Stigma - Lea Adam - E-Book
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Stigma E-Book

Lea Adam

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Beschreibung

Du fühlst dich sicher. Aber du bist es nicht ...  In einem Park im Hamburger Norden wird eine Männerleiche gefunden, eine mit Kabelbinder fixierte Tüte über dem Kopf, die Zunge aus dem Mund geschnitten. Mordermittlerin Jagoda "Milo" Milosevic und ihr Kollege Vincent Frey ermitteln in Richtung organisierte Kriminalität. Erst als ein zweiter Toter gefunden wird, dieser ein verurteilter Sexualstraftäter, ergibt sich eine neue Spur: Hat es der Täter auf Männer abgesehen, die in der Vergangenheit Frauen Gewalt angetan haben? Das Morden geht weiter, und auch Milo fühlt sich zunehmend beobachtet. Erkennt sie das Böse, wenn es vor ihr steht? Für alle, die es leid sind, immer wieder dieselbe Geschichte über ermordete Frauen zu lesen: Dieses Buch ist für Euch. 

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Veröffentlichungsjahr: 2022

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Stigma

Die Autorin

Lea Adam ist das Pseudonym der Autorinnen Regina Denk und Lisa Bitzer. Zwischen der schwedischen Küste und dem Münchener Umland haben sie unabhängig voneinander zahlreiche Buchprojekte veröffentlicht. Stigma ist ihr erster gemeinsamer Thriller.

Das Buch

Als erfahrene Mordermittlerin hat Jagoda »Milo« Milosevic viele Dinge gesehen, die niemand sehen will. Doch diesmal geht das Grauen tiefer und selbst ihr als Profi unter die Haut. Die Opfer: Männer, die in der Vergangenheit Täter waren und sich brutal an Frauen vergangen haben. Ein gefundenes Fressen für die Boulevardpresse, die schnelle Ergebnisse fordert. Doch noch während Milo versucht, die Fäden zu entwirren, steht sie selbst plötzlich im Fokus der Gewalt ... 

Lea Adam

Stigma

Thriller

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage Februar 2023© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2023Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung:  FinePic®, MünchenAutorenfoto: © Foto-Auer | Anja UnterhitzenbergerE-Book-Konvertierung powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.ISBN 978-3-8437-2842-3

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Inhalt

Die Autorin / Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

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Epilog

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Prolog

Mai 1998

Hartnäckig kämpfte Gwendolyns Bewusstsein gegen die Finsternis. Der Alkohol machte sie müde und ließ ihre Augen immer wieder zufallen.

Irgendetwas war nicht in Ordnung. Sie war in der Vergangenheit schon betrunken gewesen, doch dieses Mal fühlte es sich anders an. Etwas in ihr wehrte sich gegen die Ohnmacht.

Da war plötzlich so viel Schmerz, wo vorher keiner gewesen war. Schemenhaft erkannte sie die Umrisse der Grillhütte. Wie lange war sie bereits hier? Wie lange ging diese Party schon? Wo waren ihre Freundinnen? Gedankenfetzen, die kamen, um sofort wieder hinter dieser roten Wand aus Feuer zu verschwinden, die ihren Körper umhüllte.

Irgendetwas drückte schwer auf ihre Brust. Bewegte sich auf ihr, in ihr. Sie versuchte, sich aufzurichten, das Gewicht von ihrem Körper zu schieben. Das Stechen zwischen ihren Beinen wurde schlimmer. Als würde ein Messer in sie stoßen, immer und immer wieder. Gwendolyn keuchte, ein leises Wimmern kam über ihre Lippen. Sie wollte weg von hier, doch sie konnte Arme und Beine nicht bewegen, auch ihren Oberkörper nicht. Sie spürte einen warmen Luftzug im Gesicht, roch den scharfen Alkohol aus einem fremden Mund, der ihr ganz nah war.

Dann war es plötzlich wieder dunkel. Die Schwärze legte sich wie ein schützender Mantel um ihren Geist.

Als sie das nächste Mal erwachte, war alles anders. Sie fror, obwohl es schon fast Sommer war, ihre Beine waren nackt und gespreizt. Wie lange war sie bewusstlos gewesen? Minuten, eine halbe Stunde, eine Stunde? Sie wusste es nicht. Zeit war relativ, besaß keine Bedeutung mehr. Sie hatte jedes Gefühl für den Raum um sich herum verloren. Doch dieses Mal gab es kein Zurück mehr in die Ohnmacht.

Gwendolyn schlug die Augen auf, spürte den Schmerz, der immer noch zwischen ihren Beinen loderte. Dann erkannte sie den Jungen über ihr. Es war dieser Typ, der sie schon ein paar Mal so lange aus seinen blauen Augen angestarrt hatte. Ein Grünschnabel, fast noch ein Kind.

Jetzt fickte er sie, drückte ihre Knie auseinander, schob sich so tief in sie, dass sie spürte, wie er in ihrem Inneren gegen sie stieß.

Sie wollte sich wehren, die Arme nach vorn reißen und ihn von sich schubsen, doch etwas schlang sich um ihre beiden Handgelenke und hielt sie fest.

»Los! Sei nicht so ein Schlappschwanz. Nimm sie richtig ran. Die Schlampe braucht das«, hörte sie eine Stimme im Hintergrund sagen.

Der Junge über ihr keuchte, stöhnte, wurde schneller.

In dem Moment, als sie seinen warmen Samen in sich spürte, zerriss etwas in ihr, wie ein Gummiband, das zu weit gedehnt worden war. Nein, dachte sie. Nicht ich. Das passiert mir nicht.

Sie wälzte sich zur Seite, hatte Glück, überraschte ihren Peiniger im Moment seines Orgasmus. Er rutschte von ihr. Dann holte sie mit dem Bein aus und trat ihm mit voller Wucht ins Gesicht. Er fiel zur Seite wie ein Baum, prallte auf den Boden auf, ohne sich abzustützen, und stand nicht wieder auf.

»Scheiße, sie ist wach«, hörte sie wieder die Stimme.

Die Faust kam aus dem Nichts, traf sie ins Gesicht und brachte die Dunkelheit zurück.

Als sie erneut zu sich kam, hatte jemand eine Jacke um sie gelegt. Ihr Unterleib brannte wie Feuer, und sie spürte, dass ihr linkes Auge zugeschwollen war. Auf der Zunge schmeckte sie Blut.

»Alles wird gut«, sagte jemand.

Sie öffnete die tränenverklebten Augen. Der Junge, der sie gefickt hatte, lag wie tot neben ihr. Gwendolyn hob den Kopf. Einer der Typen, mit denen sie am Abend getrunken hatte, stand ihr gegenüber. Seine Miene wirkte besorgt.

Die Stimme neben ihr sagte: »Wir haben die Polizei gerufen.«

Etwas kam ihr komisch vor. Sie versuchte, den Nebel in ihrem Gehirn zu vertreiben, sich zu erinnern. Diese Stimme. Gwendolyn verstand nicht. Ergab das irgendeinen Sinn?

»Was ist passiert?«, stammelte sie leise und klammerte sich an die winzige Hoffnung, das alles wäre nur ein böser Traum, aus dem sie jeden Moment erwachen würde. Diesmal richtig.

»Er hat …« Der Typ neben ihr seufzte schwer. »Er hat dich vergewaltigt. Wir sind zu spät gekommen, um dich vor ihm zu beschützen.«

Er sah seinem Begleiter ins Gesicht, diesem Kerl, den Gwendolyn vor der Party noch nie gesehen hatte. Der Fremde zog den Mundwinkel nach oben. Ein Lächeln? Es war nur kurz zu sehen, und fast meinte sie, es sich eingebildet zu haben.

