazu. Er wollte nur seine Ruhe haben.

Er holte sein Handy wieder heraus und schob einen Finger unter die Plastikhülle, dahinter steckte eine Visitenkarte, die er immer bei sich trug.

Es war die Karte des Claremont Hotels in Saint Paul, Minnesota, einem der besten Hotels der Stadt. Aber Winter wusste, wessen Visitenkarte es wirklich war, das Hotel beherbergte nämlich den Hauptsitz der Panacea Group, und dort hatte er Sydney kennengelernt. Wieder wanderten seine Gedanken zu ihr. Er überlegte, was sie wohl gerade machte. Wo auf der Welt sie sich herumtrieb. Auf welcher gefährlichen Mission sie gerade ohne ihn war.

Falls du jemals Hilfe brauchst, hatte Sydney zu ihm gesagt, ruf uns an.

Er konnte die Nummer auswendig, obwohl er sie noch nie gewählt hatte. Im vergangenen Jahr hatte er nach jeder möglichen Ausrede gesucht, um diese Nummer zu wählen und zu Panacea durchgestellt zu werden, in der Hoffnung, ein weiteres Mal in diese geheime Welt eintauchen zu dürfen, und er hatte sich vorgestellt, dass die Person am anderen Ende der Leitung Sydney sein würde.

Das war natürlich albern. Warum sollten sie sich je wieder begegnen? Er war nichts als ein Entertainer. Die Mission, auf die man ihn geschickt hatte, war eine Ausnahme gewesen, zu der es sicher nicht noch einmal kommen würde. Vermutlich würde er Sydney nie wiedersehen. Panacea würde ihn nie wieder kontaktieren. So war es nun einmal, und je eher er das akzeptierte, desto besser.

Als sie im Hotel ankamen, stand die Sonne so tief, dass sie das Meer bereits berührte, und der letzte Streifen Himmel erstrahlte in allen Farben des Regenbogens hinter einer Wolkenfront, die warmen, nächtlichen Regen ankündigte. Winter spürte, dass er bald zusammenbrechen würde, all seine Emotionen drohten ihn zu überwältigen.

»Ich lasse dir Tee aufs Zimmer bringen«, sagte Claire, als der Aufzug auf seiner Etage anhielt. »Koffeinfreier Jasmin, kein Zucker, zwei Kannen heißes Wasser. Und du erholst dich jetzt einfach, okay?«

Winter nickte, als die Türen des Fahrstuhls aufglitten. Dann stieg er aus.

»Gute Nacht, Claire«, rief er ihr über die Schulter zu.

»Gute Nacht, Winter«, antwortete sie und war schon wieder mit ihrem Handy beschäftigt.

Er ging den Gang hinunter zu seiner Suite. Nach dem Chaos am Strand hätte er es genießen sollen, endlich allein zu sein. Aber auf einmal packte ihn erdrückende Einsamkeit. Er brachte die Energie nicht auf, sich jetzt noch mit Dameon zu treffen, dennoch wusste er nicht, wohin mit der inneren Unruhe, die in ihm tobte.

Sicher, Dameon und Claire würden sich seine Sorgen anhören, wären zugewandt, aber keiner von beiden könnte wirklich verstehen, was für ein seltsames Leben er führte, oder nachempfinden, welche Ängste sich nun in ihm ausbreiteten.

Hatte er sich nicht genau das gewünscht? Hatte er nicht großes Glück gehabt? War er nicht einst arm und vergessen, stets hungrig nach Anerkennung gewesen? So hungrig, dass nicht einmal ein Stadion voller Fans etwas dagegen ausrichten konnte? Sehnte er sich nicht nach all der Aufmerksamkeit?

Nein, es ging ihm nicht um die Aufmerksamkeit. Es ging ihm um Liebe. Er wollte etwas erschaffen und wissen, dass es jemandem etwas bedeutete, dass er jemandem etwas bedeutete. Dass vielleicht irgendwo irgendjemand seine Musik hörte, dem Text lauschte und dabei wahrhaftig etwas empfand. Er wollte etwas erschaffen, das die Menschen glücklich machte, wollte die Augen auf der Bühne schließen und hören, wie fünfzigtausend Fans seine Lieder mitsangen. Aber er wusste nicht, wie er das ohne all die Begleiterscheinungen erreichen konnte. Ohne die anzüglichen Gerüchte, die übergriffigen Fragen, die gemeinen Artikel voller Falschinformationen, den Mikrofonen vor der Nase.

