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Nana kommt in eine vom Wahlkampf erhitzte Stadt am Rand von Sachsen, die voll ist von zurückkehrenden Frauen, von Gründerinnen im Aufbruch, die um ihre ostdeutsche Heimat ringen. Als Coach will sie in Grenzlitz Katja Stötzel, die Kandidatin der Zukunftsgrünen, stärken. Doch sie wird auf Distanz gehalten. Verständnis findet sie bei einem von ganz rechts, Falk Schloßer. In Grenzlitz findet sie ihre Verzweiflung und Wut auf eine Gesellschaft wieder, die sie jahrelang von sich geschoben hat. Als sich die Situation zuspitzt und Katja Stötzel bedroht wird, weil überhaupt alles zu eskalieren scheint, muss sie sich entscheiden: Auf welcher Seite stehe ich eigentlich? Wer meint es ernst mit der Menschlichkeit? »Im Land der Wölfe« ist ein literarischer Grenzgang. Authentisch und in überzeugender Sprache wird die Geschichte vom aufkommenden Faschismus in einer Kleinstadt ganz im Osten Deutschlands erzählt. Ein Kampf jeder und jedes Einzelnen um Anerkennung und Hoffnung, und als Waffen dienen die Kränkungen der vergangenen dreißig Jahre. »Wer den politischen Riss unserer Zeit verstehen will, muss ›Im Land der Wölfe‹ lesen. Elsa Koesters Roman zeigt die Konflikte besser als jedes Sachbuch.« Thomas Wagner, Die WELT »Elsa Koester erzählt, wie Faschismus heute entsteht. Ihr Buch ist ein Flirren, es reißt mit, saugt ein. Es erklärt dir nicht, warum du mitmachst. Es lässt dich fühlen. Das ist schmerzhaft und das ist nötig, um die Gefahr zu verstehen.« Daniel Schulz (Autor und Journalist)
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Seitenzahl: 427
Nana kommt in eine vom Wahlkampf erhitzte Stadt am Rand von Sachsen, die voll ist von zurückkehrenden Frauen, von Gründerinnen im Aufbruch, die um ihre ostdeutsche Heimat ringen. Als Coach will sie in Grenzlitz Katja Stötzel, die Kandidatin der Zukunftsgrünen, stärken. Doch sie wird auf Distanz gehalten. Verständnis findet sie bei einem von ganz rechts, Falk Schloßer. In Grenzlitz findet sie ihre Verzweiflung und Wut auf eine Gesellschaft wieder, die sie jahrelang von sich geschoben hat. Als sich die Situation zuspitzt und Katja Stötzel bedroht wird, weil überhaupt alles zu eskalieren scheint, muss sie sich entscheiden: Auf welcher Seite stehe ich eigentlich? Wer meint es ernst mit der Menschlichkeit?
»Im Land der Wölfe« ist ein literarischer Grenzgang. Authentisch und in überzeugender Sprache wird die Geschichte vom aufkommenden Faschismus in einer Kleinstadt ganz im Osten Deutschlands erzählt. Ein Kampf jeder und jedes Einzelnen um Anerkennung und Hoffnung, und als Waffen dienen die Kränkungen der vergangenen dreißig Jahre.
»Elsa Koester erzählt, wie Faschismus heute entsteht. Ihr Buch ist ein Flirren, es reißt mit, saugt ein. Es erklärt dir nicht, warum du mitmachst. Es lässt dich fühlen. Das ist schmerzhaft und das ist nötig, um die Gefahr zu verstehen.« Daniel Schulz (Autor und Journalist)
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Der Boden geht weg unter den Füßen. Sümpfe, Schlamme, Schleime, Breie, Schlick und Scheiße, die ganze sich in Modder auflösende Umwelt verschlingend »ihn«. Es muss zurückgeschossen werden. Auch wo niemand schießt.
Klaus Theweleit
Zwei Meter Paul Witte. Plötzlich steht er vor mir, der von den Blauen. Ich habe ihn nicht kommen sehen. Obwohl er da gestanden haben muss, die ganze Zeit. Ich bin um die Ecke gekommen, mit meinem Rad. Das habe ich geschoben, bloß von der zukunftsgrünen Wahlparty bei Katja die paar Meter Kesselstraße hoch und dann beim roten Turm um die Ecke auf den Marktplatz, und dann sehe ich diese Traube murmelnder Männer vor der Kneipe Zum Markt, eben noch bin ich in der Kesselstraße und lasse Katja hinter mir, meine grüne Katja, aufgebaute Schultern, gerader Rücken, nicht-berühren-Katja, gerade noch Kesselstraße und dann schon Marktplatz und schon in dieser Traube Männer mit ihren Bierhumpen in der Hand, rote Backen und glänzende Augen und Schulterklopfen, und er steht da. Paul Witte, vielleicht bald Oberbürgermeister von Grenzlitz. Zwei Meter groß, breite Schultern, blonde, abrasierte Haare, aber nicht ganz, so mit Seitenscheitel, »Jungs, lasst das junge Frollein mal durch mit ihrem Rad«, bassige Stimme, dann diese Schneise vor mir auf dem Bürgersteig in Grenzlitz, lauter lachende Münder, zwanzig, dreißig Blaue um mich herum, darunter Falk Schloßer, ganz sicher, ich kann es riechen, Falks Menthol. Und dann diese zwei Meter vor mir, zwei Meter blonder Mann, plötzlich Wittes weiß behemdete Brust vor meinem Gesicht, hochgekrempelte Ärmel, ich blicke hoch, da ist es, dieses jungenhafte Grinsen unter den kurzen Haaren, unter dem Seitenscheitel, mit den blauen Augen und den Grübchen und diesen dünnen Lippen, er steht vor mir auf dem Weg, Paul Witte, vielleicht bald blauer Bürgermeister von Grenzlitz. Und ich gebe ihm meine Hand, kurz halte ich seine Hand in meiner, hält er meine Hand in seiner. Ich gebe Paul Witte die Hand.
vielleicht hängt das ja zusammen?
was
na ich erzähle meiner schwester, dass ich kein mann mehr sein will, die regt das mega auf, und keine zwei monate später schüttelt sie einem nazi die hand
so einfach ist das nicht. und es ging eigentlich auch gar nicht um paul witte
nee schon klar. es ging dir um seinen lakaien, um diesen falk, wie heißt er? falk schloßer? ich weiß schon, der mit dem menthol und so
eigentlich ging es weder um paul witte, noch um falk. sondern um katja. für katja bin ich nach grenzlitz gegangen
lieber noah,
ich wollte dir nur kurz schreiben, damit du weißt, wo ich bin. ich bin in den zug gestiegen, gestern, nach unserem streit, ich bin in berlin am alex in den zug gestiegen und losgefahren, einfach richtung grenze, erst cottbus, dann grünlau und grenzlitz. es regnete, es regnete wirklich in strömen, jetzt scheint die sonne, maigelb, butterblumengelbe maisonne über grenzlitz, aber gestern drückte der regen die gräser im spreewald hinab, sie waren durstig zum himmel gewachsen und jetzt wurde der himmel ihnen zu schwer, und inmitten dieser müden gräser stand ein reh. ich habe es durch das fenster gesehen, das reh schüttelte seine nasse nase und starrte meinen zug an, und der zug zog die tropfen auf den fenstern in die länge, lang in die länge, bis sie sich nicht mehr halten konnten, bis sie losließen und sich in langen streifen über das glas auflösten, keine tropfen mehr, kleine rinnsäle jetzt, ein tropfen musste sich nur vorwagen, und dann folgten die anderen hinterher, immer hinterher, flussbetten auf den fenstern der ODEG, der ostdeutschen eisenbahn, die ODEG, bist du die schon gefahren? stell dir vor, ich glaube, ich bin überhaupt zum ersten mal richtig in ostdeutschland. also klar, an der ostsee war ich schon und auch mal in potsdam und in ostberlin ja eh, aber das war’s dann auch schon, wir sind ja nie in den osten, nach dieser geschichte mit opa. und so habe ich das eben auch nie gemacht. also, abgesehen von dresden, aber das war ja etwas anderes, die antifa-blockaden von dresden nazifrei, und ob das der osten war, na, ich weiß nicht. in grünlau ist schluss, dachte ich im zug, ende, aus, und das erinnerte mich an etwas. meine erste fahrt in den osten fühlt sich an wie meine erste fahrt nach nordstadt. dieser zug endet hier, erinnerst du dich? wie wir bei oma und opa ankamen, aus dem süden, die berge waren wir gewohnt, berge und wald und bächle und gassen, und dann kamen wir in diese nordstadt, ans ende der welt, grau war es und das meer war nie da, bloß ebbe und schlick. hier in grenzlitz ist es ganz ähnlich. nur dass es keine nordsee gibt, sondern den limesfluss, und dahinter ist schluss.
