Street Heart. Nie mehr ohne dich (Street Stories 2) - Laini Otis - E-Book

Street Heart. Nie mehr ohne dich (Street Stories 2) E-Book

Laini Otis

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Beschreibung

Eine dramatische Liebesgeschichte, die unter die Haut geht  **Von der Straße geholt** Dallas und Eloni sind zusammen durch die Hölle gegangen, bevor sie sich als Jugendliche für ein Leben auf der Straße entschieden haben – weit weg von ihren nicht selten handgreiflich werdenden Familien. Nie waren zwei Menschen mehr füreinander da gewesen als diese beiden, und dennoch hat sie das Leben vor drei Jahren entzweit. Mittlerweile ist aus dem wilden Teenager Dallas ein selbstsicherer junger Mann geworden, dessen Job es ist, Jugendlichen eine neue Zukunft zu ermöglichen. Seine Gedanken kreisen immer noch um Eloni, aber er rechnet felsenfest damit, dass sie ein sicheres Zuhause gefunden hat. Doch das mittlerweile siebzehnjährige Mädchen führt nach wie vor das harte Leben der Straße. Seit wenigen Tagen jedoch in einer neuen Stadt. Dallas' Stadt. //Alle Romane der »Street-Stories« bei Impress: -- Street Love. Für immer die deine (Street Stories 1) -- Street Heart. Nie mehr ohne dich (Street Stories 2)// Alle Bände der Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.

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Laini Otis, Cat Dylan

Street Heart. Nie mehr ohne dich (Street Stories 2)

**Von der Straße geholt** Dallas und Eloni sind zusammen durch die Hölle gegangen, bevor sie sich als Jugendliche für ein Leben auf der Straße entschieden haben – weit weg von ihren nicht selten handgreiflich werdenden Familien. Nie waren zwei Menschen mehr füreinander da gewesen als diese beiden, und dennoch hat sie das Leben vor drei Jahren entzweit. Mittlerweile ist aus dem wilden Teenager Dallas ein selbstsicherer junger Mann geworden, dessen Job es ist, Jugendlichen eine neue Zukunft zu ermöglichen. Seine Gedanken kreisen immer noch um Eloni, aber er rechnet felsenfest damit, dass sie ein sicheres Zuhause gefunden hat. Doch das mittlerweile siebzehnjährige Mädchen führt nach wie vor das harte Leben der Straße. Seit wenigen Tagen jedoch in einer neuen Stadt. Dallas’ Stadt.

Wohin soll es gehen?

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Vita

Danksagung

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© privat

Laini Otis ist das Pseudonym einer musikverrückten Mittdreißigerin, deren Geschichten alle eines gemeinsam haben: sie beginnen mit einem Song. Ein Song, der während des Schreibens zu einem Soundtrack wird, der den Herzschlag der Geschichte wiedergibt. Neben dem Schreiben und der Musik begeistert sich die Autorin für das Fotografieren und die traumhaften Inseln Hawaiis.

Für Stella

Weil deine Arbeit von unschätzbarem Wert ist.

Aber mehr noch, weil dein Wert einfach unschätzbar ist!

Eins

Hobie

Die roten und grünen Weihnachtskugeln spiegelten sich im Glas des Schaufensters auf der gegenüberliegenden Seite. Mulligans. Dort wollte ich eigentlich hinein, aber nun stand ich schon unzählige Minuten vor dem Weihnachtsbaum, der inmitten der Fußgängerzone aufgestellt worden war, und bewunderte das Spiel der abwechselnd leuchtenden Glühlämpchen der Lichterkette.

Was für ein schöner Baum! Die schneebedeckten Spitzen, das kräftige Grün der Nadeln – er war einfach perfekt.

Ich zog meinen Mantel enger zusammen, um das bisschen Wärme festzuhalten, das noch in mir schlummerte, doch bei diesen Temperaturen war es unmöglich, das – insbesondere in meinen Kleidern – zu bewerkstelligen. Ich sollte endlich ins Geschäft gehen.

Jemand rempelte mich an und eilte weiter, ohne sich zu entschuldigen. Die Leute hetzten an diesem wunderbaren Prachtstück vorbei, als wäre der Teufel hinter ihnen her. Keiner blieb mal stehen und schaute sich den Baum an. Und warum sollten sie auch? Auf fast alle von ihnen wartete ein warmes Zuhause. Eine Familie oder Freunde. Es wartete ein eigens geschmückter Weihnachtsbaum oder zumindest eine weihnachtlich dekorierte Wohnung. Der Blick der Gesellschaft auf ihr Umfeld war allgemein nicht sehr groß und zu dieser Jahreszeit, zu den Festtagen, fiel er direkt in einen kleinen inneren familiären und freundschaftlichen Kreis zurück.

Ob es bei mir anders wäre?

Ich schnaubte und mein Atem bildete weiße Wölkchen vor meinem Gesicht. Mit meinen nahezu eingefrorenen Fingern berührte ich kurz eine rot glänzende Kugel, in der man sich selbst spiegeln konnte. Die Farbe glitzerte und für den Bruchteil eines Augenblicks gönnte ich mir den Gedanken an ein Weihnachtsfest für mich.

Als mein Spiegelbild reflektierte, trat ich erschrocken zurück und schlug den Weg in das Geschäft ein. Die Wunde auf meiner Stirn sah wirklich schlimm aus, vermutlich blieb eine Narbe zurück … eine von vielen. Und jede erzählte ihre eigene Geschichte.

Warme Luft strömte mir ins Gesicht und allein dieses Gefühl löste in mir Freude aus. Heute war Christmas Eve. Der zugleich traurigste als auch schönste Abend des Jahres. Neben Silvester. Und natürlich dem eigenen Geburtstag. Allein zu feiern konnte einem das Herz brechen und es wurde nicht besser, nur weil man es Jahr für Jahr wiederholte.

Die Tatsache, dass während der Weihnachtszeit die Ausbeute an Gratisgeschenken und vor allem an Gratisessen immens hoch war, machte diesen Umstand jedoch ein kleines bisschen wett. Und genau darauf freute ich mich gerade extrem. Zusätzlich zu der Wärme, die im Mulligans herrschte.