Niemand wusste, wie es sich anfühlte, ein ganzes Leben unter Verschluss zu halten, aus Sorge, es könnte an die Öffentlichkeit geraten, wie es sich anfühlte, auf dem Fußboden eines Hotelzimmers zu sitzen und zu zögern, bevor man die eigene Mutter anrief, weil es sein könnte, dass sie alles an die Presse weitergeben würde.

Nein, das stimmte nicht ganz. Sydney wusste es. Sydney würde ihn verstehen.

Als sie an seiner Seite gewesen war, hatte er zum ersten Mal den Eindruck gehabt, dass jemand seine verborgensten Gefühle verstand, ohne dass er sie je aussprechen musste. Jemand war bei ihm gewesen und hatte ihn wirklich gesehen. Und dann war sie spurlos verschwunden.

Vielleicht war es so am besten. Während er hier war, triviale Interviews über Nichtigkeiten gab, rettete sie die Welt, ohne je dafür Applaus zu erhalten. Vielleicht hatte er sie ohnehin nicht verdient.

Als er um die Ecke bog, war er in Gedanken immer noch bei Sydney, da sah er eine junge Frau, die vor seiner Penthouse-Suite an der Wand lehnte und wartete.

Sein Herz machte einen Satz.

Sydney? Konnte das sein?

Aber dann drehte sich die Gestalt um und enttäuscht erkannte er sie. Wie war es ihr gelungen, sich an seinen Sicherheitsleuten vorbeizuschleichen?

Sie musste auf einer Party gewesen sein. Unter ihrem Trenchcoat funkelte ein silbernes Kleid, das bei jeder Bewegung aufblitzte. Ihr Haar war zu hübschen braunen Wellen frisiert, die sich um ihr Gesicht legten.

Und diese Augen. Sie waren genau, wie er sie in Erinnerung hatte. Sie sah so bezaubernd aus wie beim letzten Mal, als er ihr einen Arm um die Hüfte gelegt und sie seinen Namen geflüstert hatte, wie nur sie es konnte.

Das war vor ihrer turbulenten Trennung gewesen. Bevor sie sein Herz zum wiederholten Mal gebrochen hatte.

Sie war die letzte Person, die er in diesem Moment sehen wollte.

Als sie ihn bemerkte, wie er versteinert stehen geblieben war, löste sie sich von der Wand und schlenderte auf ihn zu.

»Hallo, Winter«, begrüßte Gavi Ginsburg ihn. »Du hast schon mal besser ausgesehen.«

2

Die Ruhe vor dem Wiedersehen

Sydney Cossette war eine sehr unauffällige Person.

Sie konnte einen Raum betreten, ohne dass ihr ein einziger Blick geschenkt wurde. Wenn sich ein Fremder mit ihr unterhielt, dann nur so lange, bis er jemand Interessanteren entdeckte. Sie hielt sich mit ihren dunkelblauen Augen und den fransigen, blonden Haaren für einigermaßen hübsch, aber eben unscheinbar. Sie konnte der gleichen Person immer und immer wieder begegnen, aber ihren Namen merkte man sich nicht. Sie wandelte von Ort zu Ort, ohne dass jemand ihre Anwesenheit bemerkte. Sie existierte am Rande der Aufmerksamkeit, stand nie im Mittelpunkt.

Niall, ihr Mentor, hatte ihr gesagt, das sei ein angeborenes Talent. Wenn man den Leuten nicht sonderlich auffiel, vertrauten sie einem Geheimnisse an, offenbarten ihre Schwächen und Laster und erinnerten sich nicht einmal mehr daran. Sydney sammelte diese Eindrücke, wie Panacea es ihr beigebracht hatte, legte sie in ihrem Gedächtnis ab, bis sie ihr einmal von Nutzen sein könnten. Wenn sie wieder darauf zugreifen musste, konnte sie alles ordentlich vor sich ausbreiten. Geständnisse. Ängste. Sünden.

Oder, wie in diesem Fall, die Bestätigung, in welchem Probenraum Winter Young sich morgen früh aufhalten würde.

Sydney lehnte sich an das Fenster der Fahrerseite des geparkten weißen Vans, justierte ihren Kopfhörer und gab sich gelangweilt, als ein paar Sicherheitsleute vor Winters Hotel in Hörweite miteinander stritten.

