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"Cambridge war Hogwarts", erinnert sich Leonard Mlodinow an den Tag, an dem er in der mittelalterlichen Universitätsstadt ankam, um mit Stephen Hawking das Buch ,Der große Entwurf' zu schreiben. Der amerikanische Physiker, der davor auch einmal Star-Trek-Folgen geschrieben hatte, taucht in eine völlig andere Welt ein. Es beginnen Jahre einer langen Freundschaft, in denen er dem großen Kosmologen so nahe ist wie außer ihm nur wenige Menschen. Mlodinow gelingt mit diesem Buch das inspirierende Porträt eines der größten Denker unserer Zeit - und eines Menschen voller Widersprüche Hawkings Welt hat ihre eigene Zeit und ihre eigenen Rituale, bevölkert mit einem Personal, das sich 24 Stunden am Tag unentbehrlich macht und eifersüchtige Intrigen spinnt. Es ist ein seltsam magischer Ort, eine Welt disziplinierter Arbeit mit unorthodoxen Arbeitszeiten, gefährlichen Abenteuern, ausschweifenden Abendessen und einem komplizierten Familienleben. Mlodinow bringt uns einen Stephen Hawking nahe, den wir so noch nicht kannten: den einsamen, der zugleich nie allein sein durfte; den Sturkopf, der Freude daran hatte, seine Fehler öffentlich einzugestehen; der nicht an Gott glaubte, aber in die Kirche ging und dort Tränen vergießen konnte; den Mann, der keine Angst kannte und sich am lebendigsten fühlte, wenn er dem Tod ganz nahe kam. Zugleich erklärt er uns eingängig Hawkings große Entdeckungen und unter welchen Kämpfen sie zustande kamen. .
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Seitenzahl: 348
Veröffentlichungsjahr: 2020
Leonard Mlodinow
Erinnerungen an den Freund und Physiker
«Cambridge war Hogwarts», erinnert sich Leonrad Mlodinow an den Tag, an dem er in der mittelalterlichen Universitätsstadt ankam, um zusammen mit Stephen Hawking dessen drittes großes Buch zu schreiben, Der große Entwurf. Der Physiker, der davor auch einmal Star-Trek-Folgen geschrieben hatte, taucht in eine völlig andere Welt ein. Es beginnen Jahre einer langen Freundschaft, in denen Mlodinow dem großen Kosmologen so nahe ist wie außer ihm nur wenige Menschen.
Hawkings Welt, die unversehens auch Mlodinows Welt wird, hat ihre eigene Zeit und ihre eigenen Rituale, sie ist mit einem Personal bevölkert, das sich dem Genie im Rollstuhl 24 Stunden am Tag unentbehrlich macht und zugleich eifersüchtige Intrigen spinnt, um sich Vorteile zu verschaffen. Es ist eine Welt disziplinierter Arbeit mit unorthodoxen Arbeitszeiten, gefährlichen Abenteuern, ausschweifenden Abendessen und einem komplizierten Familienleben. Cambridge ist ein seltsam magischer Ort, mit einem Hauptdarsteller, der mit den Augen sprechen kann.
Leonard Mlodinow bringt uns Hawking nahe, wie wir ihn nicht kannten: den einsamen, der zugleich nie allein sein durfte; den Sturkopf, der Freude daran hatte, seine Fehler öffentlich einzugestehen: der nicht an Gott glaubte, aber in die Kirche ging und dort Tränen vergießen konnte; den verletzlichen Mann, der keine Angst kannte und sich am lebendigsten fühlte, wenn er dem Tod ganz nahe kam. Zugleich erklärt er uns eingängig Hawkings große Entdeckungen und unter welchen Kämpfen sie zustande kamen.
Mlodinow gelingt das inspirierendes Porträt eines der größten Denker unserer Zeit – und eines Menschen voller Widersprüche.
«Niemand, der Stephen gut kannte, blieb unberührt von seiner starken Persönlichkeit oder seinem wissenschaftlichen Weitblick. Ich möchte mitteilen, wie es war, mit ihm zu arbeiten und sein Freund zu werden und was ihn zu einem besonderen Menschen machte. Wie war er wirklich? Was zeichnete seinen Zugang zum Leben und zur Wissenschaft aus? Was inspirierte ihn und woher stammten seine Ideen?»
Leonard Mlodinow
«Ein aufschlussreiches Porträt der Beharrlichkeit und Entschlossenheit. Eine kostbare Erzählung über einen außergewöhnlichen Menschen.»
Kirkus Reviews
Leonard Mlodinow, Physiker und Autor, lehrte zuletzt am California Institute of Technology (Caltech) in Pasadena. Er promovierte an der University of California in Berkeley zum Doktor der Physik und war u. a. Alexander-von-Humboldt-Stipendiat am Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching bei München. Weltbekannt wurde er als Koautor von Stephen Hawking mit den Bestsellern «Die kürzeste Geschichte der Zeit» und «Der Große Entwurf». Neben Lehr- und Sachbüchern, darunter «Feynmans Regenbogen» (rororo 62177), hat er auch Drehbücher für die TV-Serien MacGyver und Star Trek: The Next Generation geschrieben. Bei Rowohlt erschien 2009 «Wenn Gott würfelt».
Die Originalausgabe erschien 2020 unter dem Titel «Stephen Hawking. A Memoir of Friendship and Physics» bei Pantheon Books, New York.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2020
Copyright © 2020 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
«Stephen Hawking. A Memoir of Friendship and Physics» Copyright © 2020 by Leonard Mlodinow
Lektorat Frank Strickstrock
Covergestaltung Anzinger und Rasp, München
Coverabbildung China Photos/Getty Images
ISBN 978-3-644-00569-3
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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In Erinnerung an Stephen Hawking
1942–2018
Ich nahm Abschied von Stephen in der Kirche St. Mary, einem 500 Jahre alten Gebäude im Zentrum von Cambridge. Es war im März 2018. Ich saß im Seitenschiff, und als er vorbeigetragen wurde, waren wir einander für einen letzten Moment sehr nahe. Ich hatte das Gefühl, als sei ich wieder bei ihm, trotz des Sarges, der ihn vor mir und den anderen Trauergästen verbarg und der ihn nach 76 Jahren endgültig vor den Gefahren und Herausforderungen der physischen Welt beschützte.
