Legend (Band 3) – Berstende Sterne - Marie Lu - E-Book

Legend (Band 3) – Berstende Sterne E-Book

Marie Lu

4,9

Beschreibung

Machen sie ihre Drohungen wahr, wird das zahllose unschuldige Menschen das Leben kosten. Und das könnten wir verhindern, indem wir ein einziges Leben aufs Spiel setzen. Day und June haben so viel geopfert für die Republik und füreinander. Nun scheint das Land endlich vor einem Neubeginn zu stehen. June arbeitet mit dem Elektor und führenden Politikern zusammen, während Day einen hohen Rang beim Militär bekleidet. Keiner der beiden hätte die Umstände vorhersehen können, unter denen sie wieder zusammenfinden. Gerade als ein Friedensabkommen unmittelbar bevorsteht, drohen Anschuldigungen einen erneuten Krieg heraufzubeschwören. Um das Leben tausender Menschen zu retten, soll June nun Day darum bitten, das zu opfern, was ihm am meisten bedeutet ... Das packende, actionreiche Finale der New-York-Times-Bestseller-Trilogie! Im Abschlussband der Dystopie treffen große Hoffnung und große Verzweiflung aufeinander und bis zuletzt bleibt völlig offen, ob ein Happy End für Day und June und ihre große Liebe möglich ist. "Berstende Sterne" ist der letzte Band der Legend-Trilogie. Die beiden Vorgängertitel lauten "Fallender Himmel" und "Schwelender Sturm". Mehr Infos rund ums Buch unter: www.LegendFans.de

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SAN FRANCISCO, KALIFORNIEN

REPUBLIK AMERIKA

EINWOHNER: 24646

DAY

Von all meinen bisherigen Verkleidungen ist mir diese möglicherweise die liebste.

Dunkelrotes Haar – ein ziemlich krasser Unterschied zu meinem natürlichen Weißblond –, etwas mehr als schulterlang und zum Pferdeschwanz gebunden. Grüne Kontaktlinsen, die über dem Blau meiner Augen nicht künstlich wirken. Ein verknittertes, halb in die Hose gestecktes Hemd mit winzigen silbernen Knöpfen, die in der Dunkelheit blitzen, eine leichte Armeejacke, schwarze Hosen und Stahlkappenstiefel, dazu ein dicker grauer Schal um Hals, Kinn und Mund geschlungen. Ich trage eine dunkle Soldatenkappe, die ich mir tief in die Stirn gezogen habe, und meine komplette linke Gesichtshälfte verschwindet unter einem scharlachroten, gemalten Tattoo, das mich in einen Fremden verwandelt. Außerdem bin ich mit dem unvermeidlichen Knopf im Ohr und einem Mikrofon ausgestattet. Die Republik besteht darauf.

In den meisten anderen Städten würde ich mit diesem gigantischen Tattoo wohl noch sehr viel mehr Blicke auf mich ziehen als ohnehin schon – nicht das unauffälligste Erkennungszeichen, das muss ich zugeben. Aber hier in San Francisco verschmelze ich dadurch wunderbar mit der Masse. Dieser Trend war das Erste, was mir aufgefallen ist, als ich vor acht Monaten mit Eden nach Frisco gekommen bin: Die Jüngeren malen sich hier schwarze oder rote Motive ins Gesicht – die einen kleine, unauffällige Symbole, zum Beispiel ein Republiksiegel an die Schläfe, andere dagegen große, aufwendige Zeichnungen bis hin zu kompletten Landkarten der Republik. Ich habe mich heute Abend für ein eher neutrales Tattoo entschieden, weil meine Republiktreue nicht so weit geht, dass ich sie mir mitten ins Gesicht stempeln würde. Das überlasse ich lieber June. Stattdessen habe ich mir ein Muster aus stilisierten Flammen ausgesucht. Vollkommen ausreichend.

