Sterben und Lieben - Dietmar Mieth - E-Book

Sterben und Lieben E-Book

Dietmar Mieth

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Beschreibung

Völlig überraschend erhält Irene Mieth die schockierende Diagnose: Krebs im fortgeschrittenen Stadium. Eine Operation scheint die letzte Rettung, die Zeit drängt. Doch Irene Mieth entscheidet anders und sich gegen den Eingriff. Sie stirbt 2017. Dietmar Mieth war gegen die Entscheidung seiner Frau und für die Operation. Sie führen lange Gespräche, diskutieren, streiten auch. Am Ende akzeptiert Mieth den Entschluss und begleitet seine Frau bis zum Schluss. Über diese Zeit, über ihre Diskussionen, schreibt Dietmar Mieth in seinem wohl persönlichsten Buch. Der renommierte Ethiker und Moraltheologe reflektiert über Sterben und Lieben, über Schmerz und Zerbrechlichkeit, Ungewissheit und Hoffnung. Ergänzt werden seine Gedanken durch Auszüge aus dem Tagebuch, das Irene Mieth während ihrer Krankheit schrieb. Beide setzen damit ihre gewohnten Gespräche fort. Der Text lebt von ihrem Dialog – bis zuletzt. Respektvoll und zutiefst getragen von ihrem gemeinsamen Glauben, ihrer Suche und die tiefe Verbundenheit in der Mystik Meister Eckharts. Das Buch zeigt die ungeschönte Offenheit und Gelassenheit beider bei einem existenziellen Grenzthema – berührend und ungemein authentisch zugleich. "Nun aber sprach sie von ihrem Glück, vor mir zu sterben. Ich weiß jetzt, nach mehr als einem Jahr, was sie damit meinte. Denn in ihrem Arm werde ich nicht sterben dürfen, so, wie sie in meinem Arm gestorben ist. Dennoch: Lieben, auch in der Schwachheit, ist immer wieder ein zu spürender warmer Mantel, den Hoffnung und Glaube uns um die Schultern legen." (Dietmar Mieth)

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© Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau 2019

Alle Rechte vorbehalten

www.herder.de

Die Übersetzungen der Bibelzitate sind vom Autor

eigenhändig angefertigt.

Umschlaggestaltung: Designbüro Gestaltungssaal

Umschlagmotiv: © Dietmar Mieth, Tübingen

E-Book-Konvertierung: post scriptum, Vogtsburg-Burkheim

ISBN (E-Book) 978-3-451-81561-4

ISBN (Buch) 978-3-451-38315-1

Unseren Freundinnen und Freunden

Inhalt

Vorwort

Zwischen Tränen und Glücksgefühlen: Glauben, Leben und Lieben

Über die Liebe

Unsere Beziehung – Leben im Dual

Gemeinsam älter werden

Krankheit und Sterben – Aus Irenes Tagebuch

Eine Achterbahn der Gefühle

Hoffnungsvolle Unterbrechung: Weihnachten 2016

Gespräche über das Leiden

Selbstbestimmung zwischen Achtung und Kränkung

Sich das Leben und die Liebe erzählen

In deine Hände

Liebende Erinnerung und Geschichten vom Jenseits

Ein Meer von Tränen

Ein Gespräch mit Meister Eckhart über Gelassenheit

Geschichten vom Jenseits

Nachwort

Über Irene Mieth

Biografie

Veröffentlichungen (Auszug)

Anmerkungen

Nachweise

Bibliografie

Über die Autoren

Vorwort

Flores mei fructus – »meine Blüten wurden zu prächtiger und reicher Frucht«. Diese Bibelstelle aus Jesus Sirach (24,17) war für Meister Eckhart (1260–1328) besonders kennzeichnend. Er hat bei seinem Antritt als Provinzial der Dominikanerprovinz Saxonia in Erfurt eine Vorlesung gehalten und gepredigt. Weil die Blüte der Ursprung der Frucht ist, ist ohne diesen Ursprung nichts möglich. In gleicher Weise, so Eckhart, hängt alles vom göttlichen Ursprung ab.

