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Als Stephen Hawking in den frühen 1960er Jahren mit seiner Forschung begann, war sein Fach, die Kosmologie, eine verschlafene Disziplin. Als er 2018 starb, war sie das wohl aufregendste Forschungsgebiet der Physik, das einen Nobelpreis nach dem anderen einheimste. Und Stephen Hawking galt weithin als der beste Physiker, wenn nicht sogar als der klügste Mensch der Welt. Diese aufregende, zuweilen beunruhigende Biographie zeigt, wie es dazu kam. In seiner Doktorarbeit von 1965 wies Hawking nach, dass der Urknall, aus dem das Universum entstand, ein unendlich kleiner Punkt sein muss, für den die Gesetze der Physik nicht gelten. Dieses «Singularitätstheorem» beflügelte seine Karriere. Anschließend gelangen ihm spektakuläre Entdeckungen über Schwarze Löcher und die Frühzeit des Universums, die die Kollegen verblüfften. Aufgrund von amyotropher Lateralsklerose begannen seine Kräfte zu schwinden; seit den achtziger Jahren war er vollständig gelähmt und konnte nicht mehr sprechen. Glücklicherweise war er eine internationale Berühmtheit und Autor des Bestsellers Eine kurze Geschichte der Zeit von 1988 geworden; denn nur ein reicher Mann konnte sich die Armee von Betreuern leisten, die es ihm ermöglichten, zu Hause zu leben, zu arbeiten, zu kommunizieren, Kontakte zu pflegen und die Welt zu bereisen. Die Öffentlichkeit und die Medien ignorierten weithin seine Entdeckungen, waren aber besessen von seiner Behinderung, seinem Privatleben und seinen «Äußerungen». Jeder Skandal, wie etwa seine Vorliebe für Swingerclubs, trug zur Legende bei. Der Wissenschaftsjournalist Charles Seife erklärt nicht nur Hawkings komplexe Wissenschaft anschaulicher als dieser selbst, sondern zeichnet auch das verstörende Porträt einer vorsätzlichen Mythenbildung.
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Charles Seife
Stephen Hawking
Genie des Universums
Eine Biographie
Aus dem Englischen von Judith Elze und Enrico Heinemann
C.H.Beck
Als Stephen Hawking in den frühen 1960er Jahren mit seiner Forschung begann, war sein Fach, die Kosmologie, eine verschlafene Disziplin. Als er 2018 starb, war sie das wohl aufregendste Forschungsgebiet der Physik, das einen Nobelpreis nach dem anderen einheimste. Und Stephen Hawking galt weithin als der beste Physiker, wenn nicht sogar als der klügste Mensch der Welt. Aufgrund von amyotropher Lateralsklerose begannen seine Kräfte zu schwinden; seit den achtziger Jahren war er vollständig gelähmt und konnte nicht mehr sprechen. Die Öffentlichkeit und die Medien ignorierten weithin seine Entdeckungen, waren aber besessen von seiner Behinderung, seinem Privatleben und seinen»Äußerungen«. Der Wissenschaftsjournalist Charles Seife erklärt nicht nur Hawkings komplexe Wissenschaft anschaulicher als er selbst, sondern zeichnet auch das verstörende Porträt einer vorsätzlichen Mythenbildung.
»Hervorragend recherchiert und aus den Quellen gearbeitet erzählt Charles Seife Hawkings Leben, wie es sich wirklich zugetragen hat.«– Frank Wilczek, The New York Times
»Die beste Biographie.«– Declan Fahy, Science
Charles Seife hat Mathematik und Journalismus in Princeton, Yale und an der Columbia University studiert und ist heute Professor für Journalismus an der New York University. Er ist Autor zahlreicher populärwissenschaftlicher Bücher und hat als Journalist u.a. für die New York Times und Scientific American gearbeitet.
Vorwort
Teil I: Der Vorhang fällt
Kapitel 1: Gleich neben Newton (2018)
Kapitel 2: Kräuselwellen (2014–2017)
Kapitel 3: Modelle (2012–2014)
Kapitel 4: Großer Entwurf (2008–2012)
Kapitel 5: Zugeständnisse (2004–2007)
Teil II: Wirkung
Kapitel 6: Grenzen (1998–2003)
Kapitel 7: Information (1995–1997)
Kapitel 8: Bilder (1990–1995)
Kapitel 9: Blitzschlag (1987–1990)
Kapitel 10: Zündung (1981–1988)
Kapitel 11: Inflation (1977–1981)
Kapitel 12: Schwarzer Schwan (1974–1979)
Teil III: Inspiral
Kapitel 13: Schwarzer Körper (1970–1974)
Kapitel 14: Schwarzes Loch (1965–1969)
Kapitel 15: Singularität (1962–1966)
Kapitel 16: Urstoff (1942–1962)
Kapitel 17: Auf den Schultern von Riesen
Anhang
Danksagung
Anmerkungen
Vorwort
Teil I – Der Vorhang fällt
Kapitel 1 – Gleich neben Newton (2018)
Kapitel 2 – Kräuselwellen (2014–2017)
Kapitel 3 – Modelle (2012–2014)
Kapitel 4 – Großer Entwurf (2008–2012)
Kapitel 5 – Zugeständnisse (2004–2007)
Teil II – Wirkung
Kapitel 6 – Grenzen (1998–2003)
Kapitel 7 – Information (1995–1997)
Kapitel 8 – Bilder (1990–1995)
Kapitel 9 – Blitzschlag (1987–1990)
Kapitel 10 – Zündung (1981–1988)
Kapitel 11 – Inflation (1977–1981)
Kapitel 12 – Schwarzer Schwan (1974–1979)
Teil III – Inspiral
Kapitel 13 – Schwarzer Körper (1970–1974)
Kapitel 14 – Schwarzes Loch (1965–1969)
Kapitel 15 – Singularität (1962–1966)
Kapitel 16 – Urstoff (1942–1962)
Kapitel 17 – Auf den Schultern von Riesen
Nachweis der Gedichtzitate
Personenregister
Stephen Hawking mochte die Daily Mail weitaus lieber als sie ihn. Selbst im Vergleich zum sonstigen Niveau der englischen Boulevardpresse war die Wissenschaftsberichterstattung der Zeitung je nach Standpunkt des Lesers entweder lächerlich oder ärgerlich. Schlagzeile um Schlagzeile wurden die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung oftmals bis zur Unkenntlichkeit aufgebauscht und entstellt – Hauptsache, es erregte möglichst viel Aufmerksamkeit.
Keiner vermochte die Öffentlichkeit so zu faszinieren wie Stephen Hawking, also waren die Seiten der Mail regelmäßig mit seinem Namen geschmückt, wobei er selbst allerdings meist in wenig schmeichelhaftem Licht dastand. Der Professor trat gewöhnlich entweder als Untergangsprophet auf, wenn er vor der Klimaerwärmung, einem Aufstand der Roboter, einer Invasion Außerirdischer oder anderen Katastrophen warnte, oder er war Mittelpunkt eines Skandals um sein Sexleben, seine Ehen oder um Vorwürfe wegen Drogenmissbrauchs. Doch kurz vor Hawkings Tod Anfang 2018 betrat die Daily Mail neues Terrain.
«Ist Stephen Hawking durch eine ‹Puppe› ersetzt worden?», lautete die Schlagzeile. «Verschwörungstheoretiker behaupten, der WAHRE Professor sei TOT, und eine ‹Puppe› habe seinen Platz eingenommen. Zur Unterstützung ihrer These haben sie SECHS Anhaltspunkte vorzuweisen.»[1]
In einem erstaunlich langen und detaillierten Artikel versuchte das Boulevardblatt zu beweisen, dass der geschätzte Physiker irgendwann Mitte der 1980er Jahre durch einen Betrüger ersetzt worden sei. So ungeheuerlich die These auch klingen mag – die Daily Mail erläuterte, angebliche Auffälligkeiten in Hawkings Erscheinungsbild während des Alterns (vor allem im Aussehen seiner Zähne), das unerwartet lange Leben angesichts einer Krankheit, die normalerweise innerhalb weniger Jahre tödlich verläuft, und eine Reihe weiterer Indizien wiesen darauf hin, dass der echte Stephen Hawking verstorben und der Öffentlichkeit eine Reproduktion untergeschoben worden sei. «Die Stimme, die wir hören», so der Artikel, «gibt Informationen wieder, die Astrophysiker der NASA in einen Computer tippen – Informationen, die sie Hawkings Fans unterjubeln wollen, einem so leichtgläubigen und arglosen Publikum, dass es sich an jedes vermeintliche Wort von ihm klammert.»
Selbst für die bizarre Parallelwelt, die Klatschreporter heraufbeschwören, war dies doch sehr weit hergeholt. So weit hatten sie sich erst einmal aus dem Fenster gelehnt – fast genau fünfzig Jahre zuvor. 1969 überschlugen sich die Boulevardblätter mit Gerüchten, der Beatle Paul McCartney sei bei einem Autounfall ums Leben gekommen und durch einen Doppelgänger ersetzt worden.
Der Vergleich von Stephen Hawking mit Paul McCartney wird Hawkings einzigartiger Berühmtheit nicht ganz gerecht. Im Laufe der Geschichte gibt es vielleicht drei oder vier Wissenschaftler, deren Ruhm und öffentliches Ansehen sich mit Hawking vergleichen ließen: Einstein, Newton, Galilei – und vielleicht noch Darwin. Für die Medien und die breite Öffentlichkeit war Hawking zu einem herausragenden Symbol für den Triumph des Geistes geworden. Er war der genialste Mann der Welt, ein unübertroffener Kopf, der seine Zeit damit verbrachte, die tiefsten Mysterien des Universums zu ergründen.