»Wir können seinen Wagen nicht im Leerlauf hier stehen lassen.«

»Claire hat aber gesagt, er muss ihm in der Früh zur Verfügung stehen.«

»Die Queen Street ist ab vier Uhr gesperrt.«

»Das macht nichts. Er trainiert immer sehr früh.«

Queen Street. Das bedeutete, es handelte sich um das Waikiki Dance Studio, den einzigen Probenraum mit der notwendigen Ausstattung hier in der Gegend. Sydney lächelte, während die beiden Männer weiter miteinander stritten, und beobachtete sie aus dem Augenwinkel. Vor einer halben Stunde hatte einer der beiden an ihre Fensterscheibe geklopft und sie gefragt, wie lange sie noch vorhätte, hier zu stehen. Sie hatte nur unschuldig den Kopf geschüttelt.

Claire hat gesagt, fünf Minuten, hatte sie geantwortet und eine Hand mit fünf ausgestreckten Fingern hochgehalten. Der Mann hatte mit den Schultern gezuckt und war in der Annahme, dass Sydney zu Winters Team gehörte, wieder gegangen. Dann hatte er sie sofort vergessen.

»Schakal?«

»Ouais, Chef?«, antwortete sie abwesend, als Nialls raue Stimme über ihren Kopfhörer drang. Sie hatte es sich zur Angewohnheit gemacht, ihren Mentor immer in einer anderen der siebenundzwanzig Sprachen, die sie beherrschte, zu begrüßen.

Er grunzte, wie immer, und sie musste lächeln.

»Syd, das hier ist kein Spiel«, ermahnte er sie.

»Na gut, ich hör schon auf.«

»Warten Sie bis zum Morgengrauen im Van?«

»Außer ich soll bei Winter anklopfen. Ich könnte mir eine Pagenuniform besorgen«, bot sie an.

»Nein. Nicht nötig. Gehen Sie am besten vor, wie es sich ergibt«, sagte Niall. »Ich wollte bloß Bescheid geben, dass wir den Wagen nur bis morgen früh um zehn gemietet haben.«

»Länger brauche ich ihn auch nicht.«

»Sie klingen ja sehr überzeugt, dass er zustimmen wird.«

»Das bin ich auch.« Sydney sah hinüber zum Hotel. »Nach diesem Albtraum von einem Interview ist Winters Stimmung morgen früh sicher deutlich besser als jetzt. Und mir ist es lieber, er hat gute Laune, wenn ich ihn darum bitte, ein weiteres Mal sein Leben für uns aufs Spiel zu setzen.«

»Versuchen Sie einfach, freundlich zu sein.«

»Ich?« Sydney gab sich erschüttert. »Aber ich bin doch immer freundlich.«

Niall lachte warm und aufrichtig und Sydney musste wieder lächeln. »Seien Sie einfach vorsichtig. Überall sind Sicherheitsleute positioniert. Lassen Sie sich kein blaues Auge von einem der Bodyguards verpassen.«

Sydney hob eine Augenbraue. »Wollen Sie damit etwa sagen, dass Sie sich Sorgen machen, die Agentin, die Sie einst damit beauftragt haben, eine Schweizer Bank zu infiltrieren, könnte Schwierigkeiten mit den Leibwächtern eines Popstars bekommen?«

»Kann sein. Sie können mir nachher berichten, was die größere Herausforderung war. Soweit wir wissen, sind Winters Sicherheitsmaßnahmen nach letztem Jahr deutlich erhöht worden.«

»Haben Sie vergessen, dass ich inzwischen vollwertige Agentin bin? Keine Sorge, Dad.«

Er seufzte. »Ich habe Ihnen doch gesagt, Sie sollen mich nicht so nennen.«

»Aber das hier ist unsere letzte gemeinsame Mission, Dad. Wann werde ich sonst wieder Gelegenheit dazu haben, Sie so zu nennen?«

Niall schnaubte, aber sagte nichts weiter. Eine traurige Stille senkte sich über die beiden. Sydneys Lunge schmerzte, obwohl sie sich nicht angestrengt hatte.

»Was haben Sie vor«, fragte sie bemüht heiter, »wenn Sie Panacea offiziell den Rücken gekehrt haben?«

»Vielleicht fahre ich in den Urlaub. Nach Bora-Bora. Das Meer soll da sehr schön sein.«

»Freut sich Quinn schon darauf, Sie zu sehen?«

Wieder entstand eine Pause, bis Niall sich räusperte. Es war ihm immer etwas unangenehm, über Quinn zu reden, aber Sydney war von Nialls leiblicher Tochter fasziniert. Seiner echten Tochter. »Ich habe ihr noch nichts davon erzählt«, antwortete er schließlich.