der zug war recht leer, es war ja vormittags unter der woche, ich sage dir, ich bin echt einfach los in berlin, ich habe bloß ein paar sachen gepackt, ich weiß auch nicht. ich weiß nicht. ob wir nochmal reden sollen, noah, du warst so, du warst. so.
da war eine frau mit mir im zug, eine alte frau, sie hatte lila haare, wie ausgewaschen, ganz dünn, die haare, weich und dünn, einen beigen trenchcoat hatte sie an und eine kleine, viereckige handtasche aus braunem leder so über die brust gehängt. sie wollte in limenz aussteigen, ein bedarfshalt, wenn sie hier aussteigen möchten, drücken sie bitte den gelben halteknopf. die frau drückte den halteknopf, und als der zug hielt, ließ sie ihre stange los und ging in winzigen schritten durch die tür auf den bahnsteig, und da gingen die zugtüren schon wieder zu, sie erschrak, ruderte mit beiden armen, der zug fuhr los, die ODEG sog sie nach hinten, zupfte an ihrem beigen regenmantel.
erst also der bedarfshalt. und dann war es nass. und grau. und wenn ich ehrlich bin, fand ich das irgendwie angemessen, rechtes, graues, tristes grenzlitz, eine männer-stadt, wusstest du das? dass frauen hier abgehauen sind, nach 1989 sind sie weg, so viele, dass es hier viel mehr männer gab, frustrierte, sitzengelassene, arbeitslose männer, so stellte ich sie mir immer vor, grenzlitz: eine graue männer-stadt, männer in jeansjacke, frustrierte, in der trotzphase stecken gebliebene männer. mit schnurrbart. ich kann nicht sagen, dass sie mich mit offenen armen empfing, diese stadt, und mich wundert das nicht.
im bahnhof war alles leer und kalt und leise, einige menschen stiegen mit mir aus, aber keiner sagte einen ton, alle mit dem blick auf den grauen boden durch die nasse luft zur treppe, unten im gang pissegestank, alte holztüren grün lackiert, sie schwangen automatisch auf, das hätte man dem schweren holz gar nicht zugetraut, so spontan und flexibel sich zu öffnen, und dann draußen vor dem bahnhof: niemand, nichts und niemand, kein auto, keine menschen, nur regen und nasse straße, hau ab, geh zurück in dein berlin, mach, dass du weg kommst, du hast hier nichts zu suchen, rief mir diese stadt entgegen. der regen kroch an meinem schal vorbei in meinen nacken, mein nacken zog sich zusammen, genau dort, wo der kopf anfängt.
du fragst dich, was ich hier will. ich sage es dir nicht. du würdest es ja doch nicht verstehen. du hast gesagt, du willst von mir nichts mehr hören, noah. also erzähle ich es dir nicht.
aber dann. in der altstadt, da waren diese gepflasterten straßen aus runden steinchen, und ich sage dir, hier ist was, und deshalb schreibe ich dir, gestern noch hätte ich nicht gedacht, dass ich dir je wieder schreibe, aber diese pflastersteine hier in den grenzlitzer gassen … kennst du das, wenn du das gefühl hast, das straßenpflaster flüstert dir etwas zu? sie flüstern, die steine, da ist etwas, unter dem roten straßenpflaster, vielleicht auch nicht wirklich darunter, sondern irgendwie dazwischen, darin verborgen, verborgen zwischen den vielen kleinen rundlichen steinen, rot und rundlich. hier ist etwas, hier in grenzlitz.
ich weiß nicht. ich weiß auch nicht, warum ich dir das alles schreibe. jedenfalls bin ich jetzt hier, das solltest du wissen, damit es überhaupt jemand weiß. ich bin in grenzlitz, rand von sachsen, rand der republik, ende der welt. gute nacht.
Sie hat mich einfach sofort umgehauen. Ich glaube, es waren ihre Arme. Diese starken Oberarme, in weiß gekleidet, vor der Brust verschränkt. Oder nein, es waren ihre Augenbrauen. Zwei blonde Bögen über feuersprühenden Augen, diese Rundung, jedes Haar an genau seinem Platz, weil ja auch Katja genau an ihrem Platz war. Katja Stötzel in einem ganz weißen Körperanzug, sitzend in einer Kohlegrube, dahinter eine Reihe von Polizisten, Protest in der Lausitzer Kohlegrube für den Kohleausstieg, auf dem Video zerrt ein Polizist an ihrem Arm, und Katja sieht gar nicht hin, nein, Katja Stötzel schaut weiter vor sich in die Grube, und in ihrem Gesicht ist keine Wut zu lesen, keine Aggression, sie beschäftigt sich gar nicht mit dem Polizisten, der sich da gerade an ihrem Arm zu schaffen macht, sondern sie beschäftigt sich mit der Grube vor sich, diesem riesigen Loch, das Menschen in die Erde gebuddelt hatten, um sie zu verbrennen und durch diese Energie zu wachsen und dabei viel Dreck in die Luft zu pusten, was nun nicht mehr geht, weil schon zu viel Dreck in der Luft ist, und deshalb muss der Dreck nun im Boden bleiben, und dort sitzt Katja also, um mit ihrem Körper zu verhindern, dass dieses Loch tiefer gebuddelt wird, ganz logisch, ganz richtig. Sie starrt in dieses Loch vor sich und hebt eine Augenbraue. Eine feine, zarte, blonde Augenbraue. Da habe ich es entschieden. Oder ich habe es gar nicht entschieden, es war einfach klar: Jetzt geht die Reise zu Katja Stötzel. Ich werde die neue Coachin dieser Wahnsinnsfrau dort mit den Wahnsinnshaaren, und ich werde sie zur neuen Bürgermeisterin von dieser Stadt da machen. Von Grenzlitz.
Ja, es kann wirklich sein, dass ich die Entscheidung getroffen habe, noch bevor ich wirklich wusste, wer Katja ist. Ich wollte keine zukunftsgrüne Politikerin irgendwo in Sachsen coachen, das hat mich nicht gereizt, das war es nicht. Es waren ihre Haare. Wenn ich ihre Haare anschaue, dann ist es so, dann kribbelt einfach alles. Wenn ich sie anschaue. Katja. Wenn ich sie anschaue, oder vielmehr sie mich, oder ich durch ihre Augen in sie hineinschaue, unter dieser schmalen Augenbraue hindurch, diesem zarten Strich von Haaren auf ihrer Wölbung, diese Schwingung der Knochen, auf der jedes Härchen genau seinen Platz findet, oder wenn sie sich mit ihren Fingern durch diese Haare streicht, dann legen sie sich so in perfekten Wellen über den Kopf. Viele tragen sie nicht mehr so, diese Frisur, kurze Haare, die nach hinten gelegt sind, aber sie legen sich bei Katja eben genau richtig, das macht mich einfach fertig, wie sich diese Haare legen. Und dann diese Augen, es ist wohl grün, oder grau, ich weiß es gar nicht so genau, weil es nicht die Farbe ist, die sprüht, es ist sie. Katja sprüht durch ihre Augen in die Welt hinaus, und wenn ihre Augen mal kurz in mich hinein sprühen, dann sehe ich sie, dann sehe ich ihr Ich.