Meine Schlafstörungen lassen mich heute Nacht mal wieder nicht zur Ruhe kommen, sodass ich, statt im Bett zu liegen, allein durch einen Sektor namens Marina schlendere, der, soweit ich das bisher beurteilen kann, eine etwas hügeligere Frisco-Version des Lake-Sektors in L. A. ist. Die Nacht ist kühl und ruhig und ein leichter Nieselregen weht von der Bucht herüber in die Stadt. Die Straßen sind eng, das Pflaster glänzt feucht und ist mit Schlaglöchern durchsetzt. Die Gebäude, die zu beiden Seiten aufragen – die meisten davon so hoch, dass ihre Spitzen in den tief hängenden Wolken verschwinden –, wirken zusammengewürfelt und sind in verblassten Rot-, Schwarz- und Goldtönen gestrichen. Zum Schutz vor den Erdbeben, die hier alle paar Monate das Land erschüttern, sind ihre Mauern mit riesigen Stahlstreben verstärkt. An jedem zweiten Häuserblock sind etwa auf Höhe der fünften oder sechsten Etage JumboTrons angebracht, die ihren gewohnten Schwall aus Republik-Nachrichten in die Nacht hinausplärren. Die Luft riecht salzig und bitter, nach Abgasen und Industrieabfällen, vermischt mit Salzwasser und einer schwachen Backfischnote. Manchmal, wenn ich um eine Ecke biege, finde ich mich plötzlich so nah am Wasser wieder, dass meine Stiefel nass werden. Die steil abfallenden Straßen hier enden direkt in der Bucht und entlang des Horizonts ragen Hunderte halb versunkener Gebäude aus dem Meer. Jedes Mal, wenn die Bucht in Sicht kommt, erhasche ich auch einen Blick auf die Golden-Gate-Ruinen, die verbogenen Überreste von einer alten Brücke, die sich am Ufer gegenüber türmen. Hin und wieder drängeln sich kleine Grüppchen von Leuten an mir vorbei, doch größtenteils scheint die Stadt zu schlafen. Die Gassen werden von vereinzelten Feuern erhellt, um die sich die Obdachlosen der Gegend scharen. Der Unterschied zu Lake ist wirklich nicht groß.

Das heißt – generell hat sich schon einiges verändert. Zum Beispiel das Große Stadion von San Francisco, das in der Ferne zu sehen ist, leer und unbeleuchtet. Weniger Straßenpolizisten in den Armensektoren. Und die Graffitis. Man bekommt einen ziemlich guten Eindruck von dem, was die Einwohner einer Stadt bewegt, wenn man sich die neuesten Schriftzüge an den Hauswänden anschaut. Viele, die ich in letzter Zeit gesehen habe, drücken Loyalität für den neuen Elektor der Republik aus. Anden – unsere Hoffnung, verkündet eine Botschaft an der Seitenwand eines Gebäudes. Eine weitere, die direkt auf die Straße gesprüht ist, lautet: Der Elektor wird uns aus der Dunkelheit führen. Ein bisschen zu optimistisch, wenn man mich fragt, aber insgesamt glaube ich, dass das schon ein gutes Zeichen ist. Irgendetwas muss Anden also richtig machen. Hin und wieder aber stoße ich auch auf andere Botschaften: Weg mit dem Elektor oder Gehirnwäsche oder Der Day, den wir kannten, ist tot.

Ich weiß nicht. Manchmal fühlt sich dieses neue Vertrauen zwischen Anden und dem Volk an wie ein sehr dünnes Band … und dieses Band bin ich. Außerdem könnten die positiven Graffitis auch gefälscht sein, das Werk von Propaganda-Offizieren. Wer weiß das schon? Bei der Republik kann man sich nie sicher sein.

Eden und ich haben natürlich eine Wohnung in einem Reichensektor namens Pacifica, wo wir zusammen mit unserer Betreuerin Lucy wohnen. Die Republik musste sich schließlich etwas für ihren siebzehnjährigen Nationalhelden/ehemals meistgesuchten Kriminellen einfallen lassen. Ich weiß noch genau, wie misstrauisch ich Lucy gegenüber war – einer strengen, etwas korpulenten zweiundfünfzigjährigen Dame –, als sie, ganz in Republikfarben gekleidet, zum ersten Mal vor unserer Tür in Denver stand. »Die Republik hat mich beauftragt, mich um euch zu kümmern«, informierte sie uns und kam direkt in die Wohnung marschiert. Ihr Blick richtete sich auf Eden. »Besonders um den Kleinen.«

Genau. Das kam bei mir nicht ganz so gut an. Ich hatte zwei Monate gebraucht, bis ich Eden auch nur mal kurz aus den Augen lassen konnte. Wir aßen zusammen; wir schliefen im selben Bett; ich ließ ihn nie allein. Manchmal wartete ich sogar vor der Badezimmertür, so als bestünde die Gefahr, dass die Republiksoldaten ihn durch einen Lüftungsschacht in eins ihrer Labore saugten und dort wieder an einen Haufen von Maschinen anschlossen.