Stephen glaubte, der Tod ist das Ende. Wir Menschen erzeugen Gebäude, Theorien und Nachkommen, und der Fluss der Zeit trägt sie vorwärts. Aber wir selbst werden letztlich Geschichte sein. Davon war auch ich überzeugt, und doch hatte ich, als der Sarg vorbeigetragen wurde, das Gefühl, als sei er im Inneren der hölzernen Kiste immer noch bei uns. Es war ein unheimliches Gefühl. Mein Verstand sagte mir, dass das Leuchtfeuer von Stephens Existenz erloschen war, wie auch mein eigenes in nicht allzu vielen Jahren erlöschen würde. Die Physik hatte mich gelehrt, dass eines Tages nicht nur alles, was wir schätzen und lieben, sondern überhaupt alles, dessen wir uns bewusst sind, vergangen sein wird. Ich weiß, dass selbst unsere Erde, unsere Sonne und unsere Galaxie nur auf begrenzte Zeit existieren und wenn unsere Zeit ausläuft, alles zu Staub wird. Dennoch sandte ich Stephen im Stillen meine Liebe und meine besten Wünsche für die ewige Zukunft.
Ich blickte in Stephens zufriedenes Gesicht auf dem Deckblatt des Begräbnisprogramms. Ich dachte an seine Kraft, an sein breites Lächeln der Anerkennung und seine grimmigen Grimassen der Missbilligung. Ich dachte an unsere glücklichen Zeiten, wenn wir uns intensiv in etwas vertieften, das uns beide brennend interessierte. Ich dachte an die lohnenden Zeiten, wenn wir über wunderbare Ideen sprachen oder wenn ich etwas Neues von ihm lernte – und an die frustrierenden Zeiten, wenn ich versuchte, ihn von etwas zu überzeugen und er sich kein Stück weit bewegte.
Stephen war weltberühmt dafür, die Welt der Physik aufzumischen, Bücher darüber zu schreiben und all das aus dem Inneren eines versehrten Körper heraus. Aber nicht weniger herausfordernd für jemanden, der sich nicht bewegen und vor allem nicht sprechen kann, ist es, langfristige Freundschaften aufrechtzuerhalten, tiefe Beziehungen zu entwickeln und Liebe zu finden. Stephen wusste, dass es menschliche Bindung, Liebe und nicht nur seine Physik war, die ihn nährte. Und auch in dieser Beziehung war Stephen über alle vernünftige Erwartung erfolgreich.
Einige Lobreden spielten auf die Ironie an, dass Stephen, der nicht an Gott glaubte, eine kirchliche Trauerfeier hatte. In meinen Augen ergab das sehr wohl Sinn, denn obwohl er intellektuell leidenschaftlich davon überzeugt war, dass die Gesetze der Naturwissenschaften alles kontrollieren, was in der Natur geschieht, war Stephen ein tiefspiritueller Mensch. Er glaubte an den menschlichen Geist. Er glaubte, dass alle Menschen über eine emotionale und moralische Essenz verfügen, die uns von anderen Tieren unterscheidet und uns als Individuen definiert. Die Überzeugung, dass unsere Seele nicht übernatürlich ist, sondern vielmehr das Produkt unseres Gehirns, minderte seine Spiritualität nicht. Wie denn auch? Für Stephen, den Mann, der weder sprechen noch sich bewegen konnte, war sein Geist alles, was er besaß.
«Sturheit ist meine beste Eigenschaft!», pflegte Stephen gern zu sagen, und dem konnte ich nicht widersprechen. Sturheit versetzte ihn in die Lage, Ideen zu verfolgen, die nirgendwohin zu führen schienen und für die andere nur ein Augenrollen übrig hatten. Sie brachte seinen Geist im Gefängnis seines schwachen Körpers zum Tanzen. Stephen hatte entgegen der Voraussage all seiner Ärzte immer weitergelebt, doch am 14. März 2018 brannte sein Stern schließlich aus. Nun hatten wir uns alle hier versammelt, um Abschied zu nehmen. Seine Familie, seine Freunde, seine Pflegerinnen und Pfleger.[1] Er war 13 Jahre älter als ich, hatte seine prognostizierte Lebensspanne um Jahrzehnte überschritten und sein ganzes Erwachsenenleben hindurch immer wieder an potenziell tödlichen Lungeninfektionen gelitten. Tief in meinem Herzen hatte ich dennoch immer angenommen, er werde mich überleben.
Ich lernte Stephen kennen, nachdem er 2003 Kontakt zu mir aufgenommen hatte. Er fragte mich, ob ich mir vorstellen könne, mit ihm ein Buch zu schreiben. Er hatte meine Bücher gelesen, Das Fenster zum Universum: Eine kleine Geschichte der Geometrie (Euclid’s Window) über den gekrümmten Raum, und Feynmans Regenbogen (Feynman’s Rainbow) über meine Beziehung zu dem legendären Physiker. Er sagte, er mochte meine Art zu schreiben und auch, dass ich als Physikerkollege in der Lage sei, seine Arbeit zu verstehen. Ich war überwältigt, ich war geschmeichelt. In den folgenden Jahren sollten er und ich zwei Bücher zusammen schreiben, und wir sollten darüber hinaus Freunde werden.
Unser erstes gemeinsames Buch war Die kürzeste Geschichte der Zeit (A Briefer History of Time). Das war kein originäres Werk, sondern eine Neufassung von Stephens berühmtem Buch Eine kurze Geschichte der Zeit (A Brief History of Time). Seine Idee war, das Original verständlicher zu machen. Kip Thorne, ein theoretischer Physiker am Caltech und einer seiner engsten Freunde, meinte einmal zu mir, je mehr man über Physik wisse, desto weniger verstehe man Eine kurze Geschichte der Zeit. Stephen drückte es ein wenig anders aus: «Jeder kauft es», spottete er. «Aber nicht viele lesen es.»
Die kürzeste Geschichte der Zeit kam 2005 heraus. Ich gehörte damals zur Fakultät des Caltech. Stephen lebte in England, besuchte das Caltech aber jedes Jahr für zwei bis drei Wochen. Seine Besuche und unsere E-Mail-Kommunikation hatten ausgereicht, um Die kürzeste Geschichte fertigzustellen. Wie Das Universum in der Nussschale (The Universe in a Nutshell) und seine anderen Bücher basierte dieses Buch auf seiner Forschung in den 1970er und 1980er Jahren. Aber nach der Veröffentlichung von Die kürzeste Geschichte entschlossen wir uns, Der große Entwurf: Eine neue Erklärung des Universums (The Grand Design) zu schreiben. Darin ging es um seine neuesten Arbeiten, und wir würden ganz von vorn anfangen und über neue Theorien schreiben, die er noch nie zuvor in populärer Form vorgestellt hatte – und wir würden einige ziemlich komplexe Themen behandeln müssen. Paralleluniversen, die Idee, dass das Universum aus einem Zustand des Nichts entstanden sein könnte, die Tatsache, dass die Naturgesetze in genau der Weise aufeinander abgestimmt zu sein schienen, die für die Existenz von Leben notwendig ist. Es war klar, dass wir uns damit in einer anderen Liga bewegen würden. Wir würden viel Zeit im persönlichen Gespräch miteinander verbringen müssen. Und so begann ich, zwischen Kalifornien und Stephens Wohnsitz in Cambridge hin- und herzupendeln. Das blieb so, bis wir das Buch 2010 schließlich abschlossen.
