Stiefmutter sein - Elsa Koester - E-Book

Stiefmutter sein E-Book

Elsa Koester

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Beschreibung

Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Stiefkind!

Wir sind überall: Sobald sich eine Frau in einen Menschen mit Kindern verliebt, wird sie Stiefmutter. 40 Prozent aller Ehen werden geschieden, ein beträchtlicher Teil aller Kinder lebt in Stieffamilien. Wir sind also viele. Und doch bringen wir es nicht fertig, uns als »Stiefmutter« zu definieren, ohne diesen beschämten Blick auf den Boden. Die böse Stiefmutter lebt fort, in der Gesellschaft und in der Selbstwahrnehmung der »Betroffenen«. Als Elsa Koester ganz ungeplant zur Stiefmutter wird, stellt sie fest: Hier muss ein Umdenken her. Die moderne Großfamilie besteht aus mehr als zwei Elternteilen – das ist nicht immer einfach, aber doch eine große Chance. Wieso gibt es keine Rituale, keine Traditionen, keine Glückwünsche bei der Patchwork-Familiengründung? Co-Mutterschaft bringt Freude und Entlastung für alle. Höchste Zeit, Familie neu zu denken und die Stiefmutter zu feiern!

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Elsa Koester wurde 1984 als Tochter einer französischen Pied-noir mit tunesischer Kolonialgeschichte und eines norddeutschen Friesen mitUS-amerikanischer Auswanderungsgeschichte in Berlin geboren, wo sie heute mit ihrem Partner und ihren zwei Stiefkindern lebt. Sie studierte Literatur- und Politikwissenschaft sowie Soziologie und arbeitet als politische Redakteurin bei der Wochenzeitung der Freitag. Ihr Romandebüt Couscous mit Zimt (2020, FVA) wurde begeistert aufgenommen.

Herzlichen Glückwunsch, es ist ein Stiefkind!

Wir sind überall: Sobald sich eine Frau in einen Menschen mit Kindern verliebt, wird sie Stiefmutter. 40 Prozent aller Ehen werden geschieden, ein beträchtlicher Teil aller Kinder lebt in Stieffamilien. Wir sind also viele. Und doch bringen wir es nicht fertig, uns als »Stiefmutter« zu definieren, ohne diesen beschämten Blick auf den Boden. Die böse Stiefmutter lebt fort, in der Gesellschaft und in der Selbstwahrnehmung der »Betroffenen«. Als Elsa Koester ganz ungeplant zur Stiefmutter wird, stellt sie fest: Hier muss ein Umdenken her. Die moderne Großfamilie besteht aus mehr als zwei Elternteilen – das ist nicht immer einfach, aber doch eine große Chance. Wieso gibt es keine Rituale, keine Traditionen, keine Glückwünsche bei der Patchwork-Familiengründung? Co-Mutterschaft bringt Freude und Entlastung für alle. Höchste Zeit, Familie neu zu denken und die Stiefmutter zu feiern!

www.penguin-verlag.de

Elsa Koester

Stiefmutter sein

Vom ungeplanten Glück, in einer Patchworkfamilie zu leben

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Copyright © 2023 by Penguin Verlag

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Umschlaggestaltung: FAVORITBUERO, München

Umschlagabbildung: © Mimi E / Shutterstock

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31256-5V001

www.penguin-verlag.de

zwei kleine herzen

eins

zwei

eins

isst das eis mit streuseln

(bunt)

und verspricht

es immer zu tun

(auch erwachsen)

immer mit streuseln

(bunt)

aber nur nicht

auf der stirn

auf der stirn:

zitrone

gegen rote streusel

und hochgesteckt

die haare

(rot)

eins

hat rote haare

mit streuseln

wie eine mohnblume

zwei

ist geheim

(!)

er darf nichts fremdes

wenn die erwachsenen

weghören

dann flüstert er leise

mit den göttern

(beim teutates!)

flüstert er

diese erwachsenen

sie brüllen wie löwen

aber was in ihrem herzen ist

das sagen sie nur

mit den augen

und wollen

dass man es sieht

aber nicht sagt

diese erwachsenen

(teutates!)

sie brüllen schweigend

zwei flüstert

und liest

augen

zwei kleine herzen

eine mohnblume

und ein gottesflüsterer

Ich bin Elsa. Ich bin eine Stiefmutter.

Meine Kollegin ist vor Kurzem Mutter geworden. Das heißt: Sie wurde schwanger, sie bekam einen Babybauch, und dann ging sie in den Mutterschutz, dann bereitete sie alles für die Geburt vor, dann bekam sie einen kleinen Sohn. An ihrem letzten Arbeitstag vor ihrer Mutterwerdung verabschiedeten wir sie im Büro, bei der Wochenzeitung der Freitag. Wir hatten unter Kolleginnen ein gemeinsames Geschenk organisiert – einen Verpflegungsdienst mit tollem Essen zur Stärkung nach der Geburt. Es gab auch Blumen und Karten, und alle sagten Dinge wie: »Oh, das wird jetzt eine ganz besondere Zeit, du wirst soooo müde sein, hahaha, aber es ist die wichtigste Zeit im Leben, genieß sie.«

Meine Kollegin und Freundin lächelte glücklich und ein bisschen schüchtern, wie sie meistens lächelt, sie las die Karten und ließ sich kleine Geschichten erzählen, von Babys und Familie, die Stimmung war so schön, und ich sah auf die Blumen und die Karten und all das Lächeln und dachte: Wann habe ich eigentlich so ein Lächeln bekommen? Wann werde ich es bekommen? Ich habe doch auch gerade eine Familie gekriegt! Wie ist das eigentlich passiert? Dass mein Leben sich dermaßen auf den Kopf gestellt hat, mit einer Jugendlichen und einem kleinen Jungen in meinem Zuhause, dass plötzlich alles Chaos ist, morgens und abends und an den Wochenenden, dass die Küche plötzlich erfüllt ist von Gejammer und Protestgeheul, von Gezeter und Diskussion, von Lachen und Kitzeln und Stampfen und Quatschmachen, von Nutella und schief gerolltem Sushi, und dass ich so müde bin, ständig bin ich müde, aber glücklich, und auch genervt, und ihr alle hier wisst gar nicht, warum, und nie habe ich dieses Lächeln bekommen. Es gab nie diesen Moment hier für mich, es gab keine Karten und keine Blumen und keine Geschenke, und vor allem gab es keine Geschichten und Tipps, wie man es mit so einer Jugendlichen und einem kleinen Jungen aushält, ohne durchzudrehen, und es gab keine Power-Verpflegungsdienst-Gutscheine.