»Sind Sie aufgeregt?«

»Das wird schon.«

Aber hinter Nialls tiefem Grummeln konnte Sydney Sorge ausmachen. Sie erkannte sie aufgrund ihrer vielen Gespräche. Sie hörte diese Sorge jedes Mal, wenn sie selbst dem Tod nur knapp entgangen war oder wenn sie ihre Lunge wieder einmal überstrapazierte oder an einem Treffpunkt nicht erschien. Sydney erinnerte sich noch gut an den Tag, als er an ihrer Highschool in ihrer schäbigen Kleinstadt aufgetaucht war. Ein Geheimagent, getarnt als Personalreferent einer nahe gelegenen Fabrik. Er war durch den ganzen Westen der USA gereist, um nach geeigneten Rekruten für Panaceas Ausbildungsprogramm Ausschau zu halten. Sie war damals ein fünfzehnjähriges Mädchen gewesen, das die Schule schwänzte, als Bewältigungsstrategie Ladendiebstahl beging, da sie um ihre Mutter trauerte, die an derselben Lungenkrankheit gestorben war, die auch sie plagte. Ein Mädchen, das nach einem Ausweg suchte. Niall hatte sie dabei erwischt, als sie in die verschlossene Sporthalle einbrechen wollte. Ihm war ihr Talent für Fremdsprachen aufgefallen, und so hatte er ihr einen Job angeboten. Erst Wochen später fand sie heraus, was Panacea wirklich war und wozu man sie dort ausbilden würde.

Niall sprach nie über Quinn, aber sein Schweigen sagte mehr als alle Worte. Sydney wusste, wie schwer es sein musste, eine Beziehung zu einer Tochter aufrechtzuerhalten, die man nie sah und deren Kindheit man verpasst hatte, ohne je erklären zu können, warum.

»Sie wird sich sicher freuen«, ermutigte Sydney ihn.

Niall antwortete nicht sofort. »Bleibt zu hoffen, stimmt’s?«, sagte er schließlich, und Sydney spürte einen Anflug von Eifersucht.

Natürlich war es albern, eifersüchtig auf Quinn zu sein. Sie kannte die Frau nicht, und Niall war nicht Sydneys Vater. Ihr Vater war ein Alkoholiker, bei dem Ärger auf der Arbeit genug Grund gewesen war, sie zu schlagen, der sie ausgelacht hatte, weil sie die Welt jenseits ihrer erdrückenden Kleinstadt hatte sehen wollen. Ihr Vater hatte ihre Mutter allein im Krankenhaus sterben lassen, weil er zu feige gewesen war, ihr beizustehen.

Ihr Vater war kein guter Mann, und Sydney hatte ihm vor langer Zeit den Rücken gekehrt.

Sie schob die Erinnerungen beiseite und sah wieder zum Hotel hinüber. Sie kannte die Wahrheit hinter ihrem Schmerz. Sie trauerte, weil Niall in den Ruhestand ging und es ihr vorkam, als gäbe er nicht nur Panacea, sondern auch sie auf. Nach dieser Mission würde er nicht mehr da sein, sich um seine ihm im Grunde fremde Tochter kümmern, die ihm wirklich etwas bedeutete. Laut den strengen Regeln des Geheimdienstes durfte er Sydney nie wieder kontaktieren. Dann wäre sie endgültig allein.

Ihr blieb noch Sauda, die Direktorin von Panacea und ihre Vorgesetzte, aber es war Niall, mit dem Sydney auf jeder Mission zusammenarbeitete, der sie von Anfang an trainiert hatte, der sich für sie verwendet hatte, als Sauda sie hochkant hinauswerfen wollte.

Selbst schuld, dachte Sydney, sie hätte sich nicht so sehr an ihn binden dürfen. War das nicht eine ihrer ersten Lektionen bei Panacea gewesen?

Loyal gegenüber einem Geheimnis und sonst nichts.

Keine Gefühle, keine Freundschaften, keine Liebe. Nur Loyalität gegenüber ihrer Pflicht, die Welt zu einem besseren Ort zu machen.