Einen Großteil seiner Karriere verwandte Stephen darauf, dort weiterzumachen, wo Einstein aufgehört hatte. 1905 entwickelte Einstein die Spezielle Relativitätstheorie, wie wir sie heute nennen. Damals war er 25 Jahre alt und betrieb Physik als Hobby, während er seinem Brotberuf nachging – Patente zu prüfen. Die Relativitätstheorie brachte viele fremdartige Naturerscheinungen ans Tageslicht: dass die Messung von Strecken- und Zeitintervallen relativ ist und vom Beobachter abhängt, dass Materie eine Form von Energie ist und dass sich nichts schneller bewegen kann als das Licht. Aber da gab es ein Problem: Während die Spezielle Relativitätstheorie keinen unmittelbaren Bezug auf die Gravitationskraft nahm, widersprach ihr Diktum einer universellen Geschwindigkeitsgrenze Newtons Theorie, nach der diese Kraft instantan übertragen wird – das heißt, mit unendlicher Geschwindigkeit.
Einstein kämpfte mit diesem Widerspruch. Musste die Relativitätstheorie geändert werden? Sollte man Newtons Gravitationstheorie aufgeben? Er wälzte das Problem zehn Jahre, verließ das Patentamt und pendelte zwischen akademischen Positionen in Bern, Zürich, Prag und Berlin. 1915 stellte Einstein seine neue Theorie, die Allgemeine Relativitätstheorie, schließlich fertig. Es war eine umfangreiche Umarbeitung der Speziellen Relativitätstheorie, eine Erweiterung dieser Theorie, in der den Auswirkungen der Schwerkraft explizit Rechnung getragen wurde.
Zu den vielen Punkten, in denen die Allgemeine Relativitätstheorie von Newtons Theorie abweicht, gehört eben die Korrektur von Newtons Grundsatz, dass Gravitation instantan übermittelt wird: Der Allgemeinen Relativitätstheorie zufolge pflanzt sich die Schwerkraft ganz analog den Lichtwellen wellenförmig fort – und zwar mit Lichtgeschwindigkeit; damit beachtet sie die Geschwindigkeitsbeschränkung der Speziellen Relativitätstheorie. Obgleich die zufriedenstellende Beschreibung, wie die Gravitationskraft übertragen wird, zu den ersten Erfolgen gehörte, die Einsteins Entwicklung der Allgemeinen Relativitätstheorie auslöste, gehörten Gravitationswellen paradoxerweise zu den letzten wichtigen Aspekten seiner Theorie, die eine experimentelle Bestätigung erfuhren. Für seinen «entscheidenden Beitrag» zu diesem Experiment erhielt Kip Thorne 2017 den Nobelpreis.
Newton hatte erklärt, warum Planeten ihre Bahnen ziehen und Dinge fallen, indem er sich eine Kraft vorstellte, die er Gravitation nannte. Die Gravitation oder Schwerkraft sorgt dafür, dass alle Materie einander anzieht und die Bahnen von Objekten von ihrer «natürlichen Bewegung» abweichen, die, so Newton, entlang einer geraden Linie erfolgt. Einstein zeigte uns, dass es sich dabei nur um eine näherungsweise Vorstellung handelt, dass es eine tiefere Wahrheit gibt, nach der das Phänomen der Gravitation auf ganz andere Weise beschrieben wird.
Einstein zufolge üben Materie und Energie ihre gegenseitige Anziehungskraft nicht mittels der Anwendung einer Kraft aus. Vielmehr sorgen sie dafür, dass der Raum sich krümmt – während die Raumkrümmung ihrerseits festlegt, wie Materie sich bewegt und wie Energie sich fortpflanzt. Die Materie wirkt auf die Raumzeit, und die Raumzeit wirkt auf die Materie. Diese Rückkopplungsschleife ist es, die die Mathematik der Allgemeinen Relativitätstheorie so schwierig macht. Um sie zu entwickeln, musste Einstein lernen, ein damals obskures Gebiet in den Griff zu bekommen, die sogenannte Nichteuklidische Geometrie – die Mathematik des gekrümmten Raumes. Im Lauf dieser zehn harten Jahre, die er brauchte, um die Allgemeine Relativitätstheorie zu perfektionieren, ging Einstein des Öfteren nach der Methode von Versuch und Irrtum vor und postulierte Formen, die die Theorie annehmen könnte, berechnete die Konsequenzen seiner provisorischen Versionen und überprüfte seine eigenen Ideen.
Für gewöhnlich liefert Newtons Theorie eine gute Näherung – darum hat es Jahrhunderte gedauert, bis irgendjemandem ihre Mängel auffielen. Aber dort, wo hohe Geschwindigkeiten auftreten oder wo Materie und Energie hochkonzentriert sind – und die Gravitation dementsprechend stark ist –, ist Newtons Theorie unzuverlässig.
Heute wird die Spezielle Relativitätstheorie auf vielen Gebieten der Physik eingesetzt. Die Kontexte, in denen die Allgemeine Relativitätstheorie erforderlich ist, um die Dinge verständlich zu machen, sind jedoch begrenzt. Zu den zwei wichtigsten gehören Schwarze Löcher und der Ursprung des Universums. Jahrzehntelang erschienen beide Themen abgelegen und experimentell unzugänglich. Das frühe Universum galt als zu weit in der Vergangenheit liegend, als dass man es mit Gewinn hätte untersuchen können, und Einstein selbst verwarf Schwarze Löcher, denn er hielt sie für rein mathematische Kuriositäten und nicht ein tatsächlich in der Natur auftretendes Phänomen. In dem halben Jahrhundert, das auf Einsteins Artikel von 1915 folgte, wurden diese Themen daher weitgehend ignoriert, und die Allgemeine Relativitätstheorie wurde aufs wissenschaftliche Abstellgleis verschoben.
Was andere Physiker dachten, schreckte Stephen nicht ab. Sein erster Text war dann auch ein Wälzer, dessen Mitautor er war: The Large Scale Structure of Space-Time beschäftigte sich vorwiegend mit dem gekrümmten Raum und der Mathematik, die ihn beschreibt. Ich habe im College einen großen Teil dieses Buches gelesen und fand es sehr spannend, ein wirklich fesselndes Buch, aber man musste sich gründlich einlesen. Es konnte eine Stunde oder länger dauern, eine einzige Seite zu verdauen.
