Stationen der Erinnerungen 1945 bis 2016 - Eine Autobiografie - Horst Winkels - E-Book

Stationen der Erinnerungen 1945 bis 2016 - Eine Autobiografie E-Book

Horst Winkels

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Beschreibung

Autobiografie zwischen 1945 bis 2016. Prägnante Ereignisse, wie Mauerbau, Mauerfall, Jugoslawienkrieg ... persönliche Erlebnisse aus der Kindheit, Jugend und Erwachsenenalter sollen nicht nur unterhalten sondern auch zum Nachdenken anregen. Beschreibung der KIndheit nach dem Zweiten Weltkrieg, Lehre zum Drogisten, erste Selbständigkeit, Heirat, Geburt der Tochter, Ausbildung zum Heilpraktiker und Eröffnung einer erfolgreichen Praxis in Düsseldorf. Auswanderung nach Jugoslawien und Erleben der Kriegsereignisse auf dem Balkan, Rückkehr nach Deutschland, Neuanfang mit Gründung der renommierten WINKELS AKADEMIE BERLIN. Verkauf der Akademie und Eintritt ins Rentenalter.

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Seitenzahl: 276

Veröffentlichungsjahr: 2017

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FÜR MIRIAM, MEINE GELIEBTE TOCHTER

STATIONEN DER ERINNERUNGEN

Inhalt

Station I  Behütet 1944 – 1951

Station II  Unbelastet 1951 – 1956

Station III  Hilflos, verzweifelt, unverstanden 1956 – 1960

Station IV  Danke Oma, Danke Opa. Entdeckung ungeahnter Fähigkeiten 1960 – 1968

Station V  Weiterentwicklung, von null auf hundert 1969 – 1979

Station VI  Menschliche Qualitäten 1979 – 1989

Station VII  Mut zum Risiko 1989 – 1992

Station VIII  Depression, Kriegserlebnis 1992 – 1993

Station IX  Hoffnung 1993 – 1994

Station X  Wie Phönix aus der Asche 1994 – 1995

Station XI  Orientierungsphase 1995 – 1999

Station XII  Erfolgreich, schönste Zeit 1999 – 2010

Station XIII  Neuorientierung, Opfer beklagen 2010 – 2016

KOPFSPRUNG IN DAS WECHSELBAD DER ERINNERUNGEN 1944 – 2016

PROLOG Heute ist der 1. März 2016. Nachdem mich meine Frau Marina heute Morgen mit dem Auto von Pankow zum Flughafen Berlin Tegel gefahren hat, sitze ich nun in einer Boeing der Austrian Airlines und befinde mich auf dem Flug nach Wien. Hier angekommen, ist wie immer wenig Zeit, denn mein Anschlussflug nach Podgorica, der Hauptstadt Montenegros, startet bereits in einer Stunde von Gate C. Wie immer, so auch heute laufe ich, so schnell es geht, nach Personen- und Passkontrolle quer durch den Flughafen, um den Anschlussflug zu erreichen. Die zweimotorige Bombardier ist bis auf den letzten Platz besetzt. Während ich den Flug genieße, schweifen meine Gedanken zum Sinn dieser Reise, einer mentalen Reise in meine Vergangenheit. Mit dieser Vergangenheit werde ich mich im Laufe der nächsten vier Monate an einem Ort, der in wichtigen Stationen meines Lebens eine zentrale Rolle spielt, auseinandersetzen und diese Gedanken zu Papier bringen. Ob mir das gelingt, weiß ich nicht. Es ist geplant, dass ich in den ersten zwei Monaten alleine sein werde, sodass danach Marina hinzukommt und wir die weiteren zwei Monate gemeinsam verbringen. Nebenbei gibt es in diesem Ort unsere zwei Immobilien, die ich in dieser Zeit gerne verkaufen würde. Abschied nehmen – mit einem lachenden (rationalen) und einem weinenden (emotionalen) Auge.

Nun überfliegen wir die schwarzen Berge (Montenegro). Schneebedeckte zweieinhalbtausender Gletscher, die auch im Sommer vereist und verschneit sind, tiefe Schluchten, unbewohnte Berglandschaften. Obwohl ich diesen erhabenen Anblick schon viele Male genießen durfte, bin ich auch heute wieder fasziniert. Der Landeanflug beginnt unmittelbar hinter der Gebirgskette mit dem Überfliegen von Podgorica, das in einem Talkessel liegt. Nun dreht der Pilot das Flugzeug leicht nach Osten, um dann mit einem Schlenker westwärts, an Höhe verlierend, über eine weite Fläche des Skotari-Sees, vorbei an seitlichen Felsformationen in Richtung Landebahn zu fliegen. Selbst heute, nachdem ich in der Vergangenheit sämtliche dieser Landeanflüge überlebt habe, fühle ich hier immer noch ein ungutes Gefühl in der Magengegend. Der Skotari-See bildet die Grenze zwischen Montenegro und Albanien, ist Weltkulturerbe und ein Paradies für eine Vielzahl von Vögeln, die zum Teil nur noch hier heimisch sind.   Landung pünktlich 14:30 Uhr.