Die Behauptung der Daily Mail, Hawking sei durch ein Phantom ersetzt worden, war nur die extremste und absurdeste der Falschdarstellungen, die seit Jahrzehnten in Presse und Öffentlichkeit über ihn kursierten. Das Bild des Professors hatte sich zu einem gewaltigen Widerspruch ausgewachsen: Auf der einen Seite erschien er der Welt als übernatürliches Wesen mit seinem Verstand, der dem gewöhnlicher Sterblicher und selbst dem anderer Wissenschaftsgenies so überlegen war, dass er eine Klasse für sich darstellte. Hawking war intellektuell auf einer Ebene angesiedelt, die sich jenseits alles Menschlichen befand. Auf der anderen Seite aber konnte man ihn fast wie ein seelenloses Objekt behandeln. Seine neurologische Krankheit beraubte ihn Stück für Stück der Fähigkeit, sich aus eigenem Antrieb zu bewegen, und ermöglichte ihm das Sprechen nur noch mithilfe einer computergenerierten Stimme. Für Gedankenlose lag da die Vorstellung nur zu nahe, Hawking sei kein echter Mensch, sondern etwas Künstliches, eine Art technologiegestützter Homunculus. Wie die Daily Mail es so rüde ausdrückte, war es oft nicht einmal möglich zu sagen, ob die Stimme, die da aus seinem Computer kam, wirklich von diesem Wesen im Rollstuhl gesteuert wurde.[*1]
Als er 2018 starb, war es fast unmöglich, unter all den symbolträchtigen Schichten noch den Menschen Hawking zu erkennen. Die lebendige Person aus Fleisch und Blut war schon beinahe zur Karikatur geworden. Obwohl alle, die Hawking kannten, ihn als einen höchst eigensinnigen und willensstarken Menschen beschreiben, war es unglaublich schwer, seinen echten Willen oder sein wahres Wesen hinter der öffentlichen Persona wahrzunehmen.
Um Stephen Hawking zu verstehen, muss man die Uhr zurückdrehen. Im letzten Drittel seines Lebens war er als der meistgefeierte lebende Wissenschaftler etabliert, obwohl seine tatsächlichen wissenschaftlichen Beiträge so gut wie nichts mehr zu seinem Ruhm beitrugen. Obgleich er regelmäßig in den Medien auftauchte, ging es in der Presse meist nicht um seine wissenschaftlichen Studien. In den letzten Jahrzehnten seines Lebens war von den Forschungsinhalten, denen Hawking sein Leben gewidmet hatte, nichts mehr von nachhaltiger Wirkung auf die Welt der Physik, sie wurden weitgehend unberücksichtigt gelassen. Er war wie ein kollabierter Stern; der Raum, der ihn umgab, strahlte hell von seiner Energie, doch im Kern gab es nur noch einen blassen Widerschein dessen, was er einmal gewesen war.
Gar nicht lange davor war Hawking eine Supernova gewesen. Das mittlere Drittel seines Lebens war von einer spektakulären, brillanten Transformation gekennzeichnet. Im Laufe zweier Jahrzehnte verwandelte sich Hawking von dem ziemlich unbedeutenden Physiker, der mit Kollegen (und Rivalen) daran arbeitete, die physikalischen Verhältnisse ganz am Anfang der Entstehung des Universums zu verstehen, in eine internationale Berühmtheit. In den klügsten Kopf der Welt. In das wissenschaftliche Äquivalent der Beatles. Als diese ebenso befriedigende wie schmerzhafte Metamorphose vollendet war, hatte Hawking mit einem Großteil seiner Vergangenheit gebrochen und an ihrer statt einen Mythos geschaffen.
Nur im ersten Drittel seines Lebens – also bevor er seinen Status und Ruhm erreicht hatte, bevor er sich in den klügsten Kopf der Welt und führenden Wissenschaftskommunikator verwandelt hatte – wird der wahre Mensch hinter der Legende sichtbar. Bei einer Umkehr der Erzählrichtung wird Hawkings eigentliche Brillanz wieder sichtbar. Eine Reise zurück in seine Jugend lässt nachvollziehen, wie er zu den entscheidenden wissenschaftlichen Erkenntnissen kam, die seinen Ruf begründeten. Dann wird der Ursprung seines Bedürfnisses erkennbar, es als Wissenschaftskommunikator zu Berühmtheit zu bringen. Und man versteht die Todesängste eines jungen, schwer erkrankten Mannes, den der Tod jederzeit abberufen kann, und den Antrieb, so schnell wie möglich eine Familie zu gründen und sich ein Vermächtnis aufzubauen.
Während eine wissenschaftliche Entdeckung mit der Zeit immer verständlicher wird, da weitere Wissenschaftler nach und nach ihre Erkenntnisse beisteuern, tritt Stephen Hawkings Leben umso klarer zutage, je weiter wir in der Zeit zurückgehen, je mehr wir von den übereinanderliegenden Schichten aus Ruhm und Legende abtragen. Am Ende erscheint ein ganz anderer Mensch vor uns, als es das Bild des in der Öffentlichkeit so beliebten Stephen Hawking vermittelt.
Der öffentliche Hawking war als klügster Mann der Welt berühmt, er verkörperte den absoluten Höhepunkt des wissenschaftlichen Intellektualismus. Der Mensch Hawking war brillant, sich dabei aber bewusst, dass die Kollegen in seinem Umfeld, die im Halbdunkel abseits der Öffentlichkeit harte Arbeit leisteten, ebenso brillant waren. Der öffentliche Hawking war der bedeutendste Wissenschaftskommunikator der Welt. Als Mensch gehörte er zu denen, die es mit der Kommunikation sehr schwer haben – als er schließlich berühmt war, konnte er, wenn überhaupt, nicht mehr als wenige Worte pro Minute äußern. Der öffentliche Hawking nahm seine körperliche Behinderung stoisch als lästige Unannehmlichkeit hin. Den Menschen Hawking hatte das Gebrechen ganz selbstverständlich in seiner gesamten Existenz geprägt: in seinem Aussehen, seiner Forschung, seinem Familienleben und schließlich auch seinem Ruhm. Für die Öffentlichkeit war alles, was er tat, außergewöhnlich, besonders und mutig – es war ein spektakuläres Ereignis, wenn er sprach, wenn er aß, wenn er tanzte, wenn er arbeitete oder liebte. Für ihn selbst hingegen bedurfte es keines Mutes, er selbst zu sein.
Sogar Hawkings Kollegen und Rivalen fiel es nicht leicht, den Menschen von der Legende zu unterscheiden. «Ich spreche nicht von ihm als dem reinen Intellektuellen, der auf seinem magischen Rollstuhl durch das Universum rollt», sagt Leonard Susskind, Physiker an der Universität Stanford, der bezüglich der Eigenschaften der Schwarzen Löcher im Widerstreit mit Hawking lag. «Ich spreche von ihm als Menschen. Eigentlich konnte ihn keiner von uns wirklich kennenlernen.»[2]
Lassen wir also die Uhr rückwärtslaufen. Was dabei zum Vorschein kommt, ist der wahre Mensch, ebenso launisch, arrogant und hart wie warmherzig, geistreich und brillant. Komplex. Faszinierend. Singulär.
Zum Vorschein kommt: Stephen Hawking.
*1 Jede Begegnung mit Hawking, bei der seine Persönlichkeit authentisch und ungefiltert zum Ausdruck zu kommen schien, wurde von der Öffentlichkeit wie ein großes Geschenk gefeiert. Berühmt-berüchtigt sind zum Beispiel seine Fahrten mit dem Rollstuhl durch die Straßen von Cambridge, auf denen er – zum einhelligen Entzücken – andere Fahrzeuge einfach stur ignorierte. Als Hawking 2018 starb, ging auf Twitter ein langer Thread mit Geschichten von Leuten viral, die ihn mit ihrem Auto fast überfahren hätten.
Teil I
O Weise ihr, die ihr in Gottes heiligem Feuer
Steht wie im goldnen Mosaik auf einer Wand,
Entsteigt dem heiligen Feuer, im Wirbel kreist,
Und seid für meine Seele Lehrer im Gesang.
Verzehrt mein Herz; von Sehnsucht krank
Und angekettet an ein Tier das stirbt,
Weiß es nicht was es ist; und nehmt mich auf
Ins Kunstgebilde eurer Ewigkeit
William Butler Yeats, «Seefahrt nach Byzanz»
Kapitel 1
In den letzten einhundert Jahren wurden nur drei Wissenschaftler in der Westminster Abbey beigesetzt: Ernest Rutherford, der die Struktur des Atoms aufklärte, J. J. Thomson, der das Elektron entdeckte, und schließlich Stephen Hawking.
Die Urne mit Hawkings Asche wurde am 15. Juni 2018 in den Boden der Kathedrale eingelassen und, kaum einen Meter von den Gräbern Isaac Newtons und Charles Darwins entfernt, unter einer schieferschwarzen Platte beigesetzt.
Hawking hatte sich öffentlich stets dagegen verwahrt, mit Newton verglichen zu werden, und jede derartige Anspielung entschieden als «Medienhype» zurückgewiesen. Doch die Öffentlichkeit stellte diese Verbindung gerne her: Hawking war der berühmteste Physiker seiner Zeit, besetzte in Cambridge den Lucasischen Lehrstuhl, den Newton dreihundert Jahre vor ihm innegehabt hatte, und hatte wie dieser einen Großteil seiner Karriere damit zugebracht, die Rätsel der Gravitationskraft zu lösen. Noch im Tod konnte sich Hawking, selbst wenn er gewollt hätte, nicht aus der Fessel des Vergleichs mit Newton befreien. Die beiden Wissenschaftler liegen nicht nur wenige Schritte voneinander entfernt begraben, ihre Grabsteine tragen zudem dasselbe Epitaph. Auf Newtons Grabmal aus weißem Stein prangt die lateinische Inschrift «Hic depositam est quod mortale fuit Isaaci Newtoni.» Auf Hawkings Grabstein stehen dieselben Worte, wenn auch nicht auf Lateinisch, sondern auf Englisch: «Here lies what is mortal of Stephen Hawking» (Hier ruhen die sterblichen Überreste Stephen Hawkings).[1]
Obgleich kleiner als Newtons, ist Hawkings Grabstein kunstvoller gestaltet. Der Schriftzug zieht sich sanft den Linien eines Wirbels entlang, die, in den Schiefer eingraviert, in ein ellipsenförmiges Nichts hineingezogen zu werden scheinen: Gaswolken, die im Schlund eines schwarzen Lochs verschwinden. Links steht eine Gleichung, deren Schriftzeichen schwerelos wirken:
T = ħc3/8πGMk
Kaum ein Betrachter des Grabsteins versteht die Bedeutung dieser Symbole. Für Stephen Hawking dagegen war diese Gleichung der Schlüssel zur Überwindung der Sterblichkeit.
***
Bis zu seinem Tod 2018 war Hawking einer der angesehensten Menschen auf unserem Planeten und wahrscheinlich auch der am leichtesten auszumachende. Kaum bewegungsfähig, an den Rollstuhl gefesselt und von einer ganzen Entourage von Krankenschwestern begleitet, konnte er sich nirgendwohin incognito begeben. Woran ihm auch nicht besonders viel gelegen hätte.