»Bringen Sie einfach den Van vor zehn zurück.« Niall sprach weiter, und Sydney landete wieder in der Gegenwart, widmete sich erneut ihrer Aufgabe. Sanfte Regentropfen landeten nun auf der Windschutzscheibe des Wagens.

»Ich bringe ihn mit einer Schleife auf dem Dach zurück«, antwortete sie.

»Bitte lassen Sie die Schleife weg.«

»Sie sind eine Spaßbremse«, erwiderte sie und beendete das Gespräch.

Sydney machte es sich in ihrem Sitz gemütlich. Immerhin war Winter eine willkommene Ablenkung.

Wie lange war es her, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte? Ein Jahr?

Bevor sie ihn kennengelernt hatte, hatte Sydney – wie viele auf der Welt – nur Vorurteile über den Superstar gehabt. Er war sich seines guten Aussehens und seines Charismas zu bewusst, war zu sehr von sich überzeugt.

Aber dann hatte sie festgestellt, dass es in Wirklichkeit viel schlimmer war. Er war sich ihrer Anwesenheit zu bewusst. Sydney Cossette schätzte es, nicht aufzufallen. Sie genoss es sogar. Aber Winter war sie sofort aufgefallen, und zwar auf eine Weise, die sie bloßstellte, sie beunruhigte und erregte.

Sie und Winter hatten einige Auseinandersetzungen gehabt während ihrer gemeinsamen Mission und waren bei einer hitzigen Begegnung in einem Pool … etwas zu weit gegangen. Als Sydney das alles nun wieder einfiel, stieg ihr die Röte in die Wangen.

Womöglich würde ihr erneutes Zusammentreffen eher unangenehm verlaufen. Aber sie freute sich trotzdem darauf, ihn wiederzusehen. Vielleicht wandelte sie einsam durch diese Welt, aber wenn Winter bei ihr war, ging sie nicht allein. Und in dieser Nacht, da sie sich besonders verletzlich fühlte, beruhigte sie dieser Gedanke.

Außer … er wollte sie nicht wiedersehen. Vielleicht hatte er ihre gemeinsame Zeit anders in Erinnerung, vielleicht erinnerte er sich überhaupt nicht an sie.

»Das wird sich zeigen«, murmelte sie sich selbst zu und warf einen weiteren Blick hinauf zu seinem Hotelfenster. Es fing an, stärker zu regnen. Seufzend drückte sie sich tiefer in den Fahrersitz des Vans und hoffte auf ein paar Stunden Schlaf. Sie wollte ausgeruht sein, wenn sie sein Leben um vier in der Früh aus den Fugen bringen würde.

3

Alte Flammen, neue Feuer

Winter warf einen Blick auf Gavi und zückte sofort sein Handy.

Sie verschränkte die Arme und schmollte. Der Schmollmund war typisch für sie. »Ach, komm schon. Du musst Claire doch nicht um diese Zeit aufscheuchen. Kann ich mich nicht kurz bei dir im Zimmer frisch machen, bevor du mich rauswirfst? Nach dem Abend heute bin ich vollkommen erledigt …«, sagte sie und hob kurz die Hand, in der sie ihre Stilettos von Ferragamo hielt.

Er hob eine Augenbraue. »Wie bist du überhaupt hier reingekommen?«, wollte er wissen.

Sie ignorierte die Frage. »Draußen regnet es in Strömen und mein Hotel ist am anderen Ende der Stadt. Ich dachte nur, ich mache hier kurz eine Pause. Freust du dich nicht, mich zu sehen?«

Winter seufzte. Er kannte ihre Spielchen nur zu gut. Er und Gavi waren lange Zeit immer wieder miteinander ausgegangen, aber zuletzt hatten sie sich vor über einem Jahr gesehen, Monate vor seiner Mission für Panacea. Jedes Mal, wenn er dachte, sie hätten endgültig miteinander Schluss gemacht, tauchte Gavi unvermittelt bei ihm auf. Irgendwie wusste sie immer, wo er war und wann er keine Gegenwehr leisten konnte.

Er war selbst schuld. Niemand zwang ihn, sich auf sie einzulassen, und dennoch tat er es immer wieder.