»Eden braucht Sie nicht«, fuhr ich Lucy an. »Er hat mich. Ich kann mich sehr gut allein um ihn kümmern.«

Doch mein Gesundheitszustand hatte schon nach diesen ersten paar Monaten stark zu schwanken begonnen. An manchen Tagen fühlte ich mich gut; an anderen fesselten mich rasende Kopfschmerzen ans Bett. Während dieser schlechten Tagen übernahm Lucy das Ruder – und nach ein paar lautstarken Auseinandersetzungen kamen wir schließlich zähneknirschend miteinander aus. Eins muss man ihr außerdem lassen: Sie macht ziemlich hammermäßige Fleischpasteten. Als wir dann nach Frisco gezogen sind, ist sie mit uns gekommen. Sie sorgt für Eden. Und kümmert sich um meine Medikamente.

Heute dauert es nicht lange. Bald schon verschwindet der permanente, dumpfe Kopfschmerz und die Welt ringsum ist wie mit einem verschwommenen Dunst überzogen, von dem ich weiß, dass er nichts mit dem Regen zu tun hat. Neben mir sitzt ein Mädchen. Es ist Tess.

Sie sieht mit einem Grinsen zu mir hoch, das mir einmal so vertraut war, damals in den Straßen von Lake. »Irgendwas Neues auf den JumboTrons?«, fragt sie und deutet auf einen der Bildschirme auf der anderen Straßenseite.

Ich atme blauen Rauch aus und schüttele träge den Kopf. »Nichts. Ich meine, es gab ein paar Schlagzeilen über die Patrioten, aber wie es scheint, seid ihr ja allesamt wie vom Erdboden verschluckt. Wo steckst du? Und was habt ihr vor?«

»Vermisst du mich?«, fragt Tess anstelle einer Antwort.

Ich starre auf die schimmernde Vision. Sie sieht aus, wie ich sie von unserem Leben auf der Straße in Erinnerung habe – ihr rötlich braunes Haar ist zu einem unordentlichen Zopf geflochten und ihre großen Augen strahlen sanft und gutmütig. Meine kleine Tess. Was waren meine letzten Worte an sie … damals, kurz nachdem ich den Anschlag der Patrioten auf Anden verhindert hatte? »Bitte, Tess! Ich kann dich nicht hierlassen!«Und doch habe ich genau das getan.

Ich wende mich ab und nehme einen weiteren Zug von meiner Zigarette. Ob ich sie vermisse? »Jeden Tag«, antworte ich.

»Du hast versucht, mich zu finden«, sagt Tess und rutscht ein Stück näher. Ich kann beinahe ihre Schulter an meiner spüren. »Ich habe dich beobachtet, wie du die JumboTrons und Radiofrequenzen nach Neuigkeiten absuchst und auf der Straße die Gespräche der Leute belauschst. Aber die Patrioten sind bis auf Weiteres untergetaucht.«

Natürlich sind sie untergetaucht. Warum sollten sie auch jetzt, da Anden an der Macht und das Friedensabkommen zwischen der Republik und den Kolonien beschlossene Sache ist, auf den Plan treten? Was könnte ihr nächstes Ziel sein? Ich habe keine Ahnung. Vielleicht haben sie auch keins. Vielleicht gibt es die Patrioten ja gar nicht mehr.

»Ich wünschte, du würdest zurückkommen«, murmele ich Tess zu. »Es wäre so schön, dich wiederzusehen.«

»Und was ist mit June?«

Als sie diese Frage stellt, verschwindet ihr Bild. An ihrer Stelle taucht nun June auf, mit ihrem langen Pferdeschwanz und den dunklen Augen, in denen winzige Goldpünktchen glitzern. Ihr Blick ist ernst und analysierend – analysierend, wie immer. Ich lege den Kopf auf die Knie und schließe die Augen. Selbst diese Vision von June reicht aus, um einen stechenden Schmerz durch meine Brust fahren zu lassen. Verdammt. Sie fehlt mir so sehr.

Ich denke daran, wie ich mich in Denver von ihr verabschiedet habe, bevor Eden und ich nach Frisco umgezogen sind. »Wir kommen bestimmt bald zurück«, habe ich über mein Mikrofon zu ihr gesagt, um das unbehagliche Schweigen zu füllen, das sich zwischen uns ausbreitete. »Wenn Edens Behandlung beendet ist.« Das war natürlich eine Lüge. Wir sind wegen meiner Behandlung hergekommen. Doch davon wusste June nichts, also erwiderte sie bloß: »Kommt schnell wieder.«

