Agonie - Lea Adam - E-Book

Agonie E-Book

Lea Adam

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Beschreibung

Sie tut alles, um Tiere zu schützen. Doch sich selbst retten kann sie nicht  ... Als eine bekannte Umwelt-Influencerin wie Schlachtvieh zugerichtet in ihrem Loft aufgefunden wird, ahnen die Mordermittler Jagoda Milosevic und Vincent Frey, dass sie es mit einem Hassverbrechen zu tun haben: Die junge Frau legte sich nicht nur mit Großkonzernen an, sondern vertrat lautstark unpopuläre Meinungen. Doch je länger Milo und Vince im Umfeld der Toten ermitteln, desto überzeugter sind sie, dass das Mordmotiv ein finanzielles sein könnte: Die junge Frau hatte Videomaterial gesammelt, das einen großen Fleischkonzern die Lizenz kosten würde, käme es an die Öffentlichkeit. Bevor sie den Fall zur Anzeige bringen können, wird Milo jedoch brutal überwältigt und entführt ...  Milosevic und Frey ermitteln gegen einen übermächtigen Gegner Zwischen Menschhandel und der Fleischindustrie ermitteln Vincent Frey und Jagoda Milosevic in diesem düsteren Thriller für alle Fans von "Die Brücke" und "Fake". 

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Veröffentlichungsjahr: 2023

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Agonie

LEA ADAM ist das Pseudonym der Autorinnen Regina Denk und Lisa Bitzer. Zwischen der schwedischen Küste und dem Münchener Umland haben sie unabhängig voneinander zahlreiche Buchprojekte veröffentlicht. Stigma ist ihr erster gemeinsamer Thriller.

Lea Adam

Agonie

Thriller

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch 1. Auflage Januar 2024© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2024Umschlaggestaltung: zero-media.net, MünchenTitelabbildung: © FinePic®, MünchenAutorinnenfoto: © Foto-Auer | Anja UnterhitzenbergerE-Book powered by pepyrusAlle Rechte vorbehalten.Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining im Sinne von § 44b UrhG ausdrücklich vor.ISBN 978-3-8437-3065-5

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

Prolog

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Cover

Titelseite

Inhalt

Prolog

Prolog

Nur die wenigsten Menschen wissen, wie es sich anfühlt, das Leben eines anderen Geschöpfes zu beenden. Welch erschreckendes und doch erhabenes Gefühl es ist, einen Organismus zum Stillstand zu bringen und ein Dasein damit auszulöschen. Vielleicht erinnert sich so mancher noch daran, wie es leise knallt, wenn ein Spatz gegen die Fensterscheibe fliegt. Oder wie das Auto kurz rumpelt, wenn es einen Hasen überfährt. Wie das Haus der Schnecke knirscht, wenn der Schuh es aus Versehen unter sich begräbt.

Doch kaum einer hat schon einmal ein Messer in die Hand genommen und damit in das Fleisch eines lebendigen Wesens gestochen, ihm die Kehle durchtrennt, das noch warme Herz in der Hand gehalten und das heiße Blut über seine eigenen Finger fließen gespürt. Kaum jemand hat gesehen, wie alles Lebendige ein letztes Mal in den Pupillen des Opfers aufflackert, wenn es so weit ist, wie sich der Körper einmal noch aufbäumt und dann in sich zusammenfällt. Dort, wo gerade ein perfekt aufeinander abgestimmtes System war, ein Atemapparat, Verdauung, Hormone, Muskeln, ist dann nur noch ein Haufen Fleisch, Sehnen und Knochen. Eine leere, sterbliche Hülle, deren Seele, so es die denn gibt, davongeflogen ist. Biomasse, wenn man so will, die zerfällt und wieder zu Kohlen-, Sauer- und Wasserstoff wird, aus denen jedes Leben auf diesem Planeten besteht.

Ist man gnädig, betäubt man das Wesen, dessen Leben man beenden will. Um Schmerzen zu lindern oder den Schrecken im Anblick des unvermeidlichen Todes zu nehmen. Aber die meisten der Menschen, die morden, sind nicht so gnädig. Entweder weil sie die Lust am Töten in sich verspüren, es gerade auf dieses Gefühl der ultimativen Überlegenheit absehen. Oder weil sie schon so verroht, so entmenschlicht sind, schon so oft getötet und gemordet haben, dass sie überhaupt gar kein Gefühl mehr für ihre Opfer haben.

Sie selbst war noch nicht gefühlskalt geworden, wenngleich sie nicht zum ersten Mal tötete. Das Bolzenschussgerät wog schwer in ihrer Hand, fast ein Kilo Munition, die sie vorhin noch einmal kontrolliert hatte.

Sie streckte den Arm aus, drückte das kalte Metall auf die Stirn ihres Opfers, dessen Augen sich vor Entsetzen weiteten, das keuchte, den Kopf herumzureißen versuchte, wohl wissend, dass sein eigenes Leben in wenigen Sekunden vorbei sein würde.

Dabei war es doch so ein gnädiger Tod. Vom Aufhängen an den Fesseln, dem Schnitt durch die Kehle und dem Ausbluten würde es gar nichts mitbekommen. Auch nicht davon, wie sie die Haut von den Muskeln ziehen würde, mithilfe von scharfkantigen Messern und Haken. Und erst recht nicht vom Zerlegen des Kadavers in seine Einzelteile, dem Ausbeinen, wie man es nannte, wenn sie den toten Leib zerschneiden, die Innereien entnehmen und die besten Stücke aus Rücken, Lende und Hinterbein herauslösen würde.

Nichts davon würde die junge Frau noch mitbekommen.

Einzig und allein dank ihrer Gnade.

1

3. April 2023, 9:30 Uhr, HafenCity

»Und wie, denkst du, soll ich da hochkommen?«, knurrte Vince wie ein wütender Schäferhund, dem man gerade das Drogendummy weggenommen hatte.