Die Öffentlichkeit verehrte Hawking, ohne genau zu wissen, warum. Für Einstein stand die Relativitätstheorie, für Newton das Gravitationsgesetz; die überwiegende Mehrheit von Hawkings Verehrern hatte dagegen kaum eine Ahnung, wofür Hawking seinen Ruf verdiente. Ebenso wenig verstanden sie, warum er in der Presse stets mit Einstein oder Newton verglichen wurde – ein Vergleich, den er bescheiden zurückwies, an dessen Pflege er aber zugleich hart arbeitete. Und selbst diejenigen, die eine vage Vorstellung von Stephen Hawkings Wissenschaft hatten, sahen nur einen winzigen Teil dessen, was Hawking zu Hawking machte. Denn er war nicht nur der Physiker Hawking, der Prominente Hawking, sondern auch der Selbstdarsteller, der Ehemann und Vater, die Symbolgestalt Hawking.
Diese Aspekte standen im Widerstreit miteinander: In dem Augenblick, in dem Hawking zu Ruhm kam, zerbrachen seine Ehe und seine Familie. Als Mensch war er von der pflegerischen Hilfe seiner Studenten abhängig, während er sie als Physiker doch zu seinem intellektuellen Nachwuchs heranziehen wollte. Er war womöglich der weltweit meistgefeierte Physikkommunikator, hatte aber enorme Schwierigkeiten, sich verständlich zu machen. Selbst das scheinbar unkomplizierteste Element seiner Persönlichkeit, seine Kompetenz als erstklassiger Physiker, ist viel komplexer, als es der erste Blick nahelegt. Wissenschaftler sahen Hawking als einen Denker höchster Ordnung, doch zugleich rollten viele die Augen, wenn sie sich spätere Arbeiten anschauten, und zerrissen sie als nahezu bedeutungslos. Der wahre Hawking findet sich jenseits dieses komplexen Geflechts aus widersprüchlichen Narrativen.
Wie bei den Singularitäten, die er erforschte, hindern enorme Kräfte Außenstehende daran, Hawkings Innerstes auch nur zu erahnen. Hinter dem Ereignishorizont seines Ruhms aber ist eine reale Person vorhanden.
Diese Singularität ist äußerst vielfältig: ein herausragender Wissenschaftler, dessen Bedeutung fast durchgängig missverstanden wird; ein Mensch, der schwer gelitten und ebenso schweres Leid verursacht hat; ein Wissenschaftsstar, der Prominenz in der Forschung neu definierte und veränderte.
Die meisten, die etwas über Hawking wissen, lassen sich von einer Momentaufnahme aus seinem Leben blenden, von einem Bild aus dem turbulenten Jahrzehnt von 1980 bis 1990, als er von einem angesehenen, aber unbedeutenden Forscher aus einem vernachlässigten Teilbereich der Physik zu einem Mann mit einem der glanzvollsten Namen überhaupt aufstieg. Doch wie eine Supernova, die ihre Heimatgalaxie für kurze Zeit überstrahlt, zieht Hawkings Ruhm die Aufmerksamkeit auf sich und lenkt zugleich vom Eigentlichen ab – indem er Millionen von Menschen einlädt hinzusehen und zugleich den Stern selbst verbirgt, ein pulsierendes, entblößtes Objekt, das alles verloren hat, was einst an ihm hing.
***
Benedict Cumberbatch – ein Schauspieler, der Hawking in einem der vielen Kinofilme, Theaterstücke und Fernsehshows über das Leben des Physikers gespielt hatte – las am Großen Lesepult in der Westminster Abbey eine Passage aus der Weisheit Salomos:
Denn er hat mir gegeben gewisse Erkenntnis aller Dinge, dass ich weiß, wie die Welt gemacht ist, und die Kraft der Elemente; der Zeit Anfang, Ende und Mitte; wie der Tag zu- und abnimmt; wie die Zeit des Jahres sich ändert, und wie das Jahr herumläuft; wie die Sterne stehen.
Sicher oder – wie es in der englischen Bibelübersetzung heißt – unfehlbar (unerring) war Stephen Hawking nicht, aber er wollte Anfang und Ende des Universums verstehen und hatte sich dies zum Beruf gemacht. Als er in den frühen 1960er Jahren mit seiner Forschung begann, war sein Fach, die Kosmologie, ein abseits schlummerndes Forschungsfeld, das über Jahrzehnte keine wesentlichen Fortschritte erlebt hatte. Als er starb, war es das wohl aufregendste Fachgebiet in der Physik, das einen Nobelpreis nach dem anderen einheimste (und es weiterhin tut), weil es unser Verständnis darüber verändert, wie das Universum entstanden ist.
Hawkings erstes bedeutendes Forschungsergebnis war eine wichtige Entdeckung über die Entstehung des Universums. Zu jener Zeit, 1965, versuchte man die Entstehung des Kosmos mit zwei konkurrierenden Modellen zu erklären: Entweder erneuerte er sich ewig aus sich selbst heraus oder er war aus einer gigantischen Explosion entstanden, die unter dem Begriff Big Bang oder Urknall bekannt ist. In seiner Doktorarbeit bewies Hawking, dass der Kosmos, wenn das Universum mit einem Urknall begonnen hatte, aus etwas heraus entstanden sein musste, das als Singularität bezeichnet wird: an einem Punkt, an dem die physikalischen Gesetze außer Kraft gesetzt sind, einem schier unendlich kleinen, aber sich grenzenlos auswirkenden Webfehler im Gefüge von Raum und Zeit. An einem Ort, an dem die Mathematik selbst scheitert. Die Erkenntnis war überwältigend: Wenn man an den Urknall glaubte, musste man hinnehmen, dass die uns bekannten physikalischen Gesetze ungeeignet sind, die Entstehung unseres Kosmos zu beschreiben. Diese Idee – heute als das Singularitäten-Theorem bekannt – war der Startpunkt für Hawkings Karriere.
Mit zunehmendem Selbstvertrauen und Rang war Hawking entscheidend dafür verantwortlich, dass sich die heute vorherrschende Theorie darüber festigte, wie sich das sehr frühe Universum ausdehnte: die sogenannte «Inflationstheorie». Hawking selbst allerdings sah seinen wichtigsten Beitrag zur Kosmologie in seiner Arbeit an einer ehrgeizigen, radikalen und umstrittenen Theorie, mit der er versuchte, die quantenmechanische «Wellenfunktion des Universums» zu berechnen. Er glaubte nicht nur, seine Theorie beschreibe den tatsächlichen Startpunkt von Raum und Zeit in unserem Kosmos, sondern war überzeugt, dass die Art ihrer Ausformulierung Gott überflüssig machte. «Wo wäre dann noch Raum für einen Schöpfer?», fragte er, sehr zum Ärger vieler Theologen (und mancher Wissenschaftler) weltweit.[2]
In Wahrheit jedoch ging es bei Hawkings wichtigster wissenschaftlicher Arbeit nicht um die Entstehung unseres Universums oder um seine Wellenfunktion, sondern um eine andere Art Singularität: um die Singularität im Kern eines Schwarzen Lochs. Hawking widmete einen Großteil seines Lebens dem Versuch zu verstehen, wie sich diese rätselhaften Objekte verhalten, und begriff im bedeutendsten Augenblick seiner wissenschaftlichen Laufbahn, dass sie eine seltsame Eigenschaft besitzen, die sich niemand hatte vorstellen können.
Schwarze Löcher sind astronomische Körper, deren Gravitation so gewaltig ist, dass ihnen nichts mehr entkommt, was in allzu große Nähe zu ihnen gerät – nicht einmal Licht. Schwarze Löcher entstehen, wenn ein großer Stern untergeht. Wenn der Fusionsmotor in seinem Kern seinen Brennstoff aufgezehrt hat, kollabiert der Stern durch die eigene Schwerkraft. Im Bruchteil einer Sekunde stürzt er unter der gesamten Last seines Gewichts in sich zusammen, wobei seine Materiemassen zunächst zu einem undifferenzierten Brei aus Atomen zerquetscht und schließlich auch Letztere zerstört werden. Und ganz am Ende entsteht … eine Singularität. Doch weil die Anziehungskraft rings um den kollabierten Stern herum so gigantisch ist, kann nichts, was sich der Singularität zu stark annähert, ihrer Einflusssphäre wieder entkommen, um die Geschichte des Geschehens zu erzählen. Es ist, als umgäbe den einstigen Stern nun ein unsichtbarer Schleier, der den Bereich markiert, an dem es kein Zurück mehr gibt: Was immer diesen sogenannten «Ereignishorizont» überschreitet, ist verloren und, sosehr es sich dagegen auch wehren mag, unwiderruflich dazu verdammt, im Schwarzen Loch zu verschwinden.
Denn Schwarze Löcher verschlucken selbst Licht, sie sind so schwarz, dass es schwärzer nicht geht. Sie sind die ultimativen Absorptionsmaschinen, die alle Helligkeit verschlingen, statt sie zu reflektieren. In den 1970er Jahren gelangte Hawking allerdings zu einer überraschenden Erkenntnis: Schwarze Löcher sind doch nicht absolut schwarz. Sie strahlen in alle Richtungen Teilchen aus, darunter auch Lichtteilchen. Meistens ist diese Strahlung – heute als Hawking-Strahlung bekannt – unglaublich schwach, bei weitem zu schwach, als dass sie aus überschaubarer Entfernung zu detektieren wäre. Trotzdem hat allein die Tatsache, dass es diese Strahlung gibt, einige schwerwiegende Konsequenzen. Denn wenn ein Schwarzes Loch Energie ausstrahlt, bedeutet dies, dass es am Ende verdampft – es explodiert in einem Strahlungsausbruch. Dies wiederum bedeutet, dass die Materie und Energie, die von dem Schwarzen Loch verschluckt worden sind, schlussendlich wieder freigesetzt werden müssen. Und die Freisetzung dieser Materie und Energie führt, wie Hawking als Erster verstand, zu einem scheinbar unlösbaren Konflikt zwischen den beiden wichtigsten Säulen der modernen Physik: zwischen Einsteins Relativitätstheorie und der Quantentheorie. Die Entdeckung der Hawking-Strahlung stellte nicht nur die herkömmlichen Erkenntnisse über die Schwarzen Löcher auf den Kopf. Sie bedeutete einen echten Meilenstein bei dem Versuch, den Konflikt zwischen den beiden Theorien zu beheben. Und vielleicht konnte Hawking beide sogar durch eine allumfassende «Theorie von Allem» ersetzen.