»Geh zurück in dein eigenes Hotel«, sagte er und öffnete seine Suite mit der Schlüsselkarte. »Ich rufe dir einen Wagen, wenn es sein muss.«

»Verhält sich so ein Gentleman?«, fragte sie und schüttelte den Kopf, wobei ihre juwelenbesetzten Ohrringe klimperten. »Ich bin gerade vor meinem Date auf einer Filmpremiere geflohen und habe keine Lust, zurück ins Hotel zu fahren und allein in meinem Zimmer zu sitzen.«

»Vor wem, Rory?«, fragte er ungläubig. »Ich dachte, ihr wärt ein Herz und eine Seele.«

»Du solltest es besser wissen und den Klatschspalten nicht alles glauben, Winter.« Sie sah auf ihre Heels und ihre perfekt gestylten Locken fielen ihr ins Gesicht. »Die Romanze war doch eher einseitig.«

Winter fühlte sich ertappt. Sie hatte recht. Er sollte es besser wissen. Aber mit Gavi lagen die Dinge nie so, wie sie schienen. Jetzt fiel ihm die große Filmpremiere wieder ein, die diese Woche hier stattfand, und wenn es irgendwo ein großes Event gab, war Gavi dabei. Als It-Girl der High Society genügte selbst ein kurzer Auftritt von ihr, damit jede Veranstaltung zehnmal mehr Aufmerksamkeit erhielt. Die Welt bekam nicht genug von ihr. Ihre aktuelle Liebschaft anscheinend schon.

Zumindest behauptet sie das. Winter wusste, dass man Gavis Worten immer mit einer ordentlichen Portion Skepsis begegnen musste.

»Tut mir leid«, sagte er höflich und fragte nicht weiter nach.

Sie sah zu ihm auf, mit ihren Rehaugen betrachtete sie ihn sanft, aber hungrig. »Den Neuigkeiten im Netz nach zu urteilen, hast du auch nicht den besten Abend gehabt.«

Winter öffnete die Tür seiner Suite, stellte einen Fuß hinein und lehnte sich an den Türrahmen. Nach ihrer letzten stürmischen Trennung hatte er sich solche Mühe gegeben, sich von ihr zu distanzieren, sich so bemüht, ihr fernzubleiben.

Du musst Nein sagen, warnte ihn eine innere Stimme, und zwar sofort.

Aber er wusste, dazu hatte er heute Abend keine Kraft mehr, und als er wieder in Gavis große Augen sah, konnte er sich nicht helfen. Statt Nein zu sagen, fragte er: »Und?«

»Ich dachte, du könntest auch etwas Gesellschaft gebrauchen«, antwortete sie und lächelte ihn schüchtern an.

Trotz ihrer Vergangenheit wurde Winter schwach. Seine Beziehung zu Gavi war eine völlig andere als die zu Sydney. Er und Sydney hatten sich auf den ersten Blick gehasst, aber dann war diese Spannung zu etwas anderem geworden, so etwas wie Freundschaft, vielleicht sogar mehr. Aber Gavi, in sie hatte er sich Hals über Kopf verliebt. Sie hatten einander unwiderstehlich, unterhaltsam und faszinierend gefunden, bevor sie beide feststellen mussten, wie sehr sie einander schadeten.

Und doch war er nun wieder kurz davor, denselben Fehler zu wiederholen. Selbst jetzt zog Gavi ihn an, gaukelte ihm vor, dass es diesmal vielleicht ganz anders laufen würde.

Gavi schenkte ihm noch immer diesen scheuen Blick, dem er nicht widerstehen konnte.

»Also?«, fragte sie. Sie senkte den Blick. »Muss ich betteln?«

Er seufzte und sah über die Schulter in seine Suite, dann wieder zu ihr.

»Nur bis es aufgehört hat zu regnen«, gab er nach, aber er wusste, dass das eine Lüge war, noch bevor er sie ausgesprochen hatte.

»Mehr hatte ich auch nicht erwartet«, erwiderte sie achselzuckend.

Er öffnete die Tür ganz und bat sie hinein. »Claire hat beim Zimmerservice Tee bestellt. Soll ich sie bitten, eine zweite Tasse bringen zu lassen?«

Gavi ging an ihm vorbei, der verführerische Duft von Jasmin und Vetiver folgte ihr. »Tee klingt wunderbar.«

Als der Tee kam, prasselte der Regen heftig auf das nächtliche Meer jenseits der Fenster.

Gavi nahm ihre Tasse, trat vor eines davon und betrachtete die Palmen, die sich vor dem tiefschwarzen Ozean im Wind wiegten.