Im neuen, supermodernen Flughafengebäude erwartet mich Ismet. Mit seinem Golf fahren wir los. Ismet Karamanaga, pensionierter Gymnasialprofessor, Germanist und vor allem mein Freund, steuert zunächst durch ein Dorf mit einem für uns ungewohnten, balkanischen Charakter. Dem Betrachter fallen die vielen teuren Autos auf, die hier an der Straße stehen, während die Besitzer dieser Statussymbole in Straßencafés sitzen und die Zeit totschlagen. Womit diese Zeitgenossen hier an der Grenze zu Albanien ihr Geld verdienen, kann man nur vermuten.

Nun geht es vorbei am Skotari-See, den ich vor einer Stunde noch überflogen habe, vorbei an Ruinen aus dem frühen Mittelalter. Vorbei an Virbazar, einem kleinen Ort, der im Ersten Weltkrieg am Balkan eine wichtige Rolle spielte. Der Tunnel durch das Gebirge ist Montenegros ganzer Stolz. Er ist fast 5 km lang und führt zur Küste. Der Moment, an dem wir den Tunnel verlassen, ist der Zeitpunkt, an dem ich heute zum ersten Mal das Meer erblicke.

Es scheint die Sonne vom wolkenlosen Himmel, bei 20 Grad. Für mich ist das ein Begrüßungsgeschenk, denn genauso gut hätte es heute, am 1. März, bei nur drei Grad, stürmen und regnen können.

Von Sutumore, einem bekannten Urlaubsort, geht es über die Küstenstraße, wo um diese Jahreszeit wenig Verkehr herrscht. Nun sind es noch etwa 50 km bis Ulcinj, meiner zweiten Heimat. Wir fahren entlang der Küste, vorbei an unendlichen Pinien- und Olivenhainen und traumhaften Buchten. Von Bar, der Hafenstadt, die wir passieren, sind es dann nur noch wenige Kilometer. Vom Ortseingang Ulcinj, am Gymnasium vorbei, überfahren wir die Ampel in Richtung Pinjes, wo am obersten Punkt der Straße das Haus steht, mein Haus, in dem ich seit 26 Jahren wohne, immer dann, wenn ich in Ulcinj bin. Als ich am Ziel bin, sehe ich zum ersten Mal das riesige, noch im Rohbau befindliche Hotel auf der anderen Straßenseite, gegenüber unserem schönen Haus. Branko hatte mich telefonisch vorgewarnt. Trotzdem bin ich entsetzt. Pinjes, der Teil von Ulcinj, in dem ich wohne, zeichnet sich durch gepflegte, maximal dreistöckige Einfamilienhäuser aus, die allenfalls über das eine oder andere Appartement verfügen, das zur Vermietung an Feriengäste genutzt wird. Dass hier ein achtstöckiger Klotz mit 50 Hotelzimmern und dem Charme eines 70er-Jahre-Studentenwohnheims gebaut werden durfte, ist eine Frechheit und riecht gewaltig nach Korruption. Beim Anblick dieses Gebäudes, übrigens eines von vielen dieser Art an der Küste Montenegros, tut sich zwangsläufig die Frage auf, woher die ungeheuren Summen Geld kommen, die hier verbaut und offenbar gewaschen werden. Bei einem großen Teil dieser Schandflecke wurde noch nicht einmal fertiggebaut, sodass viele Bauruinen die Küste verunstalten. Die kriminellen Strohmänner, die als Handlanger krimineller Hintermänner hier sichtbar sind, sind in der Regel aalglatte Montenegriner, die aufgrund ihrer Kontakte zu Montenegro-Regierungskreisen durch unsere hiesige Gemeindeverwaltung und Polizei nicht angreifbar sind und machen können, was sie wollen. Meine Nachbarn, alle Einheimische, denken wie ich. Wir stehen hilflos vor dieser Krebserkrankung, die immer schneller neue Metastasen setzt. Massiver Verlust an Anstand und Kultur, gepaart mit hemmungsloser Gewinnsucht prägen immer unverhohlener das andere Gesicht dieses wunderschönen Landes. Alles andere ist wie gewohnt. Branko, unser Hausmeister, steht auf der vorderen Terrasse und erwartet mich. Branka, seine Frau, hat alles so weit vorbereitet, dass der Kühlschrank mit dem gefüllt ist, was ich gerne esse, mein Lieblingswein im Regal steht, die von Branka vorbereitete Pizza muss nur noch in den Backofen, Kaminholz ist ausreichend vorhanden. Es kann also losgehen. Nun beginnt eine Zeit, in der ich viel träume, das Geträumte aufschreibe, in der ich lange Spaziergänge am Sandstrand oder in den Klippen mache, aber auch Abende verlebe, die ich am offenen Kaminfeuer und in der Sauna verbringe.