«Im Rückblick würde ich sagen, dass [Hawking] für die Wissenschaft drei große Beiträge geleistet hat. Einer ist das Singularitäten-Theorem […]», sagt John Preskill, Physiker und ein Freund Hawkings. «Ein weiterer ist die Vorstellung von der Wellenfunktion des Universums. Der bei weitem wichtigste aber ist die Entdeckung der Hawking-Strahlung und ihrer Konsequenzen.»[3]
Die auf Hawkings Grabplatte eingravierte Gleichung ist die Hauptformel der Hawking-Strahlung – die Temperatur eines Schwarzen Lochs als eine Funktion seiner Masse, die die Menge und die Art der von ihm emittierten Strahlung bestimmt –, und sie ist auf der Grabplatte über das von ihr beschriebene Schwarze Loch gesetzt.
***
Zu den anschwellenden Klängen der großen Orgel in der Westminster Abbey sangen Tausende von Stimmen einstimmig eine alte englische Weise:
Father, hear the prayer we offer: not for ease that prayer shall be, but for strength that we may ever live our lives courageously.[*1]
Im Alter von 21 Jahren wurde bei Stephen Hawking die tödlich verlaufende neurologische Krankheit amyotrophe Lateralsklerose (ALS) diagnostiziert und eine verbleibende Lebenserwartung von zwei bis drei Jahren vorausgesagt. Die nächsten 55 Jahre lebte er unter dem Damoklesschwert dieses Todesurteils, immer in der Ungewissheit, ob er den nächsten Geburtstag noch erleben würde. Alles, was Hawking in seinem Leben tat – eine neue Physik entdecken, Sachbücher schreiben, die zu Bestsellern wurden, um die ganze Welt jetten, drei Kinder erziehen –, vollbrachte er vor dem Hintergrund einer gnadenlosen Erkrankung, die ihn der Fähigkeit beraubte, zu gehen, zu schreiben, zu sprechen, eigenständig zu essen oder überhaupt einen Muskel seines Körpers zu bewegen. Doch Hawking empörte sich, wenn irgendwer sein Durchhaltevermögen angesichts der Krankheit – seine nahezu verbohrte Sturheit – mit Tapferkeit verwechselte. «Ich finde es ein bisschen peinlich, dass die Leute meinen, ich hätte besonderen Mut», sagte er 1990 einem Reporter. «Dabei ist es nicht so, als hätte ich die Wahl und würde bewusst einen schwierigen Weg gehen. Ich habe in meiner Lage einfach das einzig Mögliche getan.»[4]
Als er Eine kurze Geschichte der Zeit veröffentlichte, den Bestseller, dessen Verkaufszahlen durch die Decke schossen und mit dem sein Name Ende der 1980er Jahre jedem ein Begriff wurde, war Hawking bereits an einen Elektrorollstuhl gefesselt, nicht mehr in der Lage zu sprechen und fast vollständig gelähmt. Sein einziges Kommunikationsmittel bestand aus einem Computer, den er mit einem Wippschalter von Hand bediente: Mühselig setzte er mithilfe dieses Schalters Satz für Satz zusammen und schickte sie an den Sprachsynthesizer, der die Worte dann aussprach.
Bei Veranstaltungen versammelten sich die Leute um Hawking, ohne so recht zu wissen, wie sie mit ihm umgehen sollten. Sie begegneten ihm mit einer merkwürdigen Mischung aus Ehrfurcht und Herablassung. Vom Verstand her war ihnen klar, dass Hawking zu den berühmtesten Physikern der Welt gehörte, sie behandelten ihn aber fast instinktiv wie ein Kleinkind, weil er durch seine Behinderung so schwer gehandicapt war. Und egal, was er sagte oder tat, es löste begeisterte oder staunende Ausrufe aus. 2011 schrieb Jane Fonda über ihren Besuch bei Hawking:
Ich kniete mich neben Stephens Stuhl und erinnerte ihn an das, was Beethoven gesagt hatte. Ich fragte ihn, ob auch ihn seine Krankheit in seiner Forschung über den Ursprung des Universums weitergebracht habe, wie einst Beethoven die seine in seinen Einsichten vorangebracht hatte […] Ich legte meinen Kopf an seine Schulter, und während er sich aufs «Schreiben» konzentrierte, beobachtete ich ihn und achtete genau auf die fast unmerklichen Regungen in seinem Gesicht. Dabei musste ich die ganze Zeit daran denken, dass dieser in einem verkümmerten Körper eingesperrte Mann Dinge verstand, die doch eigentlich weit jenseits dessen liegen, was dem menschlichen Verstand zugänglich ist.
Nach etwa fünf Minuten erschienen nach und nach einzelne Wörter auf dem Bildschirm: «Sie … hat … mich … befreit» Ahaa!! [Regisseur] Moisés [Kaufman] und ich schauten uns fröhlich an. Wir waren uns sicher, dass wir nun unsere Annahme bestätigt bekämen. Stephen würde nun so was sagen wie: «Sie hat mich befreit, sodass ich die Ursprünge des Universums erkunden konnte …» Wir warteten weitere Minuten, bis er den Satz fertigformuliert hatte … und da kam das Ende: «Sie hat mich vom Unterrichten befreit!!!» Eine computergestützte Stimme sagte den Satz so laut, dass alle ihn hörten. Ich sah Stephen an und bemerkte so etwas wie ein verschmitztes Lächeln. Man hatte mir schon gesagt, er hätte einen launigen Humor. Den hatte er gerade bewiesen! Alle lachten. Er brauchte nicht mehr zu unterrichten!!! Das hatte er ALS zu verdanken. Aber klar doch!!![5]
Nahezu reflexhaft unterstellten Besucher Hawking nicht nur eine tiefe Weisheit, sondern auch eine kindliche Einfachheit. Er war im Begriff, zu einem Guru, einer Symbolgestalt und Ikone zu werden, die schon fast ein Übermaß an Perfektion ausstrahlte. Völlig bewegungslos in seinem Rollstuhl sitzend, war Hawking zu einem reinen Geistwesen hochstilisiert, einem Mann, dem sein mächtiger Verstand ermöglichte, in Sphären zu entschweben, in die sich nichts anderes im Universum hineinwagen konnte.
Hawking war sich durchaus bewusst, dass dieser Mythos, dieser Archetyp mächtig genug war, um alle Spuren des Menschen, der dahinterstand, zu verwischen. «Dass man Stephen wegen seiner Behinderung für so eine Art reinen Geist hielt, verletzte ihn, glaube ich, sehr», sagt Christophe Galfard, einer der vielen Doktoranden, die Hawking über die Jahre betreute. «Der Mann, der hinter dem Wissenschaftler steckte, verblasste irgendwie hinter dem Bild vom Wissenschaftler.» Das wollte Hawking unbedingt verhindern. In seinem Privatleben weigerte er sich geradezu pathologisch, über seine Behinderung zu sprechen, geschweige denn Zugeständnisse an sie zu machen. Diese Halsstarrigkeit wurde zu einem wunden Punkt in seiner ersten Ehe. Als Physiker versuchte Hawking Thesen zu entwickeln, die so tiefgründig und bedeutend waren, dass sie seine physischen Beeinträchtigungen als vollkommen irrelevant erscheinen ließen. «Ich hätte gern, dass man mich nicht als den behinderten Wissenschaftler sieht, sondern als einen, der zufällig behindert ist», sagte er gern. Doch zeitlebens befürchtete er, die Leute könnten seine Behinderung als Mitleidsfaktor sehen, als Grund, ihn anders zu beurteilen als andere Physiker. Oder schlimmer noch: als etwas, das ihn am Ende definieren würde. Seine Ängste waren nur allzu berechtigt.[6]
Die Behinderung war wesentlich für die Ikone Hawking, selbst wenn er sie als Mensch kaum wahrhaben wollte. Und sosehr er sich wünschte, dass die Menschen mehr in ihm sahen als sein Leiden, so sehr musste er doch zu seinem Kummer erkennen, dass seine Behinderung den Mittelpunkt seiner öffentlichen Persona bildete.
***
Neben der Familie, den Freunden und Prominenten füllten die Westminster Abbey bei Hawkings Trauerfeier auch 1000 Gäste, die unter mehr als 25.000 Normalbürgern ausgelost worden waren, um ihm die letzte Ehre zu erweisen. Die Anwesenden waren erstaunt, als sie ein letztes Mal Hawkings elektronische Stimme durch die Kirche hallen hörten, unterlegt von den langsamen, mäandernden Klängen eines Synthiejazz-Stücks, das der Komponist Vangelis eigens komponiert hatte. «Mir ist nur allzu bewusst, wie kostbar die Zeit ist. Nutzen Sie den Augenblick. Handeln Sie jetzt. Ich habe mein Leben damit verbracht, im Geist durch das Universum zu reisen.»[7]
Gleichzeitig sendete ein 30-Meter-Radioteleskop in Spanien zu den Klängen derselben Musik ebendiese Botschaft in den Weltraum – in Richtung eines nahen Schwarzen Lochs mit der Bezeichnung 1A 0620-00. Die nächsten 3500 Jahre werden Hawkings Worte in Lichtgeschwindigkeit auf ihr Ziel und ihren Untergang zuschießen.
Hawking hätte den Einfall genossen.
Schon bevor Eine kurze Geschichte der Zeit ihn zum internationalen Star machte, liebte Hawking die Selbstdarstellung und hatte ein natürliches Talent, sich ins Rampenlicht zu stellen. Selbst Wissenschaftskollegen gerieten in seinen Bann. Der Physiker Leonard Susskind, der über die Jahre einige von Hawkings Vorstellungen über die Funktionsweisen Schwarzer Löcher anfocht, schilderte, wie Hawking in einem Raum die Aufmerksamkeit auf sich zog, wie alle Gespräche plötzlich verstummten, wenn die versammelten Physiker mitbekamen, dass er im Begriff war, etwas zu sagen. Eine lange Pause entstand, in der er dem Computer seine Antwort vorgab, und die Spannung wuchs, bis er sie häufig Minuten später wohlüberlegt mit einem einfachen Ja oder Nein in sich zusammenfallen ließ. Oder er gab ein umwerfendes Bonmot von sich. «Er war ein unglaublich gewitzter Mann. Kurz gesagt, er konnte das Eis brechen […] ein witziger Kommentar konnte einen völlig aus der Fassung bringen, und schon krümmte man sich vor Lachen.» Vor großem Publikum war er noch effektvoller. Aus seinen Vorlesungen kamen die Leute höchst inspiriert und tief beeindruckt heraus.[8]
Hawking war nicht nur ein Meister darin, sich in den Mittelpunkt zu stellen, er wusste auch genau, wie er sich das Rampenlicht zunutze machen konnte. Schon als Doktorand sorgte er für Wirbel und begann sein Image als herausragender Kopf aufzubauen, indem er eine öffentliche Konfrontation mit dem damals berühmtesten Astrophysiker der Welt inszenierte. Und hatte er erst die Aufmerksamkeit der Leute, sicherte er sich mit seinem frechen, selbstironischen Sinn für Humor nicht nur ihre Gewogenheit, sondern hinterließ auch einen Eindruck tiefer Bescheidenheit: eine beachtliche Leistung, wenn man bedenkt, dass ihn selbst engste Freunde und Kollegen als überheblich und äußerst stur beschreiben.