Doch es war dieses Lächeln, das sie über die kommenden Jahre verfolgen würde. Dieses Lächeln, das schlimmer war als die Erinnerungen. Schlimmer als das Gerede im Dorf, und sogar schlimmer als die bangen Wochen, in denen sie auf ihre Regel wartete. Es war dieses Lächeln zwischen den beiden Jungen, die von allen für ihre Hilfsbereitschaft gefeiert wurden, das ihr bis heute nachts den Schlaf raubte. Das ihr unmissverständlich sagte: Da ist mehr gewesen, als du weißt.

Viel mehr.

1

30. Oktober 2022, 5:00 Uhr

Das leise Klicken eines Feuerzeugs ließ Milo herumwirbeln. »Vince«, zischte sie genervt. »Das ist ein Tatort!«

Ihr Kollege verdrehte die Augen. »Der Tatort, liebe Hauptkommissarin Milosevic, ist im Moment erst mal nur ein Leichenfundort, außerdem befindet er sich fünfzig Meter entfernt von hier.« Er zog den Rauch tief in seine Lunge, deutete auf das Gebüsch in einiger Entfernung und atmete achselzuckend kurz darauf wieder aus. Als ihn Milo weiter erbost musterte, warf er die Zigarette auf den Boden und trat sie mit der Schuhsohle und einer gehörigen Portion Theatralik aus. »Besser?«

Sie fluchte, holte einen durchsichtigen Beutel aus der Jackentasche, schob ihren Partner beiseite und hob die zerdrückte Zigarette auf. Mit spitzen Fingern schob sie den Stummel in die Tüte und drückte sie Vince in die Hand. »Wegwerfen. Und zwar pronto.«

Er schlug die Hacken zusammen und salutierte. »Jawohl, Gospođa Milosevic.«

Milo schob die Brauen noch weiter zusammen. Sie hasste es, wenn Vince Witze dieser Art machte. Oder ihren Nachnamen sonst wie erwähnte. Milosevic war ein gängiger serbischer Familienname – Hunderttausende in der Heimat ihrer Eltern hießen so. Leider aber auch ein gewisser Slobodan, der für den größten Genozid in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs verantwortlich war. Und trotzdem war das immer noch besser, als wenn Vince sie bei ihrem eigentlichen Vornamen rief, was außer ihren Eltern niemand tat. Jagoda – blöder konnte man es beim eigenen Namen eigentlich nicht treffen. Immerhin beachtete ihr Kollege nun ihren Dienstgrad ausnahmsweise und tat, worum sie ihn gebeten hatte. Dass er es sonst mit Vorschriften nicht so eng nahm, war kein Geheimnis in der Mordkommission. Bislang hatte sich Vincent Frey, Gott sei Dank, nichts Ernstes zuschulden kommen lassen. Trotzdem nervte es Milo, dass ihr Partner selbst die einfachsten Hygieneregeln der Ermittlung so auslegte, wie es ihm in den Kram passte. Und noch mehr nervte sie, dass er mit seinem Charme und einem Lächeln jedes Mal davonkam. Sie selbst hatte diesen Beruf gerade wegen der Korrektheit und der Ordnung gewählt.

Betont lässig schlenderte Vince nun zu einem der öffentlichen roten Mülleimer, auf dem eine weiße Sprechblase mit den Worten »Bin für jeden Dreck zu haben« prangte, und ließ die Tüte hineinfallen. Dann klopfte er sich den unsichtbaren Staub von den Händen und sagte: »Geht das jetzt endlich mal los hier?«

Milo musste sich zusammenreißen, um ihrem Partner nicht schon am frühen Morgen die Leviten zu lesen. Ohne ein weiteres Wort wandte sie sich dem Gebüsch zu, das von rot-weißem Flatterband abgesperrt war und von Scheinwerfern erhellt wurde. Wie dreibeinige Außerirdische mit riesigen Augen erhellten sie die Nacht. Menschen in weißen Ganzkörperanzügen liefen zielstrebig von links nach rechts, silberne Alukoffer, kleine Plastiktüten und große Taschenlampen in den Händen, mit denen sie die Umgebung nach Spuren absuchten.

Im selben Moment schob sich eine zierliche Gestalt durch die weiß Vermummten und winkte Milo und Vince zu sich. Dr. Susanne Süß, jüngste Rechtsmedizinerin des Landes Hamburg aller Zeiten, gab den beiden zu verstehen, dass die Spurensicherung am Fundort fertig war und sie sich endlich die Leiche ansehen konnten.

Ohne auf Vince zu warten, stapfte Milo über den matschigen Rasen in Richtung des Gebüschs. Auf dem nassen Gras lagen bereits gelbe Blätter, die die Bäume des Stadtparks abgeworfen hatten. Ein sicheres Zeichen, dass der Sommer endgültig vorbei war, trotz der milden Temperaturen, die zwischenzeitlich noch einmal geherrscht hatten. Milo fröstelte und zog den Reißverschluss ihrer dünnen Lederjacke zu. Das garstige Wetter passte bestens zur garstigen Uhrzeit.

Dr. Süß kam ihnen strammen Schrittes entgegen. Milo wusste nicht, wie sie sich eine typische Rechtsmedizinerin vorstellte, aber die Kollegin war eine Überraschung für sie gewesen: Die Frau war maximal eins sechzig und brachte höchstens 45 Kilo auf die Waage. Tropfnass und mit Klamotten. Sie wirkte, als ob sie gerade die erste Anatomie-Prüfung bestanden hätte. Dabei war sie Anfang dreißig, Überfliegerin ihres Jahrgangs und mit einem messerscharfen Verstand gesegnet. Einen größeren Kontrast zu Professor Heiner Papst, ihrem Vorgänger, der mittlerweile in den Ruhestand entlassen war, hätte es nicht geben können. Papst war ein Riese gewesen, Dr. Süß hätte mindestens dreimal in ihm Platz gefunden. Die Tage bis zur Pensionierung hatte er mit einem Abreißkalender gezählt und am Ende nicht mehr so lichterloh für seine Obduktionen gebrannt, wie das nun bei Dr. Süß der Fall war. Die musste sich dank ihres Engelsgesichts und des jugendlichen Aussehens seit dem ersten Tag im rechtsmedizinischen Institut mit einer ihrer Assistentinnen verwechseln lassen, und hatte deshalb einen ziemlichen Ehrgeiz darin entwickelt, aller Welt zu beweisen, dass sie auf ihrem Gebiet die Beste war.

»Männlich, weiß, vermutlich zwischen 30 und 40 Jahre alt. Eins achtundachtzig groß, schätzungsweise 85 Kilo. Seit mindestens acht Stunden tot. Am Hals hat er eindeutige Strangulationsmale, sie wurden ihm durch diesen«, sie hob eine durchsichtige Tüte hoch, »schwarzen Kabelbinder zugeführt. Über dem Kopf war eine Mülltüte. Haben wir beides neben der Leiche gefunden.« Sie hielt einen anderen Beweismittelbeutel in die Höhe, in dem eine schwarze Tüte mit gelbem Zugband steckte. Eine Tüte in der Tüte, die Ironie daran entging Milo nicht. Ansonsten hatte das Ding nicht viel zu bieten, es war Supermarktstandard, Massenware. Jeder zweite Deutsche trug so ein Exemplar regelmäßig zur Tonne. Unmöglich, da eine Spur zu verfolgen, wenn der Mörder nicht zufällig seine DNS oder Fingerabdrücke hinterlassen hatte.