Ich habe sie entdeckt in diesem Video über den Protest für den Kohleausstieg, große Aufregung, weil da eine Politikerin Gesetze brach, was weiß ich, Hausfriedensbruch oder Landfriedensbruch, dann auch Widerstand gegen Vollzugsbeamte oder wie das heißt, wenn man sich wegtragen lässt. Große Aufregung: Dass eine von den Zukunftsgrünen sich gegen das Gesetz stellt! Und dann habe ich sie natürlich gegoogelt, Katja Stötzel. Gründerin der neuen Zukunftsgrünen in Leipzig, und nun vielleicht bald erste zukunftsgrüne Oberbürgermeisterin von Grenzlitz, Rand von Sachsen. Na also, das war doch nicht meine Entscheidung. Katja wurde durch das Netz zu mir gespült, und ich wurde zu Katja gespült, denn wer braucht eine Coachin, wenn nicht die angehende erste zukunftsgrüne Oberbürgermeisterin im Osten?
Und in was für einem Osten! Diese Balken, diese dicken blauen Balken, wie sie wachsen. Jeden Tag wachsen sie drüben in Sachsen, länger als alle anderen blauen Balken der Republik. Es gibt da diese interaktiven Karten, man kann sich richtig in das Land hineinklicken, Stadt für Stadt, auch Grenzlitz kann man anklicken, da klickte ich natürlich drauf, und es stellt sich heraus: Grenzlitz ist ganz besonders blau. Aber wenn man genau hinsieht, dann sieht man auch: Grenzlitz ist nicht nur blau, sondern auch grün. In dieser blauen Fläche am Limesfluss sind mehrere Balken, und drei davon sind lang, nicht bloß einer. Der längste Balken mag blau sein, und der zweitlängste Balken schwarz von den Konservativen, aber der drittlängste Balken ist grün, und seit wann bitte sind denn die Grünen so stark im östlichsten Osten Deutschlands?
Seit Katja Stötzel. Wirklich. Katja Stötzel aus dem kleinen Lotschel in Sachsen, DDR, studierte Volkswirtin an der Uni Leipzig, baute jetzt die Zukunftsgrünen in Grenzlitz auf, will Bürgermeisterin werden, bei den Wahlen im Juni, und sie könnte es schaffen. Ich klickte weiter, Katja Stötzel lachend beim Pflanzen von Bäumen, Katja Stötzel lachend auf ihrem Hof bei Lotschel mit ein paar Schafen. Das kenne ich eben nur bei Frauen, dieses absolute Ruhen in sich selbst. Nicht in einem bestimmten Körperteil, sondern einfach in jedem kleinsten Detail ihres Körpers, alles passt zusammen, die feinen Sehnen und Venen am Handgelenk, sie strahlen Leben aus, es ist der unbedingte Wille, das Leben zu formen, und im Leben den richtigen Platz zu haben, und das sieht man an den Sehnen und Venen und an den Härchen und Äderchen und an den Augenwölbungen und Brauen und man sieht es bei Katja eben vor allem an den Haaren, an dieser unfassbaren Kurve ihrer Haare da auf dem Kopf. Das meine ich. Dafür bin ich nach Grenzlitz gekommen.
Nicht für Paul Witte. Wer ist schon Paul Witte. Die Blauen interessieren mich nicht, sollen die Typen doch in ihrer Gekränktheit versumpfen, mir ist das egal, sollen sie sich doch aufpumpen, wie Falk Schloßer, dieser Oberkörper, Muskelmasse, sie können so viel davon anhäufen, wie sie wollen, wenn man mich fragt, sollen sie doch, seine Knarre da im Safe neben dem Bett, kann er haben, darf er ja, sogar ganz offiziell, der Herr Justizvollzugsbeamte mit Waffenschein, wenn er sich damit sicherer fühlt, wenn das seine Männlichkeit genug verlängert, um es mit den anderen Männern aufzunehmen, oder mit den Frauen hier, meinetwegen, damit befasse ich mich nicht. Mich regt das nicht auf, solange die hier keinen erschießen wollen, dürfen sie ruhig in ihrer absaufenden Bockwurst-mit-Senf-Welt leben. Nein, dafür kam ich nicht her, um hier die Feuerwehr gegen rechts zu spielen, dafür ist mir meine Zeit zu schade.
Natürlich sagte Katja Stötzel gleich zu, als ich sie anschrieb: Eine Coachin kann sie jetzt gut gebrauchen, denn ihre zukunftsgrünen Tanten da, kann man sich schon vorstellen, die trauen sich doch niemals, ihr Feuer zu machen, die sind doch ganz verschüchtert von ihrer neuen Stärke, und wenn diese Katja da ankommt mit ihren starken Armen, dann sagt ihr doch niemand mehr die Meinung, die ducken sich alle weg. Das weiß Katja, blöd ist sie nicht. Gleich hat sie zugesagt, als ich ihr sagte: Ich kann das. Ich mache dich zur Oberbürgermeisterin von Grenzlitz. Aber dafür musst du bereit sein rauszugehen, Katja. Aus deiner Komfortzone. Aus deinen Kulturinitiativen, Lehrerinnen-Stammtischen und veganen Cafés. Ich hatte keine Ahnung, ob ich damit richtig lag, aber an ihrer Reaktion sah ich: Ja. Lag ich. Sie lachte, da auf dem Zoom an meinem Bildschirm, sie lachte und sagte dann: Okay, du hast mich.
Ich habe sie. Vielleicht bin ich verliebt, das kann sein, aber das ist für mich nichts Besonderes. Das mache ich so, ich komme zum Coaching in eine neue Stadt und verliebe mich in meine Coachee, ich kann das sonst nicht, ich muss sie kennenlernen, ich muss sie fühlen lernen, ich muss zu ihr werden, um sie richtig gut zu machen in dem, was sie ist. Ich schaue ihre Haare an und versuche, mein Leben in diesen Haaren zu führen.
Da war ich noch in Berlin. Eine ganz andere Welt, das klingt jetzt danach, als wäre in den vergangenen Wochen etwas total Weltveränderndes passiert, und das ist es ja auch, aber für mich ist das normal, es beginnt jedes Mal eine neue Welt, wenn ich einen neuen Job anfange. Eine neue Coachee, eine neue Welt. Denn die alte Welt war nicht mehr in Ordnung. Meine Welt schon gar nicht, weil er so dermaßen auf mich losgegangen ist, dass ich ernsthaft überlegte, ob ich mit ihm überhaupt noch reden muss, mit Noah, meinem Bruder, falls ich ihn noch so nennen darf. Muss ich überhaupt Männer in meinem Leben haben? Vielleicht nicht. Nicht, wenn sie mich einfach nicht sehen wollen, wenn sie mich hinbiegen wollen, hineinbiegen in ihre Männerwelt, darauf kann ich verzichten, da will ich nicht sein. Das war also Noah, und unser Streit, sein verdammtes Outing, oder wie soll ich das nennen? Was er mir da eröffnet hat? Er hat die Welt einfach auf den Kopf gestellt, nach allem, was wir zusammen erlebt haben, hat er sich einfach entzogen, hat uns unseren Boden weggezogen mit seinem Möchtegern-Outing da. Er sei kein Mann, Noah, nachdem er mir über dreißig Jahre lang als mackriger großer Bruder das Leben schwer machte, war er also kein Mann mehr, ja? Und weil ich nicht sofort in Jubel ausbreche, bin ich natürlich der schlimmste Mensch auf Erden, schon klar, eine von den Blauen, nur weil ich erstmal große Augen mache, wenn mein Bruder sich in Luft auflöst und mir stattdessen eine Schwester hinstellt, oder was?