Stumm fragte sich Milo, wie lange die Freude über die Rückkehr ihres Kollegen noch anhalten würde, und schämte sich im selben Atemzug dafür. Auch weil sie sich für seine Misere verantwortlich fühlte. Immerhin war sie es gewesen, die zugelassen hatte, dass er dem Täter in ihrem letzten Fall direkt in die Arme gelaufen war. Rational betrachtet, konnte natürlich weder sie noch irgendjemand anderes im Team etwas für Vince’ Verletzung. Und ihr war ebenso bewusst, dass es auch jeden anderen der Mordkommission hätte treffen können. Bis auf Horst vielleicht, der mit seinem Stuhl verwachsen schien und den Schreibtisch wirklich nur verließ, wenn er von Serpil, der Kommissionschefin, dazu verdonnert wurde. Theoretisch hätte jeder von ihnen an Vince’ Stelle sein können: Philipp, Gioia, sie selbst. Vor allem sie selbst.

Sie lebte nur deswegen noch, weil sich Vince der Kugel in den Weg geworfen hatte, die eigentlich für sie bestimmt gewesen war. Und auch, wenn sie den Schuss überlebt hätte: Wie wäre sie damit umgegangen, wenn die Kugel nicht die Lunge ihres Partners, sondern ihre eigene durchbohrt und sie für Monate in die Reha befördert hätte? Die Ärzte hatten gesagt, Vince sei dem Tod in letzter Sekunde von der Schippe gesprungen. Also egal, wie mies er seit dem Zwischenfall in der Waldhütte drauf war: Milo war unendlich froh, dass er bei dem Schusswechsel nur verletzt worden war. Selbst wenn dieses »nur« an manchen Tagen einen sehr bitteren Beigeschmack hatte.

Die Tatsache, dass ihr Partner dank des Lungenschusses mit dem Rauchen aufgehört hatte, machte die Sache nicht besser. Eigentlich ein Grund zur Freude, war es Milo in der Vergangenheit doch regelmäßig auf den Keks gegangen, dass Vince wie ein Aschenbecher stank und seine Kippenstummel überall in der Botanik und Stadt verteilte. Aber nun war er seit Wochen gereizt und hatte, seitdem er das Krankenhaus verlassen hatte, eine unglaublich kurze Zündschnur. Wie lange dauerte so ein Nikotinentzug eigentlich? Hätte er nicht schon längst über den Berg sein müssen?

Seufzend drückte sie ihren Partner in den Rollstuhl, den sie mühsam aus dem Kofferraum seiner alten Schrottkarre gehievt und dann vor der Beifahrertür aufgeklappt hatte. Noch weitere drei Wochen maximale Schonung und Rollstuhl, das war die Bedingung für seinen vorgezogenen Wiedereinstieg. Serpil, ihre Chefin, hatte kein Geheimnis daraus gemacht, was sie mit ihnen beiden anstellen würde, wenn sie die Auflage missachteten. Gleichzeitig konnte sich Milo vorstellen, wie schwer es Vince fiel, auf den Rollstuhl angewiesen zu sein. Und sie konnte es ihm nicht verdenken.

»Erstens, du wolltest unbedingt mitkommen und endlich wieder ›Einsatzluft schnuppern‹«, antwortete Milo und gab sich Mühe, freundlich zu klingen. »Und zweitens, schau dir den Protzbunker doch mal an. Die werden doch wohl einen Fahrstuhl haben.«

Ihr Blick wanderte über die makellose Glasfassade am Gebäude nach oben. Die Hamburger Morgensonne und die glitzernde Elbe spiegelten sich darin um die Wette. Milo versuchte sich vorzustellen, was Wohnungen in so einem schicken Bau in der HafenCity im Monat kosten mussten. Die Tote, wegen der man sie gerufen hatte, musste also was auf der hohen Kante gehabt haben. Schade, dass sie von dem vielen Geld jetzt nichts mehr hat, dachte Milo und zuckte im selben Moment innerlich zusammen.

Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Mentorin Angela Kaltenbach: »Irgendwann wirst du hart werden. Das ist der Moment, in dem dich die Schicksale nicht mehr berühren. In dem du dein Mitgefühl für andere verlierst. Oder für dich selbst. Beides ist gleich schlimm.«

War sie an diesem Punkt angekommen? War ihr das Schicksal der anderen gleichgültig … oder ihr eigenes?

»Möchtest du vielleicht lieber in den Rollstuhl? Dann kommen wir schneller voran!« Unbemerkt war Vince an ihr vorbei Richtung Eingang gerollt. Vorwurfsvoll blickte er erst auf Milo, dann auf die schweren Glastüren, die er offensichtlich nicht ohne ihre Hilfe öffnen konnte.

Milo atmete tief durch. »Ich komm ja schon.« Sie warf die Autotür ins Schloss und war mit ein paar langen Schritten bei Vince. Sie hatte die Tür noch nicht berührt, da schwang sie wie von Zauberhand nach innen auf. Milo warf einen Blick an die Decke, wo ein kleiner, kaum sichtbarer Sensor angebracht war. »Bewegungsmelder«, erklärte sie unnötigerweise.

»Danke, Blitzmerkerin.« Vince’ Stimmung wurde nicht besser, und kurz war sie versucht, ihm eine Zigarette aufzuzwingen, um wenigstens für ein paar Minuten seine Laune soweit aufzuhellen, dass es erträglich wurde.

»Du bist nicht behindert«, antwortete sie bemüht ruhig.

»Warum muss ich dann in diesem verfickten Stuhl sitzen?«

Ruhig. Bleib ruhig, mahnte sich Milo im Stillen.