Vince, der Milo gefolgt war, schmatzte mit einem frischen Kaugummi im Mund: »Wer hat den Toten gefunden?«

Dr. Süß zeigte auf den Rettungswagen, der in der Nähe der Bäume auf dem Rasen parkte. In der geöffneten Heckklappe saß eng umschlungen, in eine Decke gewickelt, ein Teenager-Pärchen. »Zwei Nachtschwärmer. Julie Franz und Paul Wankewitz.«

Milo zog einen Block aus der Jackentasche und notierte die Namen. Sie konnte sich schon denken, was die beiden zu nachtschlafender Zeit im Stadtpark getrieben hatten.

»Alles klar.« Sie nickte Vince zu. »Du übernimmst die Kids. Ich schau mir den Toten an.«

Ihr Kollege wollte protestieren, überlegte es sich offenbar aber anders und marschierte kommentarlos in Richtung des Rettungswagens.

Hinter Dr. Süß lief Milo durch das Gras zum Unterholz. Sie warf einen Blick auf ihr Handy. Es war gerade einmal fünf Uhr am Morgen. Wenn der Tote vor acht Stunden noch gelebt hatte, war er seinem Mörder auf einer abendlichen Runde im Stadtpark begegnet. Ein Spaziergang vielleicht, oder der Heimweg nach ein paar Bierchen mit Freunden in einer Bar. In den frühen Morgenstunden, als Milo gerade das Haus verlassen hatte, um zum Stadtpark zu fahren, hatte es zu regnen angefangen. Für Spuren bedeutete das nichts Gutes.

Als hätte Dr. Süß Milos Gedanken erraten, sagte sie: »Die Spurensicherung hat Dutzende von Spuren gesammelt, aber es ist ein öffentlicher Park.«

»Und es hat geregnet.«

Dr. Süß zuckte mit den Schultern.

Sie hatten ihr Ziel erreicht. Als Milo näher trat, hielt sie für einen Moment die Luft an. Der Anblick war kein schöner – nicht mal für eine erfahrene Ermittlerin wie sie. Sie betrachtete das Gesicht des toten Mannes. Es war blau angelaufen, wirkte aufgedunsen, die schwarze Zunge hing aus dem Mundwinkel. Seine Haut war wächsern und fahl. Dort, wo einmal die Augen des Mannes gewesen waren, prangten zwei rotschwarze matschige Löcher im Schädel.

Sie räusperte sich, plötzlich war da ein bitterer Geschmack in ihrem Mund. »Ihm wurden die Augen ausgestochen.«

Dr. Süß nickte nachdenklich. »Vermutlich rausgeschnitten, so genau kann ich das jetzt noch nicht sagen.«

»Hat man die Augen gefunden?«

»Ja, lagen neben der Leiche.«

Milo fröstelte und zwang sich, den Blick von den schrecklichen Wunden im Gesicht zu lösen. Sie hob den Kopf und hatte mit einem Mal das Gefühl, jemand würde sie beobachten. Unsichtbare Blicke, die sie auf ihrem Körper spürte, aus Augen, die dem verstümmelten Schädel zu ihren Füßen fehlten … Sie schüttelte sich. Einbildung, mehr nicht! Dann konzentrierte sie sich wieder auf die Leiche.

Der Tote trug Trainingsklamotten, schwarze Lauf-Tights, ein dunkles Funktionsoberteil mit neonfarbenen Reflektoren und neuwertig wirkende Joggingschuhe. Um seinen Oberarm spannte sich ein schmaler Gurt. Sie deutete darauf.

»Das Telefon?«

»Steckte im Armgurt. Die Techniker werten es bereits aus«, erklärte Dr. Süß und fügte nach einem Moment der Stille hinzu: »Eine grausame Art zu sterben.«

»Warum?«

»Weil es lange gedauert hat. Mindestens fünf Minuten muss er gegen den Tod gekämpft haben.«

»Wurden die Augen post mortem entfernt?«

»Das kann ich erst nach der Obduktion sagen.«

Milo bemerkte die Gänsehaut, die sich auf ihrem Körper ausbreitete. »Ist er erstickt oder wurde er stranguliert?«

Die Rechtsmedizinerin zuckte wieder mit den Schultern. »Das weiß ich alles noch nicht. Äußerlich gibt es – neben den fehlenden Augen – nur eine andere Wunde, aber die hätte niemals zum Tod geführt. Und, bevor die Frage kommt, auch nicht das Entfernen der Augen.«

»Kampfspuren?«

»Nicht viele. Wenigstens nicht an Händen und Fingern. Was dafür spricht, dass die Augen erst nach dem Exitus entnommen wurden.«

Milo runzelte die Stirn und dachte laut nach. »Der Kerl joggt durch den Park, plötzlich zieht ihm jemand eine Tüte über den Kopf und schlingt ihm einen Kabelbinder um den Hals.« Sie wusste, wie schwer es war, das schmale Ende des Plastikstrangs in die winzige Öffnung einzuführen, um den Kabelbinder zuzuziehen. Wenn das Opfer sich währenddessen zur Wehr setzte …

»Das ist so gut wie unmöglich«, sprach sie den Gedanken laut aus.

Dr. Süß lächelte schmallippig. »Hier kommt die Wunde am Hinterkopf ins Spiel.« Sie ging in die Hocke, packte den Toten an der Schulter und wuchtete ihn überraschend geschickt auf die Seite, sodass Milo eine zentimetergroße Platzwunde am Schädel erkennen konnte. »Er war nach dem Schlag sicherlich für ein paar Sekunden ohnmächtig, zumindest weggetreten. Danach hatte der Täter leichtes Spiel.«

»Oder die Täterin«, gab Milo zu bedenken.

Die Gerichtsmedizinerin blickte sie mit zusammengezogenen Augenbrauen an. »Sie wollen jetzt aber nicht, dass ich hier mit dem Gendern anfange, oder?«

Milo hob entschuldigend die Hände. »Ich meine ja nur. Theoretisch könnte es auch eine Frau gewesen sein.«

»Das stimmt. Theoretisch könnte ich aber auch gerade auf Mauritius Urlaub machen.« Dr. Süß ließ den Toten wieder auf den Rücken fallen und richtete sich auf. »Es brauchte schon eine gewisse Kraft, das Opfer zu überwältigen und ins Gebüsch zu ziehen. Als Schlagobjekt hätte alles herhalten können, was man hier so findet.« Sie sah sich um. »Steine, ein großer Ast … Die Kollegen halten danach Ausschau.«

»Aber auch eine einigermaßen starke Frau hätte den Schlag ausführen können«, hakte Milo nach.

Dr. Süß seufzte. »Ja. Theoretisch schon. Vermutlich war die Reihenfolge so: ein gezielter Schlag auf den Schädel mit einem zufällig gefundenen oder mitgebrachten Gegenstand. Mülltüte und Kabelbinder, Erdrosselung, anschließend die Entfernung der Augäpfel, die der Täter«, sie zögerte, »oder die Täterin neben der Leiche ablegte. Das Vorgehen setzt eine gewisse Vorbereitung voraus, denn zumindest Kabelbinder und ein Instrument, um Augäpfel aus den Höhlen zu schneiden, finden sich hier im Park nicht.«

»Und für die Erdrosselung mit dem Kabelbinder braucht man nicht viel Kraft?«

Dr. Süß schüttelte den Kopf. »Nein, das ist wesentlich leichter und geht schneller, als wenn man es mit den bloßen Händen versuchen würde, vor allem wenn das Opfer vom Schlag noch bewusstlos oder benommen ist.«

Nachdenklich betrachtete Milo die Leiche. Das sah wirklich nicht nach einem spontanen Angriff aus. War der Tote dennoch ein Zufallsopfer, oder hatte der Mörder oder die Mörderin hier auf ihn gewartet? Dass er die Augen herausgeschnitten, aber nicht mitgenommen hatte, war ungewöhnlich.

Plötzlich war da wieder dieses Gefühl, als würde sie jemand anstarren. Mit einem Ruck wirbelte sie herum, aber es war nur Vince, der seine Befragung beendet hatte und auf sie zukam.