Meine Kollegin lächelte weiter, und die anderen Kolleginnen strahlten und erzählten weiter, und da platzte es aus mir heraus: »Ey! Wo sind eigentlich meine Blumen? Ich hab auch eine Familie bekommen! Ich bin … Stiefmutter geworden!«

Mit einem Mal war es ganz still im Raum. Dutzende Augen blickten mich groß an, denn sie hörten es zum ersten Mal: »Stiefmutter geworden«.

Alle wissen, wer eine Mutter ist. Aber wer ist eine Stiefmutter?

Ich konnte es sehen, das Bild, das meine Kolleginnen da im Kopf hatten. Ich kannte es genau. Nehmen Sie mal Ihr Smartphone, einen beliebigen Messenger-Dienst und suchen Sie bei den GIFs nach »Stepmother«. Da kommt das Bild, das wir alle im Kopf haben bei diesem Wort: eine alternde Giftspritze mit grauen Haaren, zu einem Dutt hochgebunden, spitzes Kinn, gehässige, zu Schlitzen gezogene Augen, mit einer Hautfarbe, die irgendwo zwischen Gelb, Grün und Lila liegt. Voilà: die Stiefmutter aus Disney’s Cinderella. Walt Disney ist spitze darin, Klischees direkt aus unseren Köpfen auf die Leinwand zu projizieren.

Ich konnte ihn sehen, den Film, der vor den inneren Augen meiner Kolleginnen ablief: Stiefmutter. Nur passte dieser Film nicht zu dem, was sie vor sich sahen: eine 37-jährige Kollegin, die eigentlich ganz nett wirkte, bislang zumindest. Ohne Dutt. Ohne diese gehässigen Augen. Was also sagte ich da? Wer war ich?

Dann rappelten sie sich zusammen.

»Ja«, sagten mir die Kolleginnen, »aber du bist sicher eine ganz andere Stiefmutter! Du bist feministisch und empathisch, du bist eine Bonusmutter. Den Kindern macht es bestimmt Spaß mit dir, du bist gut für sie, da sind wir uns sicher.«

Es wurde ein langer Abend. Ich versuchte meinen Kolleginnen und Freundinnen da irgendwie zu erklären, dass ich sie leider enttäuschen musste. Dass ich durchaus eifersüchtig war. Und manchmal zickig und mies gelaunt und nicht immer gut und richtig zu den Kindern. Und ich versuchte zu erklären, wie das kam: wie überfordert ich mich fühlte in so einer fremden Familie plötzlich, die teils ganz anderen Regeln folgte, als ich sie mir wünschen würde. Wie ausgeschlossen ich mich oft fühlte im Zusammenleben mit Kindern, die schon eine Mutter hatten und die sich keineswegs ausgesucht hatten, mich als Stiefmutter dazuzubekommen. In einer Familie, in der ich nichts zu sagen hatte, und dadurch auch in einem Zuhause, in dem ich fast nichts zu sagen hatte.

Aber ich erzählte auch, wie schön es war, mit einer Jugendlichen Sushi zu rollen und über Feminismus zu diskutieren, mit einem Jungen Drachen steigen zu lassen und mit allen beiden Game Boy zu spielen. Sich zusammen die Minions anzusehen und endlich wieder Mensch ärgere dich nicht zu spielen und sich richtig ärgern zu dürfen. Ich erzählte, wie ich mich schämte, eine Stiefmutter zu sein; aber dass ich mir nicht mehr vorstellen konnte, keine mehr zu sein. Ich erzählte die Stiefmutter-Märchen aus Perspektive der Stiefmutter, und meine Kolleginnen hörten sie so zum ersten Mal.

Damals war ich gerade mal eineinhalb Jahre mit meinem Partner Bela * zusammen. Als wir uns verliebten, hatte Bela sich kurz zuvor von seiner Partnerin getrennt, mit der er einen gemeinsamen Sohn hat. Der Kleine wurde damals gerade sechs Jahre alt; Belas Tochter Arianna war schon 14 und von einer anderen Mutter, sodass ich also nicht nur mit einem Mann zusammenkam, sondern mit einer Familie, in der es schon einen Jungen und eine Jugendliche, zwei Mütter und eine Stiefmutter gab. Für Doppel-Patchwork-Unerfahrene: Es gab in der Familie bereits eine Stiefmutter vor mir, weil ja Belas zweite Partnerin schon die Stiefmutter von Arianna war – Belas Tochter aus erster Partnerschaft.

Und jetzt achten Sie mal auf Ihr Gesicht. Habe ich da ein Stirnrunzeln gesehen? Und eine hochgezogene Augenbraue! Doch, ich habe es genau gesehen, wie ich es schon in so vielen Gesichtern gesehen habe. Gerunzelte Stirn und hochgezogene Augenbraue, das bekomme ich, wenn ich von meiner neuen Familie erzähle, Bela, Arianna, dem Kleinen und den zwei Müttern.

Warum bekomme ich keine aufgerissenen Augen und ein: »Oh, toll! So viele neue Menschen in deinem Leben, ich freue mich so für dich!!!«?

Das diskutierten wir lange, an jenem Abend im Konferenzraum: Warum freut sich diese Gesellschaft nicht, wenn eine Familie auf diese Weise zusammenfindet, und nicht durch einen Uterus hindurch? Wenn eine Erwachsene dazukommt, um die Sorgearbeit für die Kinder mit zu übernehmen? Wenn so viele Kinder und Frauen in das Leben einer Frau kommen? Wie kann es sein, dass hier wieder eine Mutter beschämt wird und das nicht gesehen wird, obwohl doch längst so viel über Mutterbilder diskutiert wird?

Wir leben im 21. Jahrhundert, mehrere Wellen des Feminismus und der Emanzipation von verkrusteten Kleinfamilienvorstellungen sind bereits durch unsere Gesellschaft geschwappt. Frauen kämpfen seit den späten 60er-Jahren gegen die Vorstellung, es sei normal, Mutter zu werden: Mein Bauch gehört mir, das bedeutet, ich kann entscheiden, keine Mutter zu werden, ohne mich dafür schämen zu müssen. Frauen kämpfen dafür, nicht Mutter werden zu müssen – und sich dafür nicht zu schämen: Sarah Diehl veröffentlichte 2014 das Buch Die Uhr, die nicht tickt und machte deutlich, dass ein Leben ohne Kinder ein ebenso akzeptables Leben ist wie eines mit Kindern. Lesbische Mütter kämpfen dafür, dass ihre Mutterschaft ganznormal anerkannt wird: Die Bundesregierung aus SPD, Grünen und FDP arbeitet seit 2021 an der Gleichstellung queerer Mütter, also daran, dass das Kind, das eine verheiratete Frau zur Welt bringt, automatisch auch das Kind ihrer Ehefrau ist. 1 Bislang war sie für das Baby juristisch gesehen eine Fremde, sie musste erst einen Adoptionsprozess durchlaufen, um das Kind ihrer Partnerin rechtlich als ihr Kind anerkennen zu lassen. Eine lesbische Mutter, die nicht die biologische Mutter ist, war so etwas wie eine: Stiefmutter.