Hawkings Interviews, seine Reisen, seine Gespräche, seine Schriften – und sogar ein Großteil seines sozialen und politischen Engagements – trugen zur Festigung seiner Stellung im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit bei. Die Fotos von ihm bei den unterschiedlichsten Abenteuern – wie er im Rollstuhl durch die öden Weiten der Antarktis rollt oder lächelnd, von den Fesseln der Schwerkraft befreit, schwerelos in einem Zero-G-Airbus schwebt – erreichten Kultstatus und erschienen weltweit in Zeitungen und auf Websites. Jede öffentliche Äußerung landete in den Medien, selbst wenn sie noch so unausgegoren oder reine Schwarzmalerei war. Später in seiner Laufbahn warnte Hawking die Menschheit vor einem möglichen Untergangsszenario durch einen Asteroideneinschlag, durch einen Aufstand der Roboter oder gar durch eine Änderung in einer physikalischen Konstante mit katastrophalen Folgen.
War Hawking ein außergewöhnlicher Selbstdarsteller, so hatte seine Begeisterung, im Rampenlicht zu stehen, doch einen hohen Preis. Kaum hatte er weltweite Berühmtheit erlangt, ging unter dem entstandenen Druck seine erste Ehe in die Brüche, und auch die Beziehung zu seinen Kindern litt unter den Belastungen. Obgleich ihn stets Krankenschwestern und Fans umschwirrten, war Hawking häufig einsam. Singulär.
Seine Singularität bestand darin, dass er es schaffte, einen geradezu außerirdischen Status zu erlangen. Er wurde als Genie in einem Atemzug mit Einstein, Newton und Galilei genannt und galt als Wissenschaftsprophet, der vom Berg Sinai herabgestiegen war, um die Menschen an seinem Wissen teilhaben zu lassen, als Philosophenguru, dessen Einsichten kommende Generationen inspirieren könnten, als ein Mann, der nicht daran dachte, sich von einer einschneidenden Behinderung einschränken zu lassen, wenn es um seine Errungenschaften ging. Ein starkes Image.
Aber selbst für diejenigen, die hinter die Fassade blickten und alle seine Schwächen und Marotten kannten, hatte er etwas Einmaliges, zutiefst Inspirierendes. Ray Laflamme, einer von Hawkings früheren Studenten – und Pflegern –, hat an seiner Bürowand ein Foto von Hawkings berühmtem Flug in die Schwerelosigkeit hängen. Im Gespräch über seinen früheren Mentor hält er plötzlich inne: «Ich habe Lungenkrebs, und da sind die Prognosen nicht so besonders. Aber dank der heutigen Medizin bin ich noch am Leben», sagt er. Dann zeigt er auf das Foto an der Wand mit Hawking, wie er lächelnd mitten in der Luft schwebt. «Deshalb hab ich dieses Foto hier hängen. Und wenn mich der Mut verlässt, dann schau ich es an und sage mir, dass dieser Kerl schließlich auch 50 Jahre überlebt hat. Mir würden ja schon 25 reichen.»[9]
*1 Vater, erhör unser Gebet:/nicht um ein leichtes Leben bitten wir,/sondern um die nötige Kraft, auf dass wir/unser Leben immer tapfer leben.
Kapitel 2
Als morgens um 2.40 Uhr der Wecker klingelte, schluckte Barry Barish seine Enttäuschung herunter. «Ich dachte schon, sie hätten uns übergangen», erinnerte er sich später. Doch dann klingelte sein Handy.[1]
Der frühmorgendliche Anruf ist eins der Klischees, wenn es um die Nobelpreisverleihung geht. Die Auserwählten sollen schlaftrunken die Überraschung erleben, dass sie mit einem Schlag zu einem Star werden. Es soll sie überwältigen und ihre Demut wecken – und vor allem soll es sie überrumpeln. Am Abend des ersten Montags im Oktober erwartet zahlreiche hochkarätige Physiker eine schlaflose Nacht. Aber noch nie, nicht einmal für einen klitzekleinen Moment, ging auch der Selbstsicherste von ihnen mit der eindeutigen Erwartung zu Bett, am nächsten Morgen den Nobelpreis zu gewinnen.
Außer dieses Mal. Es war der 3. Oktober 2017.
Zwei Jahre zuvor hatte ein neuartiges Teleskop eine so bedeutende Entdeckung ermöglicht, dass der Nobelpreis dafür nicht nur gesichert war, sondern auch bei der frühestmöglichen, nächsten Gelegenheit verliehen würde. Die Frage war nur, wie der Preis aufgeteilt werden würde. Obgleich Hunderte von Menschen an dem Teleskop und im dazugehörigen Observatorium arbeiteten, galt als Regel, dass er allenfalls drei Personen zuerkannt werden konnte.
Barish, der Direktor des Observatoriums, ging zuversichtlich zu Bett. Rainer Weiss vom Massachusetts Institute of Technology (MIT), der Jahrzehnte mit der Konstruktion des Geräts zugebracht hatte, war ein wenig bescheidener. Er ging an jenem Abend mit der Einschätzung zu Bett, dass seine Chancen auf den Nobelpreis bei gerade einmal 20 Prozent lägen. Der Dritte, der an jenem Abend in Erwartung auf den Nobelpreis einschlief, war Kip Thorne, Theoretiker des California Institute of Technology (Caltech) und über 50 Jahre Hawkings Kollege und enger Freund.[2]
Wie Hawking hatte Thorne sein Leben der Erforschung der Schwarzen Löcher, der Gravitation und der Zeit gewidmet, und das neue Teleskop versprach neue Aufschlüsse zu ebendiesen Themen zu geben. Denn was Thorne, Barish und Weiss den Nobelpreis verschaffen sollte, war kein normales Teleskop, das Licht von weit entfernten Sternen auffängt. Das Laser-Interferometer-Gravitationswellen-Observatorium (kurz LIGO) war ein eigens entworfenes Instrument, das nicht Licht, sondern Gravitationswellen kollidierender Schwarzer Löcher aufspüren sollte. Mit ihm konnte Thorne endlich die Theorien überprüfen, die Hawking, er selbst und weitere Physiker in den späten 1960er und frühen 1970er Jahren entwickelt hatten, zu einer Zeit, die so viele theoretische Erkenntnisse gebracht hatte, dass Thorne sie als das Goldene Zeitalter der Schwarzen Löcher bezeichnete. «Zu den nettesten Merkmalen dieses Goldenen Zeitalters gehörte, dass wir uns wechselseitig auf unsere Arbeit verlassen und auf ihr aufbauen konnten», schrieb Thorne. «Hawking legte die Fundamente, und seine Landsleute errichteten schrittweise ein ganzes Gebäude auf ihnen.»[3]
Mit seinem Nobelpreis erfüllte Thorne ein Versprechen, das er Hawking 15 Jahre zuvor zu dessen 60. Geburtstag gegeben hatte: «Ich fürchte, es ist weniger ein konkretes Ergebnis der Physik als vielmehr ein Versprechen», sagte Thorne. «Dein Geburtstagsgeschenk besteht darin, dass unsere Gravitationswellendetektoren [einschließlich LIGO] deine Prognosen aus dem Goldenen Zeitalter der Schwarzen Löcher bestätigen werden, und dass dies noch lange vor deinem 70. Geburtstag geschehen wird. Herzlichen Glückwunsch, Stephen!»[4]
***
Als Stephen Hawking 70 Jahre alt wurde, war er der berühmteste Wissenschaftler der Welt, und das bereits seit einigen Jahrzehnten. Selbst sein erster Gastauftritt in der Zeichentrickserie Die Simpsons – verlässlicher Indikator für einen Spitzenplatz in der Popkultur – lag schon fast 20 Jahre zurück. Und als Hawking in seine 70er kam, waren seine wichtigsten Forschungsergebnisse bereits seit zwei Generationen bekannt.
In den 2010er Jahren war Stephen Hawking eigentlich nicht als Wissenschaftler, sondern eher als eine Ikone der Popkultur berühmt. Gleich erkennbar an seinem Elektrorollstuhl, galt er inzwischen als Krönung des menschlichen Verstandes in Fleisch und Blut, auch wenn nur die Wenigsten nachvollziehen konnten, womit sich dieser Verstand zeit seines Lebens befasst hatte.
Auch wenn der prominente Hawking vom Nimbus der Wissenschaft umgeben war, spielte diese für seinen Ruhm eine eher beiläufige Rolle. Ob seine neuesten Äußerungen zur Physik überhaupt Substanz hatten, war weitgehend unerheblich. Allein die Tatsache, dass er gelegentlich etwas dazu äußerte, war mehr als ausreichend, um seinen Status als Ikone abzusichern. Seine wissenschaftlichen Leistungen waren für die Öffentlichkeit eher uninteressant. Hawking strebte aber keine Berühmtheit an, die er seiner Persönlichkeit, seinem Gebrechen oder anderem abseits seiner Wissenschaft verdankte – er wollte wegen seiner Tätigkeit als Physiker berühmt sein.
Gegen Ende der 2010er Jahre keimte Hoffnung für eine späte Renaissance auf; die Physik, die aktuell am meisten für Aufregung sorgte, befasste sich mit Gravitationswellen und Schwarzen Löchern, Wissensbereichen, auf die Hawkings Arbeit am tiefgreifendsten eingewirkt hatte. Nach vielen Jahren harter Arbeit gewannen Physiker auf der ganzen Welt (darunter auch Hawkings bester Freund Kip Thorne) endlich erste Ergebnisse aus Experimenten, die das Versprechen womöglich einlösten und eine Reihe von Vorhersagen überprüften, die Hawking Jahrzehnte zuvor getroffen hatte. Vielleicht konnte Hawking nun endlich der Wunsch erfüllt werden, in erster Linie als brillanter Wissenschaftler und erst in zweiter als Star wahrgenommen zu werden. Würde er bei den Entscheidungen des Nobelkomitees jedoch außen vor bleiben, dann wäre dieser Traum geplatzt.