STATION I  BEHÜTET 1944 – 1951 Gezeugt hat mich mein Vater im April 1944. Meine Eltern sind Hans-August und Gerda Winkels. Gerda, geborene Schölwer, entstammte einer eingesessenen Familie in Gelsenkirchen-Buer. Mein Vater Hans, damals bei der Reichswehr, wuchs bei seinen Eltern Hans und Henriette mit zwei Schwestern in Herten-Westerholt in der Nähe von Buer auf. Im Bauch meiner Mutter wohnte ich, ungeborener Weise, bei meinen Großeltern Hermann und Maria in Gelsenkirchen-Buer. In einer Bombennacht, Ende 1944, wurde das Wohnhaus der Großeltern völlig zerstört. Unter den Trümmern fand man mit meiner Mutter auch mich in ihrem Bauch, beide unverletzt. Da das Leben in den Städten, besonders des Ruhrgebietes, damals gegen Ende des Zweiten Weltkrieges sehr gefährlich war, wurden Teile der Bevölkerung, vor allem Frauen und Kinder, evakuiert. So landete ich im Teutoburger Wald in der Nähe von Detmold, in Bad Meinberg. Hier kam ich am 20. Januar 1945 zur Welt. Nachdem der Krieg vorbei war und mein Vater aus Griechenland zurückkehrte, bildeten wir drei eine kleine Familie. Da mein Vater beim Ruhrbergbau im Labor beschäftigt war, bezogen wir einen betriebseigenen Neubau, der noch zu Nazi-Zeiten fertiggestellt worden war in der Buerschen Resser Mark. Nach eineinhalb Jahren kam mein Bruder Peter zur Welt. Einige Dinge und Schlüsselerlebnisse der damaligen Zeit sind für mich noch heute präsent. So war z. B. alles knapp. Es musste vieles „organisiert“ werden, das heißt, es mussten ständig Wege gefunden werden, dringend benötigte Dinge des Alltags zu beschaffen. Wir zählten damals eindeutig zu den Privilegierteren, weil Opa Hermann zusammen mit seinem Bruder Theodor eine Bäckerei betrieb und außerdem eine Schwester meines Vaters mit einem Bauern verheiratet war, die im Vorgebirge in der Nähe von Bonn lebte. Aus diesen Quellen schöpften und überlebten wir. Wenn es aber darum ging, anderes wie z. B. Kleidung für uns Kinder oder anderes aus der Non-Food-Abteilung des Bedarfs zu beschaffen, brauchte man Geld. Die Angestellten des Ruhrbergbaus hatten ein jährliches Anrecht auf einige Zentner Kohlen. Dieses Deputat, ausschließlich für den Eigenbedarf der Empfänger bestimmt, war aber auch ein Kapital, das darauf wartete, verflüssigt zu werden. Nun kam meine Mutter ins Spiel. Der Begriff Kohlenschieber war damals nicht negativ belegt und gang und gäbe. Kohlenschieber waren die, die nachts mit ihren klapprigen, meist dreirädrigen, kleinen Lieferwagen vor den Häusern standen. Es waren die Ehefrauen und Mütter, die dann, meist ohne Wissen ihrer Männer, auftauchten, mit den Kohlenschiebern in den Keller gingen, wo dann gegen Bargeld der eine oder andere Sack Deputat-Kohlen den Besitzer wechselte. Mein Vater tat immer sehr erstaunt, wenn Mutter mit Stolz die Dinge vorzeigte, die sie mit diesem Geld gekauft hatte. Offiziell durfte er von Mutters Kohlenschiebereien natürlich nichts wissen.

STATION II  UNBELASTET 1951 – 1956 Mit sechs Jahren, also 1951, wurde ich eingeschult. Es ging in die Volksschule am Buerschen Brößweg. Auch hier gab es keine Besonderheiten. Schnell erkannte ich damals schon, dass mir musische Fächer wie Musik, Geschichte, Geografie mehr lagen als alles Naturwissenschaftliche.   Als mein Bruder Peter eingeschult wurde, war ich bereits in der zweiten Klasse. Von uns beiden war ich eindeutig der ruhigere Typ. Wenn irgend möglich ging ich aufkommenden Konflikten aus dem Weg. Ganz anders Peter. Wo auch immer versuchte er, seinen Kopf durchzusetzen, neigte zu Jähzorn und fand sich in Situationen, die für ihn ungünstig waren, sehr schwer zurecht. Wenn es zwischen ihm und anderen zum Streit kam, drohte er stets mit seinem großen Bruder. So kam es, dass ich regelmäßig in seine Kleinkriege mit einbezogen wurde und den einen oder anderen Schlag auf die Nase bekam, der eigentlich ihm gegolten hatte. Trotzdem verstanden wir uns meistens gut.   Damals waren wir uns einig, dass wir später einmal als Artisten oder Akrobaten Weltruhm erlangen würden. Um das zu erreichen, übten wir täglich, wobei wir uns an der Camilla-Mayer-Truppe orientierten, die zu der Zeit internationalen Ruf genoss und häufig in Ruhrgebietsstädten auf Marktplätzen auftrat. Die zeigten in erster Linie gewagte Hochseilakrobatik, die wir auch, aber noch besser bringen wollten. Da wir uns zunächst einmal mit den vorhandenen Übungsmaterialien zufriedengeben mussten, genügte uns der Küchentisch, auf den man zwei Stühle aufeinanderstellte. Als Peter nun nach Akrobatenmanier auf diesen Stühlen den Handstand versuchte, rutschte der obere Stuhl ab und Peter schlug mit dem Unterkiefer auf die Tischkante. Als er mich ansah, war ich entsetzt. Unterhalb seiner Unterlippe klaffte ein stark blutendes Loch, durch das man die untere Zahnreihe sehen konnte, als er mir sagte, dass er die Übung nochmal machen wolle. Im Krankenhaus wurde genäht und die Camilla-Mayer-Truppe ging weiter. Die kleine Narbe ziert noch heute wie ein Studentenschmiss recht vorteilhaft sein Gesicht. Unser gemeinsames Kinderzimmer befand sich unter der Dachschräge, mit dem Fenster zur Straße. Eines schönen Tages stand unsere Mutter am Küchenfenster und blickte auf die Straße. Es irritierte sie, dass sich auf der anderen Straßenseite eine Menschenansammlung gebildet hatte. Alle schauten und zeigten mit den Fingern nach oben. Einige hatten vor Entsetzen die Hände vor ihre weit geöffneten Münder gelegt. Mutter ahnte Schlimmes, rannte die Treppe hoch … das Kinderzimmer war leer, das Fenster weit geöffnet …