Schwarze Löcher und auch das frühe Universum faszinierten Stephen, und er machte die Physik dieser Systeme zum Hauptgebiet seiner Forschung. Seine frühen Arbeiten hatten großen Einfluss auf andere Wissenschaftler und ebneten den Weg für eine Wiederbelebung der vor sich hin dämmernden Allgemeinen Relativitätstheorie. Später trugen seine Entdeckungen hinsichtlich des Wechselspiels zwischen Relativitätstheorie und Quantentheorie dazu bei, das Gebiet der Quantengravitation, wie es heute genannt wird, aus der Taufe zu heben.
Solchen Ideen und Phänomenen widmete Stephen sein Leben. Er legte ihre Bedeutung dar, und er hörte niemals auf, sie nach neuen Entdeckungen zu durchforsten. Als sich Stephen nach 40 Jahren Nachdenken und harter Arbeit entschloss, Der große Entwurf zu schreiben, glaubte er, die Antwort auf die schwierigsten Fragen, die er sich zu Beginn seiner Karriere gestellt hatte – wie hat das Universum begonnen, warum gibt es überhaupt ein Universum, und warum sind die Gesetze der Physik so, wie sie sind –, gefunden zu haben. Seine Antworten zu erklären war das Ziel unseres Buches Der große Entwurf.
Wenn man mit jemandem an einem Projekt arbeitet, muss man sich geistig mit dem anderen verbinden. Wenn man Glück hat, gelingt es auch, sich innerlich zu verbinden. Im Lauf unserer Arbeit wurden wir Freunde. Aus dem, was als intellektuelle Allianz begann, erwuchs eine tiefe menschliche Verbindung. Ich war überrascht, hätte es aber nicht sein sollen, denn Stephen suchte nicht nur nach den Geheimnissen des Universums, sondern er suchte auch nach Menschen, mit denen er sie teilen konnte.
Als Kind wurde Stephen von anderen Jungen gehänselt. «Er war klein und sah aus wie ein Äffchen», meinte ein früherer Kamerad aus der Highschool. Als Erwachsener war er der Gefangene eines nicht funktionierenden Körpers. Doch er bekämpfte die Schikanen mit Humor und seine Lähmung mit innerer Stärke. Niemand, der Stephen gut kannte, blieb unberührt von seiner starken Persönlichkeit oder seinem wissenschaftlichen Weitblick. Auf den nun folgenden Seiten möchte ich meine Erfahrungen teilen, wie es war, mit Stephen zu arbeiten und sein Freund zu werden. Ich hoffe, deutlich zu machen, was ihn zu diesem besonderen Menschen machte, als Physiker wie auch als Person. Wie war er wirklich? Wie ging er mit seiner Krankheit um, und wie beeinflusste seine Behinderung sein Denken? Was zeichnete seine Haltung zum Leben und zur Wissenschaft aus? Was inspirierte ihn, und woher kamen seine Ideen? Was waren seine bedeutendsten wissenschaftlichen Leistungen, und wie passen sie in das Gesamtbild der Physik? Was tun theoretische Physiker eigentlich überhaupt, wie tun sie es – und warum? Während meiner Zusammenarbeit mit Stephen bekam ich einen neuen Blick für all diese Fragen, einschließlich derjenigen, zu denen ich schon Vorurteile hatte. Mein Ziel, wenn ich mich an unsere gemeinsame Zeit und einige der Höhepunkte seines Lebens erinnere, ist mitzuteilen, was ich gelernt habe.
Ich bin nicht besonders schaulustig, aber als ich 2006 das erste Mal in Cambridge eintraf, riss ich doch die Augen weit auf. Es war der Sommer in Stephens 64. Lebensjahr, und auch wenn viele Einzelheiten seines Lebens nicht mit der Darstellung in dem Hollywood-Film übereinstimmten, der ihn porträtierte, Cambridge erinnerte in vielen Details tatsächlich stark an einen anderen Film, den ich gesehen hatte – einen Harry-Potter-Film. Cambridge war Hogwarts. Die Nachbarbezirke weiter außen haben wahrscheinlich weniger Charme und Geschichte, doch ich wagte mich nur selten über das «alte Cambridge» hinaus, das Newton kannte, ein Gewirr von steinernen Straßen und Gebäuden, die an scheinbar zufällig gewählten Plätzen aus der Erde emporgewachsen waren. Dort liegt zwischen mittelalterlichen Kirchen und Friedhöfen ein großer Teil der Universität. Es ist ein Ort mit hohen, vor Jahrhunderten errichteten Mauern, die die Studenten vor den Stadtbewohnern schützen sollten, mit engen Gassen und fast ebenso engen, ungeordnet angelegten backsteingepflasterten Straßen, die wie lappige Bandnudeln aussahen.
Die ungeplante und unregelmäßige Anlage der Stadt wird verständlich, wenn man sich klarmacht, dass die Universität vor 800 Jahren gegründet wurde, Jahrhunderte bevor René Descartes sein ordentliches rechteckiges Koordinatensystem entwickelte. Dennoch ist «alt» ein relativer Begriff: Die Region von Cambridge ist schon seit prähistorischen Zeiten besiedelt. Heute besteht die Universität aus 31 halbautonomen Colleges, und mehr als 100000 Menschen leben in der Stadt.
Auch wenn Cambridge an Hogwarts erinnerte, gab es einen wesentlichen Unterschied. Die Magie, die hier ausgeübt wurde, war real. Da war der Hof, in dem Newton mit dem Fuß aufstampfte, um die Zeit zu bestimmen, bis das Echo ertönte und damit die Schallgeschwindigkeit zu messen; da gab es die Laboratorien, die von James Clerk Maxwell gebaut wurden, der die Geheimnisse von Elektrizität und Magnetismus lüftete, und wo J.J. Thomson das Elektron entdeckte; da war die Bar, in der Watson und Crick gerne Bier tranken und über Genetik diskutierten, und das Gebäude, wo Ernest Rutherford – der Mann, der das Rätsel des Atomaufbaus entschlüsselte – seine sorgfältig geplanten Experimente durchführte.
In Cambridge ist man zu Recht stolz auf die eigene wissenschaftliche Tradition, Oxford, das stärker humanistisch orientiert ist, nennen sie nur «jene andere Schule». Der Leiter von Stephens Abteilung erzählte mir, dass er wie Stephen als angehender Student in Oxford gewesen war und seine Professoren von ihm verlangten, Aufsätze über wissenschaftliche Themen zu schreiben, statt die üblichen Hausaufgabenprobleme zu stellen. Er sagte, er habe versucht, in Cambridge solche Aufsätze einzuführen, aber keiner seiner Studenten habe einen Aufsatz abgeliefert. Hier liefen altmodische, urwüchsige Wissenschaftstypen herum, und wenn sie dazu bestimmt waren, einen Nobelpreis zu gewinnen, dann würde es nicht der Literaturnobelpreis sein.