Aber die andere Welt, die war auch nicht in Ordnung. In der anderen Welt, da wachsen diese blauen Balken. In Nordstadt bei Nina habe ich ja nicht so die Nachrichten verfolgt. Da ging es um Kulturmittel, da ging es um Proben und um Tschaikowsky und nochmal Proben, da ging es um Ninas Hände, das war ihr größtes Problem, nicht beim Dirigieren, nein, da funktionierten ihre schmalen Finger ganz wunderbar, aber wenn sie sprechen musste, dann zitterten sie plötzlich, diese verräterischen Finger, aber darum soll es jetzt nicht gehen, das haben wir hinbekommen, Nina ist erfolgreich Dirigentin des Nordorchesters geworden und Nordstadt liegt hinter mir. Und Berlin liegt auch hinter mir. Vor mir liegt Katja. Ich werde dafür sorgen, dass sie an ihren richtigen Platz kommt, in Grenzlitz. Dass diese Stadt Katjas Farbe annimmt, dass sie nicht blau wird, sondern grün, es geht mir nicht einmal um die richtige Farbe, natürlich ist blau die falsche, das schon, vielleicht ist grün auch die richtige, kann schon sein, aber nein, das ist es nicht, ich will grün nicht, weil es richtig ist, sondern ich will ihre Farbe.
Deshalb bin ich hier. Und nicht wegen Noah. Oder wegen Falk Schloßer, oder Paul Witte, oder wie sie alle heißen. Nein, wegen Katja bin ich hier in Grenzlitz.
Mein Bett dröhnt. Techno-Wumms, es ist 6:40 Uhr und mein Bett und mein Stuhl und mein Tisch und meine eine Tasse und mein einer Teller und mein einer Topf, alles, was ich hier habe in meiner kleinen Grenzlitzer Wohnung, wummst im Takt zu diesem miesen Techno, der aus der Wohnung unter mir durch Decken und Wände dringt. Es ist ein schneller Takt, Techno-Pop mit verzerrtem Gesang, und er soll die Stimmen überdecken, was er aber nicht tut. Man hört die Stimmen. Man hört sie brüllen, unten, eine Kinderstimme, sie brüllt das ganze Elend der Welt heraus, wie ein Baby brüllt, nur dass diese Stimme älter ist, es ist die Stimme einer verzweifelten Fünf- oder Sechsjährigen, wütender Protest, dann knallen Türen, dann brüllt eine Frauenstimme, und dann poltert es, und es poltert nochmal, und die Kinderstimme brüllt wieder, und dann wird der Techno noch ein bisschen lauter gedreht.
Mein Kopf wummert und meine Augen sind verklebt, so bin ich aufgewacht, an meinem ersten Morgen in Grenzlitz. Ich habe mir meinen Kaffee gekocht, was man so Kaffee kochen nennt, in meinem Küchenschrank war ein halbvolles Glas Krümelkaffee, neben einer Packung altem Melissentee. Ich mache also Wasser in einem kleinen Topf auf dem Herd heiß, einen Wasserkocher habe ich noch nicht, schütte ein bisschen Krümelkaffee in meine Tasse und gieße das heiße Wasser drüber.
Durch die Dachluken oben fällt maigelbes Licht. Es gibt nur einen Monat, in dem die Sonne diese Farbe hat, satt gefressen, zufrieden, im März und April frisst es sich durch die Wiesen und Bäume, bis alles, alles grün wird, und dann frisst es sich weiter durch Butterblumen und Käfer und Schmetterlinge, und dann wird es eben langsam satt, satt gefressen und dick und zufrieden scheint das Maigelb durch mein Dachfenster. Mehr sehe ich nicht, bloß dieses Licht, denn meine Wohnung hier in der Grenzlitzer Nikolaistraße hat keine seitlichen Fenster, nur diese vier Dachluken oben, durch die ich die Sonne oder den Himmel oder die Wolken sehen kann.
Ich trage meinen Stuhl also ins Wohnzimmer, steige darauf und stecke meinen Kopf durch die Luke, und dann sehe ich die Dächer von Grenzlitz, kleine Türmchen mit kleinen Giebelchen und glänzende Dachziegel in der Maisonne nach dem Wolkenbruch, und auch wenn ich nicht gerade wie Mary Poppins »Chim chiminey« summe, beruhigt es mich doch, dieses erleichterte Dampfen der Dachziegel, die sich in der ersten satten Sonne seit Wochen räkeln.
Ich habe Hunger. Der Krümelkaffee breitet sich in meinem Magen aus und zupft an seinen Wänden, da muss ein Croissant rein oder ein Brötchen oder wenigstens ein Müsli, na komm schon, du hast so lange nichts gegessen, jetzt bist du hier, jetzt bist du weit, weit weg, hier bist du sicher, iss was, wenigstens eine Kleinigkeit. Ich ziehe mich an, das Gewummere von unten hat endlich aufgehört, das Gebrüll auch, aber da ist noch jemand, die Türen höre ich noch immer, wenn auch leiser, die Frau ist wahrscheinlich allein, das Kind ist inzwischen in der Schule, oder im Kindergarten. Jetzt höre ich doch wieder Stimmen. Frauenstimmen, Männerstimmen, sie diskutierten. Talkshow. Vormittagstalkshow.
Im Treppenhaus werden die Fernsehstimmen noch einmal lauter, dann versinken sie in den abgeplatzten Fetzen der braunen Tapete an den Wänden und den knarrenden Stufen. Die Fenster hier im Treppenhaus sind schön, altes, dickes Glas, durch sie kann man in den Hof sehen auf eine große Kastanie, wie früher, als noch alles gut war, so erzählt man es sich, bevor das alles anfing bei uns, bevor wir umgezogen sind in Waldburg, da war noch alles gut und wir wohnten im vierten Stock, und wenn man in der Küche das Fenster öffnete, fiel ein Ast in die Wohnung, so nah war der Baum, dunkelgrün, wunderschön, da warst du aber noch Baby, so sagt es mein Bruder. Ich war Baby. Noah war sechs. Das war bevor.
Auf der Straße: keine Bäume. Auf der Straße: flüsterndes Kopfsteinpflaster in Butterblumen-Sonne, dann der Nikolaiplatz, von Bäumen gesäumt, freundlich. Zwischen den Kopfsteinen Tramschienen, um die Ecke entlang bis auf den großen Marktplatz, darauf Beete voller Tulpen, lila und fast schwarze Tulpen, dahinter baut sich dieser Turm auf, dicker roter Turm, wie eine Festung sieht er aus, eine Festung am Mittelmeer, denn drei Palmen wedeln sanft vor ihm im warmen Wind, ja wirklich, Palmen in dicken Kübeln. Ich laufe über den Marktplatz, an den Klötzen vorbei, die wohl eigentlich ein Brunnen sind, aber das Wasser ist abgestellt, so sind es nur trockene schwarze Klötze in der Sonne.
Hier muss es sein, eigentlich, aber ich finde das Café nicht, Janines Café. Ich laufe um den roten Turm herum, dahinter eine schmale Gasse, und endlich sehe ich Sonnenschirme, hier gibt es Sonnenschirme und ein Café und hier sitzen sogar Menschen, ich höre Stimmengemurmel, sie kommen von Korbsesseln vor dem Café, und hier setze ich mich hin. Kesselstraße 2. Hier bin ich mit Katja verabredet.
Eine Frau kommt aus dem Eingang, sie trägt eine giftgrüne Schürze über ihrem dicken Bauch und ihren knallpinken Leggings, ihre roten Haare trägt sie zum Dutt, die Augenlider glitzern rosa, als sie sich über meinen Tisch beugt und ihn wischt, wellen sich ihre Brüste, sie wellen wie das Meer, dann schaut sie auf, lächelt, ihr Mund ist pink wie ihre Leggings, und sie fragt: »Nu, was kann ich dir bringen, Liebes?« »Die Karte?« Sie mustert mich, mustert meinen Hals, meine Oberarme, »ich bringe dir ein Porridge«, stellt sie fest, »so siehst du heute aus, Liebes«, und sie geht rein, dann kommt sie wieder raus: »Hafer, Mandel oder Soja?« »Was?« »Die Milch.« »Normale?« »Kuhmilch haben wir nicht. Hafer, Soja oder Mandel.« Ich sage: »Mandel«. »Nö«, sagt sie, ich ziehe meine Augenbrauen hoch, wie, nö?, aber sie nickt dabei, nö, und geht rein, vielleicht war es auch ein nuh, oder ein noh.