Mein Magen gab laute Geräusche von sich, als ich meinen Mantel auszog und ihn mir über den Arm legte. Die Mütze versteckte ich in der Ärmeltasche. Mein Blick schweifte umgehend zu den dicken Daunenjacken und gefütterten Mänteln, die im Angebot waren. 69 Dollar für ein feuerrotes Stück Stoff, dass wind-, wasser- und kältefest war. 69 Dollar. Davon konnte ich gut einen, wenn nicht sogar zwei Monate leben. 69 Dollar waren verdammt viel Geld.

Ich streifte weiter, vorbei an Drehständern und Regalen vollgestopft mit Kleidern, so vielen Kleidern, dass allein das Mulligans vermutlich die gesamte Stadt damit würde versorgen können. Vorausgesetzt, die Leute zogen sich nicht dreimal am Tag um.

Ob ich mir was aussuchen und anprobieren sollte? Das hatte ich früher oft gemacht und es hatte mich immer wieder gewundert, wie sich mein Aussehen veränderte. Als wäre ich in viele verschiedene Persönlichkeiten geschlüpft, dabei brauchte ich noch nicht mal ein Kostüm anzuziehen. Es reichte stinknormale Kleidung, die aus meiner Person umgehend etwas machte, in das ich eingestuft werden konnte. Streberin, Punk, Pferdenarr, Hippie …

Eine kleine Gruppe Mädchen drückte sich an mir vorbei, laut schnatternd und lachend. Eine von ihnen stoppte und besah sich die Pullover, die auf einem Tisch, neben dem ich stand, aufgestapelt lagen.

»Vera, sieh mal«, sagte sie und hielt sich den flauschigen Pullover mit den Pailletten-Herzchen vor die Brust. »Den sollte ich beim Winterball tragen. Vielleicht peilt Austin dann endlich, was ich von ihm will!« Sie zog eine Grimasse und Vera lachte.

»Das schaffst du mit deinem sexy Kleid garantiert ebenso.«

Das Mädchen stieg ins Lachen ihrer Freundin ein und warf den Pullover achtlos auf den Tisch. »Da könntest du recht haben«, erwiderte sie vergnügt und streunte den anderen hinterher.

Ich nahm den Pullover an mich und befühlte den weichen Nicci-Stoff, der sich samtig an meine Haut anschmiegte. Er war wirklich schön. Die Pailletten konnte man umdrehen und dann änderte sich die Farbe der Herzen von Rot zu Pink. Ich suchte nach dem Preisschild – 25 Dollar. Momentan besaß ich drei Dollar und vierzig Cent, was echt mehr war, als ich sonst so an Geld hatte. In Maceo, der Stadt, aus der ich gerade gekommen war, wohnten ziemlich viele Engel, die ihr Leergut, auf das es fünf und im besten Fall zehn Cent Pfand gab, in Plastiktüten neben die Mülleimer an den Straßenrand stellten. Und zwar immer an dem Tag, an dem der Müll abgeholt wurde. Man musste schnell sein, um genug Tüten zu ergattern, bevor es die anderen Obdachlosen taten. Je älter die Menschen waren, je länger sie auf der Straße hausten, desto rücksichtsloser wurden sie, da gab es im Geschlecht keinen Unterschied. Tatsächlich waren die Frauen um einiges aggressiver als die Männer. Hoffentlich verlor ich meinen Anstand nicht auch irgendwann an die Verbitterung und Trostlosigkeit, die uns Vagabunden im Griff hielt. Oder an den Alkohol, der einen mindestens genauso zerstören konnte.

Ich faltete den Pullover zusammen und legte ihn zurück auf den Stapel. Mein Hunger trieb mich an, die Fashionabteilung hinter mir zu lassen und rüber zu den Lebensmitteln zu eilen. Dies war mein erster Besuch im Mulligans, doch der Laden unterschied sich nur minimal vom Einkaufscenter zu Hause.

Ich folgte dem Duft von frisch Gekochtem und stieß wie erwartet auf einen Stand zur Selbstverkostung. Kleine weiße Plastikschälchen standen auf dem Stehtisch neben einem Werbeplakat und einem Regal prall gefüllt mit dem entsprechenden Produkt. Ich schnappte mir vom – wenn ich es richtig erkannte – Hühnerfleisch und vertilgte das Stück mit einem Biss. Oha. Es ging wohl um die Marinade. Drei Flaschen standen auf der Theke. Diese Geschmacksrichtung war süßsauer gewesen, was wirklich überhaupt nicht meinem Geschmack entsprach, aber wen interessierte das schon? Ich aß nicht, weil es schmeckte und mir einen Hochgenuss bescherte, sondern weil ich bei Kräften bleiben und meinen hungrigen Bauch füllen musste. Nach Geschmack zu essen war ein Luxus, den ich mir noch nie hatte leisten können. Deswegen nahm ich mir noch ein paar weitere von den Fleischstückchen und verschwand, bevor ein Mitarbeiter kam und mich wegscheuchte. In Maceo hatten sie mich gekannt und je nachdem, wer gerade arbeitete, bekam ich mehr als eine Verkostung ab oder eben gar nichts.

Verkostung. Probehäppchen. Für viele, viele Menschen waren diese angebotenen Waren nicht mehr als ein Zahnlückenfüller. Etwas, das man sich schnell nebenher in den Mund stopfte. Ein weiteres Rennen der großen Firmen, noch mehr Profit herauszuschlagen. Jedes Mal, wenn man etwas aß, das der Körper zum Leben überhaupt nicht benötigte, war es meines Erachtens Verschwendung an Nahrungsmitteln. Und im Laufe der Zeit stellte ich fest, dass die Menschen sich ihren Bauch täglich mit mindestens achtzig Prozent profitorientierten Genussmitteln füllten. Und die anderen zwanzig Prozent ihres Essens im Mülleimer landeten.

Ich warf die Plastikbehälter in einen Eimer und schüttelte den Kopf. Stopp, Hobie! Heute war kein Tag sich Gedanken über das maßlose Essverhalten der Gesellschaft zu machen. Oder für Traurigkeit. Heute musste ich versuchen, mir aus dem, was mir geblieben war, mein kleines Stück Glück zu erschaffen. Nur ein Winziges. Einen Hauch davon, damit es zumindest annähernd an die festliche Stimmung erinnerte, die dieser Tag, dieser Abend, für viele Menschen bedeutete. Auch mir.