Das ist nun fast acht Monate her. Seitdem habe ich nichts mehr von ihr gehört. Ich weiß nicht, ob es daran liegt, dass wir beide zu schüchtern sind, um uns zu melden, zu viel Angst haben, dass der andere gar nicht reden will, oder ob wir vielleicht beide zu stolz sind, so verdammt stolz, um den ersten Schritt zu machen und dabei möglicherweise verzweifelt zu wirken. Vielleicht bin ich ihr auch einfach nicht wichtig genug. Aber so ist das nun mal. Eine Woche vergeht, ohne dass man voneinander hört, und daraus wird ein Monat und bald schon ist so viel Zeit vergangen, dass der Gedanke, sie anzurufen, seltsam und absurd erscheint. Also tue ich es nicht. Außerdem, was sollte ich denn auch zu ihr sagen? Keine Sorge, die Ärzte kämpfen um mein Leben. Keine Sorge, sie versuchen gerade, die betroffene Region in meinem Gehirn mit tonnenweise Medikamenten zum Schrumpfen zu bringen, bevor sie eine Operation riskieren wollen. Keine Sorge, vielleicht nimmt mich ja die Antarktis in eins ihrer Hightech-Krankenhäuser auf. Keine Sorge, ich werde schon wieder gesund.

Wozu mit dem Mädchen, nach dem man verrückt ist, in Kontakt bleiben, wenn man sowieso bald tot ist?

Der Gedanke löst einen pochenden Schmerz in meinem Hinterkopf aus.

Es ist besser so, sage ich mir zum hundertsten Mal. Und das ist es wirklich. Nachdem ich sie so lange nicht gesehen habe, ist die Erinnerung an die Umstände, unter denen wir uns kennengelernt haben, ein wenig abgeflaut, und ich muss nicht mehr so oft daran denken, welche Rolle June beim Tod meiner Familie gespielt hat.

Anders als meine Visionen von Tess sagen Junes nie auch nur ein Wort. Ich versuche, das flimmernde Bild zu ignorieren, aber sie weigert sich zu gehen. So verdammt stur.

Schließlich drücke ich meine Zigarette aus, stehe auf und trete durch den Eingang der Obsidian Lounge. Vielleicht helfen Musik und Lichter ja, sie aus meinen Gedanken zu vertreiben.

Einen Moment lang bin ich wie blind. Es ist stockfinster und ohrenbetäubend laut. Plötzlich stellen sich mir zwei hünenhafte Soldaten in den Weg. Einer von ihnen legt mir fest die Hand auf die Schulter. »Name und Abteilung?«

Ich habe nicht vor, meine wahre Identität zu enthüllen. »Corporal Schuster. Air Force«, erwidere ich, nenne einen beliebigen Namen und die erste Abteilung, die mir einfällt. An die Luftwaffe denke ich immer zuerst, hauptsächlich wegen Kaede. »Ich bin am Flottenstützpunkt zwei stationiert.«

Der Soldat nickt. »Die Air-Force-Truppe sitzt hinten links, in Richtung der Toiletten. Wenn du meinst, Streit mit den anderen Abteilungstischen anfangen zu müssen, fliegst du raus und wir machen Meldung bei deinem Commander. Verstanden?«

Ich nicke und die Soldaten lassen mich durch. Ich gehe einen dunklen Flur hinunter und durch eine weitere Tür, dann mische ich mich unter die Leute im flackernden Licht des Clubs.

Die Tanzfläche ist voller Menschen, ich sehe lose hängende Hemden und hochgekrempelte Ärmel, knappe Kleidchen schmiegen sich an knittrige Uniformen. Auf der Rückseite des Raums finde ich die Air-Force-Tische. Gut, ein paar sind noch frei. Ich rutsche auf eine Bank, lege die Füße auf das Polster gegenüber und den Kopf zurück. Wenigstens ist die Vision von June verschwunden. Die laute Musik pustet mir den Kopf frei.

Kaum sitze ich ein paar Minuten, als ein Mädchen sich durch das Getümmel auf der Tanzfläche drängt und auf mich zuwankt. Ihr Gesicht ist leicht gerötet und ihre Augen funkeln herausfordernd; als ich einen Blick hinter sie werfe, sehe ich eine Traube kichernder Freundinnen, die uns beobachten. Ich zwinge mich zu lächeln. Normalerweise genieße ich die Aufmerksamkeit in Clubs, manchmal aber will ich einfach nur die Augen schließen und mich vom Trubel fortspülen lassen.

Sie beugt sich dicht zu mir und presst ihren Mund an mein Ohr. »Entschuldige«, schreit sie über die Musik hinweg. »Die anderen wollen wissen, ob du Day bist.«

So schnell haben sie mich erkannt? Unwillkürlich zucke ich zurück und schüttele den Kopf, sodass auch die anderen es sehen. »Da habt ihr den Falschen erwischt«, antworte ich mit einem schiefen Grinsen. »Aber danke für das Kompliment.«

Das Gesicht des Mädchens liegt fast vollkommen im Schatten, dennoch sehe ich, wie sie dunkelrot anläuft. Ihre Freundinnen brechen in schallendes Gelächter aus. Keine von ihnen scheint mir meine Antwort abzunehmen.