Durch die Straße segeln erste Schwalben, sie kreischen und segeln an den Hausmauern entlang. Neben mir macht eine Frau Notizen. Auf der anderen Seite in den Sesseln ein älteres Paar, neben ihnen zwei Fahrräder, auf ihrem Tisch zwei Tassen Kaffee. Und sonst passiert nichts. Einfach gar nichts. Kein Mensch kommt die Straße entlang, kein Auto, kein Fahrrad.
Das Geschrei der Schwalben wird übertönt von einem Klacken. Ich höre Katja, bevor ich sie sehe, ich höre ihre festen Stiefelschritte auf dem Pflaster der Kesselstraße, klack, klack. Ich drehe mich um, wirklich, Katja Stötzel kommt mir entgegen, endlich, sie sieht etwas kleiner aus, als ich dachte, aber sie strahlt, strahlend grüne Augen unter strahlend blonden Haaren, in dieser schönen, glatten Welle über den Kopf gelegt, unter den Ohren rasiert, sie trägt ein enges weißes Hemd, hochgekrempelt über ihren muskulösen Armen, dazu blaue Jeans und diese Stiefel.
Fast zerquetscht sie meine Hand, zu spät versuche ich, dagegen zu halten, und wenn die Hand einmal zusammengedrückt ist, ist es schwer, sie wieder aufzubauen, kurz und hart drückt sie, dann lässt sie los, nickt nochmal kurz, »Arianne, wie schön, dass wir dich endlich hier in Grenzlitz haben, ich sage dir: Jetzt denkst du noch, du musst nur sechs Wochen abreißen, aber am Ende ziehst du hierher zu uns, darauf wette ich! Sind schon ganz andere geblieben!« »Nana«, sage ich, »so nennt man mich, Arianne sagt keiner mehr«. Katja nickt. »Nana.« Sie sagt es mit ihrer tiefen Stimme, ganz hinten in der Kehle. »Nana.«
Die pinke Frau aus dem Café kommt raus, Katja stellt uns vor, Janine heißt sie und serviert mir eine Schüssel. Ich schaue mir mein Porridge genauer an, es sind Blüten darauf, lila und rosa Blüten, es sind Nüsse darin, oder Mandeln, geröstete Mandelsplitter, und er glitzert, mein Brei glitzert, da ist tatsächlich Goldstaub auf meinem Haferbrei, ich nehme einen Löffel, und es schmeckt nach Apfel und Zimt und Mandel und warm und irgendwie schmeckt es nach Heimat, ich kann es nicht anders sagen, da ist etwas, ein Kribbeln, es ist nicht nur der Geschmack, es ist der ganze Geruch hier, irgendwie Kaffee und Bienenstich und dazu dieses Gemurmel der Leute, das erinnert mich an was.
Jedenfalls schmeckt dieses Porridge verdammt gut, ich beeile mich, Löffel für Löffel, weil das Problem an Haferbrei ja ist, dass er spätestens nach dem vierten oder fünften Löffel eklig wird, langweilig und matschig und grau, und je langsamer man isst, desto klebriger und kälter wird er, und kalt ist Haferbrei wirklich kein Vergnügen.
Aus unerfindlichen Gründen bekommt Katja kein Porridge serviert, sondern Pancakes. »So, du hast mich ja sicher eingehend gegoogelt, aber nu stelle ich mich mal vor«, sagt Katja, und hält drei Finger in die Höhe: erstens Lotschelerin. Das heißt: von hier, aufgewachsen im Landkreis Grenzlitz, auf einem Dorf zwanzig Kilometer raus aus der Stadt, sechs Schafe, benannt nach den Digedags und den Abrafaxen, ob ich die kenne? Ich nicke, ich kenne die Mosaik-Comics, auch wenn ich sie weniger gern gelesen habe als Asterix und Obelix oder Tim und Struppi, was ich jetzt aber lieber für mich behalte. Katja gibt sich erleichtert, »bei euch Westlerinnen weiß man ja nie«, sie zählt weiter auf, sechs Schafe also und zwei Katzen, ein kleines Futterrüben-Feld, auch Lavendel, aber gegen die Wühlmäuse muss man was unternehmen. Der zweite Finger: studierte Volkswirtin. VWL-Studium erst in Leipzig, dann in Warschau, dann Pennsylvania, jetzt drüben in Grünlau mit einer halben Stelle, sie weiß, was die Region braucht, und sie kann es auf Englisch und Polnisch erklären, fließend. Katja nimmt ihre Gabel mit der anderen Hand, die zwei Finger bleiben oben, sie schlägt die Gabel in den Pancake und tunkt ihn ordentlich in den Ahornsirup. Dann hält sie den dritten Finger hoch: Feuerwehrmannstochter. Der Vater ist bei der Feuerwehr, beide Eltern waren es, ihre Mutter jetzt frühverrentet, hilft im Dorfladen aus, aber der Vater: noch immer Feuerwehr. Drüben in Lotschel hat Katja einen Hof geerbt von ihrer Omi, da fährt sie immer raus, wenn sie es schafft, zu den besagten sechs Schafen, »anpacken kann ich, das sag ich dir«. Die Menschen versuchten gerne, sie in eine Schublade zu stecken, die linksgrüne Feministin. »Aber sie schaffen es nicht, ich bin zwar Zukunftsgrüne aus dem Osten, aber keine von NeuerWeg90, für die Wegleute bin ich zu jung, gerade mal sechs Jahre war ich bei der Wende, nein, aufgewachsen bin ich in der Bundesrepublik, in der Ost-Bundesrepublik nach der Wende.« Sie isst ihre Pancakes jetzt mit großem Hunger, sie kommt in Fahrt.
In Leipzig ist Katja zu den Republikgrünen gegangen, wie so viele ihrer Kommilitoninnen, aus dem Westen, aus dem Osten, sie mischten sich im Leipzig der 2010er Jahre, aber Katja fühlte sich fremd, sie ist anders, eine andere Grüne, hat nicht Geisteswissenschaft studiert, sondern Volkswirtschaftslehre, »und eins sage ich dir: Ich kenne die Region hier seit fast 40 Jahren, ich gehöre nicht zu denen, die bloß ’ne Meinung haben, aber keene Ahnung, sondern ich kenne die Unternehmen hier und ich weiß, wer Unterstützung braucht und wer es nicht schaffen wird, wer an die Zukunft denkt und wer sich nur noch an die Vergangenheit klammert. Land der Wölfe, jammern se«, sagt Katja, die Leute würden sich beschweren, dass den Städtern nun auch noch der Wolf, der ihr Vieh reißt, wichtiger sei als die Menschen hier, sie schüttelt den Kopf, legt ihre Gabel ab, ihre Finger sind auch wieder unten, »aber da hilft doch keen Jammern, gegen den Wolf! Ich weiß schon, wie ich meine Schafe schütze, das kann ich dir sagen! Ich kümmere mich um meinen Herdenschutz, habe die Zäune gezogen, schön bezahlt vom Land, das Geld habe ich bereits wiederbekommen. Meinen Schafen tut keiner was, und die richtige Förderung gab es dazu, hat mich keinen Cent gekostet. Mir macht keiner was vor, wer zu viel jammert, den frage ich: Willste jammern, oder willste was ändern an deiner Lage? So.«
Katjas Rede ist vorbei, jetzt schaut sie mich an, sie bohrt ihren Blick in meine Augen. »Volkswirtin, Feuerwehrmannstochter und Lotschelerin«, sagt sie, »so werde ich Bürgermeisterin, und jetzt sag mir, Nana aus Berlin, was kannst du mir noch beibringen?« Katja kann gut gucken mit diesen grün-grauen Augen, sie blickt meinen Hals hinunter bis genau auf diese Stelle knapp über dem Magen, wo ich meine Schwäche immer spüre. Aber auch ich mache diesen Job nicht erst seit gestern. Wenn ich etwas von Katja habe, dann hat auch Katja etwas von mir, so viel habe ich gelernt.