An der Gebäcktheke fischte ich mir etwas Brot und buttrige Teigtaschen aus der Bitte probieren Sie-Schale und schnappte mir dann einen Becher von der Wasserstation, wo man sich kostenlos bedienen konnte. Es gab zwar auch einen Stand mit Verkostungen von irgendeinem Trendgetränk, aber darum machte ich grundsätzlich einen Bogen. Handelte es sich um echten Frucht- oder Gemüsesaft, war das was anderes, aber diese Zuckergetränke fachten generell noch mehr Durst in mir an. Außerdem hatte ich nicht immer Zahnpasta parat, deswegen war es mir sowieso zu gefährlich, davon zu trinken.

Mit dem Becher in der Hand schlenderte ich zwischen den Süßigkeitenregalen umher. Ob ich mir einen Schokoriegel gönnen sollte? Als Weihnachtsgeschenk an mich selbst? Die mit Erdnussbutter mochte ich am liebsten. Reeses Peanut Butter Sticks. Oder doch lieber die Butter Cups? Das waren sowieso die einzigen beiden, die ich kannte, und obwohl es Jahre her war, lag mir nur beim Anblick der Süßigkeiten schon der Geschmack der schmelzenden Erdnussbutter auf meiner Zunge.

$1,34 für die Butter Cups. Drei Stück. Das war verdammt teuer.

Ich tauchte mit der Hand in meinen abgetragenen Mantel und umschloss das Geld, das ich darin verstaut hatte. Ich brauchte unbedingt Tylenol, um ein wenig die Schmerzen zu lindern, die sich langsam, aber sicher wieder an die Oberfläche bahnten. Die letzte Tablette, die mir der Trucker geschenkt hatte, mit dem ich in dieser Stadt gelandet war, hatte ich bereits vor ein paar Stunden genommen und wenn ich heute Nacht zumindest etwas die Augen zubekommen wollte, brauchte ich eine weitere Dosis des Schmerzmittels.

Ich ging rüber zur Drogerieabteilung und suchte das günstigste Produkt aus. $1,97 für zehn Stück. Extra stark.

Erleichtert atmete ich auf. Mein Geld reichte gerade für beide Sachen aus. Ich spürte, wie sich ein Lächeln auf meine Lippen legte. Da hatte ich doch auch mal wieder Glück.

Beschwingter, als es mir eigentlich guttat, suchte ich den Waschraum auf. Nachdem ich die Toilette benutzt hatte, wusch ich mir lange die Hände. Wie sehr ich mich nach einer Dusche sehnte. Oder frischen Kleidern. Ich schloss die Augen und genoss die Wärme, die über meine Haut plätscherte, bis die Tür aufging und ich erschrocken zusammenzuckte. Ich riss die Augen auf und eine Frau mittleren Alters starrte mich entgeistert an. Umgehend senkte ich den Kopf, stellte das Wasser aus und trocknete mir die Hände. Kommentarlos verschwand sie in die Kabine. Sie brauchte auch nichts sagen – mir war auch ohne laut ausgesprochene Worte klar, was sie dachte. Sieben Jahre auf der Straße. Es gab nichts, was ich nicht schon gehört hatte.

Automatisch schnappte ich mir eine Rolle Toilettenpapier, bis mir einfiel, dass ich ja gar keine Tasche mehr besaß. Alles, was mir wichtig war, was wichtig für mein Überleben gewesen war, lag nun eine Tagesreise von hier entfernt in einem alten, abgelegenen Gebäude. Mit dem letzten Stückchen Vertrauen, zu dem ich noch fähig gewesen war, nach der schrecklichen Nacht vor drei Jahren. Nun war da nichts mehr.

Leere.

Absolute Leere.

Und ich war gezwungen komplett neu anzufangen. In einer Stadt, die mir das Schicksal zugespielt hatte. In Form des Truckers, der mich mitgenommen hatte, bis zum Ziel seiner Route – Kalun.

Ich zupfte mir ein paar Stück Papier ab, steckte sie in meine Manteltasche und ging mir meine Weihnachtsgeschenke kaufen.

Bevor ich das Geschäft verließ, stoppte ich in der Musikabteilung. Unter den CDs suchte ich nach einem bestimmten Album. Songs, die Erinnerungen zurückbrachten. Songs, die mir halfen, nicht komplett aufzugeben. Obwohl ich ihn hasste, klammerte ich mich an den letzten Ton dieses Liedes. Vielleicht war ich sadistisch veranlagt. Vielleicht hatte mich die Straße noch nicht genug Grausamkeiten gelehrt. Vielleicht lag es aber an dem einzigen Funken Liebe, der noch in meinem Herzen vor sich hin züngelte …

Red Blood, Hot Sugar, Chili Sex, Peppers Magik.

Sacht strich ich mit den Fingerspitzen über den Schriftzug, die Rosen und Ranken, die auf dem Album abgebildet waren. Mein Herz schlug einen kleinen Tick schneller. Die Chili Peppers waren meine liebste Band, allem voran der Song, der für mich geschrieben schien – Under the Bridge.

Kurz überlegte ich, den Verkäufer zu fragen, ob ich das Album Probe hören durfte. Aber ich entschied mich dagegen. Nicht heute. Die Einsamkeit war schlimm genug. Die Tatsache, dass ich mich in einer Stadt befand, in der ich mich null auskannte und an Christmas Eve allein sein musste, setzte mir genug zu. Da brauchte ich wirklich nicht noch die Sehnsucht schüren, die mittlerweile nur mit diesem ekligen, starken Gefühl einherging – Hass. So paradox sich das auch anhören musste, doch wenn ich an ihn dachte, an den Menschen, der mein Leben gewesen war, fühlte ich Liebe und Hass gleichzeitig.