Während meiner Besuche hatte Stephen mich in dem College untergebracht, zu dem er gehörte, Gonville & Caius[2], in einem Anwesen aus dem 14. Jahrhundert. Am ersten Tag meines ersten Besuchs entschloss ich mich, von dort zu Fuß zu Stephens Büro zu gehen. Es dauerte nur zwanzig Minuten, doch die Sonne brannte auf mich herab, und ich war nicht an die hohe Luftfeuchtigkeit gewöhnt. Stephen hatte stets die südkalifornischen Winter am Caltech geschätzt. Dort litt er seltener unter Lungenentzündungen, er hasste den bitterkalten Winter in Cambridge. Nun, da ich hier war, wurde mir klar, dass die Sommer in Cambridge auch nicht so toll waren. Die Briten klagen viel über das Wetter, und sie haben allen Grund dazu.
Als ich schließlich das Centre for Mathematical Sciences erreichte, den Gebäudekomplex, in dem Stephen sein Büro hatte, war ich froh, ins Innere zu gelangen. Es war jedoch schwierig, Stephens Gebäude zu finden. Das Zentrum umfasst sieben Pavillons, die parabelförmig angeordnet sind. Erbaut aus Ziegelstein, Metall und Naturstein, erinnerte ihr Aussehen an futuristisch-japanische Tempel. Ich mochte die Fenster, und es gab ziemlich viele. Der Gebäudekomplex hatte einen Preis für sein Design gewonnen, doch das Gestaltungselement, das ich am meisten vermisste, waren Pfeile mit der Aufschrift «Zu Stephen Hawking hier entlang».
Stephens Pavillon lag neben einem älteren Gebäude, dem Isaac Newton Institute. Newtons Name tauchte häufig auf, wenn man Stephen kannte. Die Leute verglichen ihn sogar mit Newton, was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, denn Stephen konnte Newton nicht leiden. Newton war in zahlreiche kleinliche Streitereien verwickelt, war intrigant und rachsüchtig, als er eine Machtposition innehatte. Er weigerte sich, den Ruhm für irgendeine seiner Entdeckungen zu teilen oder auch nur zuzugeben, dass er von den Ideen anderer beeinflusst worden war. Zudem war er humorlos. Ein Verwandter, der fünf Jahre lang sein Assistent gewesen war, meinte, er habe Newton nur ein einziges Mal lachen sehen, und zwar, als ihn jemand fragte, wie man auf die Idee kommen konnte, Euklid zu studieren. Ich habe mehrere Biographien des Mannes gelesen, und auch wenn sie ganz verschiedene Titel hatten, hätten alle Isaac Newton: Was für ein Arsch heißen können.
Vielleicht wichtiger als Stephens Einschätzung von Newtons Charakter ist, dass Stephen in der Highschool von der Newton’schen Physik, die dort unterrichtet wurde, gelangweilt war. Einen Wissenschaftler reizt die Entdeckung – ein Verhalten aufzuzeigen, das noch niemand zuvor gesehen hat, oder etwas zu verstehen, das noch niemand zuvor verstanden hat. Aber da die Newton’schen Gesetze die Alltagswelt beschreiben und jahrhundertealt sind, gab es in der Highschool-Physik keine Überraschungen. In der Highschool benutzen Lehrer Newtons Gesetze, um ein schwingendes Pendel zu beschreiben oder um vorauszusagen, was passiert, wenn zwei Billardkugeln zusammenstoßen. Für Stephen schien die Lehre daraus zu sein: Wer Spaß haben will, spielt Billard, Physiker schreiben nur Gleichungen dazu auf. Daher hatte Stephen in seiner Schulzeit keine Geduld für Physik. Er mochte Chemie lieber. In der Chemie explodierte wenigstens hin und wieder etwas.
Stephens Pavillon im Centre for Mathematical Sciences beherbergte das Department of Applied Mathematics and Theoretical Physics oder DAMTP, wie die Leute es liebevoll nannten, wobei sie das Akronym so aussprachen, als sei das P stumm (damt klingt wie damned, verdammt). Das DAMTP war weltberühmt als Stephen Hawkings Fachbereich.
Stephens Gebäude hatte nur drei Stockwerke, und das Treppenhaus wand sich um einen Aufzugsschacht. Ich stieg ein paar Stufen bis in den zweiten Stock hinauf. Das Gebäude war rollstuhlgerecht ausgebaut. Stephen ärgerte sich oft, wenn Gebäude das nicht waren. Das war ein weiterer Punkt, der ihm das Caltech so lieb und teuer machte – als er die Einladung akzeptierte, dort 1974 ein Jahr zu verbringen, ließ die Universität als Teil ihres Willkommens den gesamten Campus behindertengerecht umgestalten. Solche Maßnahmen waren in den Vereinigten Staaten bis zur Verabschiedung des Americans with Disabilities Act 1990 nicht vorgeschrieben.
Am Ende der Treppe wandte ich mich nach links, was mich vor Stephens Bürotür brachte. Die Tür war geschlossen. Ich konnte nicht wissen, was das bedeutete, doch ich sollte es bald erfahren. Ich war ein bisschen nervös deswegen und weil ich jetzt hier war, das erste Mal in seinem Revier.
Als ich mich Stephens Tür näherte, trat mir seine Palastwache entgegen. Ihr Name war Judith. Stephen hatte ein Eckbüro, und ihr Büro lag gleich daneben. Judith war formidabel. Um die 50, kräftig gebaut, mit dazu passender Persönlichkeit. In jungen Jahren hatte sie vier Jahre auf den Fidschi-Inseln verbracht, wo sie Pionierarbeit leistete, indem sie Kunsttherapie als Alternative für Elektroschocks bei unzurechnungsfähigen Tätern einführte. Einer der Patienten, die sie dort betreute, hatte seinem Vater den Kopf abgeschnitten. Innerhalb weniger Wochen brachte sie ihn dazu, mit Malkreiden Palmen zu zeichnen. Wenn sie mit ihm fertiggeworden war, würde sie auch mit mir fertigwerden.
«Sind Sie Leonard?», fragte sie. Sie hatte eine kräftige Stimme. Ich nickte. «Schön, Sie persönlich zu treffen», sagte sie. «Es dauert nur ein paar Minuten. Stephen ist auf der Couch.»
Stephen ist auf der Couch. Was bedeutete das? Ich lege mich auf die Couch, wenn ich ein Nickerchen halten oder einen Fernsehfilm gucken will. Ich glaubte nicht, dass es in diesem Fall um so etwas ging. Doch ich hatte das Gefühl, es sei unhöflich zu fragen, also nickte ich nur, als sei es ganz normal zu warten, während ein berühmter Wissenschaftler seine Zeit auf der Couch totschlug.