Für Irene und mich hatte Meister Eckhart stets eine bedeutende Rolle in unserem Leben und so wählten wir die Weinblüte mit dem lateinischen Spruch als Emblem. Auf der Erfurter Krämerbrücke fertigte Designerin Ute Wolff-Brinckmann daraus eine Anstecknadel, die wir, wie andere Freundinnen und Freunde des Meister Eckhart, gern getragen und verschenkt haben. Die Weinblüte wurde zum Sinnbild unseres gemeinsamen Lebens, Schaffens und Denkens. Sie befindet sich inzwischen in abgewandelter Form auf dem Grabstein von Irene Mieth auf demStadtfriedhof in Tübingen und ist nun auch auf dem Cover dieses Buches abgebildet.

Dieses Buch ist ein Bekenntnis. Es ist das letzte, das wir auf besondere Weise gemeinsam geschrieben haben. Es enthält das Tagebuch, das Irene in den sechs Wochen von der Diagnose ihrer Krankheit bis zu ihrem Sterben am 17. Januar 2017 geführt hat. Es ist in kurzen Zeilen geschrieben. Manchmal ähneln sie der Figur der »Elfchen«, die eine Art Raute bildet, die Zahl der Worte steigert und wieder zurückführt. Diese Form entsprach der kurzen Belastung und Konzentration, die in der Schwäche möglich waren. Es sind diese ungeschönten alltäglichen Mitteilungen, die am Anfang standen. Irene schrieb die Zeilen jedoch nicht für sich selbst, sondern für ihren Mann, ihre Familie, ihre Freundinnen und Freunde. Ihnen und all den Menschen, die uns umgeben, geliebt, gefördert und beansprucht haben, ist dieses Buch gewidmet.

Auf unserem privaten und beruflichen Weg haben wir beide in Beckingen / Saar und Hüttersdorf, in der Schweiz und vor allem in und um Tübingen wahre Freundschaft erfahren. Mit Remmingsheim verband uns nicht nur ein Haus am Dorf­rand im Grünen, sondern auch das praktische und kirchliche Engagement vor Ort. Jochen Köhler hat lange Jahre dort den Gottesdienst gehalten, dann auch die Krankensalbung gespendet und die Trauerfeier für Irene zelebriert, einfühlsam und Hoffnung stiftend. Ich bin ihm zutiefst dankbar.

Nun gibt es Zeugnisse des Sterbens, selbst erlebte, geschriebene. Auch die Selbstbestimmung im Sterben, die in diesem Zeugnis eine Rolle spielt, ist bedacht worden. Ich selbst habe an der ethischen Diskussion öffentlich teilgenommen, aber auch das gelegentlich kontroverse Gespräch mit meiner Frau geführt. Irene Mieth, erfolgreiche Autorin von Büchern über religiöse Kindererziehung, Lehrerin und mit mir im ständigen ethischen, theologischen und spirituellen Gespräch, schätzte von vorneherein die exklusiv individuelle Perspektive der Lebensführung. Sie wollte darin niemanden belehren, sich aber auch von niemandem belehren lassen. Je mehr sie selbst mit Unfällen, Einschränkungen und hartnäckigen Leiden zu tun hatte – nach ihrer Pensionierung auch als ehrenamtliche Helferin in einem Altenheim –, umso weniger wollte sie sich auf einen Prozess eines betreuten Dahin­dämmerns einlassen.

So spiegelt das Buch die Auseinandersetzung um die religiös motivierte Eigenständigkeit des individuellen Sterbens einerseits und andererseits das Zusammentreffen von entschlossener religiöser Passivität im Leiden und Sterben mit der Suche nach der Selbstverpflichtung auf das allgemein Richtige. Die damit verbundene Kontroverse wird in zwei unterschiedlichen Sprachen geführt: der sozialethischen und der existenziellen. Diesen Unterschied gilt es zu verdeutlichen und ihn zugleich durch Erzählen zu überbrücken.