Er verzog beim Anblick des Toten den Mund, dann riss er sich los und sagte: »Julie und Paul, sie fünfzehn, er siebzehn. Wollten es im Stadtpark treiben, weil sie es zu Hause nicht können. Sie ist vollkommen durch den Wind, er kriegt die Zähne nicht auseinander.« Vince machte ein mitfühlendes Gesicht.

Milo war sich nicht sicher, welchen der beiden traumatisierten Teenager er mehr bemitleidete, wollte es aber auch nicht wissen. »Haben sie irgendwas bemerkt? Jemanden gesehen?«, hakte sie stattdessen nach.

Vince schüttelte den Kopf. »Gar nichts. Aber die beiden werden in den nächsten Nächten garantiert kein Auge zumachen. Falls sie den Anblick überhaupt jemals vergessen. Mal davon abgesehen, dass sie einen Arsch voll Ärger von den Eltern bekommen.«

Milo schwieg. Als hätte ein Arsch voll Ärger Vince schon jemals von irgendwas abgehalten. Seine Leck-mich-Haltung würde ihm eines Tages noch das Genick brechen, wenn es nicht die Zigaretten vorher taten.

»Wissen wir, wie der Tote heißt?«, wechselte sie das Thema.

Dr. Süß nickte und zog eine in eine Plastiktüte verpackte Kreditkarte aus einer Tasche ihres Overalls. »Michael Schmidt.«

»Echt? So heißen Leute noch?«, sagte Milo verblüfft. »Ein richtiger Max Mustermann.«

Vince grinste. »Es kann nicht jeder so viel Glück bei der Namenswahl haben wie du, meine süße Erdbeere.«

Was hat mich geritten, ihm das zu verraten?, fragte sich Milo und dachte an den Abend vor einem Jahr, als sie mit Vince in der Austerbar versackt war. Obwohl – oder viel eher: weil – sie normalerweise wenig bis nichts trank, hatten die zwei Gin Tonic, die der Kollege ihr aufgedrängt hatte, ihre Zunge etwas zu sehr gelockert. Viel zu viel hatte sie ihm von sich erzählt. Von ihrer schwierigen Jugend in Billstedt. Der komplizierten Einwanderungsgeschichte ihrer Familie. Und von ihrem serbischen Vornamen Jagoda, der auf Deutsch Erdbeere hieß.

Energisch verdrängte sie den Gedanken. »Was wissen wir über Michael Schmidt?«

»Ich hab eben mit den Technikern gesprochen, die sagen nach einer ersten Auswertung seines Telefons, dass er laut Navigations-App in Winterhude wohnt. Zumindest hat er da eine Adresse mit ›Zuhause‹ markiert.«

»Ruf mal im Büro an. Nadja soll alle Michael Schmidts in Winterhude raussuchen. Vielleicht hat er eine Akte.«

»Nadine. Sie heißt Nadine«, korrigierte Vince sie.

Milo winkte ab. Heute sollte er sie mit Namen bloß in Ruhe lassen. Sie warf einen letzten Blick auf den Toten. »Niedergeschlagen, erdrosselt und erstickt. Warum Tüte und Kabelbinder? Hätte eines von beiden nicht gereicht?« Ein weiteres Mal lief ihr ein Schauer über den Rücken beim Gedanken an den schrecklichen Todeskampf des Joggers vor ihr im Dreck.

Dr. Süß antwortete trocken: »Da wollte jemand ganz sicher gehen.«

2

30. Oktober 2022, 7:00 Uhr

Vince parkte den schwarzen Passat in zweiter Reihe vor einem der Jugendstilhäuser. Der Roepersweg war eine schmale Straße, links und rechts von vierstöckigen Altbauten flankiert. Mehrere große Bäume ragten über die voll besetzten Parkbuchten hinaus. Die meisten Autodächer waren von oben bis unten mit Vogelkot zugeschissen.

»Nette Gegend«, befand Vince und stellte den Motor aus.

»Das ist kein Parkplatz«, stellte Milo fest und drehte sich um. Die Straße war so eng, dass der Wagen die Durchfahrt blockierte. »Da passt doch keiner mehr durch.«

Vince sah sie einen Augenblick lang an, bevor er den Schlüssel aus der Zündung zog. »Jagoda Milosevic. Eine bessere Deutsche hat das Land nie gesehen.« Er lachte und stieg aus.

Milo folgte ihm, einen unterdrückten Fluch auf den Lippen. Was bildete der Kerl sich ein? Selbst wenn er vielleicht ein kleines bisschen recht hatte. Immerhin, die Spurensicherung würde gleich noch mit dem großen Kastenwagen kommen, und dann war in dieser engen, zugeparkten Straße sowieso kein Durchkommen mehr.

Aus der Jackentasche zog sie den Wohnungsschlüssel, den sie in einer kleinen Innentasche des Laufoberteils des Toten gefunden hatten, und folgte Vince zu Hausnummer 12. An den Klingelschildern ließ sich erkennen, dass Schmidt im dritten Stock wohnte. Sie schob sich an ihrem Kollegen vorbei, öffnete die Haustür und betrat den Eingangsbereich. Er wirkte nicht nur ordentlich, man hätte vom Boden essen können. Als sie eintraten, ging ein Bewegungsmelder an, der das Foyer mit antikem Terrazzo-Boden und Stuck an der Decke sowie die honigfarbenen Stufen der gewendelten Treppe in ein sanftes, indirektes Licht tauchte. Links an der Wand hingen acht identische silberne Briefkästen, unter der Treppe standen in Reih und Glied, klinisch sauber, drei hochpreisige Kinderwägen. Milo musste an den Eingang im Wohnhaus ihrer Eltern denken. Nicht aufgrund der Ähnlichkeit, sondern weil der Kontrast nicht größer hätte sein können. Im Zuhause ihrer Kindheit hatte der Flur als Zwischenhalde für überquellende Mülleimer, ausrangierte Möbel und Schuhe herhalten müssen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, in 18 Jahren Billstedter Hochhaus jemals einen Menschen mit einem Besen oder gar einem Wischmopp im Treppenhaus gesehen zu haben.

Auch Vince pfiff anerkennend durch die Zähne, während er den Blick schweifen ließ. »Das sieht ein bisschen schicker aus als bei mir zu Hause.«

»Du wohnst in St. Pauli. Ich glaube nicht, dass es da solche luxuriösen Wohnobjekte überhaupt gibt.«

Er lächelte schmallippig. »Nein, die überlassen wir gern den Schnöseln in Winterhude und Eppendorf.«

Jeder in Hamburg wusste, dass die Mietpreise rund um die Binnenalster hoch waren und ein bestimmtes Publikum geradezu magnetisch anzogen: Anwälte, Ärztinnen, Architekten, junge Pärchen mit doppeltem Einkommen, die sich gemeinsam eine 60-Quadratmeter-Wohnung für 1.500 kalt leisten konnten, in der sie bis kurz nach der Geburt des ersten Kinds lebten und sich dabei so fühlten, als wäre es das »echte Hamburg«. Überall in der Umgebung fanden sich hippe Szeneläden, die dreihundert Sorten Craftbeer ausschenkten, kleine Cafés, in denen man gluten-, milch- und zuckerfreie, dabei Instagram-taugliche »lunches« und »brunches« konsumieren konnte, inhabergeführte Boutiquen, in denen man für einen Wollpullover durchschnittlicher Qualität ohne Wimpernzucken 250 Euro hinblätterte, allein deshalb, weil das Preisschild aus recyceltem Papier war. Wer hier wohnte, musste nicht aufs Geld achten, lebte traditionelle Beziehungsmodelle rauf und runter und wiegte sich trotzdem in der Sicherheit, urban und hip zu sein. Und: Wer hier wohnte, wurde nur in den seltensten Fällen beim Joggen im Park erdrosselt.