»Willst du vielleicht tanzen?«, fragt das Mädchen. Sie deutet kurz mit dem Kinn in Richtung der blauen und goldenen Lichter und sieht dann wieder mich an. Offenbar gehört das auch noch zu der Mutprobe, die sich ihre Freundinnen für sie ausgedacht haben.

Während ich schon überlege, wie ich möglichst höflich ablehnen kann, mustere ich das Mädchen. Im Club ist es zu dunkel, um besonders viel zu erkennen, darum sehe ich nicht viel mehr als das Licht der Neonstrahler auf ihrer Haut und dem langen Pferdeschwanz. Ihre glänzend geschminkten Lippen sind zu einem Lächeln verzogen, sie hat einen schlanken, durchtrainierten Körper und trägt ein kurzes Kleid zu Armeestiefeln. Das Nein auf meiner Zunge beginnt sich aufzulösen. Irgendetwas an ihr erinnert mich an June. Seit sie vor acht Monaten Princeps-Anwärterin geworden ist, habe ich mich nicht für viele Mädchen begeistern können – jetzt jedoch, als diese schattenhafte Doppelgängerin mich auf die Tanzfläche lockt, keimt plötzlich wieder Hoffnung in mir auf.

»Okay, warum nicht?«

Auf dem Gesicht des Mädchens breitet sich ein Lächeln aus. Als ich von meiner Bank aufstehe und ihre Hand ergreife, keuchen ihre Freundinnen überrascht auf und brechen dann in lauten Jubel aus. Das Mädchen führt mich mitten durch die Gruppe und im nächsten Moment verschluckt uns die Menge und wir okkupieren ein winziges Plätzchen zwischen den Tanzenden.

Ich ziehe sie an mich, sie streicht mir mit der Hand über den Nacken und dann lassen wir uns von den stampfenden Bässen davontragen. Sie ist wirklich hübsch, muss ich zugeben, geblendet von dem Meer aus Lichtern und Gliedmaßen. Das nächste Lied beginnt und danach ein weiteres. Ich habe keine Ahnung, wie viel Zeit vergeht, bin völlig versunken, doch als sie sich schließlich zu mir vorbeugt und mit ihren Lippen meine streift, schließe ich die Augen und lasse es zu. Ich spüre sogar, wie mir ein Schauer über den Rücken läuft. Sie küsst mich zweimal, ihr weicher Mund scheint unter meinem zu zerfließen und ihre Zunge schmeckt nach Wodka und Früchten. Ich lege dem Mädchen die flache Hand ins Kreuz und ziehe sie enger an mich, bis ihr Körper sich gegen meinen presst. Ihre Küsse werden drängender. Sie ist June, rede ich mir ein und versuche, mich in dieser Fantasie zu verlieren. Mit geschlossenen Augen und meinem noch immer von den Halluzinogenen benebelten Verstand kann ich es einen Moment lang fast glauben – kann mir vorstellen, dass sie es ist, die mich küsst und mir den Atem raubt. Das Mädchen muss eine Veränderung in meinen Bewegungen spüren, mein aufwallendes Verlangen, meine Sehnsucht, denn ich spüre, wie sich ihre Lippen zu einem Grinsen verziehen. Sie ist June. Junes dunkles Haar streift mein Gesicht, Junes lange Wimpern kitzeln mich an den Wangen, Junes Arm ist um meinen Hals geschlungen, ich spüre Junes Körper an meinem. Ein leiser Seufzer entweicht mir.

»Komm«, flüstert sie lockend. »Lass uns ein bisschen an die frische Luft gehen.«

Wie lange bin ich schon hier? Ich will nicht raus, denn das würde bedeuten, dass ich die Augen öffnen muss und June weg ist und ich allein mit diesem Mädchen bin, das ich nicht kenne. Doch sie zerrt an meiner Hand und ich bin gezwungen, mich der Realität zu stellen. June ist nirgends zu sehen, natürlich nicht. Die Lichter über der Tanzfläche flackern auf und einen Moment lang bin ich geblendet. Sie führt mich durch das Gewirr von Tanzenden, zurück durch den dunklen Flur und schließlich zu einer unbeschilderten Hintertür hinaus. Wir finden uns in einer ruhigen Gasse wieder. Ein paar schwache Strahler erhellen die Straße und tauchen alles in gespenstisches grünliches Schummerlicht.