»Weil Serpil sonst dafür sorgt, dass du ihn für den Rest deines Lebens brauchst und außerdem keinen Job mehr hast. Die paar Wochen wirst du noch aushalten. Das ist gut für deine Gesundheit.«

»Lieg du mal ein halbes Jahr im Bett herum, lass dir beim Pissen und Scheißen helfen und mach Reha-Übungen auf Kindergarten-Niveau, und dann sag mir, was gut für die Gesundheit ist!«, fauchte ihr Partner. »Das würde ich gern mal sehen. Jagoda Milosevic in der Wiedereingliederung. Du würdest nach fünf Tagen alle umbringen.«

Milo konnte nicht anders, sie musste lachen. Vince hatte recht. Sie hätte das alles nicht annähernd so gut gemeistert wie er. Versöhnlich legte sie ihm die Hand auf die Schulter, und für einen kurzen Moment verzog sich sein Gesicht tatsächlich zu einem kleinen Lächeln. Ein seltener Anblick, der Milo gleichermaßen freute wie ihr den Atem nahm. Plötzlich waren die Schrecken der alten Waldhütte, in der sich Vince seine, nein, ihre Kugel eingefangen hatte, wieder sehr präsent.

Er schien zu wissen, woran sie gerade dachte, denn er fragte unvermittelt: »Weißt du, was Rollstuhlfahrer und Mörder gemeinsam haben?«

Sie seufzte anstelle einer Antwort.

»Sie sitzen lebenslänglich.«

Milo rollte die Augen, aber lächelte. Ihr Partner war einfach unmöglich. »Hast du schon was über die Tote erfahren?«, fragte sie, um nicht noch mehr politisch inkorrekte Witze hören zu müssen.

Er schüttelte den Kopf. »Vermutlich weiß ich nicht mehr als du. Tote Frau im Penthouse, heute Morgen von ihrer Assistentin gefunden, die immer noch unter Schock steht. Muss ein ziemlich übler Anblick gewesen sein.«

Das Innere des Gebäudes stand der eleganten Außenfassade in nichts nach: Marmor, indirekte Beleuchtung und leise Musik aus unsichtbaren Lautsprechern. Zwei Fahrstühle warteten an der dem Eingang gegenüberliegenden Wand auf bewegungsmüde Bewohner.

»Guck. Natürlich gibt es Aufzüge.« Milo drückte den kleinen Pfeil, der nach oben zeigte, und nur wenige Augenblicke später öffneten sich die beiden Türen mit einem leisen Pling.

»Bestimmt ernennen sie dich zum Superhirn des Jahres«, feixte Vince und rollte an ihr vorbei in die voll verspiegelte, luxuriös anmutende Liftkabine. Es lief die gleiche beunruhigend beruhigende Musik wie im Foyer.

Der Blick ihres Partners wanderte auf dem Tastenfeld nach oben bis zum Knopf für die oberste Etage. »22 / P« stand in schwarzen Lettern auf das glänzende Gold geschrieben – für Vince unerreichbar. »Mach du das«, stöhnte er, als hätte er ihre Gedanken gelesen.

»Was meinst du, woher hatte das Opfer das nötige Kleingeld für diese bescheidene Unterkunft?«, wollte Milo wissen und drückte den Knopf.

Während sich die Türen hinter ihnen schlossen, dachte sie für einen Moment über die vielen Menschen nach, die ihren Alltag mit einem körperlichen Handicap meistern mussten. Gerade in der Großstadt kein leichtes Leben. Zwar waren mittlerweile fast neunzig Prozent aller U- und S-Bahn-Haltestellen in Hamburg barrierefrei, aber wichtige Ziele wie die Reeperbahn oder das Berliner Tor eben noch nicht. Und wenn bei den anderen Stationen mal ein Lift ausfiel, saß man richtig in der Tinte. Aber Milo würde sich hüten, das Gespräch mit Vince in diese Richtung zu lenken. Sie war ja nicht lebensmüde.

»Was könnte die Dame gewesen sein … Reederei-Besitzerin? Bankerin? Irgendwas mit Investment-Fonds, Immobilien?«, überlegte Vince laut und kaute auf seiner Unterlippe herum. »Escort? Geliebte? Kryptoqueen?«

Bevor seine Fantasie weitere wilde Auswüchse hervorbringen konnte, kündigte ein erneutes Pling ihre Ankunft an. Nacheinander verließen sie den Fahrstuhl. Die Wände rechts, links, unter und über ihnen bestanden aus demselben spiegelglatten Marmor wie im Erdgeschoss. Eine schwere, dunkle Holztür, mit auf alt gemachtem Stuck verziert, stand weit offen und führte in die einzige Wohnung der obersten Etage, das Penthouse. Ein elektrisches Schloss mit numerischem Display und Fingerscan machte das Bild von modernem Luxus perfekt. Darunter, deutlich weniger auffällig, ein Messingschild mit der Aufschrift »M. M.«. Milo zog die Augenbrauen hoch und warf Vince einen vielsagenden Blick zu. Die Bewohnerin war entweder berühmter gewesen, als sie dachten, oder hatte guten Grund gehabt, ihren Wohnort nicht für jedermann sichtbar zu kennzeichnen.

»Wer auch immer herkam, um das Opfer zu töten, muss gewusst haben, dass sie hier wohnt«, murmelte Milo. Bestimmt gab es Kameras in der Lobby, vermutlich auch versteckte in den Aufzügen. Und es sah nicht so aus, als könnte man die Wohnungstür mit einem Stemmeisen aufhebeln. Doch all die Sicherheitsmaßnahmen hatten der Frau nicht geholfen.

Aus dem Inneren der Wohnung war bereits das Stimmengewirr von Polizei und Spurensicherung zu vernehmen.

»Na, dann wollen wir mal.« Milo griff in eine der am Eingang platzierten Schachteln mit Einweghandschuhen und zog sich ein Paar über die Hände. In der Box daneben befanden sich Plastiküberzieher für die Schuhe. Milo nahm sich welche, schlüpfte hinein und hielt dann inne. Zögernd sah sie ihren Partner an, der verkniffen grinste.

»Ich glaube nicht, dass ich die brauche.« Mit der Hand deutete er auf seine Füße, die regungslos auf den Trittbrettern des Rollstuhls standen. »Aber dass es keine Reifenüberzieher gibt, ist eine Schweinerei. Ich werde mich gleich mal beim Betriebsrat beschweren. Und bei der Gleichstellungsbeauftragten, um sicherzugehen. Apropos, weißt du, wie man es nennt, wenn ein Rollstuhlfahrer wütend wird? Er dreht am Rad.«

Milo wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Auch wenn Vince’ Humor schwärzer als ihre Seele war: Immerhin machte er wieder Witze.