STATION III  HILFLOS, VERZWEIFELT, UNVERSTANDEN 1956 – 1960 Diese Jahre waren ausschlaggebend für mein zukünftig schlechtes Verhältnis zu meinem Vater. Nach der vierten Klasse wurde ich vom Klassenlehrer der Volksschule zur höheren Schule vorgeschlagen. Nachdem ich die erforderliche Eignungsprüfung zur Realschule bestanden hatte, fand der Schulwechsel statt. Hätte man mich gelassen, wäre es für mich ein Leichtes gewesen, diese Schule abzuschließen. Doch mein Vater entwickelte zu der Zeit an seinem Arbeitsplatz im Umgang mit seinen Kollegen und seinen Vorgesetzten durch chronischen Geldmangel und durch Neid auf das, was andere hatten, ein enormes Aggressionspotenzial und Frust. Er brauchte ein Ventil. Er brauchte einen Stellvertreter für alle, die er hasste, und alles, was er hasste. Ein noch vorhandenes Kriegstrauma und die Tatsache, dass der Krieg seine geplante Berufskarriere zunichte gemacht hatte, verstärkten seinen Unmut. Auch hasste er mich, weil ich der Grund war, aus dem er meine Mutter heiraten musste. Seine Trinkgewohnheiten nahmen ihm zusätzlich die letzten Hemmungen. Mit größtem Interesse verfolgte er, mit diesem Negativpotenzial ausgestattet, alles das, was an dieser Schule unterrichtet wurde. Er suchte mit sadistischer Gründlichkeit meine Schwächen im Umgang mit dem Lehrstoff, um mich dann für diese Schwächen zu bestrafen. Vor allem die Hausaufgaben unterlagen seiner strengsten Kontrolle. Alles, was ich zu Papier brachte, wurde von ihm auf Fehler untersucht. Obwohl ihm jede Kompetenz fehlte, entwickelte er Erklärungsmodelle, die er dann natürlich selber nicht verstand. Sein Frust führte dazu, dass er fast täglich auf mich einprügelte und sich bei mir große Ängste entwickelten. Die meiste Zeit verbrachte ich nicht damit, zu lernen, sondern Strategien zu entwickeln, die mich vor ihm schützen sollten. Seine Aversion mir gegenüber übertrug sich auch auf andere Dinge des Alltags, sodass schon bei Banalitäten wie auch bei kleinen Unpünktlichkeiten nicht geschimpft, sondern gleich geprügelt wurde. Verbote und Einschränkungen meiner Freizeitmöglichkeiten gehörten dazu. Modische Kleidung wie die damals von den meisten meiner Mitschüler getragenen Jeans wurden strikt verboten. Um diesen häuslichen Qualen aus dem Weg zu gehen, bekam ich dann angeblich immer weniger Hausaufgaben auf. Da ich mich nun, ohne Hausaufgaben gemacht zu haben, nicht in die Schule traute, entwickelte ich mich zum Schulschwänzer. An vielen Vormittagen lief ich durch die Stadt, immer in der Hoffnung, dass mich keiner sieht, der mich kennt. Die erforderlichen Entschuldigungen für die Schule schrieb ich selber. Die Handschrift und die Unterschrift meiner Mutter hatte ich gut geübt. Die Last auf meinen Schultern wurde immer schwerer, mein Leben immer unerträglicher. Noch genau kann ich mich an die schrecklichen Magenschmerzen erinnern, an den schweren Stein in meinem Bauch, wenn ich morgens das Haus verließ, um in die Schule zu gehen. Wie schlecht ich mich fühlte, da ich manchmal in der Schulklasse als Depp der Einzige war, der die Aufgabe nicht verstand. Die schlechten Leistungen in Mathematik glich ich immer wieder dadurch aus, dass ich in Deutsch und auch in einigen Nebenfächern so einigermaßen klarkam. Mit meinem Vater an meiner Seite aber hatte ich keine Chance. Immer häufiger dachte ich daran, mich umzubringen. Während einer seiner Prügelattacken bat ich meinen Vater, mich totzuschlagen, was ihn dann noch wütender machte. Mit der Zeit entwickelte er ausgeklügelte Bestrafungsrituale. Beginnend mit endlosen Monologen über meine bodenlose Dummheit und Faulheit endete es immer mit Schlägen. Irgendwann hielt ich es nicht mehr aus. Ich wollte weg. Planlos lief ich los mit der festen Absicht, nie wieder zurückzukommen. Am späten Abend fand ich mich vor dem Haus meines Onkels Hermann, dem Bruder meiner Mutter. Seine Familie beneidete ich um die Toleranz, die sie untereinander pflegten. Ich beneidete meine Cousine Doris um ihre Eltern. Als ich auf das Garagendach stieg, konnte ich die Familie beim Abendessen beobachten. Nach einigen Minuten löste ich mich von diesem harmonischen Anblick. Beim Rückzug stieß ich mit dem Fuß gegen das metallene Garagentor. Das Geräusch veranlasste meinen Onkel, das Fenster zu öffnen und nachzusehen. Ich war schneller, versteckte mich hinter einem Busch und schlich dann davon. Die Polizei griff mich auf und brachte mich zu meinem Peiniger zurück. Dass Vater mich schlug, hatte ich nicht anders erwartet.