Sie stiegen in den dritten Stock hinauf. Es war früh am Morgen, aber hinter einigen Türen konnte Milo bereits die leisen Geräusche der erwachenden Bewohner hören. Eine Spülmaschine, die gerade ausgeräumt wurde. Das Ausklopfen eines Siebträgers. Das zufriedene Quieken eines Kleinkindes.

Billstedt klang anders. In dem Teil des Viertels, in dem Milo aufgewachsen war, war es niemals leise. Irgendwo stritt immer ein Paar, dessen Geschrei durch die papierdünnen Wände und Decken drang. Das Treppenhaus war erfüllt von einer Kakofonie aus viel zu laut eingestellten Fernsehgeräten, deren unterschiedliche Programme in verschiedenen Sprachen wild durcheinanderquäkten. Und es kreischte stets ein sehr unzufriedenes Baby.

Gereizt schüttelte Milo den Kopf. Sie wusste selbst nicht, warum an manchen Tagen unentwegt Szenen von vor zwanzig Jahren aus ihrem Unterbewusstsein hervorquollen. Vielleicht weil sie manchmal immer noch nicht glauben konnte, es dorthin geschafft zu haben, wo sie heute war. Es wäre nämlich ein Leichtes gewesen, auf ihrem Lebensweg eine falsche Abbiegung zu nehmen.

Im dritten Stock angekommen, drehte sich Milo nach links und entdeckte das gravierte Türschild, auf dem Schmidts Name prangte. Klar, hier bekam man eigene Türschilder von der Hausverwaltung.

Bevor sie den Schlüssel ins Türschloss steckte, klingelte sie. Lebenspartner oder andere Mitbewohner waren nie auszuschließen. Doch niemand öffnete. Vor dem Eintreten in die Wohnung zogen Milo und Vince blaue Plastiküberzieher über die Schuhe und schlüpften in Einweghandschuhe.

»Hallo?«, rief sie sicherheitshalber noch einmal beim Öffnen der Tür, aber auch dieses Mal erhielt sie keine Antwort.

Milo betrat den schmalen Flur. Auf den ersten Blick war zu erkennen, dass Schmidt neben der Miete genug Geld für die restlichen Annehmlichkeiten des Lebens zur Verfügung gehabt hatte. An einer Garderobe an der Wand hing ein sandfarbener Wollmantel, daneben ein dunkelblauer Trenchcoat. Zwei Budapester in Cognac und Schwarz sowie ein Paar Ankleboots standen auf dem Boden, alle glänzten frisch gewachst.

Vince gab Milo ein Zeichen und wandte sich nach links. Sie selbst tastete sich nach rechts vor. Der gestylte Flur mündete in ein geradezu antiseptisch sauberes, geräumiges Wohn- und Esszimmer. Eine elegante graue Designercouch befand sich an der hinteren Wand, davor auf dem Boden lag ein Teppich, dessen Kanten exakt mit denen des Sofas abschlossen. Darauf stand ein gläserner, moderner Couchtisch und rechts davon, an der Fensterseite, ein schmales Sideboard mit einer verloren wirkenden Vase darauf. Darüber schwebte ein riesiger Flatscreen.

Ein Esstisch mit verchromten Beinen und weißer, glänzender Oberfläche, umrahmt von vier Eames-Chairs, komplementierte das Bild. Hinter dem Tisch war eine schmale Bilderleiste an der Wand angebracht, auf der drei silberne Rahmen standen. Milo hätte schwören können, dass zwei davon noch die Beispielbilder aus dem Möbelhaus beinhalteten, das dritte zeigte Michael Schmidt in Joggingmontur bei einem Zieleinlauf. Vermutlich ein Marathon.

Es gab keine Kissen, keine Vorhänge, keine persönlichen Gegenstände und kein Leben in diesem Raum. Selbst die Vorführkojen bei IKEA strahlen mehr Persönlichkeit aus als dieses Zimmer, dachte Milo.

Durch eine weitere Tür gelangte sie ins Schlafzimmer, in der sie dieselbe nüchterne Kälte empfing. Ein riesiger Wandschrank und ein französisches Bett waren die einzigen Möbelstücke. Immerhin gab es hier Metalljalousien vor den Fenstern.

»Wow. Hier drin sieht es aus wie im Knast«, meinte Vince, der in diesem Moment ins Schlafzimmer getreten war. »Außer Joggen und Arbeit scheint der Typ nichts gemacht zu haben.«

»Ganz schön exklusiver Knast«, antwortete Milo knapp. »Hast du irgendwas Interessantes gefunden?«

Er zuckte mit den Schultern. »Proteinshakes und jede Menge Nudeln, im Kühlschrank herrscht gähnende Leere, sieht man davon mal ab.« Er hob eine Packung Milchschnitte hoch. »Die gab’s bestimmt nur ausnahmsweise. Wenn er mal einen draufmachen wollte.« Vince ließ die Packung sinken. »Komischer Kerl.«

»Kann man wohl sagen. Es ist so … unpersönlich hier«, murmelte Milo, während sie eine Schranktür öffnete. Zwölf verschiedene Anzüge derselben Marke in den Nuancen Grau bis Dunkelblau. Selbst die Krawatten, die in einer Schublade darunter fein säuberlich aufgereiht lagen, waren in gedeckten Farben. Sie öffnete auch die anderen Schranktüren. »Irgendwo muss er doch persönliche Dinge lagern. Fotografien. Unterlagen von der Rentenversicherung. Briefe, Erinnerungen.«

Warum wird ein Typ, der so nichtssagend ist, auf derart grausame Art ermordet?, fragte sich Milo. Der Schlag auf den Hinterkopf, die Mülltüte, der Kabelbinder, die leeren Augenhöhlen. Vielleicht hatte die postmortale Blendung eine symbolische Bedeutung. Milo nahm sich vor, der Ermittlungsassistentin, deren Namen sie schon wieder vergessen hatte, den Auftrag zu geben, nach anderen Fällen zu suchen, bei denen den Opfern die Augen entnommen worden waren.

Vince verließ den Raum und kam eine halbe Minute später wieder zurück. Er hielt ein silbernes MacBook in der Hand. »Jede Wette, das ist alles da drin. Dieser Schmidt war ein Asket. Und wirkt ziemlich spaßbefreit. Zumindest, wenn seine Wohnung ein Indikator ist.«

Sie sah sich erneut um. Das war wirklich kein Ort zum Wohlfühlen. »Wo hast du den Computer gefunden?«

»Im Schrank neben dem Fenster. Unter dem Fernseher.«

»Ist da noch mehr?« Sie folgte ihm ins Wohnzimmer und begutachtete das Innenleben des Möbels. Zwei Ordner, in denen Michael Schmidt Versicherungspolicen und den Fahrzeugschein für einen Audi verwahrte. Eine Handvoll Bücher über Buchhaltung und Controlling. Eine Kiste mit Kabeln und Ladegeräten. Daneben eine externe Festplatte, ein DVD-Player und ein iPod. Und eine Schatulle mit Kerzen und Teelichtern darin, alle ausschließlich weiß.

»Doch ein Romantiker?«, fragte Vince lakonisch.

Milo stand seufzend auf. »Diese Wohnung sieht aus, als würde hier gar niemand wohnen. Ich habe Airbnbs gesehen, die persönlicher waren.«

Ihr Kollege sah sich langsam um. »Ich weiß nicht, aber … irgendwas stimmt hier nicht.«

Sie sah ihn nachdenklich an. »Wieso?«

Er knabberte an der Unterlippe. »Ich gehe mal davon aus, dass der Kerl nicht 007 war oder beim BND arbeitete. Wo hat der seinen ganzen persönlichen Krempel?«

Darüber hatte Milo auch schon nachgedacht.