»Also«, sagte Winter und gesellte sich mit seiner Tasse Tee zu ihr. Auch er betrachtete die Szenerie unter ihnen. »Wie schlimm war es auf der Premiere?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Ungefähr so schlimm, wie wenn du erfährst, dass ein Unbekannter deine dunkelsten Geheimnisse in einem Enthüllungsbuch preisgeben wird.«

Er schnaubte. »Mir wäre ein schlechter Film deutlich lieber als meine Realität.«

Gavi lachte auf ihre typische Art und warf sich ihr Haar über eine Schulter. »Du weißt also nicht, wer dahintersteckt?«

Er schüttelte den Kopf. »Wer auch immer es ist, Claire hat vermutlich schon unsere Anwälte auf diesen Menschen gehetzt.«

Gavi lächelte, dann lehnte sie sich zu ihm und stieß mit ihrer Hüfte leicht an seine. »Zu schade. Ich hätte das machen sollen.«

»Die Anwälte losschicken?«

»Das Enthüllungsbuch schreiben. Du weißt, wie viele interessante Geschichten ich zu erzählen hätte.«

»Bitte nicht«, erwiderte er trocken.

»Was? Ich würde dich nicht in Verlegenheit bringen.« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter und streichelte ihn sanft. Das brachte seine Haut zum Prickeln. »Ich würde nur die guten Geschichten erzählen.«

»Das wäre unmöglich, denn alle guten Geschichten unserer Beziehung waren vergiftet.«

»Ach, sei nicht so dramatisch.«

»Bei uns war alles ein Drama, Gavi. Davon hat unsere Beziehung gelebt.«

»Doch nicht unsere ganze Beziehung.«

»Erinnerst du dich wirklich nicht mehr an die Schlagzeilen? Die ganze Beziehung von Winter und Gavi ist ein einziges Drama. Weißt du nicht mehr?«

»Na gut. Vielleicht. Aber wir hatten doch auch Spaß, oder nicht?«, fragte sie und grinste.

Er wusste, dass sie versuchte, ihn zu ködern, also antwortete er nicht.

Sie biss sich auf die Lippe. »Hm«, sagte sie dann. »Allerdings bräuchten die Geschichten eine Inhaltswarnung.«

Er hob eine Augenbraue. »Wieso das?«

»Erinnerst du dich noch an unser erstes Mal?«

Da war er, der Köder. Winter biss die Zähne zusammen, als ihre Worte die Erinnerungen wieder hochholten. Auf der Party eines gemeinsamen Freundes, nach einer Reihe von anzüglichen Gesellschaftsspielen, war Gavi auf dem Weg ins Badezimmer gewesen, als Winter es gerade verließ. Als er an ihr vorbeigehen wollte, war sie in ihn hineingestolpert, und sie waren gegen das Waschbecken gestoßen. Gavi hatte so herzlich geflucht, dass Winter, völlig überrumpelt, Tränen lachen musste. Daraufhin hatten sie sich den ganzen Abend aufgezogen, waren sich dabei immer nähergekommen. Dann waren sie zu ihr gegangen, und Winter konnte sich nur noch schemenhaft an den Rest der Nacht erinnern. Ihre Klamotten waren auf dem Boden gelandet, eine Lampe wurde vom Nachttisch gestoßen, sie hatte ihre Beine um ihn gelegt und er seine Hände an ihre nackte Hüfte. Er hatte ihren schweren Atem nah an seinem Hals gespürt, und als sie seinen Namen stöhnte, hatte ihn der Klang erzittern lassen.

Es wäre so leicht, wieder in alte Muster zu verfallen, dachte er, als er sie ansah. So leicht, rückfällig zu werden.

»Warum bist du wirklich hier, Gavi?«, fragte er.

»Aus dem gleichen Grund, weshalb du mich reingelassen hast«, antwortete sie. »Können wir es nicht einfach dabei belassen?«

»Wobei?«

»Eine Nacht egoistisch zu sein.« Sie verlagerte ihr Gewicht, sodass ihre Hüfte wieder an seine stieß. »Ohne Konsequenzen.«

Er lachte ohne Freude auf. »Mit dir gibt es immer Konsequenzen.«

»Der Winter Young, den man nicht daten kann«, flüsterte sie. »Stets misstrauisch.«

»Etwa zu Unrecht?«

»Machst du dir Sorgen, jemand könnte herausfinden, dass wir zusammen waren?«

»Ich kann darauf verzichten, mich erneut mit Schlagzeilen über unser Liebesleben herumschlagen zu müssen, falls du das meinst«, sagte er matt. »Das Interview heute hat mir gereicht.«