Zu dieser Zeit starb mein Großvater Hans, der Vater meines Vaters, mit nur 55 Jahren an Bronchialkrebs. Dafür, dass er im Nazi-Deutschland ein höherer Parteifunktionär war, saß er mehrere Jahre im Gefängnis. Als er 1950 entlassen wurde, war ich bereits fünf Jahre alt. Wenn ich an meinen Opa Hans denke, sehe ich immer die vielen Tabakblätter, die in seinem Gartenschuppen zum Trocknen aufgehängt waren, vor meinem geistigen Auge. Sehe ich immer genau den Gartenschuppen, der durch den selbstgebauten Brutofen seiner Küken Zucht Feuer fing und abbrannte. Während ich mich eher zu meinem Opa Hermann, dem Vater meiner Mutter, hingezogen fühlte, war Bruder Peter lieber bei Opa Hans. Überhaupt entspricht Peter eindeutig der Winkels- und ich der Schölwer-Linie.   Das Leben bestand damals, Gott sei Dank, nicht nur aus Schule und meinem Peiniger. Wäre es so gewesen, hätte ich wirklich nicht mehr weitergewusst. Die Sommerferien verbrachten Peter und ich meist gemeinsam mit unserer Mutter fast immer in Metternich bei Vaters Schwester und ihrem Mann auf deren Bauernhof. Metternich ist ein Dorf im Vorgebirge zwischen Köln und Bonn. Hier lebten 1500 Menschen. Hier sollte ich irgendwann meine erste Drogerie eröffnen. In den meisten Jahren brachte Vater uns mit seinem VW-Käfer-Standard mit Brezelscheibe hierher und holte uns dann nach einigen Wochen wieder ab. Ich liebte diesen Bauernhof, den riesigen Obst- und Gemüsegarten hinter dem Haus, das Pferd Ella, die Kühe, Schweine und die unzähligen Hühner auf der Wiese. Die Gerüche nach frischem Heu, im Stall, in der Wohnstube, ich liebte den Duft von Nüssen und Äpfeln, die in unserem Schlafzimmer über der Hofeinfahrt getrocknet wurden. Selbst den Bullen mochte ich sehr, obwohl er immer mal ausriss und von Onkel Hubert wieder eingefangen werden musste. Dann durfte keiner das Haus verlassen.   Ich liebte die Tage auf dem Feld, die Kaffeepausen am Rande des Ackers, den Lanz Bulldog, das Heueinfahren, die riesige dorfeigene Dreschmaschine, die zum Hof meines Onkels gefahren wurde und dann tagelang lief, angetrieben vom Schwungrad des Lanz Bulldogs, bis die letzte Ähre gedroschen war.   Außerdem stand im Wohnzimmer das Klavier, ein Relikt aus der Zeit, als man beim Bauern für einen Perserteppich oder ein Klavier den Sack Kartoffeln bekam. Da ich einige Jahre Klavierunterricht hinter mir hatte, zu Hause aber eher ungern Klavier spielte, konnte ich hier unbefangen, ohne dass ich störte, fröhlich in die Tasten des herrlich verstimmten Instrumentes hauen.