»Dachboden? Keller?«, fragte sie, ohne selbst daran zu glauben. »Oder er ist einfach Minimalist?«

»Oder?«

»Oder, was?«

»Oder Michael Schmidt hat ein Geheimnis.«

»Geheimnis? Was für ein Geheimnis?«

Vince zuckte wieder mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber wenn du mich fragst, hat jemand, der in einer so unpersönlichen Bude lebt, irgendwas zu verbergen. Wegen Minimalismus werden einem, soweit ich weiß, nämlich nicht einfach mal so die Augen aus dem Kopf geschnitten.«

3

30. Oktober 2022, 9:00 Uhr

Es hatte schon wieder begonnen zu regnen. Von etwaigen Spuren am Leichenfundort würde binnen einer halben Stunde nur Matsch übrig bleiben. Hoffentlich waren die Kollegen im Park mittlerweile durch.

Milo fröstelte, während sie vor der Bäckerei in der Schlange stand und darauf wartete, dranzukommen. Ihr Handy vibrierte, und sie zog es aus der Tasche, um die Mitteilung zu lesen: Dauert das heute den ganzen Tag, oder besteht die Chance auf ein spätes Frühstück zusammen?

Sie tippte eine kurze Nachricht in die Zeile: Komme bald. Halt das Bett warm.:)

Dann war sie endlich an der Reihe. Sie kaufte sechs Franzbrötchen fürs Team und ließ sich zwei weitere in eine extra Tüte packen, bezahlte und verließ die Bäckerei. Vince lehnte am Passat und rauchte.

»Rauchen vermindert die Qualität deiner Spermien«, kommentierte Milo und stieg in den Wagen.

Er warf die Zigarette weg und setzte sich hinters Steuer.

»Fünfundzwanzig Euro Bußgeld«, erinnerte Milo ihn. So viel kostete es mittlerweile, wenn man in Hamburg seine Kippe auf dem Boden entsorgte.

»Ich dich auch«, erwiderte Vince und fuhr los.

Als sie die zweite Etage des klobigen Siebzigerjahrebaus erreichten, in dem die Mordkommission untergebracht war, hatte Serpil Özdemir, die Leiterin des Kommissariats, bereits mit der Zusammenfassung der bisher bekannten Ergebnisse begonnen. Die beiden platzten mitten in ihren laufenden Vortrag hinein.

»… gebürtig aus Usedom, 37 Jahre alt, seit acht Jahren in Hamburg gemeldet. Studium der Betriebswirtschaft. Das Opfer arbeitete als Controller bei einer Unternehmensberatung. Seine Akte ist sauber. Keine Vorstrafen, keine Auffälligkeiten.«

»Ich sag doch, kein Spaß im Leben«, flüsterte Vince und biss in sein Franzbrötchen.

»Was hat die Durchsuchung der Wohnung ergeben?«, wandte sich die Chefin an die beiden Neuankömmlinge.

»Nichts. Rein gar nichts«, antwortete Milo.

»Die Bude ist so steril, dass man meinen könnte, der hätte ohnehin nie gelebt«, ergänzte Vince mit vollen Backen. »Ich wette, wir finden nicht mal Fingerabdrücke.«

»Ist die Spusi dort?«

Milo nickte. »Kurz nach uns aufgeschlagen. Viel finden werden die aber auch nicht. Alles picobello aufgeräumt und asketisch. Schmidt war ein echter Minimalist.«

»Was wissen wir noch?«, drängte Serpil.

Milo zückte ihren Block, auf dem sie die ersten Beobachtungen von Dr. Süß notiert hatte, und brachte ihr Team auf den neusten Stand. »Noch ist nicht klar, ob Schmidt wegen des Sauerstoffmangels gestorben ist oder ob ihm der Kabelbinder den Kehlkopf eingedrückt hat.«

»Fürs Endergebnis auch egal«, murmelte Vince und biss wieder vom Franzbrötchen ab. »Will noch jemand?« Er ließ die Tüte rumgehen. »Ach ja, der Tote hatte keine Augäpfel mehr. Die lagen neben der Leiche im Unterholz.«

Serpil, die mit ihren harschen Zügen und den teilweise ergrauten Haaren älter aussah, als sie war, verschränkte die Arme vor der Brust. »Die Technik sagt, dass er regelmäßig im Park laufen war. Offenbar war er Mitglied in einem Joggingtreff. Zumindest heißt einer der Gruppenchats auf seinem Telefon so.«

»Es gibt ein einziges Foto von ihm in der Wohnung«, sagte Milo zustimmend. »Darauf läuft er ebenfalls.«

Serpil dachte nach. »Ihr bekommt eine Liste seiner Kontakte und klingelt die mal durch. Aber vorher geht ihr bei ihm auf der Arbeit vorbei.« Sie drehte sich zu Horst um, dem ältesten Mitglied der Mordkommission. »Du fährst bitte nach Rostock, wo Schmidts Eltern wohnen.«

»Mach ich.« Er nickte und strich sich den Bauch.

»Heute.«

»Aber heute ist Sonntag«, beschwerte sich der füllige Kollege, der die meiste Erfahrung und den schlechtesten Modegeschmack innerhalb des Teams hatte. Seine speckigen Jeans und die schrecklichen Pullover aus Polyester waren in der Mordkommission eine Legende.

»Der Sohn dieser Menschen ist gestorben. Das sollten sie so schnell wie möglich erfahren. Denen wird egal sein, was für einen Wochentag wir haben.«

»Kann das nicht ein Kollege in Rostock übernehmen?«

Serpil blickte Horst finster an. »Müssen wir das wirklich diskutieren? Du weißt genauso gut wie ich, dass die Reaktion der Angehörigen wichtig ist. Vielleicht wissen sie etwas. Feinde, Konflikte im privaten Umfeld, eine eifersüchtige Ex-Freundin, du kennst das Spiel.«

Horst schnaufte, klappte geräuschvoll sein Notizbuch zu und stand so schwungvoll auf, dass sein Stuhl über den Boden quietschte. Dann verließ er den Raum.

»Philipp, ich möchte, dass du dir Schmidts Privatleben ansiehst. Auch die Finanzen, den Mailverkehr, soziale Medien und so weiter. Einen Laptop gab es doch?«, fragte sie an Milo gewandt, die nickte. »Gut, Philipp, schau dir den an. Vielleicht findest du was.«

Der schmale Mann nickte knapp und schob sich die Brille höher auf die Nase.

»Die Obduktionsergebnisse werden im Laufe des Tages erwartet. Milo, Vince, haltet euch bereit, Dr. Süß wird sich bei euch melden.« Serpil nahm ihre Tasche und warf einen Blick auf die Uhr. »Meine Tochter wird heute zehn und hat sich einen Parcours-Geburtstag gewünscht. Wegen des beschissenen Wetters hat der Trainer einen Hindernislauf in der Tiefgarage von ALDI aufgebaut. Mich erwartet ein Nachmittag voller aufgeschlagener Knie und schreiender Mädchen. Ihr habt die ausdrückliche Erlaubnis, mich jederzeit anzurufen, wenn sich etwas Neues ergibt. Ansonsten sehen wir uns morgen, Meeting ist um elf.« Sie schulterte die Tasche, nickte noch einmal und verließ den Raum.

»Äh, hat Serpil vergessen, dass morgen Feiertag ist?«, flüsterte Vince in Milos Richtung.

Sie warf ihm ein freudloses Lächeln zu. Jeder, der in der Mordkommission arbeitete, wusste, dass es nach einem Mord keine Feiertage oder Wochenenden mehr gab. Zumindest vorerst.