Sie drängt mich gegen die Wand und überwältigt mich mit einem weiteren Kuss. Sie ist leicht verschwitzt und ich spüre, wie sie unter meiner Berührung eine Gänsehaut bekommt. Ich erwidere ihren Kuss und sie stößt ein kleines, überraschtes Kichern aus, als ich uns herumdrehe und nun sie an die Wand dränge.

Sie ist June, sage ich mir, immer wieder. Meine Lippen tasten sich gierig über ihren Hals, schmecken Rauch und Parfüm.

Ein schwaches Knistern dringt aus meinem Knopf im Ohr, ein Geräusch wie Regen und in der Pfanne brutzelnde Eier. Ich versuche, den Anruf zu ignorieren, selbst als die Stimme eines Mannes meinen Kopf erfüllt. Eine kalte Dusche könnte nicht effektiver sein. »MrWing«, sagt er.

Ich antworte nicht. Lass mich in Ruhe. Ich bin beschäftigt.

Nach ein paar Sekunden meldet sich die Stimme erneut. »MrWing, hier ist Captain David Guzman von der Stadtstreife Denver 14. Ich weiß, dass Sie mich hören.«

Ach, der schon wieder. Diesem bedauernswerten Captain brummen sie ständig die Aufgabe auf, mich zu kontaktieren.

Ich seufze und löse mich von dem Mädchen. »Tut mir leid«, sage ich atemlos und deute mit einer entschuldigenden Grimasse auf mein Ohr. »Kannst du mich eine Minute allein lassen?«

Sie lächelt und streicht ihr Kleid glatt. »Ich bin drinnen. Bis gleich.« Dann öffnet sie die Tür und verschwindet wieder im Club.

Ich schalte mein Mikro ein und marschiere langsam in der Gasse auf und ab. »Was gibt’s?«, flüstere ich verärgert.

Der Captain am anderen Ende seufzt und leiert seine Nachricht herunter. »MrWing, Sie werden morgen Abend zur Feier des Unabhängigkeitstages nach Denver gebeten, im Ballsaal des Capitol Towers. Wie immer steht es Ihnen frei, der Einladung nicht nachzukommen. Wie Sie es ja für gewöhnlich zu tun pflegen«, fügt er murmelnd hinzu. »Hierbei handelt es sich allerdings um eine außerordentliche Zusammenkunft von immenser Tragweite. Sollten Sie sich entschließen teilzunehmen, steht morgen früh ein Privatjet für Sie bereit.«

Eine außerordentliche Zusammenkunft von immenser Tragweite? Schon mal so viele geschwollene Wörter in nur einem Satz gehört? Ich verdrehe die Augen. Etwa einmal im Monat bekomme ich Einladungen zu irgendwelchen pompösen Veranstaltungen in der Hauptstadt, wie einem Ball für hochkarätige Kriegsgeneräle oder der Feier, nachdem Anden den Großen Test abgeschafft hat. Doch in Wahrheit wollen sie mich bei all diesen Festivitäten nur dabeihaben, damit sie mich herumzeigen und die Leute erinnern können: »Hier, nur für den Fall, dass ihr es vergessen hattet: Day ist auf unserer Seite!« Treib es nicht zu weit, Anden.

»MrWing«, fährt der Captain fort, als ich nicht reagiere, so als müsse er nun wohl oder übel zum letzten Mittel greifen, »der ehrwürdige Elektor persönlich bittet um Ihre Anwesenheit. Und mit ihm die Princeps-Anwärterin.«

Die Princeps-Anwärterin.

Meine Stiefel kommen knirschend in der Mitte der Gasse zum Stehen. Ich vergesse beinahe zu atmen.

Freu dich nicht zu früh – schließlich gibt es zwei weibliche Anwärter auf das Princeps-Amt und er könnte schließlich jede davon meinen.

Ein paar Sekunden vergehen, bevor ich schließlich frage: »Welche Princeps-Anwärterin?«

»Die einzige, die Sie interessieren dürfte.«

Meine Wangen werden heiß, als ich den Spott in seiner Stimme höre. »June?«

»Ja, Ms June Iparis«, antwortet der Captain. Er klingt erleichtert darüber, dass er sich nun endlich meiner ungeteilten Aufmerksamkeit sicher sein kann. »Sie hat darauf bestanden, Sie explizit persönlich einzuladen. Sie würde sich sehr freuen, Sie beim Bankett im Capitol Tower zu sehen.«

Mein Kopf schmerzt und es kostet mich erhebliche Mühe, meinen Atem ruhig zu halten. Das Mädchen aus dem Club ist vergessen. June hat seit acht Monaten nicht persönlich nach mir verlangt – dies ist das erste Mal, dass sie mich darum bittet, an einer offiziellen Veranstaltung teilzunehmen.