Im Haushalt lebten außer meinem Onkel und meiner Tante die griesgrämige Mutter meines Onkels und deren unverheiratet gebliebene, skurrile Schwester „Tante Ann“ sowie meine Cousinen Christel und Inge. Tante Ann liebte „Klosterfrau Melissengeist“, wodurch sie ständig einen angetrunkenen Eindruck machte, denn das „Arzneimittel“ hat 70 Prozent Alkohol. Inge, eine freche Göre, etwa fünf Jahre jünger als ich, konnten Peter und ich überhaupt nicht leiden. Ständig gab es Streit zwischen uns dreien. Christel dagegen, drei Jahre älter als ich, mochte ich sehr. Als ich mein 13. Lebensjahr erreicht hatte, tat ich die ersten Schritte in die Erforschung der Geheimnisse der Weiblichkeit. Wir Kinder verbrachten viele Stunden, vor allem wenn es regnete, in der Scheune, auf dem Heuboden. Als ich Christel dort eines Nachmittags alleine antraf, lag sie auf ihrem Arbeitskittel im Heu, hatte die Augen geschlossen und eine Hand unter ihrem Rock. Mit verklärtem Blick erkannte sie mich, machte aber weiter. Sie winkte mich zu ihr und nahm meine Hand. Mit leichten Bewegungen zeigte sie mir, wie ich es bei ihr machen sollte. Als sie ihren Höhepunkt erreichte, blickte sie mir verliebt in die Augen, richtete ihre Kleidung und ging. In diesen Ferien gab es danach kaum einen Tag, an dem Christel nicht irgendwo, freudig erregt, auf mich wartete. Es war wie im Paradies, denn gleichzeitig – ich musste nur die Straße überqueren – wartete schon das nächste sexuelle Abenteuer auf mich. Zwei Schwestern, eine in Christels Alter, eine etwas jünger, beide hellhäutig, blond, sommersprossig, dünn, zählten schon lange zu meinen Spielfreunden, als die ältere der beiden mich ansprach und mir sagte, dass ihre Schwester sich in mich verliebt hätte und nicht wisse, wie sie mir das sagen solle. Verlegen folgte ich ihr in das Gartenhaus der Familie. Da hier Gurken eingelegt wurden, roch es angenehm nach Essig und Gurkengewürz. Die kleine Schwester empfing mich und legte ihre Arme um meine Schultern. Sie drückte sich gegen mich. Das war mein erster Zungenkuss. Später stellte sich heraus, dass die jüngere die Wette gewonnen hatte, denn ich habe mich von ihr küssen lassen. Bei jedem Glas Essiggurken, das ich öffne, denke ich noch heute an diese beiden Dorfschönheiten und den ersten Zungenkuss.   In diesem Jahr erlebte ich die erste, große, romantische Liebe meines Lebens. Dorothea Baum. Wie aus heiterem Himmel war sie plötzlich da, wie aus dem Nichts tauchte sie auf, als neue Schülerin unserer Parallelklasse. Ihr puppengleiches Gesicht unter dem blonden Pony, die großen Augen, ihre wohlproportionierte Gestalt hatten es mir sofort angetan. Für sie hätte ich sterben können. Auf meinen ersten versuchten Blickkontakt reagierte sie positiv. Rein zufällig traf ich sie, nachdem ich fast zwei Stunden auf sie gewartet hatte, vor der Schule. Ich fragte sie, wo sie wohne – welch ein Zufall, ich musste auch in diese Richtung, also begleitete ich sie. In der Röckstraße, da, wo ich ungeboren unter den Trümmern des großelterlichen Hauses gelegen hatte, wohnte sie mit ihrer Mutter, die ich später auch kennenlernen durfte, in einem Haus, das man fast als Villa bezeichnen konnte. Vom ersten Tag an, an dem ich Dorothea gesehen hatte, kreisten meine Gedanken nur noch um sie. Die Problematik im Umgang mit meinem Vater hatte sich nicht geändert. Nur konnte ich inzwischen gut damit umgehen. Das angestrebte Studium hatte ich mir inzwischen abgeschminkt und wollte nach Ende der allgemeinen Schulpflicht eine Lehre beginnen. Dieser Vorsatz entlastete mich enorm. Wann immer es ging, trafen sich Dorothea und ich für angenehme Gespräche, bei langen Spaziergängen, eng umschlungen, im Stadtwald oder Schloss Berge am Buerschen Berger See. Im Berger Feld, einer Trümmerlandschaft als Rest einer Flakstellung aus dem Krieg, in der man sich gut verstecken konnte, schliefen wir das erste Mal miteinander. Ganz unromantisch, auf einer Betonplatte. Für sie war ich der Erste, auch für mich war sie die Erste, mit der ich richtigen Geschlechtsverkehr hatte.

STATION IV  DANKE OMA, DANKE OPA. ENTDECKUNG UNGEAHNTER FÄHIGKEITEN 1960 – 1968 Nach Beendigung meiner Schulpflicht suchte ich eine Lehrstelle. Da mein Großvater zu der Zeit der erste Vorsitzende des Buerschen Fußballvereins „Buer 07“ war, kannte er natürlich den einen oder anderen, der eventuell seinem Enkel einen Ausbildungsplatz bieten könnte. In die engere Wahl kamen ein befreundeter Optiker und ein Drogist, dessen Gehilfe daran dachte, in nächster Zeit seine eigene Drogerie zu eröffnen. Optiker, als Handwerksberuf, lag mir nicht. Aber Drogist, das konnte ich mir vorstellen. Beim Vorstellungsgespräch bei der Drogerie Josef Kortmann in Buer-Erle lernte ich meinen zukünftigen Chef und Lehrherren, Herrn Friederich Luttmann, kennen. Eine biedere, sehr konservative Person, wahrscheinlich streng gläubig, aber sympathisch. Herr Kortmann führte mich durch sein Geschäft. Fasziniert zählte ich hunderte Schubladen, Glasbehälter, Flaschen mit allen möglichen Tees, Chemikalien, Tinkturen, einfach allem, was der Drogist so anzubieten hatte. Jeder einzelne dieser vielen tausend Artikel verströmte seinen eigenen Duft, der sich mit dem Duft edler Seifen, Parfüms, Badezusätze usw. zu einer einzigartigen Komposition vereinte, die damals und bis in die 70er Jahre von jeder Drogerie ausging. Heutige Drogeriemärkte haben mit den Drogerien, wie es sie früher gab, leider nichts mehr zu tun.