***
In seiner Forschung beschäftigte sich Stephen Hawking mit der Gravitation. Er verbrachte den größten Teil seiner beruflichen Laufbahn mit dem Versuch zu verstehen, wie sich Gravitation unter einigen der extremsten Bedingungen verhält, die im Universum auftreten können, vor allem im Umfeld Schwarzer Löcher. Und nun versprach die Entdeckung des LIGO-Observatoriums Wissenschaftlern erstmals einen direkten Einblick in die Materie, die den gewaltigen Gravitationsfeldern ausgesetzt war, deren Erforschung Hawking sein Leben gewidmet hatte.
Das LIGO ist derzeit etwas so Neues, dass die Wissenschaftler erst noch richtig verstehen müssen, was ihnen die Daten eigentlich verraten können. Aber es hat ein neues, spannendes Kapitel in der Geschichte der Gravitationsforschung aufgeschlagen – in einer Geschichte, die in der Zeit vor etwas über dreihundert Jahren beginnt.
Ihre Einleitung ist bestens bekannt: 1666 saß Isaac Newton unter einem Apfelbaum und fragte sich, warum ein Apfel vom Baum auf den Boden gefallen war, statt in der Luft davonzufliegen. Von diesem Augenblick an machte Newton sich auf die Suche nach der Lösung eines Rätsels, das Philosophen seit Jahrtausenden beschäftigt, und wartete am Ende mit einer ebenso radikalen wie starken Lösung auf.
Newton stellte eine Theorie auf, die eine wechselseitige Anziehung zwischen allen Festkörpern beschrieb. Demnach zerren zwei beliebige Körper – egal, wo im Universum – irgendwie unsichtbar, unaufhaltsam und unerklärlich aneinander. Auf einen Apfel an einem Baum wirkt dann gleichzeitig nicht nur die Anziehung jedes einzelnen anderen Gegenstands auf der Erde ein, sondern auch die jedes Sterns im Universum, wie weit er auch entfernt sein mag. Newtons Gleichungen lieferten eine wunderbare, genaue Beschreibung der Gravitationskräfte, die auf Materie einwirken. Wie diese Kräfte aber arbeiten – woraus sie bestehen und wie sie auch auf große Entfernungen wirken können –, konnte Newton nicht erklären. Es sollte noch zweieinhalb Jahrhunderte dauern, bis es ein anderer Physiker konnte: Albert Einstein.
Einstein hatte nicht die Absicht, unser Verständnis der Gravitation zu revolutionieren. Als Student und junger Forscher beschäftigte er sich in seiner Arbeit mit Molekülen, Atomen und Staubpartikeln und nicht mit der Bewegung von Sternen und Planeten. Das Verhalten elektrischer und magnetischer Kräfte interessierte ihn mehr als das der Gravitationskräfte. Als er an einer Schwachstelle in den Gleichungen zu bohren anfing, mit denen sich die elektromagnetischen Felder beschreiben lassen, warf er unabsichtlich alles über den Haufen, was Wissenschaftler bis dato über Gravitation zu wissen meinten.
Denn diese sogenannten Maxwell-Gleichungen bargen einen winzigen Fehler: Bewegung bringt sie unweigerlich durcheinander. Unter bestimmten Umständen könnten zwei Beobachter, die sich in unterschiedlicher Geschwindigkeit bewegen – einer zum Beispiel an einem festen Standort, während der zweite in einem Zug vorbeiführe –, sogar widersprüchliche Ergebnisse aus den Gleichungen erhalten: Der eine sagt womöglich voraus, dass das Teilchen im Experiment nach rechts gezogen wird, während der andere prognostiziert, dass es nach links gelenkt wird. So darf die Physik nicht arbeiten. Physikalische Gesetze – und die Gleichungen, mittels derer sie ausgedrückt sind – müssen für alle Betrachter gleichermaßen gelten, egal, wie diese sich bewegen.
Im Jahr 1905 wurde Einstein klar, dass er die Fehler in den Maxwell-Gleichungen mithilfe einiger Veränderungen in den bisher von Physikern genutzten Prämissen ausmerzen konnte. Doch brachten die veränderten Regeln eine Menge philosophischen Ballast mit sich. Vor allem eine – die Prämisse, nach der ein Lichtstrahl immer mit derselben Geschwindigkeit unterwegs ist – beleidigte ganz offenkundig den gesunden Menschenverstand.
Das heißt, Einstein behauptete nun, ein Lichtstrahl würde für jeden Beobachter stets in einer Geschwindigkeit von 300 Kilometern pro Sekunde vorbeiziehen, der Menge, die von Physikern als c bezeichnet wird. Sitzt man still, fliegt das Licht in der Geschwindigkeit c vorbei. Bewegt man sich mit einer Geschwindigkeit von 1600 Kilometern pro Stunde auf die Lichtquelle zu, auch egal: Das Licht zieht in derselben Geschwindigkeit c vorbei. Selbst wenn Sie sich noch so sehr bemühen, dem Lichtstrahl zu entkommen, indem Sie mit 99 Prozent der Lichtgeschwindigkeit davonfliegen, ändert das nichts am Ergebnis: Der Strahl fliegt mit der Geschwindigkeit c an Ihnen vorbei, genauso schnell, wie wenn Sie stillstehen würden. Das ergibt keinen Sinn … es sei denn, wir justieren unser Denken über Geschwindigkeit nach.
Geschwindigkeit ist nur ein Maß dafür, welche Entfernung (zum Beispiel in Kilometern) ein Objekt in einer bestimmten Zeit (Sekunde) zurücklegt, sodass jede Änderung des Geschwindigkeitskonzepts automatisch bedeutet, dass an unserem Verständnis von Entfernung oder Zeit irgendetwas nicht stimmt. Oder, wie sich gezeigt hat, von beidem. Dies war eine von Einsteins bedeutendsten Erkenntnissen.
Einstein erkannte: Wenn sich alle Beobachter darüber eins waren, wie schnell das Licht unterwegs war, mussten sie sich über ihre Messungen von Entfernung und Zeit uneins sein. Das heißt, die Armbanduhr eines sich schnell bewegenden Beobachters wird in einem anderen Takt (nämlich langsamer) ticken als die eines stillstehenden Beobachters. Dessen Messstab muss länger sein, wenn er ihn mit dem eines sich schnell bewegenden Beobachters vergleicht.
Dies bedeutete eine bahnbrechende Veränderung gegenüber der Art, wie Physiker vor 1905 über das Universum nachgedacht hatten. Die Wissenschaft behauptete nun nicht mehr, dass die Länge eines Messstabs eine feststehende, objektive Gegebenheit wäre. Beobachter, die sich auf unterschiedliche Weise bewegen, können sich uneinig darüber sein, wie lang dieser Messstab ist – und alles kann trotz ihrer jeweils einander widersprechenden Messungen zur selben Zeit richtig sein. Es gab keine «absolute» Länge, keine richtige Antwort. Und noch seltsamer: Die Zeit war nicht mehr unveränderlich, sie verging nicht mehr überall im Universum im selben Tempo. Es gab keine «absolute» Zeit mehr, keine Möglichkeit, dass jeder mit Blick auf den Moment, in dem ein Ereignis stattfindet, zum gleichen Ergebnis gelangte. Zeit und Raum waren nicht starr, sondern dehnbar. Dies erklärt denn auch, warum sämtliche Beobachter Licht exakt in der Geschwindigkeit c vorbeiziehen sehen. Die Unterschiede in ihrer Wahrnehmung von Zeit und Raum wirken so zusammen, dass allein die Lichtgeschwindigkeit eine universelle Konstante ist.
Einsteins Abhandlung von 1905 zeigte, dass Zeit, Länge und Bewegung auf eine Weise zusammenhängen, wie Galilei und Newton es sich nie erträumt hätten. Die Art, wie man sich durch den Raum bewegt, beeinflusst die Art des Ablaufs der Zeit und die Entfernung zwischen Objekten. Unsere Geschwindigkeit beeinflusst nicht nur, wo wir uns aufhalten, sondern auch, welche Zeit wir im Augenblick haben. Maxwells Gleichungen nachzubessern hatte hinsichtlich der Anschauungen einen hohen Preis. Tatsächlich aber wurden diese seltsamen Auswirkungen – Uhren, die plötzlich langsamer ticken, und Ähnliches – im realen Leben zahlreiche Male beobachtet. Zeit und Raum völlig unabhängig voneinander zu betrachten, hatte keinen Sinn mehr: Beide sind untrennbar miteinander verbunden.
Die Vorstellung vom absoluten Raum und von der absoluten Zeit war tief in den Bewegungsgesetzen verankert; Newtons Gleichungen, die bestimmten, wie sich Objekte bewegten, auf die Kräfte einwirken, setzten implizit voraus, dass Zeit und Entfernung unveränderlich sind. Wenn Einstein gezeigt hatte, dass die Prämisse von der universellen Zeit nicht stimmte, hieß dies, dass auch die Newtonschen Gesetze geringfügig Fehler enthalten mussten. Auf einer bestimmten Ebene hatte sich die gesamte Physik erledigt. Auch das Gesetz der universellen Gravitation.
Der erste Hinweis darauf, dass mit dem Gravitationsgesetz etwas nicht stimmte, ergab sich aus einer anderen Erkenntnis Einsteins von 1905: Nicht nur Länge und Zeit, sondern auch die Masse eines Objekts hängt von der Bewegung des Beobachters ab, bei deren Berechnung Einstein damals die Maßeinheit Avoirdupois verwendete. Je schneller sich das Objekt bewegt, desto schwerer scheint es einem stationären Beobachter zu sein. Ein völlig unbewegtes Objekt hat demnach eine geringere Masse (seine «invariante Masse» oder «Schwerpunktsenergie»), als wenn es in Bewegung ist (seine «relativistische Masse»). Ende 1905 wurde Einstein allmählich die Beziehung zwischen der Energie eines Objekts, E, und seiner Masse, m, klar, was schließlich zur berühmten Formel E = mc2 führte.
Hinterfragt man aber erst einmal das Wesen von Masse, hat dies unweigerlich Folgen für die Gravitation.