Das Erzählen, mit und durch Literatur, und die Gesprächs- und Erinnerungsgemeinschaft zweier religiös verbundener Menschen versuchen, Sterben als Form des Liebens zum Ausdruck zu bringen – als eine tiefe und unabweisbare Erfahrung. Von »Sterben und Lieben« ist hier, unmittelbar in der Sprache der Sterbenden, mittelbar im Nachsinnen, die Rede. Der Tod wird nicht im Sinne der Literatur als eine Behauptung der Liebeseinheit gegen ein verweigerndes, feindliches, unter Umständen auch normatives Umfeld romantisiert. Es geht vielmehr um das Leben der Liebe in den Einschränkungen der Krankheit, um ihre Endlichkeit und ihre Unendlichkeit zugleich. Die gemeinsame Erfahrung einer christlich gelebten Ehe und ihrer religiösen Intensität bewahrheitet sich in der gegenseitigen Begleitung: Die Sterbende tröstet, der Überlebende ist untröstlich. »Sterben und Lieben« ist eine über das Leben hinausweisende Erfahrung, denn »stärker als der Tod ist Liebe«.

Die gemeinsame Suche nach einer religiösen Tiefendimension, die man »Mystik« nennt, vereinte uns. Beide beschäftigten wir uns über Jahre hinweg mit der Mystik Meister Eckharts. Meine Frau las aufmerksam meine Schriften Korrektur, und sie beriet mich einfallsreich. Sie sagte dann scherzhaft, wenn ich sterben würde, wartete Meister Eckhart bereits am Himmelstor. Nun aber sprach sie von ihrem Glück, vor mir zu sterben. Ich weiß jetzt, nach mehr als einem Jahr, was sie damit meinte. Denn in ihrem Arm werde ich nicht sterben dürfen, so, wie sie in meinem Arm gestorben ist. Dennoch: Lieben, auch in der Schwachheit, ist immer wieder ein zu spürender warmer Mantel, den Hoffnung und Glaube uns um die Schultern legen. Ein Spüren des Spürens ist eine Ahnung von dem, das in uns wirkt, ohne dass wir selbst es ­bewirken können.

Zwischen Tränen und Glücksgefühlen: Glauben, Leben und Lieben

Über die Liebe

Eine musikalische Annäherung

»Einst glaubtest du, aber du brauchtest Beweise. Ist die Liebe ein Beweis?«, fragt sich der Sänger im Hallelujah von Leonard Cohen (1934–2016). Der Song in der englischen Originalfassung provoziert. Er ist kein Diskurs. Er ist ein Anruf. Der Liedtext skandiert sehr expressiv eine Mischung aus bibli­scher Erzählung und Hallelujah-Anruf.

Cohen singt über Davids Psalmengesang und dessen Komposition des »Hallelujah«. Er denkt über die Beziehung zwischen David und Batsebah, Samson und Deliah nach und überlegt, ob er in diesem Raum nicht schon einmal gewesen ist – vermutlich handelt es sich um eine Kirche: »Und ich habe dein Siegeszeichen auf dem Marmorbogen gesehen.« Ob hier auf das Kreuz in Erinnerung an Konstantins Siegeszeichen bei der Schlacht an der Milvischen Brücke in Rom angespielt wird, bleibt unbeantwortet. Der Sänger kommt zu dem Schluss: »Liebe ist keine Siegesfeier. Das Hallelujah der Liebe ist erkaltet und gebrochen …« Er ist sich letztlich gewiss: »Ich habe mein Bestes getan, doch das war wenig. Weil ich nicht selbst fühlen konnte, versuchte ich zu berühren … Nun stehe ich vor dem Herrn der Lieder, nichts auf meiner Zunge als das Hallelujah.«