Meine Lebensbedingungen veränderten sich schlagartig, als der Arbeitsplatz meines Vaters nach Essen verlegt wurde. Von nun an lebte ich bei meinen Großeltern in Gelsenkirchen-Buer. Das heißt, wochentags bei den Großeltern, samstags und sonntags bei meinen Eltern in Essen. Die Arbeit in der Drogerie machte mir Spaß. Die Berufsschule packte ich, ohne die „Hilfe“ meines Vaters, mit links. Das Leben war nun unkompliziert, ich merkte, dass Oma und Opa mich liebten. Endlich konnte ich die Hosen tragen, die ich mir wünschte. An diese angenehme, tolerante, neue Atmosphäre musste ich mich erst gewöhnen. Es gab keine unberechtigten Vorhaltungen, kein Versagen irgendwelcher normalen Ansprüche, alles war gut. Zu den Wochenenden versuchte ich jedes Mal, in Gelsenkirchen-Buer zu bleiben, denn in Essen, bei meinem Vater, wurden die alten Repressalien, die mich fast kaputtgemacht hatten, zum Teil sofort wieder aufgenommen. Nur geschlagen wurde nicht mehr, denn mein Vater musste damit rechnen, dass zurückgeschlagen würde. Damals hatte ich bei der Tanzschule Seidel im Goldberghaus zusammen mit Dorothea einen Tanzkurs gebucht. Der fand einmal in der Woche statt. Jeden Samstagabend gab es außerdem den Tanzabend für ehemalige und aktuelle Tanzschüler. Wann immer es ging, waren Dorothea und ich dabei. Man trug Cocktailkleid und Anzug mit Krawatte. Es waren immer schöne Abende bei Standardtanz und Rock ‘n‘ Roll. Wie an den meisten Samstagabenden hatte ich mich auch am 12. August 1961 mit Dorothea zum Tanzen verabredet. Auf dem Weg zu ihr musste ich an einer Straßenkreuzung warten. Ein linksabbiegender Pkw übersah wohl ein entgegenkommendes Motorrad, das dann gegen den Pkw krachte. Der Mann auf dem Rücksitz des Motorrads flog über den Pkw und mir vor die Beine. Ihm war dabei nichts passiert. Bei mir jedoch kam es zu einer komplizierten Fraktur des rechten Sprunggelenks. Es stellte sich heraus, dass der Motorradfahrer und sein Sozius italienische Gastarbeiter waren. Allgemein ging man spontan davon aus, dass ich dem Sozius durch meine Präsenz das Leben gerettet habe. Nachdem man mich mit dem Krankenwagen ins Marienhospital in Buer gebracht, geröntgt und gegipst hatte, erwartete mich im Krankenzimmer eine mindestens 20-köpfige Gesellschaft italienischer Herkunft. Man brachte dem Lebensretter alles, was die italienische Esskultur zu bieten hat, überhäufte mich mit Geschenken. Als ich dann am nächsten Morgen, dem 13. August, in meinem Krankenzimmer erwachte, erreichte mich als Erstes die Schreckensnachricht, dass die DDR-Führung damit angefangen hatte, eine Mauer zu bauen. Zunächst mitten durch Berlin. Die allgemeine Angst und Verwirrung überall in der Bevölkerung waren deutlich zu spüren. Dass ich dann irgendwann – in Berlin am 22. Dezember 1989, 28 Jahre später – live mit dabei sein würde, wenn diese Mauer wieder fällt, ahnte ich damals noch nicht. Mein Krankenhausaufenthalt dauerte zwei Wochen. Währen dieser Zeit verging kaum eine Stunde der Tageszeit, in der nicht mindestens drei Italiener an meinem Krankenbett saßen, um mich zu unterhalten.   Die Prüfung zum Drogisten schaffte ich als Klassenbester, obwohl ich mich nie anstrengen musste.   Die Beziehung zu Dorothea bestand zu diesem Zeitpunkt schon seit zwei Jahren nicht mehr. Irgendwann hatte sie sich für einen Mann entschieden, der um drei Jahre älter war als sie, denn sie wurde viel schneller vom Mädchen zu einer jungen Frau als ich vom Knaben zum Mann.   Mit nun 19 Jahren wohnte ich wieder bei meinen Eltern und leitete eine Filiale eines mittleren Essener Drogerieunternehmens.   Mein Bruder Peter, der sich noch in der Ausbildung zum Autoschlosser befand, spielte in seiner Freizeit in einer Beat-Band Schlagzeug. Die „German Thunderbirds“ spielten Stücke der Beatles, der Stones, der Hollies und anderer populärer Bands, so wie das damals üblich war in den Gesellschaftsräumen irgendwelcher Gaststätten. Hier machte ich die eine oder andere Bekanntschaft. Dabei versuchte ich immer, dem Peter nicht jedes Mädchen auszuspannen. Die angesagteste Disco war damals das Kaleidoskop an der Essener Synagoge, Nähe Porscheplatz. Hier, im „Kalei“, mit der einzigartigen Flower-Power-Atmosphäre, traf ich auf genau die Leute, die meinem Geschmack entsprachen. Hier spürte ich den Geist der 60er. Im Taumel dieser Zeit hörten wir die Songs der Beatles, Beach Boys, von Deep Purple, den Rolling Stones, Bob Dylan, The Mamas & The Papas, Simon & Garfunkel, Jimi Hendrix, Bob Marley, Sonny & Cher … Die Liste könnte noch um einige Protagonisten der damaligen Zeit, in der alles möglich zu sein schien, erweitert werden. Zu meinem neuen Freundeskreis zählten einige sehr interessante Leute, die mich über Jahre begleiteten und ausnahmslos berufliche Karrieren machten. Der Wichtigste von allen dürfte Janis Martin sein, der später zum Prokuristen eines großen Unternehmens aufstieg, gefolgt von Wulf Klingenstein, der Zahnmedizin studierte, Bernd Kawka, dem Diplomingenieur, Helmut Stratmann, der die Spedition seines Vaters weiterführte, und vielen anderen. Unter den Damen fühlte ich mich zu Renata Bertelmann, einer Nichte des damals populären Schlagersängers Fred Bertelmann, besonders hingezogen. Es gab noch einige andere hübsche Mädchen, deren Namen ich nicht mehr weiß, weil sie, ausnahmslos, Bestandteil meiner Orientierungsphase waren. Nachdem Renata eine Zeit mit mir „gegangen“ war, fand sie den Janis dann doch besser, bis sie bei Burghardt Donnep gelandet war, einem Sohn der damaligen Justizministerin von NRW. Burghardt studierte Jura, heiratete Renata und machte Karriere bei Coca Cola. Wie ich glaube, lebt die Familie mit zwei erwachsenen Töchtern heute in Brasilien.   