Sie hielt ihm ein Paar Einweghandschuhe hin, dann ging sie voran in die Wohnung. Der breite, offene Flur gab den Blick auf ein Loft-artiges Wohnzimmer mit bodentiefer Fensterfront frei. Der Blick auf die Elbe und den Containerhafen auf der anderen Seite war so atemberaubend schön, dass Milo sich zusammenreißen musste, um sich auf das Innere der Wohnung zu konzentrieren. Sie machte sich vom Panorama los und begann, die Garderobe routiniert auf persönliche Gegenstände abzuscannen: ein Paar einfache, abgenutzte Boots, Laufschuhe, Sneaker einer Milo unbekannten Marke. Nichts, was auf besonderen Wohlstand schließen ließ. Für die Jacken und Taschen galt dasselbe. Ein dunkelgrauer Parka, eine Lederjacke, die genau Milos Geschmack traf, und ein paar Kapuzensweater mit verschiedenen Labels von Natur- und Umweltschutz-Organisationen, etliche Jute-Beutel sowie ein Regencape.

»Sieht nicht gerade nach Luxus-Callgirl aus«, kommentierte sie die schnelle Bestandsaufnahme.

Vince schüttelte zustimmend den Kopf. »Mehr nach …« Doch er kam nicht dazu, seine Überlegungen auszusprechen.

»Vincent Frey? Das glaub ich ja nicht. Was machst du denn hier? Ich wusste gar nicht, dass du wieder im Dienst bist! Du hättest ruhig Bescheid geben können … oder deine liebe Kollegin.« Die Rechtsmedizinerin Dr. Susanne Süß warf Milo einen vorwurfsvollen Blick zu. Erfreut, aber mit sorgenvollem Ausdruck musterte die kleine, zierliche Frau anschließend Milos Partner. Obwohl Vincent saß, war er fast so groß wie sie.

»Endlich begegnen wir uns mal auf Augenhöhe«, frotzelte er und breitete die Arme aus.

Dr. Süß drückte ihn kurz an sich, dann hielt sie inne. »Weiß die Özdemir, dass du hier bist? Ich habe keine Lust auf Ärger. Ist alles schon schrecklich genug da drin.«

»Klar weiß sie davon.« Unschuldig grinste er sie an, und für einen Moment sah er aus wie der alte Vince; der, dem man nicht in die Brust geschossen hatte; der, der nicht eine Kugel abgefangen hatte, die eigentlich für Milo bestimmt gewesen war; der, der sich nicht monatelang zurück ins Leben gekämpft hatte.

Dr. Süß verzog das Gesicht zu einer Grimasse. »Bei euch beiden weiß man nie so genau.« Dann strahlte sie Vince an. »Mensch, aber großartig, dass du hier bist! Gut siehst du aus. Erzähl, wie geht es dir? Was macht die Reha? Und wann wirst du das Ding wieder los? Du wirst es doch wieder los, oder?« Ein Anflug von peinlicher Betroffenheit huschte über das mädchenhafte Gesicht.

Bevor Vince die Rechtsmedizinerin beruhigen konnte, ging Milo dazwischen. »Ich will keine Spielverderberin sein, aber könntet ihr die Unterhaltung später fortsetzen? Ich bin mir sicher, mein Partner wird gern und ausführlich über seine, wohlbemerkt völlig unnötigen, Auflagen mit Ihnen sprechen. Darüber hinaus hat er auch einige wirklich schlechte Rollstuhlfahrerwitze auf Lager, für die er noch Abnehmer sucht. Aber gibt es hier nicht irgendwo eine Tote, die wir uns ansehen sollten?«

Eine leichte Röte schoss der Ärztin ins Gesicht. Ob wegen Vince oder ihrer Nachlässigkeit war schwer zu sagen. Nach wie vor war Milo davon überzeugt, dass Dr. Süß eine Schwäche für ihren Partner hegte. Eigentlich hätte sie das nerven sollen, aber indirekt profitierte sie davon. Der gute Draht in den Leichenkeller hatte sich in der Vergangenheit bereits das ein oder andere Mal als nützlich erwiesen.

»Selbstverständlich, bitte entschuldigt.« Schuldbewusst schüttelte die Ärztin den Kopf, schnalzte mit der Zunge und setzte eine professionelle Miene auf. »Hier entlang. Sie ist noch im Schlafzimmer. Ich dachte, ihr solltet sie unbedingt sehen, wie man sie gefunden hat. Auch wenn das ein …« Sie zögerte kurz. „… ein Anblick ist, den man so schnell nicht mehr vergisst.«

Als Erstes drang ihnen der Geruch in die Nase. Es roch … metallisch. Milo wusste, was das bedeutete: Blut. Viel Blut.

Mit einem unguten Gefühl im Magen folgte sie den schnellen Schritten von Dr. Süß. Ihr Interesse am atemberaubenden Ausblick auf die Elbe hatte sich in Luft aufgelöst. Nur am Rande registrierte der professionelle Teil ihres Gehirns die luxuriöse Grundausstattung der Wohnung: Kücheninsel aus Marmor (was sonst), poliertes Eichenparkett, indirekte Spotbeleuchtung. Alles vom Feinsten. Die Besitztümer der toten Bewohnerin standen dazu in einem geradezu absurden Gegensatz: Bücher über Umwelt, Grünes Leben, bedrohte Tiere und veganes Kochen. PETA-Plakate, dazwischen ein gerahmtes und signiertes Porträt von Jane Goodall. Auf einer überdimensionalen Couch standen ein paar Kartons voll mit Flyern. Instinktiv nahm Milo einen heraus. Abbilder von Schweinen, Hühnern und Kühen mit weit aufgerissenen Augen in dunklen, engen Stallungen blickten ihr entgegen, darunter in knallroter Schrift der Aufruf, das Tierelend endlich zu stoppen.