Nicht zuletzt hat die israelische Soziologin Orna Donath 2015 mit ihrer Studie #regretting motherhood das Tabu gebrochen, dass eine Mutter »normalerweise« glücklich in ihrer Mutterrolle aufgeht, und klargemacht: Mütter dürfen ihre Entscheidung, ein Kind zu bekommen, auch hinterfragen, ja sogar bereuen, sie können trotzdem liebende Mütter sein.

Wie die Überforderung von Müttern mit der Gesellschaft zusammenhängt, hat jüngst die feministische Autorin Mareice Kaiser in ihrem Buch Das Unwohlsein der modernen Mutter aufgeschrieben: Eine Gesellschaft, die Mütter dermaßen mit der Doppelbelastung einer neoliberalen Arbeitswelt und individualisierten Sorgearbeit alleine lässt, darf sich nicht wundern, wenn diese überforderten Mütter ihre Rolle als nicht ganz so angenehm empfinden.

Wie kann es also sein, fragten wir uns da im Büro bei Sekt und Pizza, dass all diese Debatten über das Muttersein in den letzten Jahrzehnten verstärkt geführt werden, aber die Stiefmutter noch immer still und unsichtbar bleibt? Ich sah, wie meine Kolleginnen ihre eigenen Familien zum ersten Mal durch die Augen ihrer Stiefmütter sahen. Und in ihren Augen sah ich etwas, das ich noch oft sehen sollte, wenn ich das Thema auf die Rolle der Stiefmutter brachte: Empörung und Unverständnis darüber, dass die Erzählung der bösen Stiefmutter sich seit Hunderten von Jahren ungebrochen hält und im Feminismus des 21. Jahrhunderts kaum jemand auf die Idee gekommen ist, sie aufzubrechen.

Wir saßen noch bis spät in den Abend da, viel Pizza, viel Sekt, und am Ende stand die Idee für dieses Buch im Raum: »Das musst du alles unbedingt aufschreiben! Es ist Zeit für die Befreiung der Stiefmutter.«

Seit meinem Outing an jenem Abend im Büro, neben meiner Freundin und Kollegin, die Mutter wurde, habe ich zig Stiefmutter-Geschichten gehört. Was ich damals erlebte, dieses Sprudeln, wenn Menschen anfangen, über ihre Stiefbeziehungen zu sprechen, das habe ich seither ständig erlebt. Bekannte, Kolleginnen und Kollegen outeten sich als Stiefeltern, Freundinnen erzählten von Freundinnen und Schwestern, die unter ihrer Stiefmutterrolle leiden, und so waren sie plötzlich überall, die Stiefmütter: Die eigene Chefin wird Stiefmutter, die Schwester der Zahnärztin wird es, die Freundin des Ex-Bösewichts Gru im Film über die kleinen gelben Minions wird Stiefmutter, die dänische Netflix-Ministerpräsidentin Birgitte Nyborg versteckt sich vor der neuen Stiefmutter ihrer Kinder und wird eine Staffel später selbst zu einer Stiefmutter, die schwedische Serie Patchworkfamilie dreht sich sogar ganz um das Stieffamilienleben, die US-amerikanische Schriftstellerin Mary McCarthy wird Stiefmutter und verhandelt mit Hannah Arendt briefelang ihre Rolle, und die queere US-Autorin Maggie Nelson durchlebt mit ihre*r*m Partner*in dieselben Stiefmutter-Qualen wie wir alle seit 300 Jahren.

»Ich bin eine Frau! Ich bin eine Mutter! Ich bin eine Christin!«, wird Giorgia Meloni, die extrem wertkonservative italienische Ministerpräsidentin, nicht müde zu betonen. Das klingt so wunderbar einfach. Alle wissen, was sie meint, oder? Wenn Giorgia Meloni davon spricht, Mutter sein zu wollen, dann weiß jeder Mensch, wer sie sein möchte. Wer aber möchte man sein, wenn man Stiefmutter sein möchte? Wer ist eine Stiefmutter im 21. Jahrhundert?

»Wieso sprichst du überhaupt noch von Stiefmutter?« Diese Frage habe ich oft gestellt bekommen. »Stiefmutter ist so unsexy, wieso schreibst du nicht über Bonusmütter?«, fragt mich auch die Autorin Mareice Kaiser später in diesem Buch. Die Antwort ist leicht: um sie sichtbar zu machen! Die Rolle der Stiefmutter ist dermaßen unsichtbar, dass jene wenigen Wissenschaftler*innen, die sich mit ihr beschäftigen, fassungslos vor dem winzigen Häufchen Forschung stehen, die es zu ihr gibt: In insgesamt 133 Studien zu Stieffamilien zwischen 1987 und 1999 fanden die Psycholog*innen Lisa Doodson und David Morley gerade einmal fünf Prozent, die sich explizit mit der Rolle der Stiefmutter auseinandersetzten. 2

Die Unsichtbarkeit der Stiefmütter und ihre Stille hängen genau mit der Scham zusammen, sich nicht als solche benennen zu wollen. Wer sich aber nicht in ihrer Rolle benennt, kann nicht aus ihrer Rolle heraus sprechen. Der Begriff »Bonusmama« kommt von dem dänischen Pädagogen Jesper Juul, der damit versucht, die Stiefmutter gesellschaftsfähig zu machen: Sie ist nicht böse, sie kommt einfach als Bonus obendrauf! Doch leider trifft dieser Begriff nicht. Denn zur Rolle einer Stiefmutter gehört das alles dazu: die Eifersucht, das gelb-lila Gesicht mit dem Dutt, das Nicht-ganz-Passen, die ungläubigen Augen, die Rivalität zur Mutter, die Unsicherheit, wer oder was man da eigentlich geworden ist in dieser Familie, die man kaum die »eigene« Familie nennen darf und in der man doch lebt. Eine Stiefmutter ist kein Bonbon. Ich finde mich da ganz in den Überlegungen der Psychologin und Stiefmutter-Beraterin Katharina Grünewald aus Köln wieder, die mir erklärte:

Ich nutze den Begriff Stiefmutter ja noch, anders als viele andere. Das hat einen Grund. Natürlich ist der Stiefmutter-Begriff durch die Märchen sehr verunglimpft, in denen man ja nicht einmal mehr das Adjektiv »böse« davorstellen muss. Stiefmütter in Märchen sind per se böse. Und das ist auch in unseren Sprachgebrauch übergegangen: Jemanden stiefmütterlich zu behandeln, heißt, jemanden zu vernachlässigen. Es gab viele Versuche, den Begriff zu ersetzen: Zweitmama, Fortsetzungsfamilie, Bonusmama. Das Stief kommt weg, die Mutter kommt weg, es bleibt nur die Mama, das Kuschelige. Doch all diese Begriffe setzen sich nicht durch. Warum nicht? Meine Erfahrung ist, dass sich die Stiefmutter hält, gerade weil an diesem biestigen Begriff gefühlsmäßig etwas dran ist!