Philipp erhob sich geräuschlos. Vince hielt ihm die fast volle Tüte mit den Franzbrötchen hin. Doch der Kollege schüttelte den Kopf und lief wortlos in sein Büro.

»Und was machen wir beiden Hübschen jetzt?«, wandte sich Vince an Milo.

Sie überlegte, dann nahm sie Vince die Bäckereitüte aus der Hand und sagte: »Um Schmidts Arbeit kümmern wir uns am Dienstag, da erreichen wir heute und morgen niemanden. Ich fahre jetzt nach Hause und versuche, noch eine Mütze Schlaf abzubekommen. Wir treffen uns später in der Rechtsmedizin, sobald Süß sich meldet.«

»Und was mach ich in der Zwischenzeit?«, wollte Vince verdutzt wissen.

»Keine Ahnung. Ruf irgendeine deiner Liebschaften an? Triff dich mit Freunden? Hast du kein Privatleben?«

»Nein! Ich lebe nur für meinen Job.«

Milo musste lachen. »Klar.«

»Kann ich mit zu dir?«

Sie zuckte zusammen. Machte er Witze? Vince hatte sie noch nie um einen Besuch gebeten. Was sollte das? Bemüht lässig antwortete sie: »Nein, sorry, das geht nicht.«

»Wieso nicht?«

»Ich trenne Arbeit und Privates.«

»Milo! Sei nicht so eine blöde Kuh«, quengelte er.

»Ich bin nicht dein Babysitter. Fahr nach Hause.«

»Da warten nur der Abwasch und mein leerer Kühlschrank.«

»Such dir eine Haushaltshilfe. Oder noch besser, eine feste Freundin.«

Er verdrehte die Augen.

»Wieso bleibst du nicht hier und arbeitest? Du könntest mit der Laufgruppe anfangen.« Sie drückte ihm die Tüte mit den Franzbrötchen wieder in die Hand. »Freunde dich mit Philipp an. Zwei einsame Herzen und so.«

»Ha ha.«

»Und schau mal im Internet, was du über Michael Schmidt findest.«

Er holte noch eines der Franzbrötchen aus der Tüte und betrachtete es frustriert. »Manchmal glaube ich, du kannst mich nicht leiden. Bei so einem Nullachtfünfzehn-Namen sitze ich bis Weihnachten an der Recherche.«

Sie klopfte ihm auf die Schulter, ehe sie sich grinsend umdrehte. »Genau aus diesem Grund solltest du dich mit Philipp besser anfreunden. Und nur fürs Protokoll: Ich kann dich wirklich nicht leiden.«

4

30. Oktober 2022, 16:30 Uhr

Als Milo sich am Nachmittag wieder auf den Weg machte, wünschte sie, der Sonntag wäre ausnahmsweise auch für sie heilig. Valeries Parfüm umgab sie wie eine schützende Wolke, als sie in den Passat stieg und Richtung Rechtsmedizin fuhr. Der Anruf von Dr. Süß hatte, wie immer, nicht lange auf sich warten lassen. Heute aber hätte Milo gern noch mal Heiner Papst aus dem Ruhestand geholt, nur um sich ein paar Stunden mehr in den Armen ihrer Freundin zu verschaffen.

Bei der Vorstellung, Vince hätte ihnen mit Kaffee und Franzbrötchen bewaffnet Gesellschaft geleistet, konnte sie ein Lachen nicht unterdrücken. Knapp zwei Jahre waren sie nun schon ein Team, aber von ihrer Beziehung zu Valerie Husteberg wusste er nichts, und das durfte gern auch so bleiben. Die Mordkommissarin, die mit einer Sexualtherapeutin liiert war. Mehr Inspiration für Vince’ einsame Stunden konnte man nicht liefern. Besser, dass niemand, wirklich niemand von ihrem Liebesleben erfuhr. Milo trennte nämlich nicht nur Beruf und Privatleben, sie trennte sogar ihr Privatleben fein säuberlich: Valerie auf der einen Seite, ihre Familie auf der anderen. Keiner der Milosevics wusste von ihrer Freundin, weder ihre Brüder Branko und Drago noch ihre Eltern. Und obwohl Milo den andauernden Streit mit Valerie über ihr ausstehendes Coming-out kaum ertragen konnte, würde sie die Enttäuschung in den Gesichtern ihrer Verwandten noch weniger aushalten. Bevor Vince sie also jemals zu Hause besuchte, mussten noch viele Mordfälle gelöst werden. Besser mit diesem weitermachen.

Der Parkplatz am Institut für Rechtsmedizin war fast leer. Andere Leute nahmen die Sache mit dem Sonntag offensichtlich deutlich ernster. In der Ferne konnte sie den schneeweißen BMW von Dr. Süß erkennen, makellos und blitzeblank geputzt. Einmal mehr wunderte sich Milo darüber, wie diese Frau das trotz des Hamburger Wetters schaffte. Daneben, deutlich vernachlässigter, stand der rostrote Opel Kadett von Vince quer über zwei Parkbuchten. Milo schüttelte den Kopf, es gab wirklich keine Regel, die ihr Partner nicht brach, wenn er die Gelegenheit dazu bekam. Außerdem konnte sie seine Begeisterung für die Karre nicht verstehen. Selbst wenn sich seine Eltern in Rüsselsheim am Band kennengelernt hatten, und selbst wenn das Baujahr der alten Kiste sein Geburtsjahr war: Der Kadett mit seinem Heckspoiler und den schwarzen Rennstreifen auf der Seite war ein unglaublicher Proletenschlitten. Sie schämte sich jedes Mal, wenn sie damit durch die Stadt heizten und der Motor aus dem letzten Loch pfiff.

Fröstelnd stieg sie aus dem Wagen. Der Oktober war wirklich verdammt kalt. Valerie hatte ihr eine warme Jacke angeboten, aber Milo würde sich eher eine Lungenentzündung holen, als sich am Kleiderschrank ihrer Freundin zu bedienen. Was halfen das gleiche Geschlecht und die gleiche Konfektionsgröße, wenn man, was den Geschmack anbelangte, unterschiedlicher nicht sein konnte? Milos Garderobe ließ sich mit Fifty Shades of Black mit vereinzelten Farbtupfern zusammenfassen, während Valerie am liebsten minimalistische Designer aus Skandinavien trug. In einem beruflichen Umfeld von Kommissaren und Polizisten hätte der mitternachtsblaue, knöchellange Wollmantel von Jil Sander Aufsehen erregt. Also hatte sie sich mit ihrer schwarzen speckigen Lederjacke begnügt, die sie nun fest um den Körper zog Milo schritt zügig auf das Gebäude zu. Der Pförtner öffnete ihr mit einem Summen die Tür und nickte ihr zu, sie brauchte weder ihre Marke zu zeigen noch nach dem Weg zu fragen. In den letzten Jahren war sie Stammgast in der Rechtsmedizin geworden.