Milo hob den Kopf, sah sich langsam um. Die Wohnung und die persönlichen Gegenstände darin schienen in einem massiven Widerspruch zueinander zu stehen.

»Darf ich mal?« Mit zwei kräftigen Armstößen rollte Vince an Milo vorbei und beinahe über ihre Füße.

»Hast du eigentlich einen Führerschein für das Ding?«, wollte sie wissen, aber alles, was sie sonst noch sagen wollte, blieb ihr im Halse stecken, als sie sah, dass Vince wie vom Donner gerührt ein paar Meter weiter stehen geblieben war. Er starrte durch die Tür ins Schlafzimmer. »Oh fuck«, war alles, was über seine Lippen kam.

Mit zwei schnellen Schritten war Milo bei ihm. Und jetzt sah auch sie, was ihren Kollegen hatte versteinern lassen. Die Tote. Sie hing nackt und kopfüber über dem breiten Kingsize-Bett von der Decke. Meterhoch über ihnen führten dicke Stahlträger durch den Raum, von denen eine schwere Eisenkette baumelte. An deren Ende befand sich ein silbrig blitzender Fleischerhaken, der an Fesseln um die Knöchel der Frau befestigt war. Deren Beine und Arme wirkten blass, beinahe weiß – und unversehrt. Aber der Torso … Er glänzte rot im Licht der hereinstrahlenden Sonne. Rot, nicht etwa weiß. Denn die Haut des Oberkörpers war der Leiche abgezogen worden, von der Hüfte bis zu den Schultern, wo sie wie bizarre Flügel über den Kopf der von der Decke hängenden Toten hingen.

Milo musste sauer aufstoßen und schlug sich instinktiv die Hand vor den Mund. Sie wandte sich ab, atmete tief in den Bauch, versuchte, die Nerven zu beruhigen, und sah wieder hin. Selten hatte sie einen so übel zugerichteten Körper gesehen. Der Bauchraum war geöffnet, einige Organe schienen entnommen worden zu sein – auf jeden Fall konnte Milo die Wirbelsäule sehen. Von innen. Sie sah aus wie eine weiß glänzende Perlenkette, die in einem roten Futteral lag.

»Ach du Scheiße«, murmelte sie fassungslos und ging ein paar Schritte, um die Tote von hinten betrachten zu können. Auch am Rücken und am Gesäß erkannte sie tiefe Schnitte. Es sah aus … Milo stockte der Atem. Es sah aus, als hätte man der Frau ganze Fleischstücke aus dem Körper geschnitten.

Milo spürte, wie sich eine Gänsehaut über ihren Rücken ausbreitete. Ihr Magen zog sich unsanft zusammen, und sie schmeckte Galle im Mund. Nicht kotzen!, maßregelte sie sich selbst, dann zwang sie sich, den Blick abzuwenden und sich wieder vor die Leiche zu stellen. Nicht, dass der Anblick schöner gewesen wäre. Auch hier war die Haut mit einem tiefen, kreuzartigen Schnitt durchtrennt und aufgeklappt worden. Das Gesicht der Toten war unter einer dicken, eingetrockneten Kruste aus schwarzem Blut nicht mehr zu erkennen. Am Hals befand sich ein langer, tiefer Schnitt, direkt unter dem Kinn. Decke und Laken, ja das ganze Bett war vollgesogen mit dem Blut der Toten. Nur an einzelnen Stellen konnte man den hellen Leinenstoff der Bettwäsche noch erkennen. Beinahe wie ein abstraktes Gemälde, dachte Milo, eine bizarre Kunstinstallation.

Ihr Blick wanderte wieder nach oben zu dem grausamen menschlichen Pendel. Milo schätzte die junge Frau auf Mitte zwanzig, maximal dreißig Jahre.

»Man … man hat sie ausbluten lassen.« Fassungslos starrte Vince die Tote an. »Und sie ist …« Er zögerte und rang sichtlich mit Worten. »Sie wurde gehäutet. Zumindest teilweise. Oh Gott, das ist … furchtbar. Sie sieht aus, als wäre sie geschlachtet worden. Wie ein Schwein.«

Nur schwer konnte Milo den Blick von dem schrecklichen Anblick abwenden. In all den Jahren, in denen sie nun schon bei der Mordkommission Hamburg war, hatte sie nicht ansatzweise so etwas Grausames gesehen. Noch bin ich nicht hart geworden, dachte sie, in Gedanken plötzlich wieder bei ihrer alten Mentorin.

»Ich kann es noch nicht sicher sagen, aber ich gehe davon aus, dass der Täter sie vor der Häutung und Entnahme der Organe mit einem Bolzenschussgerät getötet hat«, sagte Dr. Süß leise und zeigte auf ein kleines Einschussloch in der Stirn der Toten, kaum sichtbar unter dem schwarzen, eingetrockneten Blut. »Zumindest hoffe ich, dass es so war.«

2

3. April 2023, 13:00 Uhr, in der Nähe des LKA Hamburg

Vince schüttelte den Kopf und starrte auf den Dönerteller vor seiner Nase. »Ich krieg keinen Bissen runter.«

Milo sah von ihren unangetasteten Falafeln auf. Auch wenn ihr Magen knurrte, fühlte sie sich wie ihr Partner. Die Bilder der Toten schienen sich in ihre Netzhaut eingebrannt zu haben, und Vince ging es sicher nicht anders. Gleichwohl war es das erste Mal in ihrer gemeinsamen Zeit, dass ihm der Appetit verging. Vince konnte eigentlich immer essen, zu jeder Tages- und Nachtzeit, zu jedem Anlass und sogar ohne. Demonstrativ schob sie die Teller weg. Sie konnte einfach nicht vergessen, was man der Frau angetan hatte. Der Täter hatte sie ausbluten lassen. Ihr die Haut vom Torso abgetrennt. Und ihre Innereien entnommen. Sie hatten sie im eleganten Badezimmer der Toten gefunden, in der Badewanne. Herz, Milz, Leber, Nieren. Dazu die besten Stücke aus Lende, Rücken und Schenkel. Herausgelöst wie Steaks. Die Reminiszenz an die Schlachtung eines Tiers war nicht von der Hand zu weisen.