In diesem Song mischt sich auf verschlungene Weise eine Erzählung mit einem Bekenntnis: Für den Glauben gibt es keine Beweise, vieles ist falsch und doch: Es gibt das rituelle Lied. Irene und ich bemühten uns nicht darum, diesem Lied seinen endgültigen Sinn abzugewinnen. Als ­Germanisten waren wir zwar darin geübt, Texte zu erschließen, aber bei diesem Song brauchten wir keine Interpretation. Auch störten wir uns nicht an dem ohrwurmartigen Ritual der Melodie. Es kam uns auf das Gefühl an, das der Song in uns hervorrief. Das Gefühl der Berührung. Das Element Kitsch, das in der Süffigkeit des Songs liegt, wurde von diesem Gefühl an den Rand gedrängt. Das Element Magie war völlig ausgeblendet. Was blieb, war die Gestimmtheit des Songs zwischen der Intensität und der Zurückhaltung, zwischen religiöser Ferne und Nähe, Zweifel und Gebet. Das schien ein Ausdruck dessen, was uns auf der Schwelle zwischen unserem aufgeklärten Christentum und der religiösen Erfahrung – heute oft »Mystik« genannt – beheimatet sein lässt.

Die unendliche Weisheit der irdischen Liebe

»Ist die Liebe ein Beweis?«, so die Frage in Cohens Hallelujah. Und die Erkenntnis: »Liebe ist keine Siegesfeier«. Über die Liebe haben schon viele vor uns nachgedacht und geschrieben. Es war auch stets unser ganz eigenes Thema, über das wir im Gespräch waren.

Irene machte dazu gern auf den Roman »Die Identität« von Milan Kundera (*1929) aufmerksam, der von der zerbrechlichen Liebe handelt. Der Autor lässt das Gefühl sprechen, das sich von der rein sachlichen Wahrnehmung ebenso unterscheidet wie von der bloßen Abfolge logischer Gedanken. Das Symbol, das er dafür benutzt, ist der Blick in das Auge des anderen: »Das Auge: das Fenster der Seele; das Zentrum der Schönheit des Gesichts; der Punkt, in dem sich die Identität eines Individuums konzentriert; aber gleichzeitig ein Sehwerkzeug, das ständig gesäubert, befeuchtet, mit einer speziellen Flüssigkeit, mit einer Prise Salz gepflegt werden muss. Der Blick, das größte Wunder, das der Mensch besitzt, wird zum Säubern also regelmäßig von einer mechanischen Bewegung unterbrochen. Wie eine vom Scheibenwischer gereinigte Windschutzscheibe.«1

Der Blick reduziert den Körper also nicht auf seine Funktionalität, sondern richtet sich auf den Menschen in seiner Ganzheit und kulminiert im wechselseitigen Anschauen. Die Bibel spricht in diesem Zusammenhang immer von der »Erkenntnis« des anderen. Die Reaktion auf die organis­mischen Funktionen würde wohl eher Abstand und Befremdung erzeugen. Der liebende Blick hingegen sieht anders: in »… Chantals (Geliebte) Lid sah er den Flügel ihrer Seele, den Flügel, der zitterte, der panisch flatterte.«2 Der Liebende sucht das Bild des anderen als Korrespondenz seines Selbstgefühls. Seine Körperlichkeit wird durch die Beziehung verwandelt. Liebe ist daran erkennbar, dass man den anderen mit dem einsehenden und ergänzenden Blick erfasst. Der Liebende bei Kundera hat zu Recht »Angst« vor der Sekunde, »in der mein Blick erlischt«.