Auch wenn wir uns zuvor noch nicht persönlich getroffen hatten, hatten Judith und ich viele E-Mails gewechselt und miteinander telefoniert. Ich wusste, dass sie eine wichtige Kraft in Stephens Universum war. Wenn man um Zeit mit Stephen bat, war sie es, die entschied, ob er frei war. Wenn man anrief, war sie es, die abnahm und ihm den Hörer brachte (oder auch nicht). Wenn man ihm schrieb, war sie es, die entschied, ob sie den Brief weitergab und ihm, falls wichtig, vorlas. Das einzige Mal, dass sie meines Wissens gegenüber jemandem den Kürzeren zog, war, als Stephen während seines Südafrika-Aufenthalts Nelson Mandela besuchen wollte, den er sehr bewunderte. Damals war Mandela bereits um die neunzig. Er war nicht sehr Technik-affin, und aus irgendeinem Grund jagte ihm die Weise, wie Stephens Computer für ihn sprach, einen panischen Schrecken ein. Außerdem ging es ihm nicht gut. Seine Gesundheit war angeschlagen. «Ein bisschen daneben», so beschrieb ihn Stephen, was nicht einer gewissen Ironie entbehrte, denn Stephen hatte ebenfalls einen schlechten Tag und hätte das Treffen beinahe absagen müssen. Judith, die zu seiner Entourage auf der Reise gehörte, wollte Mandela gerne treffen, daher sorgte sie dafür, dass Stephen ging, und sie begleitete ihn und seinen Betreuer auf dem Weg zum Treffen. Aber Mandela hatte seine eigene Judith, eine Frau namens Zelda, und als Stephen und sein Betreuer in einen Raum geführt wurden, um Mandela zu treffen, trat Zelda vor, um Judith zu stoppen. Zu viele Leute für den alten Mann, hatte Zelda entschieden, daher ließ sie Judith nicht durch. Zelda hatte die Judith gemacht.
Meine Mutter sagte oft: «Wo ein Wille ist, da ist auch ein Weg.» Sie hatte eine Menge solcher Sprüche, aber dieser ergab Sinn. Tatsächlich hat jedes Sicherheitssystem seine Schwachstellen, und das galt auch für Stephens. Es gab eine Hintertür. Man konnte Judith umgehen und Stephen direkt kontaktieren, wenn man die E-Mail-Adresse kannte, die er Freunden zukommen ließ und selbst checkte. Das Problem war, dass er häufig nicht antwortete. Selbst Kip, der seit Jahrzehnten Stephens enger Freund war, erzählte mir, dass Stephen seine E-Mails nur etwa in der Hälfte der Fälle beantwortete. Keine Antwort hieß nicht, dass Stephen die E-Mail nicht gelesen hatte – doch man wusste nie, was genau es hieß. Falls er sie gelesen hatte, hing die Antwort nicht davon ab, wie wichtig dem Absender das Thema war, sondern wie wichtig es ihm war. Bei einer Kommunikationsgeschwindigkeit von sechs Worten pro Minute musste er sparsam mit seinen Antworten sein.
Judith konnte einem Korrespondenten auch helfen, wenn sie auf seiner Seite war. Wenn man eine E-Mail mit einem CC für sie versah, druckte sie sie aus, ging hinein und las sie Stephen vor. Und wenn er zögerte zu antworten, drängte sie ihn. Oder wenn ich mit ihm sprechen musste, rief ich sie an, und sie setzte sich zu ihm und nahm den Anruf auf der Freisprechanlage seines Schreibtischs entgegen. Wenn sie aber entschied, er habe Besseres zu tun, als mit jemandem zu kommunizieren, war er seltsam unerreichbar, wann immer man versuchte, Kontakt aufzunehmen. Nachdem wir ein paar Minuten geplaudert hatten, klingelte Judiths Telefon, und sie bat mich, kurz in ihrem Büro zu warten, während sie in Stephens ging. Eine Minute später kam sie zurück und holte mich. Seine Tür war nun offen.
Judith führte mich hinein. Und da saß Stephen in seinem berühmten Rollstuhl hinter seinem berühmten Schreibtisch. Er schaute hinunter auf seinen Computerbildschirm. Sein Gesicht wirkte jung für das eines Vierundsechzigjährigen. Er trug ein blaues Buttondown-Hemd, bei dem ein oder zwei der obersten Knöpfe geöffnet waren, sodass sein Stoma zu sehen war – die Öffnung an der Basis seines Halses, durch die er atmete. Sie sah aus wie ein roter Kreis aus Blut, so groß wie ein Zehn-Cent-Stück. Er war sehr dünn, und sein Hemd und seine graue Hose saßen entsprechend locker. Die einzigen Muskeln, die Stephen willentlich bewegen konnte, befanden sich in seinem Gesicht. Seine übrigen Muskeln waren verkümmert, daher fehlte dem Körper die Spannung, und das beeinträchtigte seine Haltung. Der Kopf saß unnatürlich niedrig zwischen seinen Schultern, als sei er eingesunken, und wies eine leichte Schräglage auf. Im Fernsehen war das alles Teil seines üblichen Aussehens, doch wenn man ihm direkt gegenüberstand, war es befremdend, und auch wenn ich mit ihm schon am Caltech zusammengearbeitet hatte, hatte ich mich noch nicht daran gewöhnt. Nichtsdestotrotz war er eine Ikone, und ich fühlte mich von seinem Kultstatus ein wenig eingeschüchtert – wer war ich, dass ich all die Zeit verdiente, die wir miteinander verbringen würden, es verdiente, dass er seinen ganzen Terminplan eine Woche lang oder länger umstellte, um sich auf meine Besuche einzustellen?
«Hi, Stephen», sagte ich, obwohl er nicht aufgeschaut hatte. «Gut, dich zu sehen. Und es ist toll, hier zu sein. Ich liebe Cambridge.»
Er sah noch immer nicht auf. Ich wartete eine Minute. Dann meinte ich, um die Stille zu füllen: «Ich freue mich darauf, mit dem Buch zu beginnen.»
Sobald ich den Satz gesagt hatte, bedauerte ich ihn. Ein dummes Klischee, dachte ich, und auf jeden Fall füllte es die Stille nicht lange. Außerdem stimmte das, was ich gesagt hatte, ablauftechnisch gar nicht. Wir hatten bereits bei Stephens letztem Aufenthalt am Caltech einige Arbeit in das Projekt gesteckt, allerdings war alles, was wir damals machten, die Diskussion darüber, was das Buch beinhalten würde. Wir hatten bislang noch kein Wort geschrieben.