»Hat es nicht geschmeckt?«, wollte Esme wissen, die den türkischen Imbiss nur wenige Straßen vom LKA entfernt betrieb, in dem sie regelmäßig ihre Mittagspause verbrachten.

»Doch, doch«, beeilte Milo sich zu sagen. »Wir sind nur einfach nicht besonders hungrig.« Dann wandte sie sich an Vince. »Lass uns mit der Arbeit loslegen. Vielleicht lenkt uns die von dem grauenhaften Anblick im Loft ab.« Sie legte den Flyer auf den Tisch, den sie vom Tatort mitgenommen hatte. »STOPPT DAS MORDEN«, stand auf dem Papier, darunter in kleineren Buchstaben das Logo von Instagram und der Name eines Social-Media-Accounts: @MirasMission.

»M.M.«, murmelte Milo und erinnerte sich an das Schild neben der Eingangstür des Lofts. Mira Mönchshagen. Der Name der Toten.

An Vince gewandt, sagte Milo: »Du bist doch bei Instagram, oder? Such mal das Profil, bitte.«

Er nickte und holte sein Handy aus der Tasche, tippte auf das Display, kniff die Augen zusammen, schaute noch genauer hin und warf das Telefon dann schwungvoll auf den Tisch. »Ich sag es nicht gern, Milo, aber das ist fast genauso ekelhaft.«

»Bitte?« Sie griff nach dem Gerät. »Was meinst du?« Sie tippte eines der Bilder im oberen Drittel des Feeds von »Miras Mission« an, auf denen ihr Opfer, damals noch sehr lebendig, im roten Licht der Nachtbeleuchtung zwischen schier endlosen Reihen von winzigen Hühnerkäfigen stand. Anklagend blickte ihr hübsches Gesicht in die Kamera. Swipte man die Bilder weiter, konnte man sehen, was Mira sah. Zerrupfte, abgemagerte Hühner, fünf bis sechs von ihnen zusammengepfercht auf nur wenigen Quadratzentimetern. Blutiger Schorf auf nackter Haut, wo eigentlich Federn sein sollten. Gebrochene Flügel, Kadaver, Kot. Ein weiterer Ekelschauer schüttelte Milos Schultern.

Vince stocherte lustlos im Dönerfleisch herum. Ob ihm bewusst war, dass das Fleisch darin mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht von glücklichen Kühen auf grünen Weiden kam, sondern von Nutztieren, die nie in ihrem Leben den blauen Himmel gesehen hatten? Mal sehen, wie lange seine Appetitlosigkeit auf Tierisches anhalten würde. Bestimmt nur bis zum nächsten Magenknurren, wie bei den meisten, die ja durchaus wussten, wie man hierzulande mit Tieren umging, die man verzehren wollte.

Er nickte in Richtung seines Handys. »Hast du gesehen, was die Leute unter den Posts für Kommentare schreiben? Ich sag mal so, das könnte eine ziemlich ausgedehnte Suche nach dem Mörder werden. Hater hatte die Frau zu Tausenden.«

Seufzend blickte Milo wieder auf den Bildschirm. Unter dem Foto mit den Hühnerkäfigen entdeckte sie mehrere Zehntausend Likes, rote Herzen, weinende Emoji-Gesichter und viele, viele Kommentare. Aber bei Weitem nicht nur positive.

»Danke, dass du hinsiehst«, stand da ganz weit oben und: »Mehr Menschen wie dich braucht diese Welt.« Es gab aber auch etliche Bemerkungen aus der militanten Tierschutzecke: »Tod allen Fleischfressern!«, »Wer quält, soll selbst gequält werden!!!« und dazwischen immer wieder wirklich widerliche Kommentare, die sich gegen die junge Frau selbst richteten: »Pass auf, dass du nicht auch im Käfig landest, Schlampe«, »Friss doch deine vegane Scheiße und lass uns mit dem Dreck in Ruhe! Der Mensch ist ein Fleischesser, du dumme Kuh!«, und: »Stirb, du Tierschutz-Nutte!«

Angewidert legte Milo das Handy mit dem Display nach unten auf den Tisch. Fürs Erste hatte sie genug gesehen.

»Mira Mönchshagen.« Der Name der Toten klang wie eine Beschwörung aus ihrem Mund, für einen Moment waberte er zwischen Milo und Vince in der Luft. »Was für einen grausamen Tod musstest du sterben?«

»Willkommen im Club 27«, murmelte Vince.

»Club was?«

»Ach, komm schon!« Er rollte die Augen. »Gibt es in deinem Leben irgendetwas außer Arbeit?«

Milo zuckte zusammen. Unabsichtlich hatte Vince mitten in die Wunde getroffen, die sie seit Monaten vergeblich zu schließen versuchte.

»Gibt es in deinem Leben eigentlich irgendetwas außer Arbeit?« Es war keine achtundvierzig Stunden her, da hatte sie exakt diesen Satz, aber mit deutlich vorwurfsvollerem Unterton, aus Valeries Mund gehört, und das nicht zum ersten Mal. Ebenfalls nicht zum ersten Mal nagten die Zweifel an Milo. Wo waren sie falsch abgebogen? Wann waren sie dieses Paar geworden, das sich in haltlosen, verletzenden Anschuldigungen verlor? Das die gemeinsame Zeit mit Vorwürfen statt mit schönen Momenten füllte? Und warum war selbst Valerie als Therapeutin eigentlich nicht davor gefeit, in ihrer eigenen Partnerschaft Fehler zu machen? War es nicht irgendwie ihre Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Beziehung besser lief als die normaler Leute? Oder machte es sich Milo damit zu leicht? Weil das Problem in Wirklichkeit sie selbst war, nicht Valerie?