Dallas

Mein Herz knallte mir gleich aus der Brust. Wie ein Verrückter hechtete ich durch den Laden. »Entschuldigung«, rief ich, während ich mich grob durch die Menge drängte. »Tut mir leid.«

»Hey«, giftete jemand genervt, als ich um die Ecke bog und beinahe einen Kleiderständer umwarf. Mein Blick schwirrte wild umher, aber ich sah sie nicht. Dabei war ich mir sicher – diese Frisur …

»Verdammt!« Frustriert raufte ich mir die Haare.

»Ich dachte, du weißt schon, was du noch für heute Abend besorgen willst«, ertönte es neben mir.

»Das weiß ich auch, VIP. Und wenn du mich jetzt aufziehst, wird dir Santa bestimmt ein Geschenk weniger unter den Baum legen.«

Nika schnitt eine Grimasse und legte dann den Arm um meine Schultern. »Wer bist du? Und was hast du mit meinem Freund gemacht?«

Ich atmete schwer aus und schüttelte den Kopf. »Sorry. Ich dachte, ich hätte jemanden gesehen.«

»Zum Rekrutieren?«, flüsterte sie und ich merkte, wie sie ihre Muskeln anspannte.

Lächelnd zog ich sie in eine kurze Umarmung und gab ihr einen Kuss auf den Scheitel. »Nein. Du kannst dich wieder entspannen. Heute Abend feiern wir mit unseren Leuten Weihnachten. Anordnung vom Chef. Keine Observationen, keine Außendienste.«

Ich schüttelte den Kopf über meinen Auftritt. Offensichtlich steckte ich in einem handfesten Feiertagsblues …

»Der Chef war im Delirium, als er das von sich gegeben hat. Vorübergehend nicht ganz zurechnungsfähig.« Nika schob die Brauen zusammen. »Mhm. Wenn ich es mir recht überlege, ist das ja eigentlich sein normaler Zustand.«

Ich lachte auf und zog sie mit mir. »Sky hat mir schon gesagt, dass du mit seiner Anordnung nicht einverstanden bist.«

»Hallo? Ist das nicht verständlich? Gerade heute wäre es doch ein besonderes Geschenk, wenn wir einen von uns von der Straße holen könnten!«

»Ja. Da stimme ich dir zu. Wenn auch eingeschränkt. Denn jedem, den wir an einem der anderen 364 Tage im Jahr einen Platz anbieten oder in der Not helfen können, wird dieser Augenblick vermutlich sowieso wie Weihnachten vorkommen.« Ich bugsierte sie auf die Rolltreppe rauf in die erste Etage des Mulligan. »Und genau das wollen wir heute feiern, und zwar gemeinsam! Ein Abend in der Familie.«

»Ehrlich, Dally? Seit wann sitzt du denn mit dem Boss in einem Boot?«

Ich schnaubte amüsiert. »Dally …«

Auf Nikas Gesicht breitete sich ein riesiges Lächeln aus, weswegen es mir schwerfiel, ihr deswegen einen Rüffel zu geben. Seit sie das Buch Die Outsiders gelesen hatte, nannte sie mich Dally, in Anlehnung an die Figur Dallas Winston. Ich kannte das Buch auch, schließlich hatte ich es ihr ausgeliehen, aber Dally wäre der Letzte, mit dem ich mich identifizieren würde. Er trank, betrog, log, klaute, saß mehr im Gefängnis als draußen, verdrosch kleine Kinder … Mehr als den Namen und seit einigen Monaten auch die braunen Haare – seines Filmparts wohlgemerkt – hatte ich nicht mit ihm gemein.

Nika war da anderer Meinung. Für sie war Dallas der eigentliche Held in der Geschichte. Er ließ sein Leben, weil er daran zugrunde ging, dass sein bester Freund getötet worden war und mit dessen Tod sein eigenes Herz. Egal wie daneben Dally sich benommen hatte, für seine Leute war er immer eingestanden. Ohne Wenn und Aber.

In dir steckt so viel Dally, Dallas! Du würdest für jeden Einzelnen in der Einheit durchs Feuer gehen und das zeichnet dich aus …

Innerlich sträubte ich mich gegen ihre Aussage. Nicht, weil es aktuell nicht der Wahrheit entsprach. Sondern weil ich bewiesen hatte, genau das nicht zu können. Für jemanden einstehen. Für jemanden ins Feuer springen. Früher. Vor meiner Zeit bei C.H.A.N.C.E., der geheimen Organisation, die obdachlose Kids und Jugendliche von der Straße holte und ihnen eine Zukunft bot, war ich nicht derart selbstlos gewesen. Eine Tatsache, die mir immer noch Albträume bescherte. Die mich verfolgte und immer verfolgen würde.

Für mich stand es außer Frage, dass es einfach war, selbstlos zu sein, wenn man sich auf der sicheren Seite der Gesellschaft befand. Es war kein Hexenwerk, nichts, wofür man viel Kraft aufwenden musste. Und genau deswegen verlor es für mich an Wert. Ein aufopferungsvoller und selbstloser Mensch war in meinen Augen jemand, der sich in seinem schlimmsten Elend noch für andere einsetzen und das Leben anderer über sein eigenes stellen würde.

»Dally. The one and only«, setzte Nika nach und unterbrach meine Gedanken.

Seufzend zuckte ich mit den Schultern. Da ich sie ebenfalls mit einem Spitznamen ansprach, den sie sich in ihrer Grundausbildung aufgrund von Dinner-Dates mit dem Boss verdient hatte, stand es mir nicht wirklich frei, etwas dagegen zu sagen. Zu ihrer Anschuldigung, mit dem Boss in einem Boot zu sitzen, allerdings schon.

»VIP, du vergisst wohl, dass ich in das Boot überhaupt nicht reinkomme. Wenn der Boss drinsitzt, hat keiner mehr Platz.«

Nika lachte laut los. »Tatsache!«

»Trotzdem weiche ich nicht von seiner Anordnung ab. Ich finde es schön, dass wir uns alle mal einen Abend nur um uns kümmern und die Zeit genießen können. Sei mir nicht böse, aber ich gehöre seit noch nicht mal einem Vierteljahr zu eurer Einheit, habe aber das Gefühl, bereits so viel gearbeitet zu haben wie in dem gesamten Jahr in Tulsoi.«

»Ich verstehe, was du meinst. Eine neue Einheit aus dem Boden zu stampfen ist heftig viel Arbeit und bedeutet für uns alle Stress. Besonders Sky steht unter Dauerstrom. Ihm würde mehr als nur ein Abend Auszeit guttun.«

»Nicht nur ihm. Ein paar Tage Zweisamkeit wären Balsam für euch beide.«

Sie verdrehte die Augen. Lächelnd.