Stiefmütter, die zu mir kommen, fühlen sich häufig ungerecht behandelt. Gemein behandelt. Sie fühlen sich nicht als böse, sondern eher als Aschenputtel. Dieses Gefühl der Ungerechtigkeit, also gemein behandelt zu werden, obwohl man doch nichts Falsches getan hat, kehrt sich dann manchmal um: Eine Stiefmutter erzählte, wie sie vor dem Regal mit dem Joghurt stand, wissend, dass der Lieblingsjoghurt des Stiefkindes der Erdbeerjoghurt ist – und sie kaufte extra den Kirschjoghurt!

Eine Bonusmama würde den Erdbeerjoghurt kaufen. Deshalb spreche auch ich von Stiefmüttern, denn Stiefmütter kaufen Kirschjoghurt. Stiefmütter sind manchmal biestig, und zwar aus Gründen. Weil sie unter ihrer Rolle leiden. Weil sie mütterlich sein müssen, ohne eine Mutter sein zu dürfen. Weil sie in einer Familie leben, die sie nicht gegründet haben und deren Regeln sie daher, vor allem in der Anfangsphase, nicht bestimmen dürfen.

Natürlich passt dieses Biestige nicht ins 21. Jahrhundert. Man ist keine Stiefmutter, man ist Co-Parent. 2022 ist ein irre dickes, über 600 Seiten umfassendes Handbuch über Feministische Perspektiven auf Elternschaft erschienen. Darin geht es um kritische Vaterschaft, Mutterschaft als Person of Color, um Scheidung und Unterhalt, schwule und lesbische Elternschaft, trans Schwangerschaft, Fehlgeburten und Leihmutterschaft, es geht um Alleinerziehende und Prekarität, Polyamorie und Depression, aber es gibt nur ein einziges Kapitel, in dem es um soziale Elternschaft geht, dazu eines, in dem es um kollektive Elternschaft geht, und dort wird auch mal die Existenz von Stiefeltern erwähnt. Patchworkfamilien sind die am schnellsten wachsende Familienform – aber interessanter sind offenbar die Co-Parenting-Modelle, in denen sich Erwachsene zur Kindererziehung zusammentun und deren Häufigkeit man in Deutschland zurzeit vermutlich an wenigen Händen abzählen kann.

Ich finde Co-Parenting toll, das finde ich wirklich, weil ich jedes Modell toll finde, das Eltern aus ihrer Überforderung und Kinder aus der Enge der Klein-Kleinfamilie befreit. Ich würde mich nur freuen, wenn diese Gesellschaft in ihrem Bestreben, Mutterschaft neu zu denken, auch einmal an die Hunderttausenden Stiefeltern denken würde, die jeden Tag Mutterschaft neu zu denken gezwungen sind – und zwar völlig isoliert, weil es kein kollektives Sprechen darüber gibt. Eine Stiefmutter gilt als zu unsexy, um sich mit ihr auseinanderzusetzen: Sie ist nicht queer, sie ist nicht Co-Parent, sie ist miefige Hunderte Jahre alt und versucht, sich in eine Rolle hineinzuquetschen, die der Feminismus doch so gerne aufbrechen würde: die der Mutter. Stiefmutter sein zu wollen, ist total uncool.

Dabei gibt es sie! Es gibt sogar sehr viele von ihnen: coole, feministische Stiefmütter. Einige von ihnen haben mit ihren sehr persönlichen Geschichten zu diesem Buch hier beigetragen, meist anonym, da an dem Leben einer Stiefmutter so viele andere Leben hängen.

Ganz egal, wie wunderbar du bist, wie viel Liebe du zu geben hast, wie reif oder weise oder erfolgreich oder klug oder verantwortungsvoll du bist, als Stiefelternteil bist du strukturell prädestiniert dafür, Hass und Unmut abzubekommen, und es gibt so gut wie nichts, was du dagegen tun kannst, außer durchzuhalten und dir vorzunehmen, gesunden Menschenverstand und gute Laune zu säen, welcher Shitstorm dir auch entgegenkommen mag. Und erwarte erst recht kein Ansehen von der Gesellschaft; Eltern haben eine unantastbare Hochheiligkeit, Stiefeltern dagegen sind Eindringlinge, Selbstbediener, Wilderer, Schmarotzer und Kindesmissbraucher. 3

Das schreibt Maggie Nelson in ihrem autobiografischen Roman Die Argonauten über ihr Zusammenleben mit ihre*r*m Partner*in Harry und ihrem Stiefkind.

Das muss doch nicht so sein, oder?! Wie werden wir diesen verdammten, Jahrhunderte alten Shitstorm wieder los? Maggie Nelson ist verzweifelt:

Immer wenn ich das Wort Stiefkind in einer Todesanzeige lese, etwa in »X hinterlässt drei Kinder und zwei Stiefkinder«, wenn ein erwachsener Bekannter etwas sagt wie: »Tut mir leid, ich schaffe es heute nicht, ich besuche dieses Wochenende meinen Stiefvater«, oder wenn die Olympischen Spiele übertragen werden und die Kamera durchs Publikum schwenkt, und der Kommentator sagt: »Dort ist die Stiefmutter von X, die ihn anfeuert« – dann schlägt mein Herz ein bisschen höher, einfach nur, weil die Verbindung öffentlich gemacht wird, weil sie positiv bewertet wird. 4

Nein, es ist nicht einfach, eine Stiefmutter zu sein. Es ist schon deshalb nicht einfach, weil die Giorgias dieser Welt – konservative, rechte und ultrarechte Verfechter*innen eines traditionellen Familienmodells, das aus dem 18. Jahrhundert stammt – behaupten, es dürfe nur eine Mutter pro Familie geben. Und weil sie behaupten, das sei einfach: einfach nur Mutter, einfach nur eine Mutter. Beides stimmt nicht. Dass »Mutter« zu sein irgendwie einfach sei, stimmt nicht. Und dass es nur eine Mutter pro Familie gibt, stimmt erst recht nicht. Mehr noch: Das stimmte noch nie.