»Du bist aus Leipzig«, sage ich. Katja zieht ihre Augenbrauen hoch. »Nein«, sagt sie, »nein, ich komme aus …« »Lotschel, ja, Feuerwehrmannstochter und Schäferin aus Lotschel, ja, ich weiß. Aber Paul Witte von den Blauen kommt direkt von hier, aus Grenzlitz, und Michael Klammer von den Konservativen kommt auch von hier, und weißt du, was sie dir voraushaben?« Janine bringt zwei Tassen Cappuccino, auf dem Milchschaum schwimmt ein Teddy, ein Teddygesicht aus Kaffee. Katja nimmt eine Tasse, rührt darin herum, der Teddy wird Milchbrei. Ich warte, bis sie hochschaut. Sie schaut hoch. »Alle beide waren hier, die ganze Zeit, Katja. Sie waren nicht in Leipzig. Es stimmt, dass du eine Feuerwehrmannstochter aus Lotschel bist und wie eine Feuerwehrmannstochter reden kannst, aber dann bist du nach Leipzig und zu den Republikgrünen und zu uns. Du bist zu uns, denn Leipzig ist nicht mehr Sachsen, nicht wirklich.« Wir sind ja alle dort hingegangen, nach Leipzig, aus Berlin und Frankfurt am Main und aus Hamburg sind wir alle nach Leipzig zum Studieren, weil die Mieten damals so schön billig waren und es dort so kreativ ist, und was machte Leipzig so schön billig und kreativ? »Dass da nichts war, Katja! So sah Leipzig für uns aus, eine Stadt, in der es noch nichts gibt, gar nichts, keine Cafés und keine Kunst und keine Kultur, keine Mieten, das war eine leere Stadt für uns, die wir füllen konnten, deshalb sind wir da alle hin, und du auch, Katja, weil du dich da auch wohl gefühlt hast, mit all den veganen Cafés, warum bist du denn hier weg? Warum hast du es denn nicht ausgehalten in Lotschel, wieso bist du denn dort nicht zur Feuerwehr, warum hast du denn nicht in Jena Feinmechanik studiert oder Maschinenbau in Cottbus?«
Katjas Augen werden schmal, sie lehnt sich in ihren Korbsessel, sie zieht ihr Kinn leicht hoch. »Na«, sagt sie, »sag es mir doch, warum bin ich nicht hiergeblieben?« »Weil du in die Welt wolltest. Du wolltest weg von hier. Weg von den Typen hier. Du wolltest Theater und Kino und Menschen, die sich bewegen, die auf der Suche sind, die durch die Welt ziehen und suchen! Du hast dich auf die Suche gemacht, und nicht festgehalten an Lotschel. Und du hast gefunden. Woher kommt denn Benjamin? Er ist von uns! Dein Mann Benjamin kommt aus Nordstadt.« Das hatte mich nämlich ein bisschen überrascht. Dass Katja mit einem Mann aus dem Westen zusammen ist. Also beides, dass es ein Mann ist, und aus dem Westen. Und das, da bin ich sicher, das müssen die Feuerwehrmänner in Grenzlitz Katja erstmal verzeihen, dass sie sie hier sitzengelassen hat, um nach Leipzig zu gehen. Ebenso hätte sie wahrscheinlich nach Frankfurt am Main gehen können oder nach Berlin. Und dann hat sie auch noch einen von denen geheiratet. Einen von uns.
Katja beugt sich vor und stützt sich mit beiden Unterarmen auf dem Tisch ab. »Aber ich bin nicht in den Westen gegangen. Ich bin zurückgekommen. Eine Rückkehrerin.« Ich schüttele den Kopf. Jetzt enttäuscht sie mich wirklich. »Sei ehrlich«, sage ich, »was hast du genau gemacht? Du bist hergekommen mit deinem Volkswirtschaftsstudium und hast die Zukunftsgrünen in Grenzlitz gegründet. Du hast einen Fonds eingerichtet, mit dem sich Janines Café finanziert, der Coworking-Space am Bahnhof und diverse Kulturprojekte. Du bastelst an einer Fernwärmeanlage, die mit grünem Wasserstoff funktioniert, und am Bau von Windrädern hinter Grünlau. Das ist kein Zurück. Du bist nicht zurückgekommen in die Stadt, die du verlassen hast, sondern du bist gekommen, um Leipzig nach Grenzlitz zu bringen.«
Keine Schwalben mehr zu sehen, es ist später Vormittag, sie sind ausgeflogen. Janine räumt ab, Katja denkt nach, ihre blonden Augenbrauen sind zwei kleine Hügel, ihre Haare fließen über ihren Kopf und kribbeln in meinem Magen. »Und nu?«, sagt sie schließlich. »Und nu«, sage ich, »zeig mal deinen Wahlkampfplan«.
Katja packt ihr Tablet aus, wischt und tippt, legt mir schließlich eine Grafik vor mit Blasen: Kultur für Grenzlitz, Wirtschaft für Grenzlitz, Zukunftsgrüne Grenzlitz, Rotkäppchens Wald, Coworking-Space, Universität Grenzlitz-Grünlau, außerdem das Naturkundemuseum, die Initiative Grenzlitz bleibt bunt, Lehrerinnen-Stammtisch, Bäume für Grenzlitz.
28 Prozent Wählerpotenzial hat Katja bei der Wahl im Juni, das hat eine Telefonumfrage der Regionalzeitung vom Herbst vergangenen Jahres ergeben, 28 Prozent können es sich vorstellen, für sie zu stimmen – als gemeinsame Kandidatin der Zukunftsgrünen und der Bürgerinitiativen. Das hatte mich in Berlin so umgehauen: 28 Prozent für eine Zukunftsgrüne im Osten, das hat es so noch nirgends gegeben. Und gleichzeitig stellt 28 Prozent eine Minderheit dar. Das weiß auch Katja, sonst hätte sie mein Angebot nicht angenommen, sie zu unterstützen.
Ich weise auf die Kulturvereine, Initiativen, Lehrerinnen-Runden. »Das sind 28 Prozent«, sage ich. »Du weißt, dass da Leute fehlen.« Katja seufzt. »Die Partei will das nicht. Traut sich nicht.« Die Zukunftsgrünen, erklärt Katja, wollen keine Zugeständnisse. »Kein Kuscheln mit den Blauen.« Wieso denn Kuscheln? Wo sind sie überhaupt in der Stadt zu finden, die Blauen? »Im Schützenverein«, sagt Katja, »im Fußballverein, auch der Schwimmkurs wird von einem Kumpel von Paul Witte gegeben. Aber sie sind überall, ich meine, sie sind ja keine geschlossene Gruppe.« Bei der Feuerwehr etwa wollen viele Kollegen von Katjas Vater inzwischen blau wählen. Bei der Polizei auch viele, höre man, oder im Gefängnis hier, die Justizvollzugsbeamten. Katja lehnt sich zurück, »Nana, was soll ich dir sagen? In Umfragen stehen sie bei über 30 Prozent! Natürlich sind sie überall in der Stadt verteilt, die Leute, die blau wählen wollen.«
34 Prozent für Paul Witte von den Blauen, das hat die Umfrage nämlich auch ergeben, 35 Prozent für Michael Klammer von den Konservativen, ein paar Zerquetschte für die Pinklinken, wie sie sich jetzt nennen, die ehemaligen Pinkroten. Wenn die Zukunftsgrünen sich nicht hinaus trauen, sieht es nicht gut aus. »Du musst das aber«, sage ich. »Du musst da irgendwie reinkommen.« Katja nickt. »Ich kenne einen«, sagt sie. »Einen Blauen?« »Ja. Falk Schloßer. Das ist der Papa von der Elli, der besten Kita-Freundin von Emma, meiner Tochter. Justizvollzugsbeamter. Und Schießlehrer im Schützenverein, sitzt auch schon im Stadtrat für die Blauen, der macht die Social-Media-Arbeit für Paul Witte. Ziemlich gut übrigens.«
ich weiß nicht, erzähle ich die geschichte so gut? ich habe angst, dass ich sie nicht richtig erzähle, fing sie so überhaupt an?