Einer der Gründe, weswegen Nika in Sky einen absoluten Traumpartner gefunden hatte, lag in ihrer unerschütterlichen Verbissenheit. Zwei Sturköpfe, die sich durch nichts und niemanden in die Knie zwingen ließen. Zwei Sturköpfe von der Straße, die ihre Einheit mit ihrem Engagement bereits zum Gesprächsthema Nummer eins gemacht hatten. Und das sollte schon etwas heißen, denn übers Land verteilten sich an die fünfhundert Einheiten von C.H.A.N.C.E.

Der Ölmagnat Mister Curver hatte vor Jahrzehnten die Organisation mit Freunden gegründet, nachdem seine Tochter Sarah von zu Hause ausgerissen, monatelang verschwunden gewesen und letztlich von einer Straßengang zu Tode geprügelt worden war. In jeder Einheit konnte man die Grundausbildung absolvieren und später auch in so einer arbeiten, doch die Plätze waren rar. Zu viele Kinder. Zu wenig Ressourcen. Die Organisation finanzierte sich rein über Spendengelder.

Wir streunten zur Musikabteilung, Nika zu den Platten, während ich vor dem Regal mit den CDs stehen blieb. Automatisch scannte mein Blick unter R nach einer Band, die schon immer zu meinen liebsten Musikern gehörten. Red Hot Chili Peppers. Eine Band, deren Texte mir oft über die echt harten Zeiten geholfen hatte. Texte, die ich in meinem Kopf hörte, obwohl ich nichts hörte, weil sie derart mit mir verschmolzen waren, dass die Musik in den Hintergrund rückte.

Eine Ecke ragte aus den sonst ordentlich eingeräumten CDs hervor und ich zog sie aus dem Schuber. Sugar, Blood, Sex, Magik. Ein geniales Album. Vielleicht mein liebstes, wobei mich das neuste The Getaway gerade einen Tick stärker beschäftigte. Möglicherweise weil ich davor floh, mir jetzt, wo ich endlich wieder in der Lage war, Musik zu hören, wann immer ich wollte, mein Lieblingsalbum anzuhören. Insbesondere beim Song Under the Bridge nahm ich die Beine in die Hand. Die Erinnerungen waren zu stark, um nicht darauf zu reagieren, und ich wusste nicht, selbst nach so vielen Jahren, ob ich das schaffen würde.

Musik war ein verdammter Bass! Er war der Ton, der sich unter deinen Fußsohlen sammelte, um als geballter Gefühlsverstärker durch deinen Körper zu schrammen. In jede noch so kleine Zelle deines Seins. In jede Faser, in alles, was du warst und was dich ausmachte.

Meine Finger klammerten sich um die Hülle, als wäre sie ein Anker, der mich davor bewahrte wegzutreiben. Hinaus in ein Meer voller Vorwürfe. Zorn über mich selbst. Schuldgefühlen und Trauer.

Vielleicht war das herausschauende Coverstück ein Zeichen?

Vielleicht war es an der Zeit, mich der Vergangenheit zu stellen. Dem, was mich nachts aus dem Schlaf riss. Was als ewiger Schatten an mir dranhing. Weswegen ich kein Dally war. Nicht Nikas Version von Dally. Sondern schlicht Dallas, dem niemand zutrauen würde, was er getan hatte. Unabhängig von seinen Beweggründen.

Zwei

Hobie

Kalun war größer als erwartet, was sich als mein Glück herausstellte. Menschenmassen bedeuteten für eine einzelne Person mehr Unsichtbarkeit. Mehr Gleichgültigkeit. Einwohner in kleinen Städten oder Dörfern kannten sich eher und sorgten sich umeinander. Je kleiner, desto enger war das Verhältnis. Eine Bindung, die man in Großstädten wie dieser höchstens in bestimmten Wohnvierteln finden konnte.

Außerdem gab es umso mehr Plätze, die ich nutzen konnte, um mein Lager aufzuschlagen. Irgendein verlassenes Gebäude würde ich bestimmt finden, das ich beziehen konnte, ohne Aufmerksamkeit zu erregen. Für heute Abend war es aber zu dunkel, um mir meinen zukünftigen Schlafplatz zu organisieren. Und es war Christmas Eve. Deswegen tat ich etwas, was ich eher selten machte, weil ich mich davor fürchtete, von der Polizei festgenommen zu werden. Es dauerte zwar nur noch weniger als zehn Wochen bis zu meinem achtzehnten Geburtstag, trotzdem wollte ich die Gefahr nicht eingehen und am Ende aufgegabelt und ins Heim überstellt werden.

Ich sah mich erneut nach allen Seiten um, ehe ich aus dem Schatten des Baumes trat und zur Hintertür des freistehenden Einfamilienhauses rannte. Mit einer meiner Haarklammern, von denen ich immer mindestens drei in meinen Haaren trug, um mir die langen Zöpfe aus dem Gesicht zu halten, knackte ich das Schloss und trat schnell ein. Das Haus stand zum Verkauf und die Besitzer mussten schon ausgezogen sein, denn weder der Schnee vor dem Haus war gekehrt worden, noch gab es Fußspuren darin zu erkennen.

Die Kühle, die mich empfing, bestätigte mir meine Vermutung. Sie war zwar nicht so eisig wie draußen, trotzdem machte sich eine kleine Spur Enttäuschung in mir breit. Ich hätte gern lieber ein Haus gefunden, welches leer stand, weil die Besitzer gerade Urlaub machten oder so. Aber diese Häuser wurden meist mehr von den Nachbarn beobachtet und die Chance, entdeckt zu werden, war demnach um einiges höher. Wenngleich vermutlich nicht an einem Abend wie diesem.