Die Stiefmutter kann sich nur befreien, wenn die Mutter sich bewegt. Mit Giorgia Melonis in Stein gemeißelter Hetero-Kleinfamilien-Mutter ist eine Befreiung der Stiefmutter nicht möglich. Alles, was die rechte und konservative Erzählung über Väterlichkeit und Mütterlichkeit zu sagen hat, widerspricht der Befreiung von Stiefmütterlichkeit und von solidarischer Elternschaft. Freie Eltern werden wir nur dann, wenn alle zum Tanzen und Spielen bereit sind: zum Miteinander. Nur miteinander können wir wirklich frei sein.

PS: Einige Wochen nach unserem Mutter-Stiefmutter-Pizza-Abend im Büro kam eine Kollegin auf mich zu: Ihre Stiefmutter und ihre Mutter heirateten! Sie würde sich so gut mit ihr und ihrer Familie verstehen, ihre Bonusmama Birgit sei einfach toll. Ich wollte diese Frau natürlich unbedingt kennenlernen, und das taten wir dann, wir trafen uns per Video: Birgit und ihre Ehefrau Ute vor dem Bildschirm am Niederrhein, ich in Berlin. Ich gratulierte dem frisch vermählten Paar, und als ich erzählte, dass ich vor etwa zwei Jahren Stiefmutter geworden war, passierte es endlich, zum ersten Mal. Keine Stille, kein betretener Blick auf den Boden, im Gegenteil! Utes Augen strahlten mich an, sie lächelte breit und sagte: »Herzlichen Glückwunsch!«

Hast du das gehört, Maggie Nelson?

1Beschämt.

Über die (vermeintliche) Schmach, Stiefmutter zu werden

Ich bekam meine Stiefkinder am Telefon. Es war, als ich eine Freundin anpöbelte, oder vielmehr war es eine Verteidigungsrede. Sie wollte mich treffen, und ich hatte keine Zeit, schon wieder, vielleicht nächste Woche, vertröstete ich sie, und sie sagte: »Nächste Woche, du sagst immer nächste Woche, wann soll sie denn sein, deine nächste Woche, in der du dann Zeit hast?« Und da riss etwas in mir. Ich wurde wütend, ich verstand die Welt nicht mehr, oder eigentlich war es die Welt, die mich nicht verstand. »Wann zur Hölle«, sagte ich, »soll ich denn Zeit haben, wenn morgens um sechs ein Kind bei uns im Zimmer steht, morgens um sechs, warum der Verrückte so früh aufsteht, weiß ich doch auch nicht, aber das tut er, und ganz offensichtlich tue ich das jetzt also auch, und danach geht das Theater los, wo ist dies, wo ist jenes. ›Wo sind meine Sportsachen?‹, fragt die Große, ›Papa, wo ist die Leggins? Die Leeeegins, ich muss loooos, zur Schuuule!‹ Und wenn sie dann endlich los sind, ist die Küche im Chaos, und ich muss selbst zur Arbeit, acht Stunden Arbeit, und dann einkaufen und dann kochen und … Wieso muss ich mich hier überhaupt rechtfertigen?«, fiel mir dann auf, da am Telefon: »Ja, wieso muss ich mich überhaupt rechtfertigen, wirfst du jungen Müttern, die gerade ein Kind bekommen haben, auch vor, keine Zeit zu haben? Nein? Was muss ich tun, damit ich Blumen bekomme oder Luftballons oder Glückwunschkarten oder irgendeiner mal checkt, dass mein Leben gerade auf dem Kopf steht? Und wenn Kinder nicht meine eigenen sind, wenn sie nicht durch meinen Bauch kommen, sondern über meinen neuen Partner in mein Leben platzen, weil sie mit ihm bei mir einziehen, zählt das dann nicht, oder was? Dann darf ich nicht müde sein?«

Und dann fiel es mir ein, was mich überhaupt am meisten ärgerte: »Warum hast du, als meine Freundin, eigentlich nie danach gefragt, ob du sie mal kennenlernen kannst? Meine …?«

Ja, meine was? Da war er, der Moment, als ich zum ersten Mal dachte: Stiefkinder. Meine Stiefkinder. Ich sagte es nicht, wer sagt schon: Stiefkinder? Richtig: Das tun nur Stiefmütter. Und ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zur Stiefmutter wurde. Ich kann mich nicht erinnern an die Geburt meiner Stiefkinder, ihre biologische Geburt sowieso nicht, aber auch nicht an ihre Geburt in mein Leben hinein und an meine Geburt in ihr Leben hinein – wann war das? Als meine neue hübsche Bekanntschaft beim Kennenlernen immer mal fallen ließ: mein Sohn, meine Tochter? Als mir beim Verlieben immer klarer wurde: Aber der hat ja zwei Kinder? Als wir darüber sprachen, ob ich sie kennenlerne, diese zwei Kinder? Als ich sie zum ersten Mal sah? Als sie in meine Wohnung einzogen? Ich weiß nicht, wann ich Stiefmutter wurde. Ich weiß nur noch, dass es da plötzlich war, bei diesem Telefonat. Das Wort. Stiefkinder. Und wenn man Stiefkinder hat, ist man doch auch Stiefmutter – oder?

Nein, in dieser Gesellschaft wird man keine Stiefmutter. Das gilt doppelt: Zum einen wird man einfach keine Stiefmutter, das schickt sich nicht, das macht man nicht. Man wird Mutter, oder man lässt es. Und zum anderen wird keine normale Frau in ihrem Leben Stiefmutter – es gibt nur Stiefmütter. Als wäre Stiefmuttersein ein Wesenszug. Als wäre man so zur Welt gekommen: als Stiefmutter. Wie die Hexe aus dem Märchen. Man ist es einfach.

Dementsprechend gibt es keine Bräuche für das Stiefmutterwerden, keine Tradition. Als ich einer Freundin erzählte, dass ich verliebt sei und dass dieser Mann zwei Kinder habe – ich glaube, ich sagte »aber«: dass dieser Mann »aber« zwei Kinder habe –, da sagte sie: »Dann wirst du Stiefmutter, hahaha.« Ich habe dieses Lachen noch nie im Zusammenhang mit Mutterschaft gehört, also mit »echter« Mutterschaft, der biologischen, the real one: Dann wirst du also Mutter, hahaha. Nein, Mutter wird man vor Freundinnen mit großen, nassen Augen, mit warmen Herzen und Umarmungen und mit dieser Betonung: Wow, dann wirst du also … Mutter! Mit Betonung auf dem u. Eine Stiefmutter bekommt dieses u nicht. Sie bekommt: Stieeeef-mutter. Mit viel iiiie und kurzem u. Je kürzer das u, desto weniger Mutter. Und was ist das für ein Lachen, das »Stiefmutter« begleitet? Es ist das verschämte Lachen über eine Daseinsform, die eigentlich nicht sein darf. Die man nicht sein soll. Eine gute, eine emanzipierte, eine warmherzige, eine gesunde, eine richtige Frau ist keine Stiefmutter. Das gehört sich nicht.