Ich überlegte, was ich sonst sagen könnte. Etwas Intelligenteres. Aber mir fiel nichts ein. Schließlich bemerkte ich, dass Stephen seine Wange zucken ließ. Auf diese Weise tippte er. Seine Brille hatte einen Sensor, der die Muskelzuckungen wahrnahm und sie in Mausklicks umsetzte, die ihm erlaubten, Buchstaben, Wörter oder Satzteile aus Listen auszuwählen, während sich der Cursor auf seinem Bildschirm bewegte. Es war ein wenig so, als spiele man ein Computerspiel. Da er tippte, dachte ich, er werde auf mein Geplapper antworten. Er würde etwas sagen, das mir aus der Patsche half. Kurz darauf sprach seine Computerstimme endlich. Aber alles, was er sagte, war: «Banane.»
Das brachte mich aus der Fassung. Ich war 6000 Meilen geflogen und ein paar Tage früher angekommen, um bei unserem ersten Treffen frisch zu sein, und die einzige Reaktion, die ich erhielt, war «Banane»? Was bedeutet es, wenn man jemanden begrüßt und er mit dem Namen einer Frucht antwortet?, grübelte ich. Aber dann sprang Sandi, seine Betreuerin, von der Couch auf, wo sie gesessen und in einem Liebesroman gelesen hatte.
«Banane und Kiwi?», fragte sie.
Stephen hob seine Augenbraue, was ja hieß.
«Und Tee?»
Er signalisierte erneut Zustimmung.
Als Sandi zu der Mini-Küche hinter ihm ging, hob er seinen Blick endlich zu mir. Wir sahen uns in die Augen. Seltsamerweise benötigte er jetzt keine Worte. Sein Ausdruck war warm und glücklich, und er entwaffnete mich. Nun hatte ich ein schlechtes Gewissen wegen meiner Ungeduld. Er begann zu tippen. Nach etwa einer Minute vernahm ich endlich die Worte, auf die ich gewartet hatte: «Willkommen im DAMTP», sagte seine Stimme.
Ich konnte mir denken, dass es nicht viel Smalltalk geben würde, und das passte mir gut. Ich freute mich wirklich auf unsere Arbeit. Aber genau in diesem Moment betrat ein Cambridge-Professor, ein nicht ganz so bekannter Kosmologe, den Raum. Ich erkannte ihn, konnte mich aber nicht an seinen Namen erinnern. Und der wurde mir auch nicht genannt, denn natürlich verschwendete Stephen keine Energie darauf, uns miteinander bekannt zu machen. «Ich möchte mit dir über Daniel reden», teilte er Stephen mit, ohne mich zu beachten. «Hast du eine Minute Zeit?»
In den kommenden Jahren sollte ich diese Unterbrechungen stets ziemlich ärgerlich finden. Leute kamen in zufälligen Abständen hereinspaziert und unterbrachen uns mitten in der Arbeit. «Nur ganz kurz», pflegten sie zu sagen. Doch ich merkte bald, dass «kurz» ein Euphemismus für «nicht kurz» war. Einmal im Raum, redeten Stephens Kollegen meist sehr ausführlich auf ihn ein. Aber während diese Unterbrechungen mich störten, schienen sie Stephen überhaupt nichts auszumachen.
Stephen hob seine Augenbraue, das hieß also ja, was bedeutete, dass ich zu warten hatte. Eine Weile war die Unterhaltung ganz interessant. Offenbar war das Stipendium eines Studenten namens Daniel ausgelaufen, und er war noch nicht fertig mit seiner Promotion. Aber er hatte fleißig gearbeitet und einen guten Anfang gemacht. Konnte der Fachbereich ihn finanziell unterstützen, bis er fertig war? Als Leiter der Gruppe Allgemeine Relativitätstheorie entschied Stephen über die Vergabe gewisser Zuschüsse an Studenten und junge Postdocs zum Lebensunterhalt, für Reisen und andere Bedürfnisse.
Nach einigen Minuten ließ ich meine Gedanken schweifen. Ich sah mich im Raum um. Das Büro war mehr oder weniger rechteckig geschnitten, wobei eine der längeren Seiten jene mit der Tür war. Die gegenüberliegende Seite enthielt mehrere Fenster, die viel Licht spendeten und einen schönen Blick auf den futuristischen Komplex erlaubten.
Stephens Schreibtisch befand sich gleich links, wenn man durch die Tür kam, im rechten Winkel zu den Fenstern. Die Couch stand rechts, mit der Rückenlehne zu den Fenstern. Hinter Stephen befand sich die Mini-Küche – ein Buffet mit einer Spüle und einem Elektrokessel – und darüber eine Wand mit Bücherregalen. Rechts und links der Tür gab es Tafeln voller Gleichungen, die von seinen vielen Studenten und Mitarbeitern dort hingekritzelt worden waren. Dort hing auch eine Fotomontage von Stephen und Marilyn Monroe, von der er in jüngeren Jahren geradezu besessen gewesen war.
Das Zimmer war groß für ein Universitätsbüro, kleiner nur als das des Fachbereichsleiters. Ich bin in Büros der Geschäftsleitung in der Wirtschaft und in Hollywood gewesen, und man konnte schon vor dem Eintreten sagen, dass diese Leute einflussreich waren. Aber mit Physik kann man nicht viel Geld verdienen, und Stephens Büro war also dennoch bescheiden. Wenn Stephen eine Führungskraft mit vergleichbarem Ruhm in der Wirtschaft gewesen wäre, hätte dieses Büro in sein privates Badezimmer gepasst.
Sie kamen allmählich zum Schluss. Also, fragte der Professor, würde Stephen 6000 Pfund für den Jungen genehmigen? Stephen tippte seine Entscheidung ein: «3000.» Der Professor dankte ihm und ging. Solche Fragen waren, wie sich herausstellte, an der Tagesordnung, und Stephen beschied solche Anfragen stets positiv, weil er viel Empathie für seine Studenten empfand. Aber er halbierte die Menge stets, um nicht als Softi zu erscheinen. Das funktionierte jedoch nicht. «Er ist ein absoluter Weichling», erklärte mir Judith. «Und sie alle wissen, dass er die Summe halbiert, darum bitten sie um das Doppelte. Es ist wirklich ein seltsames Spiel, gespielt von seltsamen Leuten. Das ist nicht respektlos gemeint.»
In der Zeit, in der der Professor sein Anliegen vortrug, hatte Sandi längst eine Banane und eine Kiwi geschält und beides püriert sowie eine Kanne Tee gekocht. Ich saß die nächsten zehn Minuten auf der Couch, während sie ihn mit einem Löffel fütterte. Der Löffel war recht groß, genau die richtige Größe, um Nahrung in Stephens Mund zu befördern. Eine seiner Betreuerinnen war eines Tages in einem Restaurant im Ort darauf gestoßen und hatte ihn in ihrer Handtasche mitgehen lassen. Nun benutzten sie ihn bei jeder Mahlzeit.