Sie lief die langen Flure bis zu den Aufzügen und fragte sich zum wiederholten Male, warum Obduktionen immer im Keller stattfanden. Lag es an der Kälte? An den wenigen Besuchern? Oder daran, dass man die Zimmer mit Ausblick denen vorbehalten wollte, die ihn auch zu schätzen wussten? Im Fahrstuhl drückte sie den Knopf für das Kellergeschoss. Für einen Moment schloss sie die Augen und dachte an den Toten. Was musste das für ein Gefühl sein, nichtsahnend durch den Park zu rennen und plötzlich einen Schlag auf den Kopf zu bekommen? Das Nächste, das man sah, war das dunkle Plastik vor den Augen, und dann wurde auch schon die Luft knapp …

Die Härchen auf ihren Armen stellten sich auf. Ein leichtes Rucken, begleitet von einem sanften Klingen, ließen Milo wissen, dass sie ihr Ziel erreicht hatte. Die Türen glitten auseinander, und sie trat in einen grell beleuchteten Flur. In einiger Entfernung konnte sie ein helles Frauenlachen hören, gefolgt von einer tiefen Männerstimme, dann wieder das klingende Lachen. Wenigstens Vince und Dr. Süß lassen sich von den kalten Körpern hier unten nicht stören, dachte sie missbilligend und legte einen Zahn zu. Wie ihr Partner es immer wieder schaffte, Frauen jedes Alters, jedes Bildungsgrades und jeder Herkunft um den Finger zu wickeln, war Milo ein Rätsel. Sie würde es nie verstehen, und das lag sicher nicht nur an ihrer sexuellen Immunität gegenüber Männern.

Sie bog um die Ecke. »Hallo.«

Mit schuldbewusstem Blick und errötenden Wangen trat Süß einen Schritt von Vince weg und auf Milo zu, als diese den nüchternen Obduktionssaal betrat.

»Frau Milosevic. Wie schön, dass Sie es geschafft haben«, begrüßte sie Milo und strich sich verlegen eine blonde Strähne hinters Ohr. Milo musterte Vince kritisch, doch der schien sich keiner Schuld bewusst. Wahrscheinlich hatte er sein immer gleiches Flirtrepertoire abgespielt. Auf Frauen, die sonst nur mit sehr stillen Männern zu tun hatten, musste das doppelt wirken.

»Ich hoffe, ich störe nicht«, gab Milo trocken zurück, und Dr. Süß wurde noch röter.

»Aber nein. Auf keinen Fall. Wie kommen Sie darauf?« Sie räusperte sich. »Ich habe Vince gerade den vermuteten Tathergang geschildert.«

»Vince?« Milo zog erstaunt die Augenbraue nach oben.

Ihr Kollege grinste dabei wie ein Schuljunge. »Korrekt, mein Name«, erklärte er. »Susanne hat aber eben erst begonnen, du hast nichts verpasst.«

Milo verzog keine Miene. »Könnten Sie vielleicht noch einmal von vorn beginnen, Frau Dr. Süß?«, fragte sie stattdessen mit freundlicher Stimme.

Die Ärztin war mittlerweile knallrot angelaufen, nickte aber und begann, mit professioneller Genauigkeit den Tathergang, wie sie ihn aus der Obduktion hatte ableiten können, zusammenzufassen.

»Wie bereits am Fund- und Tatort vermutet, war es nicht die Kopfwunde, die zum Tod geführt hat. Das Opfer wurde durch den Kabelbinder stranguliert. Der eingedrückte Kehlkopf, aber auch die Stauungsblutungen im Kopfbereich lassen auf einen langsamen Erstickungstod von mehreren Minuten schließen. Ich würde sagen: sechs bis acht. Unter den Fingernägeln haben wir keine Hinweise auf den Täter gefunden, keine fremde DNS, dafür aber Farbpartikel der Mülltüte. Der Tote ist also noch mal zu Bewusstsein gekommen, als die Tüte bereits über seinem Kopf fixiert war. Er hat vermutlich versucht, sie zu zerreißen, dann aber mangels Sauerstoff alsbald die Orientierung verloren. Der Täter hat den Kabelbinder noch fester angezogen, um den Vorgang zu beschleunigen. Vielleicht war ihm das Opfer zu wehrhaft, vielleicht wurde er gestört? Jedenfalls geht die zweite Strangfurche etwas tiefer. Sie war es auch, die Michael Schmidts Leben endgültig beendet hat. Nach dem langen Erstickungskampf vermutlich eine Erlösung. Die Petechien in seinen Augäpfeln bestätigen die Theorie.« Sie räusperte sich. »Der Täter ließ sich Zeit.«

»Absicht?«, fragte Milo.

Süß zuckte mit den Schultern. »Möglicherweise. Vielleicht hat er aber auch bloß nicht gewusst, wie viel Kraft man braucht, um einen erwachsenen Mann zu erdrosseln. Würde ich Ihnen einen Kabelbinder in die Hand drücken und Sie auffordern, Ihren Kollegen damit zu strangulieren, wüssten Sie auf Anhieb, wie fest Sie zuziehen müssten?«

Milo blickte zu Vince und musste unwillkürlich grinsen. »So fest es geht«, antwortete sie ruhig.

»Das würde vermutlich trotzdem nicht reichen«, erklärte die Rechtsmedizinerin. »Ich vermute, der Täter wollte wirklich auf Nummer sicher gehen, aber wissen kann man das natürlich nicht. Es könnte auch sein, dass er das Opfer so lange wie möglich beim Todeskampf beobachten wollte. Das wäre dann aber ein sehr persönliches Motiv. Und spräche gegen die schwarze Mülltüte über dem Gesicht.«

Mit dem Motiv waren sie im Fachgebiet von Milo und Vince angekommen. Aber hatten sie überhaupt schon irgendeine Idee zu Täter und Motiv? War die Tat persönlicher Natur – oder war Schmidt ein Zufallsopfer? Und wie passte die Mülltüte in die Gleichung, die immerhin das Gesicht des Toten verborgen hatte? Wenn sich ein Täter am langsamen Ersticken seines Opfers ergötzte, wollte er dann nicht dem Sterbenden dabei zusehen? Milo spürte, dass dieses Detail wichtig war, konnte sich jedoch bisher keinen Reim darauf machen. Vor allem nicht in Kombination mit den entnommenen Augen.

»Wann wurden die Augen denn nun entfernt – und wie?«

»Sie wurden herausgeschnitten, vermutlich mit einem scharfen Gegenstand wie einem Skalpell. Und auf jeden Fall erst nach dem Tod.«

»Das ist die erste gute Nachricht des Tages«, warf Vince ein.

»Die gute Nachricht ist, dass er die Augen nicht mitgenommen hat«, erwiderte Milo nachdenklich. Denn immerhin war damit klar, dass die Augen kein Souvenir waren, die der Täter behielt, um sich nachträglich zu erinnern. Kein Ermittler dieser Welt wünschte sich einen Netflix-würdigen Psychokiller.

»Die Mitglieder des Lauftreffs sind jedenfalls total geschockt«, fuhr Vince fort. »Ich konnte vorhin tatsächlich mit ein paar von ihnen sprechen, weil sie zufälligerweise am Vormittag für einen Lauf verabredet waren. Die treffen sich immer mittwochs zum Training, manchmal kommt ein Lauf am Wochenende dazu. Bei dem Wetter heute waren sie nur zu dritt. Stephan Heinrich, Claus Mader und …«, er holte sein Handy aus der Tasche und öffnete die Notizen. »Peter Lorbeer, genau, das war der Dritte. Jedenfalls, die hatten gleich alle die Hosen gestrichen voll und sind in einem Affenzahn wieder nach Hause. Von denen läuft so schnell niemand mehr im Stadtpark. Haben Angst vor ’nem Serienmörder oder einem Hamburger Jack the Ripper oder so. Keiner von denen kann sich vorstellen, dass jemand Schmidt umbringen wollte. Sie selbst sind durch die Bank Schreibtischhengste. Ich glaub nicht, dass von denen einer zu so was in der Lage ist.«

»Na, wenn das so ist! Da hat sich die Ausbildung bei dir aber gelohnt«, erwiderte Milo trocken. »Ich würde sagen, dann lassen wir sofort alle Befragungen in diese Richtung sein und losen den Täter aus.«

Ausnahmsweise war es Vince, der mit den Augen rollte. »Du weißt, was ich meine, Milo! Nach heißer Spur hat sich das jedenfalls nicht angefühlt.«