Die Schande der Stiefmutterschaft

Die Historikerin Ute Frevert hat sich mit der kulturgeschichtlichen Entwicklung von Gefühlen beschäftigt, darunter auch der Scham. Scham, so Frevert, ist ein Gefühl, das auf eine Schande folgt.

Schande ist das Gegenteil von Ehre; wer Schande auf sich lädt oder sich und anderen Schande macht, verliert Ehre und Ansehen. Ähnlich wie Ehre ist auch Schande kein objektiver, unveränderlicher Tatbestand. Vielmehr beruht sie auf moralischen Übereinkünften, die sich zeitlich, räumlich und sozial unterscheiden. 5

Wer sich den moralischen Vorstellungen einer Zeit gemäß schändlich verhalten hat, erntet dafür Missachtung; Scham ist das Gefühl, diese Missachtung verdient zu haben. Im Brockhaus heißt es dazu, Scham reflektiere das Versagen vor einer Idealnorm und werde in Form eines peinlichen Gewahrwerdens der Andersartigkeit bzw. Minderwertigkeit der eigenen Person erlebt.

Minderwertigkeit: gegenüber dem, was eine Stiefmutter eigentlich sein sollte. Nämlich, Giorgia Meloni donnert es heraus: MUTTER!

Als ich diese Zeilen fand, las ich sie jubelnd einer Freundin vor – jubelnd deswegen, weil ich mich mit ihnen so gut identifizieren konnte. Diese Freundin hatte mir zuvor erklärt, dass ich für sie eigentlich keine Stiefmutter sei. Sie erlebe mich als eine sehr selbstständige Frau, sie erlebe meine Beziehung zu meinem Partner als eine so schöne und warme Geschichte, auch meine Beziehung zu den Kindern und der Exfrau meines Partners, das alles sei so lebendig, es tue ihr einfach weh, meine Rolle darin mit diesem hässlichen Begriff Stiefmutter zu belegen. Sie konnte sich zu dem Zeitpunkt nicht vorstellen, dass Stiefmutter ein Begriff war, den ich für mich annehmen wollte – und eine Identität, für die ich Anerkennung haben wollte. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt wohl auch, das muss ich zugeben, nicht besonders positiv über diese Rolle berichtet, sondern bei ihr vor allem meinen Ärger über meine neue Daseinsform abgelegt. Ich las ihr also diese Zeilen vor, und sie fragte mich: »Aber wann hast du denn das Gefühl, missachtet zu werden?« Und ich antwortete ihr: »Wenn du sagst, du findest den Begriff Stiefmutter hässlich.« Meine Freundin blickte zu Boden, und ich konnte förmlich hören, was sich in ihrem Kopf alles in Bewegung setzte, um meine Perspektive zu verstehen. Um zu verstehen, warum ich so unbedingt eine Figur sein will, die in ihren Augen bislang eigentlich nur als Hexe in Märchen auftrat und über die ich so viel jammerte. Um zu sehen, wen ich eigentlich meinte, wenn ich Stiefmutter sagte.

Scham und Missachtung sind eben keine individuellen Gefühle, sie sind gesellschaftlich. Und so arbeitet Ute Frevert in ihrem Buch Mächtige Gefühle auch heraus, wie stark »Schande« und »Scham« mit den zeitgenössischen Normvorstellungen und Machtverhältnissen verbunden sind. Die Norm der Schamhaftigkeit von Mädchen und Frauen hat sich insbesondere in der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts herausgebildet:

Die bürgerliche Gesellschaft legte größten Wert darauf, dass ihre weiblichen Mitglieder stets und überall die Grenzen beachteten, die ihnen die angeblich natürliche Schamhaftigkeit ihres Geschlechts zog. »Das weibliche Gemüth«, hieß es 1874 im Handwörterbuch für den Deutschen Volksschullehrer, sei »von der Natur« auf Schamhaftigkeit angelegt, »daher stellen wir an das Weib in dieser Beziehung ganz besonders hohe Anforderungen«. (…) Noch 1956 rühmte ein katholisches Lexikon Scham- und Ehrgefühle als »wesentliche Antriebskräfte der menschlichen Seele«, wobei das Schamgefühl »der weiblichen Zurückhaltung« näherliege, das Ehrgefühl »der männlichen Tatkraft«.

Scham hat ganz offensichtlich mit Macht zu tun. Die Mächtigen beschämen die Ohnmächtigen. Mächtige Männer beschämten weniger mächtige Frauen jahrhundertelang für ihre Sexualität, für ihren Körper, für ihre Blutungen. Gleichzeitig hat Scham mit Normvorstellungen zu tun. »Normale« Heterosexuelle beschämen »unnormale« Lesben für ihr Liebesleben, »normale« Cis-Männer und -Frauen beschämen »unnormale« trans-Männer und – Frauen und so weiter. Scham sorgt dafür, eine Norm aufrechtzuerhalten in der Gesellschaft: So, wie es laufen soll, das ist normal. Und so, wie es nicht laufen soll, das ist schambehaftet.

Daher schämt sich eine Stiefmutter! Und wie habe ich mich geschämt. Hahaha, habe ich mitgelacht, genau, Stiefmutter, nee, ich doch nicht.

Was genau ist daran denn so beschämend? Dass ich mich um Kinder (mit) kümmere, die nicht meine biologischen Kinder sind? Dass ich mich einer Familiendynamik unterordne, die vor mir bestand und die ich erst mal kaum ändern kann? Dass ich mich in eine Familie einfüge, die von einer anderen Frau, der »echten« Mutter, gegründet wurde? Oder schäme ich mich, weil es sich anmaßend anfühlt? Mich Stief– »Mutter« zu nennen, obwohl ich kein Kind durch meine Vagina bugsiert habe? Obwohl ich keine Windeln wechsle, obwohl nicht ich das Frühstück zubereite, sondern der Vater der Kinder das übernimmt? Stiefmutter, hahaha.