»Worum geht’s denn da genau?«, frage ich. »Eine ganz normale Unabhängigkeitsfeier? Wieso immense Tragweite?«

Der Captain zögert. »Es handelt sich um eine Angelegenheit der Staatssicherheit.«

»Was soll das denn nun wieder heißen?« Meine ursprüngliche Freude beginnt abzuflauen – vielleicht blufft er ja nur. »Hören Sie, Captain, ich habe hier noch etwas zu erledigen. Versuchen Sie morgen früh noch mal, mich zu überzeugen.«

Der Captain stößt einen gedämpften Fluch aus. »Na schön, MrWing. Ganz wie Sie wollen.« Er murmelt noch etwas, das ich nicht verstehe, und beendet dann die Verbindung.

Ich verziehe frustriert das Gesicht, als mein Hochgefühl in handfeste Enttäuschung umschlägt. Vielleicht sollte ich nach Hause gehen. Ich muss sowieso langsam zurück und nach Eden sehen. Was für ein Blödsinn. Wahrscheinlich war das mit June sowieso bloß eine Lüge, denn wenn ihr wirklich etwas daran liegen würde, dass ich in die Hauptstadt komme, dann –

»Day?«

Eine neue Stimme meldet sich in meinem Ohrhörer. Ich erstarre.

Ist die halluzinogene Wirkung der Medikamente schon verflogen? Oder habe ich mir ihre Stimme vielleicht bloß eingebildet? Ich würde sie überall wiedererkennen, obwohl ich sie seit fast einem Jahr nicht mehr gehört habe, und ihr Klang allein reicht aus, um abermals Junes Bild heraufzubeschwören, die nun vor mir zu stehen scheint, als wäre ich ihr zufällig in dieser Gasse begegnet. Bitte, lass es nicht sie sein. Doch, bitte, lass es sie sein.

Hatte ihre Stimme schon immer eine derartige Wirkung auf mich?

Ich habe keine Ahnung, wie lange ich so starr dagestanden habe, aber es muss eine ganze Weile gewesen sein, denn June sagt noch einmal: »Day? Ich bin’s, June. Bist du da?« Mir läuft ein Schauer über den Rücken.

Es ist real. Sie ist es wirklich.

Ihr Tonfall ist anders, als ich ihn in Erinnerung hatte. Höflich, zurückhaltend, so als spräche sie mit einem Fremden.

Endlich habe ich mich wieder unter Kontrolle und schnalze mein Mikro erneut an. »Ja, ich bin da«, antworte ich. Mein Tonfall klingt ebenfalls ungewohnt – genauso höflich, genauso zurückhaltend. Ich hoffe, sie hört nicht das leichte Zittern in meiner Stimme.

Auf der anderen Seite herrscht kurz Schweigen, bevor June schließlich weiterredet. »Hi.« Dann eine längere Pause, gefolgt von: »Wie geht es dir?«

Mit einem Mal spüre ich, wie sich eine wahre Flut aus Worten in mir anstaut, die sich jeden Moment Bahn zu brechen droht. Ich will ihr alles erzählen: Ich habe seit unserem Abschied jeden Tag an dich gedacht, es tut mir leid, dass ich nicht angerufen habe, ich wünschte, du hättest mich angerufen. Du fehlst mir. Du fehlst mir.

Doch ich sage nichts davon. Stattdessen ist alles, was ich hervorbringe: »Gut. Was gibt’s denn?«

Sie hält kurz inne. »Oh. Das freut mich. Entschuldige bitte den späten Anruf, du hast sicher schon geschlafen. Aber der Senat und der Elektor haben mich gebeten, dir eine persönliche Einladung zu übermitteln. Ich würde nicht anrufen, wenn es nicht äußerst wichtig wäre. In Denver findet morgen ein Ball zur Feier des Unabhängigkeitstages statt und in diesem Rahmen soll ein Krisenbankett abgehalten werden. Dafür brauchen wir dich hier.«

»Warum?« Offenbar habe ich mich auf ziemlich einsilbige Antworten festgelegt. Aus irgendeinem Grund ist das alles, was ich mit Junes Stimme im Kopf zustande bringe.