Die Couch, die berühmte Couch, war mit leuchtend orangerotem Leder bezogen und ziemlich bequem. Später fand ich heraus, dass Stephen – von der diensthabenden Betreuerin und seinem IT-Assistenten Sam Blackburn – dorthin getragen wurde, wenn er sich mit Hilfe der Betreuerin erleichtern musste. Das erklärte die Bedeutung von auf der Couch. Es gab mir danach ein etwas seltsames Gefühl, wenn ich da saß.
Stephens Besuche auf der Couch nahmen einige Zeit in Anspruch. Anschließend konnte er recht erschöpft wirken, und er nahm danach gern einen Tee, eine pürierte Banane oder beides zu sich – wie er es gerade getan hatte. Die Zeit auf der Couch, so erfuhr ich nach und nach, war so gut wie die einzige Zeit, in der Stephens Tür geschlossen blieb.
Ich fragte mich, wie es für Stephen sein musste, dass in einer so intimen Situation stets eine Betreuerin anwesend war. Ich fragte mich, wie es wohl war, andere in einer solchen Situation zu benötigen. Sich für ihre Hilfe zu öffnen, wie er es tun musste. Ich sah zu ihm hinüber, und er war mit dem Essen fast fertig. Etwas Bananenbrei und ein Rinnsal Tee tröpfelten aus dem Mund und rannen sein Kinn hinab. Sandi wischte sie mit einer Serviette ab. Diese Art von Hilfe zu akzeptieren war eine Brücke, über die er schon vor vielen Jahren gegangen war, und nichts wies darauf hin, dass er sich selbst bemitleidete. Vielmehr schien er sich glücklich zu schätzen, die Menschen, die er brauchte, um sich zu haben.
Wir Physiker untersuchen, wie sich Systeme mit der Zeit verändern, aber wir dürfen nicht erwarten, in die eigene Zukunft schauen zu können. Ein anderer Spruch meiner Mutter war: «Man weiß nie, was das Morgen bringt.» Sie war eine Holocaust-Überlebende, und für sie bedeutete dieser Satz, dass das unabänderliche Verhängnis stets hinter der nächsten Ecke lauern konnte. Die Botschaft, die Stephen aus seiner eigenen Geschichte herauslas, war das genaue Gegenteil. Sie besagte: Wie mies das Blatt auch immer ist, das dir das Leben zugeteilt hat, man kann etwas daraus machen. Er erkrankte bereits in jungen Jahren, aber obgleich sein Zustand sich immer weiter verschlimmerte, konnte dies sein Leben nicht einschränken. Im Gegenteil, es gewann ständig an Reichtum. An Tagen, an denen ich aus irgendwelchen Gründen entmutigt zur Arbeit kam, inspirierte mich Stephens Anblick immer wieder und rückte meine Probleme in die richtige Perspektive.
Während Stephens Besuchen am Caltech hatten wir in einem detaillierten «Plan» skizziert und umrissen, was jedes Kapitel beinhalten sollte. Wir hatten einen großen Entwurf für Der große Entwurf ausgearbeitet. Eine kurze Geschichte der Zeit hatte umrissen, was wir über Ursprung und Evolution des Universums zu Beginn der 1980er Jahre wussten, und beschäftigte sich mit der Frage: Wie hat das Universum begonnen? Der große Entwurf sollte eine natürliche Fortsetzung bilden, die Antwort auf diese Frage aktualisieren, aber auch darauf eingehen, warum es überhaupt ein Universum gibt – bedarf es eines Schöpfers? – und warum die Naturgesetze so sind, wie sie sind.
In unserem Plan für das Buch entwickelten Stephen und ich ein Narrativ, das diese Themen beleuchtete. Wir zerlegten Stephens aktuelle Arbeiten und den gesamten Hintergrund, der nötig war, um ihre Bedeutung zu verstehen, in eine Reihe von Unterthemen. Dann entschieden wir, wie wir das Schreiben aufteilen wollten. Kapitel für Kapitel einigten wir uns auf die Abschnitte, die jeder von uns bearbeiten sollte. Unsere Strategie war, Entwürfe unserer jeweiligen Themen zu verfassen und sie via E-Mail auszutauschen, uns dann in Cambridge oder am Caltech zu treffen und die Arbeit des anderen durchzugehen. Dann würde jeder von uns den Text des anderen überarbeiten, und der Zyklus würde sich wiederholen.
Bei einigen Passagen, die Stephen mir schickte, verstand ich nicht, was er damit sagen wollte, und musste auf seine physikalischen Originalartikel zurückgreifen, um es herauszufinden. Anders als das einverständliche Verhalten, das Stephen bei unserer Zusammenarbeit an der Kürzesten Geschichte der Zeit an den Tag gelegt hatte, war er bei diesem Projekt gesonnen, jeden Punkt zu diskutieren, ganz gleich, wie klein. Das war ein langsamer Prozess, so, als ob Ameisen Blattstückchen über eine Straße schleppen, um eine Pilzzucht anzulegen. Es gab so viel Hin und Her, dass es am Ende schwierig war, eine bestimmte Passage einem von uns beiden zuzuordnen.
Dies war der erste dieser Besprechungsbesuche. Wir arbeiteten mehrere Stunden lang und diskutierten, was jeder von uns geschrieben hatte. Hier in England mit Stephen zu sprechen ließ den amerikanischen Akzent seiner Computerstimme seltsam erscheinen. Er war in England geboren, doch seine Stimme stammte aus Kansas.
Die Hitze drang von draußen ins Büro. Ich war es müde, den Schweiß von meiner Stirn zu wischen, aber für Stephen musste es schlimmer gewesen sein. Ich sah, wie sich direkt unter dem Ansatz seines feuchten, verschwitzten Haars eine Schweißperle bildete. Sie löste sich und rann langsam sein Gesicht hinunter, wobei sie hie und da anhielt, als wolle sie ihn foppen. Ich stellte mir das leichte Kitzeln vor, das der Tropfen auf seinem Weg auslösen musste. Ich konnte mich durch rasches Abtupfen mit dem Taschentuch von dem Tropfen wie auch von dem Juckreiz befreien. Aber wenn man sich nicht bewegen kann, ist man dazu verdammt, dazusitzen und es hinzunehmen, dieses kaum wahrnehmbare, aber mitleidlose Kribbeln, wenn der Schweißtropfen seiner Newton’schen Bahn folgt, ein Elementarteilchen der chinesischen Wasserfolter. Sandi schien es nicht zu bemerken. Sie warf ihm hin und wieder einen Blick zu, las aber dann weiter.