Nachdem mir klar wurde, dass ich es in meinem Leben aus unerfindlichen Gründen geschafft hatte, mich in eine Stiefmutter-Situation hineinzumanövrieren, schaute ich mich um. Ja, es gibt inzwischen Lektüre für Stiefmütter. Die Psychologin Katharina Grünewald hat sich die Stiefmutter-Beratung zum Schwerpunkt gemacht und Bücher dazu veröffentlicht: Glückliche Stiefmutter heißt eines. Ich habe es gelesen, in der U-Bahn, im Café, im Zug, immer dann, wenn ich mal fünf Minuten Zeit hatte in diesem neuen Chaos-Leben. Da steht vieles drin, das mir geholfen hat. Aber: Ich habe mich geschämt! »Glückliche Stiefmutter«, steht drauf, und ganz ehrlich: Welche Frau Mitte 30 möchte mit diesem Buch in der Hand gesehen werden? Ich habe das Buch manchmal in Zeitschriften versteckt. Ich habe es mit dem Titel nach unten auf den Tisch gelegt und nicht in die Hand genommen. Dabei hätte ich doch stolz sein können: auf den Versuch, eine gute Stiefmutter zu werden, was auch immer das heißen mag. Auf den Versuch, mir Mühe zu geben, für meine Stiefkinder, für mich und für meinen Partner: für unsere Familie eben.

Aber Stiefmutter sein ist eine Schande, für die Frau und ihre Familie. Häufig wurde ich schon gefragt, wie es denn für meine Eltern sei, dass ich jetzt »einen Partner mit Kindern« hätte. Denn die Idealvorstellung ist eine andere: Der Norm nach sollte ich einen ledigen Partner ohne Kinder finden und mit ihm Kinder bekommen. Und: Der Norm nach sollte ich es mir nicht anmaßen, die Kinder einer anderen Familie »zu rauben«, was »Stiefmutter« dem Wortsinn nach noch immer bedeutet. ** Normal ist, wenn Kinder bei ihren (zwei) biologischen Eltern (zweier Geschlechter) aufwachsen. Nicht normal ist es, wenn ich mich plötzlich in einer Art Mutterrolle für die biologischen Kinder einer anderen Frau fühle.

Das Spannende an diesen Normen ist, dass sie statistisch gesehen oft gar nicht die Norm darstellen. Welche Kleidergröße gilt für Frauen als normschön? Normal? Medium? Eine M? Höchstens! Die Schönheitsnorm liegt wohl eher bei S oder XS, also 34 oder 36. Die statistische Norm liegt aber laut Statistischem Bundesamt in Deutschland bei der Kleidergröße 42/44.

Und so ist es auch mit Müttern, Vätern und der Normfamilie. Statistisch gesehen ist die häufigste Haushaltsform der Single-Haushalt mit rund 42 Prozent, gefolgt vom Zweipersonenhaushalt mit über 30 Prozent; Mehrpersonenhaushalte stellen die Minderheit dar. 2020 lebten 11,8 Millionen verheiratete Menschen mit Kindern in einem gemeinsamen Haushalt – weitaus mehr Menschen, nämlich 19,2 Millionen Menschen, lebten alleinstehend, und 23,8 Millionen verheiratete Menschen lebten ohne Kind im Haushalt. Die Zahlen zu Stieffamilien sind dabei weitaus schwerer zu greifen. Es gibt zwar Statistiken darüber, in wie vielen Familien mindestens ein Stiefkind lebt 6 , jedoch wird hier nach Hauptwohnsitzen der Kinder gewertet und nicht nach Familien, in denen Kinder nur zeitweise leben. Denn am häufigsten praktiziert wird in Deutschland nach wie vor das Residenzmodell: Die Kinder leben nach einer Trennung der Eltern meist hauptsächlich bei der Mutter und pendeln etwa jedes zweite (teils verlängerte) Wochenende in den Haushalt des Vaters – der ja auch der Haushalt der Stiefmutter ist. Offiziell bilden daher sogenannte »Stiefvaterfamilien« die häufigste Stieffamilienform: Das Kind lebt die meiste Zeit bei Mutter und Stiefvater, nicht bei Vater und Stiefmutter. Nach diesen Daten wäre ich also nur halb Stiefmutter: Zwar lebte Belas Tochter Arianna zuerst 50 Prozent der Zeit bei uns, später auch mehrere Monate am Stück, doch sein zweites Kind kommt nur jede zweite Woche für vier Tage zu uns. Gehöre ich dann also zu Ariannas Stieffamilie, aber nicht zur Stieffamilie von Belas Sohn? Das ergibt für unseren Lebensalltag überhaupt keinen Sinn. Dass es ein Leben stark prägt, wenn der Partner auch Vater ist – egal, wo die Kinder gerade leben –, das bildet sich in diesen Statistiken nicht ab. Wenn die Kinder gerade bei der Mutter sind, aber vom Arzt abgeholt werden müssen, wenn sie Hilfe bei den Hausaufgaben brauchen, mit Vater und Stiefmutter zum Schwimmen wollen, zählt das dann nicht als Stieffamilien-Leben, nur weil sie abends im Bett der mütterlichen Wohnung schlafen?

Die Studienlage wurde daher schon vielfach kritisiert. Die jüngsten Daten jedenfalls gehen davon aus, dass zwischen sieben und 13,6 Prozent der Familienhaushalte in Deutschland Stieffamilienhaushalte sind. 7 Viele dieser Haushalte könnten jedoch doppelt gezählt werden, wenn davon ausgegangen wird, dass das Kind auch im Haushalt des jeweiligen zweiten Elternteils eine Rolle spielen wird. Doch auch hier geht die Perspektive der Stiefmutter in den Daten verloren (zur Erinnerung: Nur fünf Prozent der Studien zu Stieffamilien befassen sich überhaupt mit der Rolle der Stiefmutter 8 ).

Der Familienhaushalt von Mama, Papa, Kind ist damit, statistisch gesehen, nicht die Norm, sondern die Abweichung von der Norm. Hartnäckig halten die meisten von uns jedoch am Bild der Normfamilie als einzig wirklich Glück bringende weil: einzig wirklich normale Familienform fest.

Stünden sie wirklich völlig frei vor der Wahl, würden die meisten jungen Frauen wohl noch immer die Mama-Papa-Kind-Variante wählen, einige die Mama-Mama-Kind-Variante – aber jedenfalls nicht meine Stiefmutter-Mama-Mama-Papa-Kinder-Variante. Welches Mädchen träumt davon, eines Tages Stiefmutter zu werden? Welcher Film zeigt, was eine Frau tun muss, um einen Papa von zwei Kindern mit zwei unterschiedlichen Müttern zu angeln? Nein, so läuft das nicht. Es läuft so: Man lernt jemanden kennen, man findet ihn sexy, man flirtet, man schläft miteinander, man hat eine Affäre, man verliebt sich, und irgendwann wird es ernst – und irgendwann in diesem Kennenlernprozess erfährt man von den Kindern, und irgendwann kommen diese Kinder mehr oder weniger »mit« dem neuen Liebesmenschen in das eigene Leben. Die Frage an eine zukünftige Stiefmutter lautet wohl nie: Na, willst du mal Stiefkinder haben in deinem Leben? Nein, die Frage lautet eher: Kannst du dir vorstellen, diese Kinder deines geliebten Menschen als Stiefkinder in deinem Leben zu akzeptieren? Das ist nicht nur wenig romantisch, sondern auch nicht besonders selbstbestimmt. Und Selbstbestimmtheit und Autonomie sind inzwischen, darüber hat die israelische Liebessoziologin Eva Illouz mehrere Bücher geschrieben, der zentrale Anspruch an Beziehungen:

Die – sexuelle, konsumbezogene oder emotionale – Wahl ist das Leitmotiv, an dem sich das Selbst und der Wille in liberalen Gemeinwesen orientieren. Ein modernes oder spätmodernes Selbst zu haben heißt, von der Möglichkeit der Wahl Gebrauch zu machen und sich der subjektiven Erfahrung, dass man die Wahl hat, so oft wie möglich zu vergewissern. (…) Die Wahl ist also eine der zentralen kulturellen Erzählungen des modernen Menschen. Wenn sie sich in den diversen Institutionen der Ehe, der Arbeit, des Konsums und der Politik zum wichtigsten Medium von Subjektivität entwickelt hat und darüber entscheidet, wie Menschen in diese Institutionen eintreten und ihre Zugehörigkeit zu ihnen erfahren, dann ist die Wahl an sich zu einer Kategorie geworden, die eine soziologische Erforschung verdient – zu einer eigenständigen Form des Handelns, die von kulturellen Rahmenbedingungen durchsetzt ist, deren hervorstechendste »Freiheit« und »Autonomie« heißen. 9

Wie oft habe ich mir von Freunden (sic! Es waren die männlichen Freunde) anhören müssen, wenn ich im Patchwork-Werdungsprozess über mein Leid klagte: »Wieso machst du das mit? Wieso muss es dieser Mann sein? Trenn dich doch einfach, such dir einen anderen, der keine Kinder hat!«

Es ist, wie Eva Illouz ausführt: Wenn wir in Beziehungsfragen jederzeit die Wahl haben, sind wir ja selbst schuld am Leiden! Wir können es jederzeit beenden und uns eine neue Beziehung suchen. Autonomie heißt: Recht auf Scheidung. Auch aus dieser Perspektive ist das Stiefmutterwerden so verdammt unmodern. Denn es ist nicht selbstbestimmt. Selbstbestimmt ist nur die Entscheidung für oder gegen das Zusammensein mit dem Partner – die einzige Wahl, die eine Stiefmutter hat, ist: es sein zu lassen. Hindert ein hoher Grad an extremer Verliebtheit sie jedoch daran, es sein zu lassen, und das soll vorkommen, begibt sie sich in einen Beziehungsrahmen, in dem sie nur sehr wenig bestimmen kann. Eine Stiefmutter darf nicht einmal entscheiden, ob die Kinder ihres Partners in ihrem Leben eine Rolle spielen – das entscheidet der Vater. Wenn er nicht will, dass die Stiefmutter und seine Kinder sich kennenlernen, wird das nicht passieren. Es gibt einige solcher Fälle, im Kapitel über stiefmütterliche Ohnmacht komme ich darauf zu sprechen.

Doch auch wenn eine Frau sich aktiv dafür entscheidet, Stiefmutter werden zu wollen, und der Partner die Patchwork-Familiengründung unterstützt: Sie hat keine Ahnung, und es liegt auch nicht in ihrer Hand, wie lange dieser Prozess dauern und wie er aussehen wird. Es handelt sich dabei nicht um eine feste Zeitspanne wie in einer Schwangerschaft. Es ist ein Prozess, der gefühlt jeden Moment unterbrochen oder gar beendet werden kann, dessen Geschwindigkeit von so vielem abhängt, was die Stiefmutter nicht beeinflussen kann: von der Trennungsdynamik des Partners und seiner Expartnerin; von den Übergangsvorstellungen der Expartnerin und Mutter seiner Kinder, also der Stiefkinder; von der Lebenssituation, der Entwicklung und Gefühlslage der Stiefkinder selbst.

Die Tochter meines Partners, Arianna, habe ich relativ unkompliziert bekommen, Bela erzählte ihr schon nach wenigen Wochen von mir als neuer Partnerin, sie wollte mich kennenlernen, ich wollte sie kennenlernen, wir verstanden uns sehr schnell sehr gut, und sie erklärte mir – damals, wie gesagt, immerhin schon 14 Jahre alt: »Ich hatte schon eine Stiefmutter, ich brauche keine zweite. Lass uns … irgendwas Neues machen.«

Seitdem erforschen wir unser Miteinander, es ist nicht immer harmonisch, manchmal schmerzhaft, oft anstrengend, häufig wunderschön. Bis heute, über drei Jahre später, haben wir keinen passenden Begriff für unsere Beziehung gefunden.

Meinen Stiefsohn bekam ich mit weitaus größeren Komplikationen. Er hat eine andere Mutter als seine Halbschwester, die Trennung zwischen ihr und meinem Partner lag noch nicht weit zurück, als er und ich zusammenkamen, und während ich bereits wochenweise mit Arianna lebte, spielte ich im Leben des Kleinen noch lange keine Rolle. Er lebte weiter in seiner Familienwohnung, und Bela wechselte sich mit seiner Betreuung in dieser Wohnung mit der Mutter ab. Dieses Modell nennt sich Nestmodell – in Abgrenzung zum Wechselmodell, bei dem die Kinder selbst zwischen zwei Elternhaushalten pendeln. Bela war dienstags, donnerstags und dann jeweils abwechselnd ein langes Wochenende in der Nestwohnung. Während Bela dort war, traute ich mich kaum, ihn anzurufen – spielte ich in dieser Welt doch keine Rolle. Unsere Leben waren jeden zweiten Tag und jedes zweite Wochenende völlig voneinander getrennt. Ich wusste kaum etwas über meinen Stiefsohn, kaum etwas über seinen Alltag mit Bela. Wann wir uns als Paar sehen konnten, bestimmte Bela – in Absprache mit der Mutter, einer Frau, die ich nicht kannte und nie getroffen hatte. Ich musste dann bereitstehen, unabhängig davon, was in meinem Leben gerade los war. Wie eine Mätresse. Ich schämte mich für dieses Arrangement vor meinen Freundinnen, vor meiner Familie: Wieso ließ ich mich von diesem Mann so auf Distanz halten, wieso stand ich ihm so zur Verfügung, wenn ihm danach war, mich zu sehen – und andersherum musste ich auf ihn so oft verzichten, wenn ich ihn brauchte? Das war keine Beziehung auf Augenhöhe. Dieser Teil meines Stiefmutterwerdens war eine schwierige Zeit mit sehr vielen Erfahrungen der Ohnmacht....Ende der Leseprobe