Liebe kann lehren, den anderen im Guten zu sehen, auch wenn man – realistisch »betrachtet« – seine komplexen Eigenschaften und nicht nur seine als liebenswürdig empfundenen Seiten kennenlernt. Der Eros des Blickes, der mein Ethos zugunsten des anderen motiviert, wird zum Ethos des Blickes, der die erotischen Möglichkeiten erhält und verlängert. Endlos verlängert er sie, wenn auch im Bann der Endlichkeit. Denn »endlich lieben« heißt hier, ohne Ende lieben, wenn auch nicht ohne jene Verwandlung, als die der Apostel Paulus den Tod begreift.3 Von der Liebe heißt es auch, dass sie »bleibt«, dass von ihr nichts verloren geht. Als ­Jesus sagte, dass man im Himmel nicht verheiratet sei, widersprach er nur der Vorstellung der Pharisäer, die im Himmel mit einer Fortsetzung der Verhältnisse auf Erden rechneten. (Vgl. Mk 12, 20–24)

Wer ethisch von der Liebe redet und damit Treue und Gerechtigkeit in sie einschließt, redet nicht unangemessen von den Gefühlen. Viele junge Menschen machen die unausweichliche Erfahrung, mit der sie anfangs, befangen in den Üblichkeiten unserer Tauschgesellschaft, nicht gerechnet haben: Sie stellen ethische Ansprüche, wenn sie geborgen im Arm des Eros liegen wollen. Ihr Wollen ist zugleich ihr Fühlen. Wir wollen nämlich beurteilen, wie sich unser Fühlen für uns anfühlt. Dieses Fühlen des Fühlens, wie ich es gern nenne, ist durch moralisch relevante Erfahrungen unter­legt. Gefühle sind nicht – im Gegensatz zu der Welt, die uns die Werbung vorgaukelt – eine Spontaneität, die aus dem Nichts kommt. Gewiss, das Gefühl der unmittelbaren Anziehung ist aus dem Blick, aus der Kontraktion des Herzens und »aus dem Bauch heraus«, wie manche sagen, präsent geworden. Aber es trägt in sich unsere Hoffnungen, unsere Erfahrungen, unser gewachsenes Selbst, d. h. unsere Identität, die wir nicht verleugnen können – und nicht verleugnen sollten. Dieses Fühlen trägt in sich auch die Selbstverpflichtungen, in welchen die spontane Güte des Eros verlängert werden kann. Wir sind eben verantwortlich für das, was wir uns vertraut gemacht haben.4

Die Schönheit und Verwunderlichkeit der Liebe

Wir können zweierlei Arten von Liebe unterscheiden. Die Verliebtheit und die habituelle Liebe. Liebe als Verliebtheit ist die strebende, die begehrende Liebe. Das soll nicht heißen, dass sie irgendwann aufhört und nur die Zeit des Anfangs für sich beanspruchen kann. Sie ist unter den gleichen Menschen wiederholbar, kann schlummern und neu erwachen. Davon zu unterscheiden, aber nicht zu trennen, ist die »eingewöhnte«, die habituelle Liebe. Sie meint die Liebe als Haltung. Die Eingewöhnung jedoch ist von der »Gewohnheit« zu unterscheiden. Sie meint nicht einfach, dass sich zwei aneinander gewöhnt haben. Das ist viel zu äußerlich und daher viel zu schwach. Denn die Liebenden stehen ja nicht einfach konfliktfrei nebeneinander, vielmehr sind sie ineinander verwoben – manchmal auch mit Konflikten.

Wenn wir das Wort »Haltung« aufgreifen, dann meint es eine zur zweiten Natur gewordene innere Einstellung. Der Weg nach innen zu dieser Einstellung führt über viele einzelne Handlungen. Wie der Mensch handelt, so verändert er sich. Haltungen entstehen als Rückwirkungen unserer Handlungen auf uns selbst.

Durch wiederholte Handlungen des Zueinanders, des wechselseitigen Gutseins, wird das Selbst ein Anderer, um ein Bild des Philosophen Paul Ricœur zu gebrauchen.5 Rituelle Handlungen sind wie Erzählungen, die sich in fester Form gebildet haben und sich durch Erinnerung fortsetzen. Gespräche, gemeinsame Riten, gemeisterte Wechselfälle sind Bausteine einer habituellen, »eingewöhnten« Liebe. Es wäre falsch, sie von der begehrenden Liebe, die ihr den Weg bereitet, abzulösen.