Sie lächelte und berührte ihn an der Wange. »Du machst dir zu viele Gedanken darüber, was andere denken.«

»Du doch auch.«

»Falsch.« Sie schob sich eine Strähne hinters Ohr. »Mir ist das völlig egal, solange die Leute weiter über mich reden.«

»Oh, ich verstehe.«

»Komm schon, Winter. Entspann dich mal.«

»Dich würde ich aber nicht als entspannend bezeichnen.«

Sie richtete sich auf, und nun waren ihre Lippen so nah an seinen, dass er ihren warmen Atem spüren konnte. »Es ist mir egal, als was du mich bezeichnest«, hauchte sie. Winter erschauerte und musste an all die Male denken, die sie ihm etwas ins Ohr geflüstert hatte. Er neigte sich aus purer Gewohnheit zu ihr.

Eigentlich gab es keinen Grund, nicht mit ihr zu schlafen. Vielleicht hatte sie recht. Vielleicht wäre ein One-Night-Stand eine gute Ablenkung. Vielleicht hätte es diesmal wirklich keine Konsequenzen. Sie kannten einander so gut, wussten, wie aus einer Berührung mehr werden konnte, und sie wussten auch, wie sie sich wieder voneinander lösen konnten. Zumindest bis zu ihrer nächsten Begegnung.

Aber statt einzuwilligen, bewegte sich Winter nicht, näherte sich ihr nicht weiter. Gavis Blick huschte über sein Gesicht, und ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen, als sie merkte, wie er sich anspannte.

Winter zwang sich, sich von ihr zu lösen und wieder aus dem Fenster zu sehen. »Es wird sicher nicht so bald aufhören zu regnen«, stellte er fest und deutete auf die dichten Wolken am Horizont. »Du kannst das Bett haben, wenn du willst. Ich schlafe sowieso auf dem Sofa.«

Gavi seufzte. »Na gut, wie du meinst.« Als sie ins Schlafzimmer ging, warf sie ihm über die Schulter einen Blick zu. »Aber ich hätte eine bessere Idee, wie du dir den Rücken verrenken kannst, als auf dem Sofa zu schlafen.« Dann drehte sie sich um und öffnete den Reißverschluss ihres Kleids. Es landete in einem Gewirr aus Pailletten auf dem Boden, bevor sie aus seinem Blickfeld verschwand. »Falls du deine Meinung änderst, weißt du, wo du mich findest. Du kannst dir auch die Seite aussuchen, auf der du schlafen willst.«

Dann hörte er, wie sie, ohne zu fragen, ein T-Shirt aus seinem Koffer kramte und ins Bad ging.

Kurz vor vier Uhr weckte Winter ein Geräusch auf.

Vor Schmerzen verzog er das Gesicht. Sein Rücken tat ihm weh, wie Gavi es vorausgesagt hatte. Er setzte sich vorsichtig auf, massierte sich das Kreuz mit beiden Händen und sah zum Bett hinüber.

Gavi schlief noch. Sie atmete gleichmäßig, trug nichts außer ihrer Unterwäsche und seinem T-Shirt. Ein Bein hatte sie um die Decke geschlungen. Es hatte schon vor einer Weile aufgehört zu regnen, aber die tiefschwarze Nacht ging gerade erst in trüben Morgen über, und das fahle Licht fiel auf ihre Kurven.

Schlafend sah sie aus wie die Frau, in der er sich einst verliebt hatte – atemberaubend schön, friedlich, mit einem leisen Lächeln, eine Frau, die sich ihrer selbst sicher war. Er konnte sich immer noch daran erinnern, wie er am Morgen nach ihrer ersten gemeinsamen Nacht neben ihr aufgewacht war, ihr Gesicht betrachtet und gedacht hatte, sie würde noch schlafen. Dann hatte sie ein Auge geöffnet und ihn angegrinst, er hatte gelacht und gewagt zu hoffen, dass er vielleicht jemanden gefunden hatte, neben dem er den Rest seines Lebens aufwachen wollte.

Dann hatte er herausgefunden, dass sie die Presse über ihre gemeinsame Nacht informiert hatte, und plötzlich war von ihrer Liebschaft überall zu lesen.

Es war ein Versehen, hatte sie ihm gesagt und ihn dabei niedlich angelächelt. Und er hatte ihr geglaubt. Schlimmer noch, er hatte ihr verziehen.