Egal. Es wird nicht gejammert, beschied ich mir, nahm die Mütze ab und hangelte mich im Raum vorwärts. Ich besaß keine Taschenlampe oder ein Feuerzeug und die Lampen konnte ich auch schlecht anknipsen, sodass mir nur der fahle Mondschein etwas Licht spendete. Gerade befand ich mich in der Küche mit einer riesigen Kochinsel in der Mitte des Raumes. Ich öffnete den überdimensionalen Side-by-Side-Kühlschrank – natürlich war er leer. Wenigstens leuchtete das Licht, was mir gleich bessere Laune bescherte. Funktionierte der Kühlschrank, funktionierten auch die Toilette und die Dusche!

Noch ein Weihnachtsgeschenk zu meinen beiden gekauften. Vorfreude durchströmte mich und ich atmete laut aus. Das war zu schön, um wahr zu sein.

Ich schluckte den Kloß in meinen Hals hinunter, schloss die Kühlschranktür und suchte in den Küchenschränken nach Kerzen, Streichhölzern oder Ähnlichem. In der Schublade unter der Spüle wurde ich fündig. Ein Feuerzeug, das sogar funktionierte.

In den besonders dunklen Stellen, dort, wo kein Licht von draußen hereinschien, entzündete ich das Feuerzeug und sah mich genauestens um. Ich war vielleicht mutig genug, in ein Haus einzubrechen, besaß aber trotzdem einen riesigen Respekt davor, einem anderen Obdachlosen den Platz streitig zu machen. Das ging meist nicht glimpflich für mich aus, egal wie viele Regeln ich mir angeeignet hatte, um mich zu schützen.

Regel Nummer eins: Renn weg!

Sicher gab es immer Mädchen, die wie Furien um irgendetwas oder gegen irgendjemanden kämpften und dabei jedes Mal wieder ihr Leben aufs Spiel setzten. Nur ich gehörte nicht dazu. Ich hasste kämpfen. Ich hasste Streit und tatsächlich hing ich an meinem Leben. Selbst wenn es für Außenstehende nicht als besonders lebenswert erachtet wurde, weil es mir nicht viel Gutes bot. Aber ich hatte mir vor Jahren eine Sache geschworen, eine Tatsache, an der ich festhielt und dir mir die Kraft gab, all das zu überstehen: Ich war wertvoll! Mir war ein Leben geschenkt worden und ich würde den Teufel tun, es einfach so aufzugeben, nur weil es kein leichtes war. Das schuldete ich mir selbst. Mit jedem Atemzug, den ich machte.

Im Erdgeschoss schien alles sicher und ich hoffte, es würde für diesen Abend auch so bleiben. Vor dem Fernsehgerät im Wohnzimmer verharrte ich ein paar Sekunden. Manchmal schaute ich in der Mall fern. Meist irgendeinen Quatsch, der eben über die Ultra-Flat-Bildschirme flimmerte. Leider wurde das Vergnügen durch den Geräuschpegel der Kunden und des geschäftigen Treibens häufig ein recht einseitiges Erlebnis und endete letztlich als digitales Bilderbuch in schneller Abfolge.

Leise schlich ich ins erste Stockwerk. Links von der Treppe ging eine Tür ab. Rechts zwei. Ich überprüfte alle drei Zimmer, die sich als zwei Schlafzimmer und ein Büro entpuppten, und entschied mich für das kleinere, weil es nach hinten raus in den Garten ging, der abgeschottet von Blicken lag. Trotzdem traute ich mich nicht, das Deckenlicht einzuschalten.

Ich schloss die Tür fest hinter mir und setzte mich aufs Bett. Es war weich. Eine dicke Matratze und es roch hier … heimisch. Nach frisch gebackenen Keksen und Seife. Zumindest stellte ich mir vor, dass es so in einem Zuhause riechen würde. So genau konnte ich das nämlich nicht sagen.

Ich legte mich rücklings auf das Bett und hielt mir den Bauch. Merkwürdig. Ich konnte mich nicht an den Duft meines Zuhauses erinnern, aber der Geruch seiner Haut verfolgte mich seit Jahren. Es war ein guter Duft gewesen, trotz der Umstände. Ein bisschen wie ein rauer Wind nach einem regnerischen Tag im Herbst.

Ein schmaler Streifen leuchtete die Decke aus und für eine Weile blieb ich liegen und genoss den Moment. Als mir immer wieder die Augen zufielen, rappelte ich mich auf, zog die Schuhe von den Füßen und schlich ins Bad. Dort schaltete ich das Licht ein und umgehend sprang die Lüftung an, da es in diesem Raum kein Fenster gab. Es war klein, aber sauber.

Ich durchsuchte die Schränke nach einem Badetuch – ohne Erfolg. Bedauernd starrte ich die Badewanne an. Was für ein unglaublicher Luxus! Aber wie sollte ich sie nutzen, wenn ich kein Handtuch zum Abtrocknen hatte? Hier drinnen waren es bestimmt Temperaturen um den Gefrierpunkt. Ich konnte es mir nicht leisten, krank zu werden und das würde passieren, wenn ich nach dem Baden komplett nass in meine Kleider schlüpfte.

Am liebsten hätte ich die Heizung angeschaltet, aber die röhrten echt laut und das war mir genauso zu heiß wie ein Licht anzuknipsen.

Grübelnd durchforstete ich alle Schränke auf dieser Etage nach irgendetwas, mit dem ich mich abtrocknen konnte. Dabei kam mir eine Idee. Ich schnappte mir das Bettzeug des Hauptschlafraumes und trug es in das Gästezimmer, um es mir dort im Bett richtig gemütlich zu machen. Dann klaubte ich aus den ganzen Decken und Kissen das dünnste Baumwolllaken hervor. Tadaa! Mein Badetuch. Ein Traum in Altrosa. Es war sauber und roch sogar relativ frisch.

Völlig high vor Vorfreude ließ ich mir Wasser ein und zog mich aus. Es war mir egal, dass es keinen Badezusatz oder Shampoo gab. Das warme Wasser, in das ich jetzt meine Zehen vorsichtig steckte, entschädigte diesen Umstand vollkommen.