»Zum Club 27 gehörst du, wenn du im Alter von 27 den Löffel abgegeben hast«, erklärte Vince und unterbrach ihren inneren Monolog. »Brian Jones, Jimi Hendrix, Kurt Cobain, Amy Winehouse …«

»Das waren doch alles Musiker.«

Er stöhnte. »Kennst du eigentlich irgendjemanden, der Klugscheißer mag?«

Milo zuckte mit den Schultern. »Ich bin kein Klugscheißer, ich habe einfach recht. Du solltest dich langsam daran gewöhnt haben.« Sie grinste – erntete aber nur eine griesgrämige Miene. Früher hätte Vince gelacht und vermutlich einen blöden Spruch gemacht. Seit dem letzten Fall aber war vieles nicht mehr so wie früher. Mit Vince, mit Valerie … Aber es konnte ja auch nicht immer nur an den anderen liegen, oder?

»Mira Mönchshagen war kein Popstar, doch berühmt war sie allemal.« Vince schnappte sich sein Telefon und entsperrte das Display. Sein Finger scrollte, und seine Augen huschten über den Feed, den Milo eben selbst betrachtet hatte.

»Was sagt das über unsere Gesellschaft aus?«, fragte er, ohne den Blick zu heben. »Eine junge Frau, die sich engagiert, die versucht, die Welt etwas besser zu machen, dafür so viel Häme und Hass erntet … und am Ende auch noch dafür abgeschlachtet wird.«

»Dafür? Das weißt du doch gar nicht. Das ist viel zu voreilig geschlussfolgert. Woher willst du wissen, dass der Mord mit dem Tierschutz in Verbindung steht?«

Milo bereute die Worte, kaum dass sie ihren Mund verlassen hatten. Wie erwartet warf ihr Vince einen gekränkten Blick zu. Sie seufzte innerlich. Noch hatte sie den Dreh nicht raus, wie sie sich mit ihrem Partner verständigen konnte, ohne ihn alle naselang zu verärgern. Das war doch früher nicht so schwer gewesen, Herrgott noch mal.

Und war es wirklich von der Hand zu weisen? Dass die Art des Todes und das Engagement des Opfers in Verbindung stehen mussten? Du kannst so eine dumme Gans sein, Milosevic, dachte sie und wollte gerade zu einer Entschuldigung ansetzen, doch Vince kam ihr zuvor.

»Körperlich bin ich vielleicht nicht in Bestform, aber das Hirn funktioniert gut, danke«, knurrte er und schob ihr das Telefon über den Tisch.

Auf dem Screen lief ein Video, in dem eine Gruppe von mehreren Dutzend Umweltaktivisten, allen voran Mira Mönchshagen, auf einer Demo in der Hamburger Innenstadt von maskierten Männern angepöbelt wurde. Einer der Vermummten schubste die junge Frau brutal zu Boden, in der Sekunde danach brach das Video ab.

Milo seufzte. Wo sollten sie mit der Suche nach dem Mörder bloß anfangen? Das Opfer war von so vielen Menschen gehasst worden. Es würde Monate dauern, an die IP-Adressen der User zu kommen, die unter ihren Beiträgen kommentiert hatten. Oder gar die Videos auszuwerten, in denen sie ihren Hatern von Angesicht zu Angesicht gegenübertrat. Milo schloss die Augen und versuchte, nicht den Kopf auf die klebrige Tischplatte sinken zu lassen.

»Also dann lass mal hören«, stichelte Vince weiter, der offenbar noch nicht genug von ihren Reibereien hatte. »Eine militante Tierschützerin, abgeschlachtet, gehäutet und ausgenommen wie Vieh. Wen vermutet Hauptkommissarin Milosevic hinter der Tat? Eine alte Jugendliebe? Einen verschmähten Liebhaber? Das Blutbad im Loft war meiner Meinung nach eine sehr deutliche Botschaft, die es spätestens morgen in alle Tageszeitungen geschafft haben wird.«

Vermutlich hatte er recht. Milos Ohren begannen bereits zu klingeln, wenn sie an Serpils unweigerlichen Wutanfall dachte. Trotzdem sagte sie: »Ich weiß nicht.« Sie schob das Telefon zurück über den Tisch. Ja, sie hielt etwas Ähnliches für möglich. Und doch hatte sie Zweifel. »Findest du das nicht etwas krass? Mord? Wegen unterschiedlicher Meinungen zum Tierwohl?«

Nun war es Vince, der skeptisch das Gesicht verzog. »Hast du in letzter Zeit mal die Debatten zu diesem Thema verfolgt? Zufälligerweise hatte ich in den letzten Monaten sehr viel Zeit, um Zeitung zu lesen, Late-Night-Talk zu glotzen und«, er tippte auf sein Handy, »im digitalen Wurmloch zu verschwinden. Wenn du heute öffentlich über Umweltschutz sprichst, Tierwohl oder auch bloß deine Ernährung, kannst du dir sicher sein, dass du dir innerhalb von Sekunden auf mindestens einer Seite Feinde machst.«

Mit etwas schlechtem Gewissen musste Milo eingestehen, dass Vince recht haben könnte. Leider hatte sie in der jüngsten Vergangenheit kaum mitbekommen, was in der deutschen Gesellschaft so passiert war. Denn die nächtlichen Live-Debatten in ihrem Wohn- und Schlafzimmer zu Hause hatten alle Aufmerksamkeit für sich beansprucht.

Der Fall »Schneider«, der Vince und sie Ende des Jahres beinahe das Leben gekostet hätte, hatte Milo in jedem Fall um den Hausfrieden gebracht. »Es hätte auch dich treffen können«, hatte Valerie ihr vorgeworfen. »Und dann wäre ich nichts weiter als deine Mitbewohnerin? Ich könnte nichts für dich tun. Ich dürfte nicht mal zu dir ins Krankenhaus, verdammt noch mal! Und was würden deine Eltern sagen, wenn ich plötzlich vor ihrer Tür stehe und ihnen sagen muss, dass ihre Tochter schwer verletzt ist, oder schlimmer?«

Milo hatte kein Ass im Ärmel gehabt, das sie hatte dagegenhalten können – weder damals noch heute. Valerie hatte recht. Milo war eine erwachsene Frau, eine Mordkommissarin, harte Fälle und noch härtere Typen waren ihr täglich Brot. Sie sollte dazu in der Lage sein, sich zu ihrer Beziehung, vor allem aber zu ihrer sexuellen Neigung zu bekennen. Warum um alles in der Welt schaffte sie es nicht, ihrer Familie die Wahrheit über Valerie zu erzählen? Andererseits, warum, verdammt, war das alles für Valerie so wichtig? Zwei moderne Frauen sollten doch in der Lage sein, ohne Etikett und öffentliche Erklärung eine Liebesbeziehung zu führen.