1907 erkannte Einstein, dass Gravitation keine spezielle, unveränderliche Eigenschaft von Festkörpern ist. Dieselbe Kraft kann auch auf andere Weise, zum Beispiel durch Bewegung, entstehen: Wenn ein Fahrstuhl seine Fahrt nach oben ganz plötzlich beschleunigt, spürt man eine Kraft, die nach unten drückt und, ähnlich der Erdgravitation, als «Schwerkraft» wahrgenommen werden kann. Wie Raum und Zeit, wie Masse und Energie hängt die Schwerkraft damit zusammen, wie Gegenstände und Beobachter sich bewegen. Raum, Zeit, Masse, Energie und Gravitation waren in einem komplizierten Tanz miteinander verwoben, aus dem sie sich unmöglich befreien konnten.
Einstein brauchte noch bis 1915, um diese grundlegende Einsicht in eine Reihe von Gleichungen zu überführen, in eine Sammlung mathematischer Gesetze, die diesen komplizierten Tanz beschreibt. (2001 merkte Hawking mit trockenem Humor an, diese bahnbrechenden Neuerungen hätten Einstein von Frau und Kindern entfremdet und seien mit dem Scheitern seiner Ehe einhergegangen. «Dass er die Kriegsjahre als Junggeselle ohne häusliche Verpflichtungen erlebte, hat womöglich dazu beigetragen, dass diese Zeit für ihn wissenschaftlich so fruchtbar ausfiel.»[5]) Diese «Feldgleichungen» schnüren Masse und Energie, Raum und Zeit und Schwerkraft gleichsam zu einem Paket zusammen und sehen so aus:
Gμν = (8πG/c4)Tμν
Dabei beschreiben sie tatsächlich eine gleichmäßig gekrümmte Oberfläche, in der Sprache der Mathematik eine Mannigfaltigkeit. Ihre rechte Seite steht für alle Materie und Energie in einer Region von Raum und Zeit. Die linke Seite beschreibt die Krümmung ebendieser Region. Und Gravitation ist nichts anderes als eine Manifestation dieser Krümmung. Das Rätsel des Gravitationsfeldes und die Fragen dazu, wie voneinander entfernte Objekte sich über weite Strecken auf unsichtbarem Weg gegenseitig anziehen können, sind somit gelöst. Gravitation ist nichts weiter als Geometrie.[*1]
Dieses atemberaubende Konzept lässt sich nur mit höherer Mathematik nachvollziehen. Man kann es jedoch mit einem recht guten Vergleich veranschaulichen: Man stelle sich die Raumzeit als Matratze, als gespanntes Gummituch oder eine beliebige andere elastische Oberfläche vor. Ein in die Raumzeit eingebetteter Klumpen aus Materie und Energie (etwa ein Stern) verhält sich ungefähr so wie ein schweres Objekt, das auf besagtem Gummituch liegt: Er krümmt die Oberfläche, sodass eine Delle entsteht. Wenn ein anderes Objekt (etwa ein Komet) an dem Stern vorüberzieht, verändert diese Krümmung seine Laufbahn. Statt weiter geradeaus zu sausen, bewegt sich der Komet wegen der Krümmung auf den Stern zu. Das ist Gravitation: Die «Anziehung» zwischen massereichen Körpern ist tatsächlich das äußere Zeichen dafür, wie sie die Raumzeit krümmen.
Bis hier passt diese sogenannte Gummituchanalogie. Während das Gummituch aber zweidimensional ist, erstreckt sich die Mannigfaltigkeit der Raumzeit in vier Dimensionen. Und dabei besitzen drei davon (die bekannten räumlichen oben–unten, links–rechts, vorne–hinten) andere Eigenschaften als die letzte (die die Zeit beschreibt). Masse und Energie krümmen alle vier Dimensionen: Ein Körper, der an einem Stern vorbeizieht, wird auf seiner Bahn nicht nur wegen des Raums, sondern auch wegen der Zeit abgelenkt – Masse und Energie in seiner Nähe beeinflussen auf geringfügige Weise den Gang seiner Uhr. Dennoch ist die Gummituchanalogie nützlich, wenn es darum geht, die allgemeine Relativität zu beschreiben und aufzuzeigen, wie sich diese Beschreibung von Newtons Konzept der Bewegung und Gravitation unterscheidet.
Einstein hatte Glück. Eine Reihe von Experimenten wies die Relativitätstheorie mit Leichtigkeit nach. Die Unterschiede zwischen Newtons universeller Schwerkraft und der einsteinschen Gravitation sind gewöhnlich sehr geringfügig, können aber unter bestimmten Bedingungen deutlich sichtbar werden. Wenn Objekte sich besonders rasant – nahezu mit Lichtgeschwindigkeit – oder sehr dicht an sehr massereichen Körpern wie Sternen vorbei bewegen, sagen Einsteins Feldgleichungen Phänomene voraus, die mit den Newtonschen Gesetzen nicht absehbar sind. Sobald Forscher eine der Auswirkungen dieser Relativität zu entdecken vermochten, konnten sie zeigen, dass die einsteinschen Gleichungen mehr als eine mathematische Fata Morgana waren. Manche dieser Experimente ergaben sich sofort, andere waren erst Jahrzehnte darauf oder noch später möglich.
Das erste Experiment ergab sich 1919 mit einer Sonnenfinsternis.
War die Raumzeit tatsächlich gekrümmt, wie Einsteins Gleichungen es nahelegten, musste ein gerade verlaufender Lichtstrahl von einem massereichen Objekt wie der Sonne abgelenkt werden, wenn er dicht an ihm vorbeilief – gerade so, als schiene er durch eine Linse. Dieser Gravitationslinseneffekt müsste dann sichtbar sein: Wenn das Licht eines weit entfernten Sterns in der Nähe der Sonne verläuft, verursacht die Verzerrung der Raumzeit eine winzige Abweichung in der scheinbaren Position des Sterns am Himmel – Sterne, die dicht am Rand der Sonne stehen, erscheinen am Himmel am falschen Ort. Wenn sich während einer Sonnenfinsternis kurzfristig der Mond vor die Sonne schiebt, können Astronomen die Standorte von sonnennahen Sternen messen und daraufhin prüfen, ob sie sich in ihrer üblichen Position befinden (wie es laut Newton der Fall sein müsste) oder ob sie, (laut Einstein) durch die Gravitationslinse leicht verschoben, an einem anderen Ort erscheinen. Also stellte Sir Arthur Eddington, damals Sekretär der Royal Astronomical Society, zwei Expeditionen zusammen, die bei einer bevorstehenden Sonnenfinsternis die Position von Sternen messen sollten. Und siehe da: Einstein hatte Recht! Die Sterne hatten sich bewegt. Newton war vom Sockel gestoßen.
Sozusagen über Nacht war Albert Einstein zu einer internationalen Berühmtheit geworden.[*2]
***
Kaum 100 Jahre nachdem Einstein zum bekanntesten Gesicht der Wissenschaft aufgestiegen war, nahm Stephen Hawking seine Stelle als größter Wissenschaftsprominenter ein. Allerdings hatten sich die an eine derartige Berühmtheit gestellten Erwartungen inzwischen ein wenig geändert.
«Ich habe die Daten seit der Fußballweltmeisterschaft 1966 analysiert und zwei der wichtigsten Fragen beantwortet, die die Fans umgetrieben haben», verkündete Hawking 2014 im Souterrain des Londoner Savoy Hotels vor der versammelten Menge der Journalisten. «Erstens, was sind die besten Voraussetzungen für Englands Erfolg, und zweitens, wie erzielt man beim Elfmeterschießen ein Tor?»[6]
Gesponsert wurde dieses Ereignis von Paddy Power, einem Buchmacher mit Sitz in Dublin, vor allem bekannt dafür, dass er nach öffentlicher Aufmerksamkeit heischte, indem er bizarre Wetten anbot. («Während die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko in den zweiten Monat geht, ohne dass es nennenswerte Zeichen eines Abklingens gäbe», so kündigte das Unternehmen kurz nach dem Unfall der Deepwater Horizon 2010 an, «nimmt Paddy Power als führender Anbieter Wetten darüber entgegen, welche Arten als erste aussterben werden. Ganz oben auf der Liste mit Gewinnchancen von 5:4 steht die bereits stark vom Aussterben bedrohte Atlantik-Bastardschildkröte …»[7]) Diesmal versuchte Paddy Power auf andere Weise, Aufmerksamkeit zu erregen.
«Die von mir verwendete Technik nennt sich allgemeine Modellierung logistischer Regression», verkündete Hawking. Dabei war seine «Analyse» alles andere als wissenschaftlich. «Unsere Siegeschancen lassen sich mittels einer Reihe von Variablen berechnen. Statistisch gesehen, sind in England rote Trikots erfolgreicher.»
Aus irgendeinem Grund begeistert sich die britische Presse offenbar übermäßig für Marketingstrategien, die im Gewand unsinniger mathematischer Formeln daherkommen, so zum Beispiel mit einer Formel für die beste Pizza in einer Werbekampagne für eine Pizzakette, mit einer Gleichung für den jämmerlichsten Tag des Jahres, die die Briten dazu ermuntern soll, das Paket einer Reiseagentur für einen Wochenendausflug zu buchen, mit der Formel für perfekte Pfannkuchen als Werbung für eine beschichtete Pfanne einer Supermarktkette und so fort. Um der Formel eine gewisse Glaubwürdigkeit zu verleihen, sieht sich der Werbetreibende gewöhnlich nach einem Wissenschaftler oder Mathematiker um, der bereit ist, dem albernen Unterfangen gegen eine Handvoll Cash seinen Namen zu leihen. Meist handelt es sich um Wissenschaftler, die keinen Ruf zu verlieren haben, wenn sie unsinnige Gleichungen erstellen. «Alle sind von den Firmen als PR-Gags in Auftrag gegeben, und damit erschöpft sich ihre Bedeutung auch schon», schrieb ein Wissenschaftsjournalist im Guardian. «Sie werden überwiegend von Wissenschaftlern erstellt, deren Namen dem Nobelkomitee nicht bekannt sind.»[8]
Diesmal verhielt sich das zweifellos anders.