Wärme! Was für ein Gefühl nach wochenlangem Dauerfrieren. Wohlig seufzte ich auf und glitt langsam komplett in das Wasser hinab. Ich hatte die Wanne richtig volllaufen lassen, sodass ich bis zum Kinn in dieser atemberaubenden Wärme lag.

Was für ein Geschenk! Was für ein Glück, dieses Haus gefunden zu haben! Das Tylenol wirkte und die Aussicht auf die Butter Cups beförderte meine gute Laune zu den Sternen. Ich schloss erneut die Augen und spürte die Schwerelosigkeit, die meinen Körper überkam. Meine von der Kälte durchweichten Knochen, meine geschundene Haut ächzten auf.

Merry Christmas, dachte ich entspannt. Vielleicht war meine Flucht aus Maceo doch nicht so eine Tragödie, wie ich angenommen hatte.

Dallas

Ich klebte eine Schleife an das letzte Geschenk, das ich zu verpacken hatte. Es war ein Playstation-Spiel für Peanut, der sich von seinem ersten Gehalt eine eigene Spielkonsole zugelegt hatte und nun akribisch jedem Spiel entgegenfieberte, das auf den Markt kam.

Nachdenklich lehnte ich mit dem Rücken gegen das bodennahe Fenster und zog ein Bein an. Peanut hatte mich kürzlich gefragt, ob ich mit ihm gemeinsam eine Wohnung außerhalb der Einheit beziehen wollte. Aus nicht nachvollziehbaren Gründen zögerte ich mit der Antwort. Es lag nicht an Peanut, denn er gehörte neben Nika seit unserer gemeinsamen Grundausbildung zu meinen engsten Freunden, und manchmal staunte ich immer noch darüber, dass wir drei einen direkten Job bei C.H.A.N.C.E. bekommen hatten und zudem in derselben Einheit arbeiteten, die mein ehemaliger Ausbilder leitete. Und von allen, die mir bisher begegnet waren, gab es keinen, der sich leichter in seine Umgebung einfügen konnte als er. Peanut war unkompliziert, ehrlich und immer gut drauf und das Leben in einer WG, wie ich es kennengelernt hatte, gefiel mir auch. Ohne Zweifel. Was war es also, das mich abhielt? Was war der Grund, weswegen ich mich sträubte?

Ein Klopfen unterbrach meine Gedanken. »Komm rein«, rief ich und reckte den Kopf, da ich auf dem Boden hinter meinem Bett saß.

»Jingle Bells, Jingle Bells, Jingle Bells rock!« Breit grinsend tänzelte Peanut ins Zimmer. »Los, Muscle-Man. Ich kann das Essen kaum erwarten und erst die Geschenke!«

Lachend stemmte ich mich hoch. »Das ist nicht dein Ernst, oder?« Fassungslos begutachtete ich seinen Aufzug. Peanut trug tatsächlich einen knallroten Pullover, der auf der Vorderseite einen grünen Weihnachtsbaum zeigte, dessen Kugeln bunt und wild aufblinkten.

»Und ob es das ist! Weihnachten ist für mich endlich zu einer Zeit im Jahr geworden, wo ich zu tausend Prozent und aus vollem Herzen dankbar sein und es feiern kann.« Er schnappte sich ein paar meiner Geschenke. »Und ich will keine Sekunde davon verschwenden, also los jetzt.«

Ich sah ihm kurz hinterher, griff nach den restlichen bunt verpackten Geschenken und folgte ihm zum Aufzug. Unsere Schritte hallten laut in dem kahlen Gang wider.

Das Gebäude, ein ehemaliger Stützpunkt des Militärs, lag versteckt, nahe eines Waldstücks, gute zwanzig Minuten Fahrtzeit entfernt von der Stadt und war in einem ziemlich maroden Zustand gewesen. Die Leitungen hatten neu gelegt werden müssen, Wände ausgebessert, die Wasser- und Gastherme ausgetauscht. Sämtliche groben Bauarbeiten wurden vorab von der Organisation in Auftrag gegeben, alles andere, wie die Einrichtung, Boden- und Wandbeläge und die Gartengestaltung, unterlag Sky, der wie ein Verrückter daran arbeitete, aus dem Standort Kalun ein Zuhause sondergleichen zu erschaffen. Der Mitarbeitertrakt war die letzte verbliebene Baustelle, die noch eine Schönheitsreparatur benötigte, bevor es an die Außenanlage ging.

Darauf freute ich mich besonders, denn ich liebte die Natur und beschäftigte mich gern mit Pflanzen aller Art. Und aus genau dem Grund hatte Sky mich als Projektleiter eingeteilt. Seit Wochen arbeitete ich an den Grundrissen, was mir richtig Spaß machte. Ich konnte es kaum noch erwarten, bis die Umsetzung startete.

»Dein Hemd ist auch ganz schnieke«, holte Peanut mich ins Hier und Jetzt zurück.

»Danke«, erwiderte ich und blickte kurz in den Spiegel, der rückseitig im Fahrstuhlinneren angebracht war. Es war eigentlich ein gewöhnliches Buttondown-Hemd in Dunkelgrün. Doch es beherbergte eine Erinnerung, die ich nie vergessen wollte. Ich hatte mir das Hemd für mein Abschiedsfest aus der Einheit Ruston ausgesucht. Der krönende Abschluss meiner Grundausbildung unter Sky, der mich damals gefunden und aufgenommen und dem ich mein nun gutes Leben zu verdanken hatte.

So richtig passte das Hemd aber nicht mehr zu meinen Haaren, die ich mir von feuerrot zu hellbraun hatte färben lassen, damit ich als Observer, also als verdeckter Ermittler, relaxter agieren konnte. Außerdem spannte es ein wenig mehr über meinem Brustkorb. Mein exzessives Training machte sich in Form von stahlharten Muskeln bezahlt. Nicht mehr lange und ich hatte das Level von Avery, unserem Box- und Sporttrainer, erreicht. Und natürlich Skys, dessen Hardcore-Training, das als Selbstverteidigungskurs getarnt daherkam, ich nie wieder vergessen würde.