hmm, bisschen was machst du dir schon vor, oder?
wie meinst du?
hier klingt alles total sinnvoll, coaching von katja stötzel, die prozentzahlen, die entscheidung, auf die blauen zuzugehen
auf das blaue milieu! feuerwehr, sportvereine, polizei
klar genau. dabei war’s doch einfach er! du fandst ihn toll, seine breiten schultern und so …
du bist gemein
wir haben streit, du haust einfach ab und isst da in aller ruhe vergoldetes porridge
ich musste erst ankommen
bei dem nazi da ankommen na klar
dem blauen, meinst du. dazu bin ich noch nicht gekommen
ich dachte, den haste an deinem ersten tag getroffen, deinen falk da? bei den zukünftlerinnen, mit der jacke unterm arm und so?
kommt noch
wann?
na später, nach dem treffen mit katja am abend war da diese veranstaltung, und da kam falk halt auch
und wie willst du das erzählen?
ungefähr so: Als ich Falk Schloßer zum ersten Mal sah, wusste ich sofort, dass er Falk Schloßer sein würde. Falk Schloßer, patriotische Grüße. Ich erinnere mich so genau. Wie er atmete. Falk Schloßer mit der warmen Zunge. Mit dem Muttermal da über seinem Schulterknochen. Hellbraun. Zart. Zarte Knochen unter aufgepumpten Muskeln. Falk Schloßers Hand auf meiner Haut. Gänsehaut.
ach hör auf, jetzt verarschst du mich
ja
und das findest du witzig oder was? ich dachte, die haben euch fast umgefahren, dich und den geflüchteten da!
du meinst muluebran
ja, den
kommt noch
und die borkenkäfer?
kommt alles noch
Ich bin nicht für Falk Schloßer nach Grenzlitz gekommen, das stimmt, ich bin für Katja hier. Aber als ich ihn zum ersten Mal sehe, weiß ich sofort, dass es Falk Schloßer ist. Es ist am Abend in Janines Café, in der Kesselstraße, hinter dem dicken roten Turm, bei den Bürgern für Grenzlitz und den Zukunftsgrünen, weil Katja in Janines Café eingeladen hat, um über Klimaanpassung zu diskutieren, denn das ist typisch Katja: Wenn es Klimawandel nun mal gibt, dann ist das erstmal so, dann muss man eben sehen, was man dagegen tut, dass es noch schlimmer wird – man muss aber auch etwas tun, um damit umzugehen, dass es ist, wie es halt ist.
Es ist sehr regnerisch an diesem Abend, das Maigelb wurde nachmittags eingeholt von einem Aprilgrau, das sich hinterrücks auf die satte Sonne stürzte, sie hätte sich ihrer Sache eben nicht so sicher sein sollen, diese dicke Maigelbsonne, und kaum passt sie nicht mehr auf, wird sie vom Aprilgrau gepackt, das sich gerade so stark auf dem erhitzten Marktplatz um die Ecke von Janines Café ergießt, dass es dampft. Auch hier drinnen dampft es, von den nassen Schuhen unter unseren Stühlen, von Jacken, die tropfend im Café rechts neben der Tür an der Garderobe hängen, eine über der anderen.
Ich sehe Falk Schloßer sofort, das heißt, ich erkenne ihn. Als einen von denen, also nicht einen von uns. Denn im Raum verteilt sitzen ja wir, das heißt, die Zukunftsgrünen von Grenzlitz, dazu die Älteren von ihnen, die alten NeuerWeg-Leute, Bürgerrechtlerinnen der ersten Stunde, seit 1990, mindestens, verschmolzen mit jenen Grünen, die ich aus meiner Heimatstadt kenne, Dinkeldunst, schwarze und grüne und rote Regenschirme, und Schuhe, die Enten tragen würden, würden Enten Schuhe tragen, diese abgerundeten Spitzen, die schon gar keine Spitzen mehr sind, halbherzige Kurven, als wäre der Schuh noch als Rohmasse zusammengedrückt worden, aus Versehen, vorne, gegen eine Wand, als wäre er in der falschen Form erkaltet, als würde er sich nichts trauen, dieser Schuh, bloß niemanden stören, bloß niemanden treten, bloß kein Loch in die Luft stechen beim Gehen, Entenschuhe eben, quakige Sohlen, quakige Hosen, quakige Fleecejacken. Dazwischen Falk Schloßer. Weiße Sneaker.
Natürlich weiß ich noch nicht, dass es Falk Schloßer ist, ich sehe aber: Er ist das Zentrum. Redet nicht mit denen, die Katja umringen. Frau Oberbürgermeisterin, wie hier schon gelacht wird. Katja Stötzel. Vielleicht bald Oberbürgermeisterin von Grenzlitz, Rand von Sachsen, Rand der Republik, beinahe Osteuropa. Falk Schloßer. Trägt seine Arme verschränkt vor der Brust, der sichtbar trainierten Brust. Breite Schultern. Nicht die Schwerkraft zieht seinen Körper zurecht, sondern er hält ihn, angespannt von oben bis unten, ein Körperpanzer, gebaut aus Muskeln. Sehr kurze Haare, an den Seiten stark rasiert, oben ein wenig länger, fast ein Seitenscheitel, aber nur fast. Dunkle Haare. Breiter Hals, sehr breiter Hals. Weißes Polohemd, schwarze Streifen an den Ärmeln und, was blitzt da von innen aus dem Kragen hervor, halt nein, sind das echt schwarz-rot-goldene Streifen?
Falk Schloßer sieht sich um. Sieht mich. Seine Augenbraue geht hoch. Hier bin ich. Hier bleibe ich. Wirst schon sehen. Ich bleibe hier, ob ihr wollt oder nicht, und niemals, niemals wirst du es erleben, dass ich so eine Fleecejacke anziehe, seine Augen wandern kurz zu denen, den Zukunftsgrünen, dann zurück zu meinen, niemals. Er schaut auf meine Schuhe. Weiße Sneaker. Er schmunzelt, nein, tut er nicht, stimmt nicht, er schmunzelt nur fast, seine Unterlippe kräuselt sich fast, dann wendet er den Blick ab, bevor es zum Schmunzeln kommen kann.
Ich gehe nicht zu Katja, ich finde es entwürdigend, wie sie alle um sie herumstehen, und wer nicht bei ihr steht, schielt zu ihr hinüber, darauf lauernd, dass in dem Kreis um sie eine Lücke entsteht. All die Nasen hier, die sich in Richtung Macht drehen, sobald eine Macht den Raum betritt, da kann ich es immer platschen hören, wenn sich jemand sofort nach einer Autorität umdreht, dann platscht mein Respekt vor mir auf den Boden. Sie wird ihre Sache schon gut machen, Katja, hier unter ihren Leuten, sie weiß, was sie tut, ich muss nicht mit ihr reden, ich habe ihr ohnehin schon alles gesagt, was ich denke. Jetzt wird es darum gehen, ob das möglich ist. Sich als Zukunftsgrüne in einer Stadt zu verankern, die ihre Kränkung wiedergutgemacht sehen will. Eine Kränkung, die, soviel ich verstanden habe, viel länger zurückreicht als 1989.
Ich setze mich. In dieselbe Reihe wie er, vier Stühle entfernt. Seine Jacke: nicht an der Garderobe, wie die anderen, nein. Über die Lehne gehängt. Meine auch. Tropft auf den Boden. Die Kapuze zwischen mir und der Lehne, mein Pulli saugt sich voll, von hinten in meinen Nacken rein. Kalt. Nicht schlimm. Falk Schloßers Aftershave dringt zu mir durch, durch den Kaffee-und-Dinkel-Geruch in Janines Café. Heute Morgen noch nicht, heute Morgen: Zimt und Kaffee, jetzt: Dinkel, es müssen die Entenschuhe sein, sie riechen nach Dinkel, immer. Dinkel und Zimt. Dinkel und Zimt, jetzt gemischt mit Menthol. Falk Schloßers Menthol. Auf gebräunter Haut.