Milo schüttelte die dunklen Gedanken ab und versuchte sich zu konzentrieren. Sie würde sich wenigstens während der Arbeitszeit auf ihre Fälle fokussieren und nicht über ihre angeschlagene Beziehung grübeln. »Was wissen wir über Mira Mönchshagen, außer dass sie Tiere liebte und von sehr vielen Menschen gehasst wurde?«

»Ich les mal vor, was da steht.«

»Wo?«

»Na, hier.« Vince hielt ihr das Handydisplay mit der Webseite von Miras Mission unter die Nase. Unter »about me« war ein professionelles Bild zu sehen, das die hübsche Frau mit eindringlichem Blick zeigte.

»Also … 27 Jahre alt, in Osnabrück geboren. Nach dem Abitur zog sie nach Hamburg, um Medienwissenschaften zu studieren. Bis vor drei Jahren arbeitete Mira für eine Marketing-Agentur, die sich auf Firmen mit grünem Background spezialisiert hat.« Vince verstummte, las lautlos weiter und fasste anschließend zusammen: »Dann ist ihr eigener Kanal so erfolgreich geworden, dass sie die Festanstellung gekündigt und sich als Influencerin selbstständig gemacht hat. Sie dachte offenbar, mit gutem Marketing könnte man die Menschen zum Umdenken bewegen, doch dann musste sie feststellen, dass es in der Wirtschaft nur um Geld und Gewinne geht. Das war der Moment, in dem sie beschlossen hat, ihr eigenes Ding zu machen und aus dem System auszubrechen.«

Milo verdrehte die Augen, aber Vince erwiderte trocken: »Das steht hier, das kommt nicht von mir. Ihr ›Ausbruch‹«, er malte Gänsefüßchen in die Luft, »war jedenfalls die Geburtsstunde von Miras Mission e. V., einem Verein, der sich für das Tierwohl und den Planeten einsetzt, mit allen Mitteln, die es braucht, damit es auch morgen noch eine Erde gibt, auf der es sich lohnt zu leben …«

Milo seufzte. »Wow.«

»Wenn du noch mehr wissen willst oder eine Kooperation anfragen möchtest, dann kontaktierst du am besten ihre Assistentin Cleo.« Sein Finger tippte auf eine E-Mail-Adresse.

»Oh, ja, wir sollten eine Kooperation in Betracht ziehen«, scherzte Milo und hoffte, Vince würde diesmal in ihr übliches Hin und Her einsteigen.

Aber er steckte nur sein Telefon in die Tasche und schlüpfte etwas umständlich und sichtlich genervt von seinem Rollstuhl in die Jacke. »Ich würde dir ja gern beim Ermitteln helfen, aber ich muss los. Ergotherapie und dann …«, er klopfte mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe, „… hier drin aufräumen. Vorschrift ist Vorschrift. Fährst du mich?«

»Klar.« Milo nickte und gab sich Mühe, das ungute Gefühl zu ignorieren, das sich beim Gedanken an Vince’ therapeutische Sitzungen in ihrer Magengegend breitmachte. Warum er sich ausgerechnet Valerie als Gutachterin ausgesucht hatte, war ihr ein Rätsel – davon abgesehen, dass sie eigentlich als Paar- und Sexualtherapeutin arbeitete. Doch sie hatte vor Jahren diese blöde Ausbildung zur Traumatherapeutin gemacht, und irgendwie hatte Vince davon Wind bekommen und war sofort zu ihr marschiert. Oder eher: gerollt. Sosehr es ihr missfiel, Milo konnte nichts gegen seine Wahl ausrichten. Vor allem das Argument, dass seine Psychologin ihre Lebensgefährtin war und es deshalb einen gewissen Interessenkonflikt gab, zog nicht. Immerhin war er der Einzige aus dem LKA, der von der Beziehung zwischen Valerie und ihr wusste. Dass es bei den Gesprächen nicht um sie, sondern um Vince ging, um seine Aufarbeitung des schrecklichen Dramas aus dem letzten Jahr, beruhigte Milo auch nur bedingt. Valerie war professionell in ihrem Job, sie trennte strikt zwischen beruflich und privat. Eigentlich immer … und dennoch.

Sowohl Vince als auch Valerie hatten Milo gefragt, ob diese Konstellation für sie in Ordnung sei, und das war sie ja auch, in der Theorie. In der Praxis hätte Milo aber die Wahrheit sagen müssen. Nämlich, dass sie sich unwohl fühlte bei dem Gedanken daran, dass die beiden Menschen, denen sie am nächsten stand, zweimal die Woche eine Stunde über all das sprachen, was da im letzten Jahr vorgefallen war, über die misshandelten Frauen, das mörderische Mutter-Sohn-Gespann, über die Beziehung zwischen Vince und Milo, warum er ihr so selbstlos das Leben gerettet hatte, und über die anderen Kollegen, vielleicht sogar über Gioia …

Milo wollte genau darüber nicht nachdenken. Sie wollte nach vorn blicken. Und Vince und Valerie sollten das gefälligst auch tun, am besten getrennt voneinander. Für Milo in jedem Fall konnte Vince’ Gesundschreibung nicht schnell genug erfolgen. Sie wollte ihren alten Kollegen zurück, auf zwei Beinen, ohne die nervigen Rollstuhlfahrerwitze. Dafür würde sie sogar seine restlichen blöden Sprüche und von ihr aus sogar seine stinkenden Zigaretten ertragen.

Es sollte einfach wieder alles so sein wie vorher.