Verliebtheit und habituelle Liebe bringen zweierlei Liebesschmerzen hervor: Im Stadium des Verliebtseins, insbesondere in der Hochform der »Großen Liebe«, besteht der Schmerz in der Unerfülltheit, dem Entzug, dem Versagen, der Unerreichbarkeit, der Entfernung, den Störungen und Hindernissen, den Gefühlsschwankungen des anderen, der Eifer­sucht, u. v. m. Das alles kann auch in die habituelle Liebe hineinspielen, aber die habituelle Liebe liebt um der Liebe willen. Sie ist nicht bloß »objektiv«, als ginge es um ein begehrtes »Objekt«, das zugleich Person ist. Sie ist ein Projekt im Dual, eine Sehnsucht nach Vollkommenheit, nach Perfektion in der Stimmigkeit des Zueinanders und des Miteinanders. Darum ist der Liebesschmerz derer, die aus der Erfüllung des ineinander Eingewöhnens heraus das Ende und den Verlust erleben, anders, profunder.

Wir wissen, dass die Zeit den Verlust bearbeitet und womöglich die Wunden lindert, aber den Tod kann sie nicht bearbeiten. Raum und Zeit führen immer wieder in die Erinnerung, rufen sie hervor, bekräftigen sie. Das Fühlen des Fühlens ist aufgrund der eingewöhnten Liebe immer in der Bereitschaft, geweckt zu werden. Lust und Schmerz verbinden sich und suchen gemeinsam die Poesie des Klagens.

In dem Gedichtband der polnischen Lyrikerin Wisława Szym­borska (1923–2012) fand ich einen Merkzettel von Irene. »Glück­liche Liebe«6 heißt das Gedicht, bei dem er eingelegt war. Hierin nimmt Szymborska die Position derer ein, die Beziehungen flüchtiger und brüchiger erleben. Sie fragt, ob dieses besondere, ausschließliche und intensive Miteinander der gefestigten Liebe denn »normal und nützlich« sei. Sie wundert sich über die gegenseitige Aufwertung und Erhebung, die nicht auf »Verdiensten« beruht. Dass Menschen so zueinanderfinden, sei nicht »gerecht«. Übliche »Prinzipien«, zu denen der Wechsel gehört, würden verletzt. Sie wundert sich, wie weit ein solch glücklich liebendes Paar von der üblichen »Welt« entfernt ist und diese gar nicht mehr wahrnimmt. »Glückliche Liebe, muss das denn sein? Takt und Vernunft gebieten, sie zu verschweigen«, schreibt die Lyrikerin. Viele wehrten sich gegen eine solche Liebe, indem sie behaupten, es gäbe sie nicht. Das mache das Leben leichter. Außenstehende haben keinen Zugang zu den geheimnisvollen »Zeremonien« der Liebenden und zu den nur ihnen vertrauten Gesten. Doch ausgerechnet auf sie fällt »von irgendwoher Licht«.

In den Strophen ihres Gedichts greift Szymborska nicht nur auf sprachlicher Ebene sakrale Motive der Ehe auf, die einem entzauberten, säkularen Zustand nicht zugänglich zu sein scheinen. Es geht hier nicht um ein einfaches Produkt von Leistung und Verdienst, sondern hinter der »glücklichen Liebe« erscheint eine religiöse Figur: die Gnade.

Liebe als Sakrament

Ausgehend von diesem Gedicht reflektierte ich beim Durchstöbern unseres Bücherregals über die Liebe im christlichen Glauben. Den Glauben, den ich mit Irene teilte und lebte. »Die Liebe hört niemals auf«, heißt es im Hohelied der Liebe (1 Kor 13,8). Sie garantiert selbst mehr als Glaube und Hoffnung. Was bedeutet es, wenn die Liebe sich wie ein Sakrament anfühlt und auch so akzeptiert und gelebt wird?