Sie atmet aus, was als kleiner Schwall statischen Rauschens durch meinen Ohrhörer dringt, bevor sie schließlich sagt: »Du hast doch sicher gehört, dass die Republik und die Kolonien gerade über ein Friedensabkommen verhandeln, oder?«

»Ja, klar.« Das weiß doch jeder in diesem Land: Der größte Wunsch unseres geliebten kleinen Anden ist es doch, den Krieg, der schon wer weiß wie lange tobt, endlich zu beenden. Und bislang scheint sich auch alles in die richtige Richtung zu bewegen, immerhin herrscht nun schon seit vier Monaten Ruhe an der Front. Wer hätte gedacht, dass es jemals so weit kommen würde? Aber es hatte ja auch niemand erwartet, eines Tages im ganzen Land die Großen Stadien verlassen daliegen zu sehen. »Sieht ganz so aus, als wäre der Elektor auf dem besten Weg, unser neuer Nationalheld zu werden, was?«

»Sei nicht zu voreilig.« Junes Stimme verfinstert sich und es ist, als könnte ich durch den Hörer direkt in ihr Gesicht blicken. »Wir haben gestern eine ziemlich verärgerte Botschaft aus den Kolonien bekommen. In ihren Städten an der Front breitet sich eine Seuche aus und sie glauben, dass sie von einer der biologischen Waffen ausgelöst wurde, die wir im Krieg eingesetzt haben. Sie haben sogar die Seriennummern der Bombenhüllen zurückverfolgt, die, ihrer Meinung nach, die Seuche in sich getragen haben.«

Ihre Worte dringen nur noch gedämpft durch das Entsetzen, das sich in meinem Kopf breitmacht, durch den Nebel aus Erinnerungen an Eden und seine schwarzen, blutenden Augen, an den kleinen Jungen aus dem Bahnwaggon, der zu Kriegszwecken missbraucht wurde. »Heißt das, das Friedensabkommen ist gescheitert?«, frage ich.

»Ja.« Junes Stimme versagt. »Die Kolonien behaupten, die Seuche sei ein offiziell kriegerischer Akt unsererseits gegen ihr Land.«

»Und was hat das alles mit mir zu tun?«

Ein weiterer Moment unheilvollen Schweigens.

In meinem Inneren breitet sich eine so eisige Angst aus, dass meine Finger taub werden. Die Seuche. Es geht wieder los. Der Kreis hat sich geschlossen.

»Das erkläre ich dir, wenn du hier bist«, erwidert June schließlich. »Wir sollten das nicht über Funk besprechen.«

JUNE

Ich schäme mich für mein erstes Gespräch mit Day, nachdem wir acht Monate lang nichts voneinander gehört haben. Ich hasse mich dafür. Wann bin ich bloß so berechnend geworden? Warum muss ich immer seine Schwächen gegen ihn verwenden?

Letzte Nacht um 23:06Uhr ist Anden in meinem Wohnkomplex aufgetaucht und hat an meine Tür geklopft. Allein. Ich glaube, es waren nicht einmal Leibwächter auf dem Gang postiert. Das war das erste Indiz dafür, dass das, was er mir erzählen wollte, wichtig war – und geheim.

»Ich muss Sie um einen Gefallen bitten«, sagte er, nachdem ich ihn hereingebeten hatte. Anden hat sein Auftreten als junger Elektor nahezu perfektioniert (ruhig, kühl, besonnen, das Kinn in stressigen Situationen entschlossen erhoben, die Stimme völlig beherrscht, wenn er wütend ist), doch diesmal war die tiefe Sorge in seinen Augen nicht zu übersehen. Selbst Ollie, mein Hund, spürte, dass Anden aufgebracht war, und versuchte, ihn zu trösten, indem er ihm seine feuchte Schnauze in die Hand stieß.

Ich schob Ollie beiseite und wandte mich wieder Anden zu. »Was ist los?«

Anden fuhr sich mit der Hand durch die dunklen Locken. »Es tut mir leid, dass ich Sie so spät am Abend noch störe.« Er neigte in stiller Sorge den Kopf zu mir herunter. »Aber ich fürchte, das hier kann einfach nicht warten.« Er war mir so nah, dass meine Lippen seine gestreift hätten, wenn ich den Kopf gehoben hätte. Bei der Vorstellung schlug mein Herz schneller.

Anden schien meine Anspannung zu spüren. Er trat entschuldigend einen Schritt zurück, gab mir mehr Raum zum Atmen. Ich verspürte eine seltsame Mischung aus Erleichterung und Enttäuschung.

»Das Friedensabkommen ist gescheitert«, flüsterte er. »Die Kolonien werden uns in Kürze erneut den Krieg erklären.«

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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