Ich kann Janine nirgends sehen, dafür sehe ich Kurt, von dem Katja heute Morgen sprach, Oberstudienrat, winzige Brille am Nasenende, braune Cordjacke, er spricht mit Katja, und daneben dieser Erik, Erik von den Baumhäusern. Auch er war heute Morgen bei Janine vorbeigekommen, hatte sich an unseren Tisch gesetzt, oder eher gefaltet, denn Erik ist bestimmt zwei Meter groß, und damit er auf unsere winzigen Stühle an unserem winzigen Tisch passte, musste er sich ganz schön zusammenfalten, er hatte sich über sein Gesicht gerieben, müde sah er aus, und gesagt: »Noch vier Wochen.« »Noch vier Wochen«, hatte Katja mir erklärt, »dann eröffnet Erik seine Baumhäuser für die Gäste.« Ein Park aus acht Baumhäusern, dazu ein Campingplatz, »Rotkäppchens Wald«, damit hofft Erik, die Öko-Touristen herauszulocken, raus nach Flussburg, fünfzehn Minuten braucht man mit dem Zug, sagte Katja, und da stöhnte Erik auch schon auf: »Den se jetzt natürlich abschaffen wollen, die Depperten von der Bahn und die Clowns in Dresden, von wegen unrentabel, da würde eh keiner aussteigen, in Flussburg, von Stadtplanung haben sie wohl noch nichts gehört, wer schließt denn einen Bahnhof genau dort, wo jemand gerade einen Campingplatz hinbaut?!«, und dann rieb er sich wieder mit beiden Händen über sein Gesicht, lila Fingernägel, fiel mir da auf. Und die langen schwarzen Haare zum Dutt.
Jetzt steht Erik neben Katja und Kurt, und ich sehe, er trägt ein Kleid, ein grünes Blümchenkleid, mit lila Leggins drunter, er überragt die beiden um mehr als einen Kopf, beinahe muss er seinen einziehen, um nicht an die goldene Decke zu stoßen. Ja, golden: Janine hat die Decke ihres Cafés tatsächlich komplett golden eingesprüht, und jetzt glitzert sie kurz über Eriks schwarzen Haaren.
Es kommt Bewegung in den Kreis um Katja, sie geht nach vorne, klack, klack, braune Lederstiefel mit Absätzen und ordentlicher Schuhspitze, positioniert sich neben Janines Tresen, faltet die Hände, stellt ihren rechten Absatz kantig nach vorne auf den Boden, Klima und Grenzlitz, sagt sie und klatschte in die Hände, Klima und die Limesregion, oh je, das sei ja so eine Sache. Gelächter. Arbeitsplätze, sagt Katja. Das Lachen verstummt. Ja, Arbeitsplätze. Aber sie wolle nicht über die Arbeitsplätze am Limes sprechen, über den Kohleausstieg, »das K-Wort«, grüne Augen, sprühende grüne Augen, die blonde, feine Augenbraue geht hoch, als sie es sagt: »das K-Wort«, wieder Gelächter in den Fleecejacken, quietschende Entenschuhe. Heute sei das Thema ein anderes: Klimaanpassung. Wenn die Temperatur im Sommer auf 40 Grad klettert. Wenn die Wolken so viel Regen auf Grenzlitz niederprasseln lassen, dass die Straßen zu Flüssen werden. Wie damals, bei dem großen Hochwasser, 2010.
Falk Schloßer nickt. Das Hochwasser, 2010.
Katja klickt auf ihren Laptop, ein Foto vom Kopfsteinpflaster erscheint an der Wand, vom flüsternden Grenzlitzer Kopfsteinpflaster in der Kesselstraße. Sie klickt weiter, und eine Steinplatte erscheint im Querschnitt, kein runder Kopfstein, sondern eine durchlöcherte Steinplatte, wie zusammengepresster Kies, durchlässig für Wasser, darunter eine Kanalisation, so soll das Wasser schön abfließen und zum Trinkwasser gesammelt werden. Und wenn das Straßenpflaster ersetzt wird, dann winken: Aufträge. Blühendes Baugewerbe am Limes. Katja hat einen Plan für die Stadt: für die Hitze, für die Dürre, für den Starkregen. Sie erzählt von städtischen Wiesen, hiesigen Gräsern, von Blumen und Insekten. »Habt ihr alle die schrecklichen lila Tulpen am Marktplatz gesehen?«, fragt sie, Gestöhne und Gemurmel im Raum, Katja schüttelt den Kopf, Brennnesseln würde die Stadt brauchen, denn wer Schmetterlinge wolle, der müsse auch Brennnesseln wollen, so sei das nun mal. Dann klickt sie weiter, spricht über das Anpflanzen von Bäumen, ein Bild von einer großen, breiten Eiche erscheint an der Wand, ein dicker Stamm, starke Äste, Quercus Robur steht da. »Hier haben wir eine Maßnahme für die Patriotinnen unter euch«, schmunzelt Katja, »das wird die Blauen sicher freuen, denn ein sehr guter Speicher für Treibhausgase ist ausgerechnet ein Baum, der in Deutschland eine lange Tradition hat: die deutsche Eiche.« Gemurmel in den ersten Reihen, ich sehe zu ihm rüber, zum einzigen Blauen im Raum, gerader Rücken, gerade Schultern, Falk Schloßer: ein leichtes Schmunzeln.
Das Licht geht an. Die Finger gehen hoch. »Deutsche Eiche und Hightech-Straßenbelag, das klingt ja alles schön und gut, aber sollten wir nicht erstmal darüber nachdenken, was wir wegen der vielen Autos tun können?«, fragt eine Frau, erste Reihe, Entenschuhe, kurze dunkle Haare, schmale rote Brille. Uschi, sie hat das Antiquariat in der Münzgasse. Katjas blonde Augenbrauen ziehen sich ernst zusammen. Schwierig, sagt sie, auf keinen Fall Verbote, erstmal Bus und Bahn hier auf dem Land ausbauen. Aber natürlich. Langfristig: Autoausstieg.
Falk Schloßers Arm schnellt hoch. Seine Hand. Seine rechte Hand zerschneidet die Luft. Ratsch. »Ja?« »Manche sind halt wirklich drauf angewiesen.« Stille. »Auf das Auto. Hier in der Region. Meine Ex-Frau etwa«, kollektives Schlucken für das »Ex«, »die pendelt jeden Tag nach Grünlau und zurück. Bringt auf dem Hinweg unsere Tochter zur Kita. Würde ohne Auto nicht gehen. Wieso muss man mit dem CO₂-Sparen denn beim Bürger anfangen? Wieso nicht bei der Wirtschaft?«
Falk Schloßer, Zentrum. Zwanzig Köpfe in die Mitte des Raumes gerichtet, vierzig Augen, aber er sieht nur ein Paar, das grüne Paar von Katja Stötzel. Nur Schloßer und Stötzel, wegen ihr ist er hier, jetzt kapiere ich, der will es echt wissen. Wie sie ist. Was sie denkt. Die Grüne. Wie das gehen soll. »Mal ehrlich, wenn ich hier in Grenzlitz nicht mehr Auto fahre, und mein Auto verkaufe, dann fährt mein Dieselauto doch da hinten weiter, zehn Kilometer von hier entfernt, in Polen, und das soll dann dem Klima helfen? Jetzt mal ernsthaft. Ein Auto verpestet das Klima nicht so viel wie die Schwerindustrie. Fangt doch bei denen an! Nicht bei uns.« Ich kann es spüren, auf meiner Haut, wie ein ganzer Raum voller Dinkelduft anfängt, Falk Schloßer zu hassen, er spürt es auch, die feinen Haare in seinem Nacken, sie vibrieren, Gänsehaut auf Falk Schloßers Nacken, er lehnt sich zurück, wendet den Blick nicht von Katja Stötzel.