Bei seinem Auftritt vor der Presse schien Hawking zum Spaßen aufgelegt. («Wissenschaftlich ausgedrückt», hob er an, «trifft die englische Mannschaft nicht mal ein Scheunentor, selbst wenn sie davorsteht.») Dennoch überrascht es, dass ein so bedeutender Wissenschaftler für einen derart lächerlichen Werbegag seinen Namen hergab. Selbst für Paddy Power war es ein Schock. Ein Sprecher des Wettbüros räumte später ein, er hätte nie erwartet, dass Hawking sich auf das Angebot einlassen würde. «Wir gaben seiner Zustimmung nur ein Prozent Chance», sagte er. «Aber er stimmte zu. Ich war völlig perplex.»[9]
Als die Journalisten bei den Vertretern von Paddy Power nachfragten, wie viel Hawking für den Auftritt bekommen hätte, hielten sie sich bedeckt. Hawking selbst soll gesagt haben, er habe die Vergütung zwischen zwei Wohltätigkeitsorganisationen aufgeteilt, von denen die eine sich der Rettung von Kindern in Syrien und die andere sich der Motoneuron-Krankheit widmet, die bei ihm als Studenten diagnostiziert worden war.[10]
***
Wie man sie auch nennen mag – eine Motoneuron-Erkrankung, die Lou Gehrig-Krankheit oder amyotrophe Lateralsklerose (ALS) –, sie lag als ständiger Schatten über Hawkings Leben. Nachdem er im Alter von 21 Jahren seine Diagnose erhalten hatte, betrug seine erwartbare Lebenszeit noch höchstens zwei oder drei Jahre. Und doch hat er diese Zeit um das 20fache überlebt. Obwohl er einige Begegnungen mit dem Tod hatte, starb er erst in seinen Siebzigern.
Die Krankheit hatte ihn körperlich hilflos gemacht, ihm die Fähigkeit geraubt, zu sprechen, zu essen oder auch nur den Kopf aufrecht zu halten – er konnte so gut wie keinen Muskel mehr bewegen. Er benötigte rund um die Uhr Pflege, doch das britische Gesundheitssystem stellte nicht ansatzweise genügend Geld zum Überleben bereit. Und die Pflege war sehr, sehr kostspielig. Obgleich Hawking mit dem Verkauf seiner Bücher Millionen verdiente – vor allem sein erstes, beim Lesepublikum beliebtes Buch Eine kurze Geschichte der Zeit verkaufte sich 10 Millionen Mal –, schien er nie genug Geld zu haben, als dass es ihm ein dauerhaftes Gefühl von Sicherheit gegeben hätte, so Al Zuckerman, der mehr als 30 Jahre Hawkings Literaturagent war.
Einige Jahre vor Hawkings Tod, so berichtet Zuckerman, «wurde mir gesagt, Hawking brauche dringend Geld. Ob ich etwas tun könne, um seine Einnahmen zu verbessern?» Zuckerman wandte sich mit Vorschlägen – so etwa der Möglichkeit, einige seiner Bücher für Online-Seminare zu verwerten – an eine Reihe von Leuten in der Verlagsbranche. «Außerdem wandte ich mich an Stiftungen mit der Bitte, ihn und seine Forschung zu unterstützen.» Doch es kam einfach nichts zustande.[11]
***
Einstein und Hawking besetzten als Prominente dieselbe Nische – beide trugen das Image, als klügster Mann der Welt zu gelten, mit gemischten Gefühlen –, und es ist kein Zufall, dass Hawkings Forschungsbereich auf Einsteins Vermächtnis aufbaute. Hawking war ein Meister der Relativitätstheorie Einsteins geworden und sagte wie Letzterer Phänomene vorher, die niemand sich je hätte vorstellen können.
Dennoch war es nicht leicht, ein Schwergewicht wie Einstein zu überbieten; nicht nur hatte dieser ein völlig neuartiges mathematisches Rahmenwerk für Gravitation, Raum und Zeit aufgestellt, sondern dies auch zu einer Zeit vollbracht, als Astronomen und Experimentalphysiker auch die Möglichkeiten hatten, seine Vorhersagen zu überprüfen und folglich zu zeigen, dass dieser junge wissenschaftliche Emporkömmling Newton zu Recht entthront hatte. Hawkings Theorien dagegen eigneten sich unglücklicherweise nicht so gut für einen praktischen Nachweis.
Der Gravitationslinseneffekt war nur eines von vielen neuen Phänomenen, die in Einsteins Feldgleichungen steckten und darauf warteten, von Forschern in Experimenten überprüft zu werden. Die entsprechenden Methoden zu finden war bloß eine Frage der Zeit. Die Sonnenfinsternis von 1919 bot eine solche Gelegenheit. Bald fanden Physiker eine weitere Möglichkeit. Die allgemeine Relativitätstheorie sagte nicht nur voraus, dass die Bahn des Lichts durch starke Gravitationsfelder gekrümmt würde, sondern auch, dass sich seine Farbe verändern würde. Licht, das aus einer tiefen Delle im Gravitationsfeld entweicht, müsste röter sein als anderes, das aus einer ungekrümmten Region der Raumzeit stammt. 1924 gelangten die Astronomen zur Überzeugung, dass sie diese «gravitative Rotverschiebung» nachgewiesen hätten. Einstein hatte wieder einmal Recht gehabt.[*3]
Noch länger – fast ein Dreivierteljahrhundert – dauerte es, bis es gelang, einen sogar noch schwächeren Effekt zu messen: den relativistischen «Frame-Dragging-» oder «Lense-Thirring-Effekt». Entsprechend Einsteins Feldgleichungen krümmt ein rotierendes massereiches Objekt die Raumzeit ein wenig anders als ein stationäres. In den frühen 2000er Jahren kamen Wissenschaftler diesem Effekt auf die Spur: zunächst beim Beobachten von Materie, die um massereiche Sterne wirbelte, dann bei der Entdeckung geringfügiger Veränderungen in der Bewegung von Satelliten, die die Erde umkreisen.
Doch die Vorhersage von Einsteins Feldgleichungen mit den radikalsten und einschneidendsten Folgen – wichtiger als der Gravitationslinseneffekt, die gravitative Rotverschiebung oder das Frame-Dragging – war die Gravitationsstrahlung.
Die Relativitätstheorie besagt, dass Materie und Energie in einer Region der Raumzeit deren Krümmung bestimmen. Was aber geschieht, wenn die dortige Materie und Energie eine plötzliche Veränderung erfahren – und sich auf neue Weise anordnen? Vielleicht ereignet sich eine Supernova; vielleicht krachen zwei massereiche Sterne ineinander, oder es handelt sich nicht einmal um ein gewaltiges Ereignis, sondern einfach nur um zwei massereiche Objekte, die einander umkreisen und so dafür sorgen, dass sich die Materie in einer kleinen Region ständig neu verteilt und ordnet. In den Fällen, wo sich die Verteilung von Masse und Energie in einer Region verändert, sagen die Feldgleichungen voraus, dass diese Veränderungen Kräuselungen im Gewebe der Raumzeit hervorrufen können, Wellen, die sich energiegeladen mit Lichtgeschwindigkeit ausbreiten. (Auch hier ist die Gummituchanalogie eine Hilfe: Man stelle sich zwei Eisenkugeln vor, die einander in der Mitte des Tuchs umkreisen. Man kann sich leicht ausmalen, dass diese einander umkreisenden Kugeln Wellen im Tuch schlagen.[*4])
Diese Vorhersage Einsteins ließ sich experimentell womöglich am schwierigsten nachweisen. Verzerrungen der Raumzeit durch Gravitationswellen sind gewöhnlich völlig unscheinbar und geringfügig. Daher ist es extrem schwierig, die Wellen aufzuspüren – im Erfolgsfall ein nobelpreisträchtiges Unterfangen. In den frühen 1970er Jahren machten zwei Astronomen – Russell Hulse und Joe Taylor – eine indirekte Beobachtung: Sie hatten ein halbes Jahrzehnt lang zwei massereiche, umeinanderkreisende Sterne ins Visier genommen und stellten fest, dass diese auf ihren Umlaufbahnen zunehmend aus dem Takt gerieten. Hulse und Taylor zeigten, dass sich die Verkleinerung der Umlaufbahn der Sterne wunderbar mit dem Energieverlust deckte, wie ihn Einsteins Feldgleichungen vorhergesagt hatten. Es war, wie Taylor es später ausdrückte, «eine neue und umfassende Bestätigung der allgemeinen Relativitätstheorie», die den beiden 1993 den Nobelpreis einbrachte.[12]
So weit zur indirekten Sichtung von Gravitationswellen. Was sich Wissenschaftler aber in Wahrheit wünschten, war eine direkte Beobachtung, wie sich Gravitationswellen in der Raumzeit ausbreiten und das Gewebe von Raum und Zeit verzerren. Diese Wellen bewirken, dass sich die Messstäbe dehnen und stauchen und die Uhren beschleunigen und verlangsamen, während sie vorüberziehen. Wie aber sollte man sie aufspüren? Ihre Effekte sind minimal – kilometerlange Messstäbe würden ihre Länge um erheblich weniger als die Größe eines Protons verändern. Mit Lasern jedoch und einer Menge raffinierter Technik ist der Nachweis gerade noch zu erbringen. Laser lassen sich als außerordentlich präzise Entfernungsmesser einsetzen, und wenn Wissenschaftler zwei solcher Lasergeräte im rechten Winkel zueinander positionieren, können sie Gravitationswellen tatsächlich nachweisen. Wenn eine Welle durch sie hindurchläuft, verändert sich die Krümmung der Raumzeit. Durch ihren Stauch- und Dehneffekt wird das eine Lasergerät gestreckt und das andere gestaucht: Ihre Länge ändert sich in Relation zueinander.
Die Methode ist nicht fein genug, als dass man mit ihr die langsame Schrumpfung der Umlaufzeit von Sternen des Taylor-Hulse-Typs aufspüren könnte. Die von ihnen ausgesandte Gravitationsenergie in Form von Wellen ist zu schwach. Für gewaltigere Ereignisse aber, bei denen sich in einer kleinen Raumzeitregion große Massen von Materie und Energie neu ordnen, müsste ein ausreichend gut konstruiertes Instrument theoretisch eine durchlaufende Gravitationswelle direkt beobachten können.
Welche Art von Ereignissen wäre da gewaltig genug? Wenn es um Gravitationsgewalt geht, sind Schwarze Löcher als die extremsten Objekte im Universum wohl kaum zu überbieten. Da sie dichter und im Gegensatz zu den meisten Sternen völlig finster sind, sind gravitationsbedingte Ereignisse von außergewöhnlicher Gewalt am ehesten von ihnen zu erwarten. Und seit bereits mehr als 30 Jahren wussten die Wissenschaftler, dass ihre gewaltige Gravitation sie zu einer brillanten Quelle von Gravitationsstrahlung, von Gravitationswellen machte, die nur darauf warteten, entdeckt zu werden.
Um nichts anderes ging es beim LIGO.
Das LIGO