Da ich nun den Führerschein besaß, brauchte ich ein Auto. Viel Auswahl hatte ich nicht, denn meine finanziellen Möglichkeiten waren sehr bescheiden. Als mir ein Lloyd Alexander TS für nur 200 DM angeboten wurde, griff ich zu. Nun war ich der Erste und Einzige unserer Clique, der ein Auto besaß. Dieses Auto wurde nun offiziell zum Truppentransporter erklärt. Man kann sich gar nicht vorstellen, wie viele Personen in so ein kleines Auto passen. Wichtig ist auch zu wissen, dass ich nicht die Pappversion des Lloyd Alexander, sondern die Luxusvariante aus richtigem Blech fuhr. Der Nachteil bei Blech ist natürlich, dass es rostet. Das Auto hat viel Freude gespendet, aber auch Stress gemacht. So kam es, dass Renata und ich zu einem Konzert in den Essener Saalbau wollten. Beide chic gekleidet, fuhren wir mit dem frisch gewaschenen und polierten Auto durch die Essener Innenstadt. In Höhe der Kettwiger Straße, an einer Ampel, würgte ich den Wagen ab. Sämtliche Versuche, das abgesoffene Auto neu zu starten, misslangen. Hinter uns bildete sich eine lange Schlange wild hupender Autos. Renata, neben mir, kochte vor Wut. Als ich sie nun auch noch darum bat, auszusteigen und mich anzuschieben, verließ sie unter Protest den Wagen und rannte, so schnell sie konnte, mit hochrotem Kopf und schickem Kleid davon. Durch dieses Erlebnis mit mir war sie wieder einmal einige Schritte von mir weg in Richtung Janis Martin gegangen.   Mein Bruder Peter und unser Freund Miele, Hubert Milinski (Miele weiß, was Frauen wünschen, denn Miele hat die längste Erfahrung), standen eines Samstagvormittags in meiner Drogeriefiliale und baten um meinen Autoschlüssel. Abends war bei Eva, der verrückten Eva, Freundin von Helmut, eine Party. Zu der musste unbedingt ein Kasten Bier gekauft und transportiert werden. Miele hatte einen Führerschein, Peter aber noch nicht. Schweren Herzens händigte ich Miele den Autoschlüssel aus. Man versprach, mich zu Geschäftsschluss, also gegen 14 Uhr, abzuholen. Von meinem Arbeitsplatz aus, durch das Schaufenster, konnte ich auf die auf der anderen Straßenseite befindliche Bushaltestelle sehen. Als ein Bus gegen 14 Uhr hielt, stiegen zu meinem Erstaunen Peter und Miele aus. Miele, mit eingegipstem Arm, den Peter im Schlepptau, betrat die Drogerie. Peter ergriff das Wort und machte mir klar, dass sie sich zwar überschlagen hätten, dass das mit dem Auto aber nicht so schlimm sei, man könne es gut reparieren. Allmählich kam heraus, dass nicht Miele, sondern Peter gefahren war. Der Unfall passierte auf der Ruhrallee, einer Schnellstraße, gut 30 km vom nächsten Getränkemarkt entfernt. Gott sei Dank glaubte die Polizei, dass Miele am Steuer saß. Als ich am Nachmittag in den Hof meines Elternhauses trat und den Totalschaden sah, flippte ich fast aus. Der verbliebene Schrott wurde einige Tage später auf den Hof der Spedition von Helmut Stratmanns Vater transportiert, geschweißt, ausgebeult, gespachtelt und in Mercedes-Lkw-Blau lackiert. Das, was ich da mit meinem Bruder Peter erlebt hatte, hat in abgeschwächter Form früher schon einmal stattgefunden. Drei Jahre zuvor verfügte ich endlich über das Geld, um mir ein gebrauchtes, kleines Motorrad, eine rote Panther, zu kaufen. Es stand in der Garage meiner Eltern und wurde nur bewegt, wenn ich mal in Essen und nicht bei den Großeltern in Buer war. Immer wenn ich mit meiner Panther unterwegs war, trug ich meine wunderschöne hellbeige Windjacke aus Popeline. Damit machte ich bei den Mädels mächtig Eindruck. Eines Tages, als ich losfahren wollte, stellte ich fest, dass es unmöglich war, das Motorrad in der Spur zu halten. Es war lebensgefährlich, weiterzufahren. Was war passiert? Bruder Peter hatte sich, natürlich auch ohne den erforderlichen Führerschein zu besitzen, meine Maschine ausgeliehen, um damit in einen Straßengraben zu krachen. Hierbei verzog sich der Rahmen derart, dass eine Reparatur nicht mehr möglich war. Die Panther musste verschrottet werden. Zu allem Überfluss hatte er bei dem Unfall natürlich meine schicke, hellbeige Popelinejacke getragen, die ich später, zerfetzt in einer Ecke von Vaters Garage versteckt, gefunden habe.



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