Der Aufzug brachte uns ins erste Obergeschoss, wo der Speiseraum, die Küche und die Wäscherei lagen. Der Gemeinschaftsraum der Rekruten auf der dritten Etage war zu klein für eine Feierlichkeit wie diese, aber durch die Dekoration und den bunt geschmückten Tannenbaum versprühte dieser Ort mindestens ebenso viel Gemütlichkeit. Die vorherrschenden Farben waren Rot, Gold und Grün. Die einzelnen Tische waren zu einer langen Tafel aufgestellt, mit einer roten Damasttischdecke bedeckt und mit Schneekugeln zwischen Zweigen und Zimtstangen geschmückt worden. Leise weihnachtliche Musik lief im Hintergrund. Der Duft von Tannennadeln, frisch gebackenen Keksen und Braten stieg mir in die Nase. Mein Magen knurrte.

»Mann, ja. Ich hab auch einen Bärenhunger.« Peanut legte die Geschenke zu den anderen unter den Weihnachtsbaum und mischte sich unter die paar Rekruten, die bisher hier lebten.

Ich tat es ihm gleich, wobei mein Blick durch den Raum schwirrte.

»Suchst du mich?«, ertönte es neben mir und ein Arm legte sich um meine Schultern. Wuchtige Locken strichen über mein Gesicht, als ich den Kopf neigte und in katzenförmige, grün leuchtende Augen sah.

»Eigentlich nicht, aber da du schon mal da bist – Fröhliche Weihnachten.« Ich nahm Sam in den Arm und drückte sie liebevoll. Sie war für die Erstbetreuung zuständig, arbeitete ebenfalls im Außendienst und gab Yogaunterricht.

»Dir auch«, flüsterte sie und streichelte mir sanft über den Rücken.

Wir lösten uns voneinander und ich atmete tief durch. »Es ist immer noch surreal.«

»Das hört vermutlich auch nie auf. Und ich will das auch gar nicht. Der Tag, an dem ich das alles«, Sam machte eine ausholende Geste in den Raum hinein, »nicht mehr zu schätzen weiß oder als selbstverständlich erachte, kann kein guter Tag sein.«

Ich nickte. Ich schloss mich ihrer Meinung uneingeschränkt an. Wir hatten Glück gehabt. Da draußen gab es aber jede Menge Menschen, die das nicht hatten. Und das, obwohl wir zu den zivilisierten Ländern der Welt gehörten.

»Fangen wir an«, dröhnte es unvermittelt und die Gespräche verstummten umgehend.

Innerlich grinsend suchte ich mir einen Platz und setzte mich ebenso wie das übrige Personal und die Rekruten an die Tafel. Sky Porter, mein ehemaliger Ausbilder und Chef des Standorts Ruston und nun Chef dieser Einheit, stand in seiner prachtvollen Größe und überaus eindrucksvollen Präsenz am Tischende, mit verschränkten Armen und einem Funkeln in seinem Blick. Ihm haftete trotz der dunkelblauen Haare, dem Iro und den Piercings etwas Unnahbares und Strenges an. Nicht mehr so stark wie vor seiner Zeit mit Nika, aber dennoch ausreichend, um jeden mit einem Wimpernschlag zum Schweigen zu bringen. Besonders diejenigen, die ihn nicht kannten.

»Weihnachten ist eine Zeit, um innezuhalten«, sagte er nun in einem sanfteren Ton, »und es ist eine Zeit des Glaubens. Ich glaube daran, dass jeder Einzelne von uns einen Schutzengel zur Seite stehen hat. Oder begleitet wird von etwas Größerem, das uns hilft weiterzumachen und nicht aufzugeben. Wie auch immer dieser Glaube aussehen mag, er verbindet uns. Er lässt uns hoffen und er gibt uns Kraft. Dieser Glaube steckt tief in uns. Egal wie versteckt oder begraben er auch liegen mag – er ist immer da.« Sky streckte den Zeigefinger aus. Reihum deutete er auf jeden, der an der Tafel saß. »Ich glaube an euch. Und wenn ich mir eines für Weihnachten wünsche, dann, dass auch ihr an euch glaubt. Und diesen Glauben nie verliert. Ihr habt es hierhergeschafft und jetzt stehen euch alle Türen offen. Glaubt an euch. Dann könnt ihr Großartiges erschaffen. Ich tue es. Fröhliche Weihnachten.«

Ich ballte die Hand zur Faust und klopfte mit den anderen leise auf den Tisch. »Fröhliche Weihnachten«, wünschten sie sich gegenseitig und eigentlich wollte ich auch was sagen, aber mein Hals fühlte sich wie zugedrückt an. Geflochtene Haare geisterten vor meinem inneren Auge umher. Geflochtene Zöpfe, die ihr bis zu den Hüften reichten, und jeder Zopf war mit einem anderen bunten Haargummi festgemacht worden, sodass es aussah, als würde sie einen Regenbogen tragen – Hobie. Meine Fata Morgana. Mein Geist der Vergangenheit. Ob ihr Glaube noch so stark war? Ihr Lebenswille?

»Dallas?«

»Ja. Nein. Was?«, fragte ich und drehte mich zu der Stimme um.

Lennon, ein Rekrut, der genauso alt war wie ich und bald seinen Abschluss feiern würde, hielt mir den Brotkorb unter die Nase. »Auch Baguette?«

Ich klaubte mir zwei Stücke raus, obwohl mir der Appetit vergangen war. Irgendwie saß mir dieser Schock, eventuell Hobie gesehen zu haben, noch ziemlich in den Knochen. Und eigentlich wäre ich am liebsten jetzt da draußen. Auf der Straße. Auf der Suche. Ganz im Gegensatz zu dem, was ich Nika vor ein paar Stunden erzählt hatte. Um einen Geist zu suchen, der einen Teil meines Herzens in sich trug.

Drei

Hobie

Die Sonne kitzelte mich an der Nase und ich lauschte meinem regelmäßigen, ruhigen Atem. Wie gern würde ich einfach nur den ganzen Tag liegen bleiben und nichts tun. Wie gern würde ich das weiche Bett genießen und mich tiefer in die seidigen Laken schmiegen. Besonders wenn ich daran dachte, was für eine Eiseskälte mich draußen erwartete.

Aber das war nicht drin. Ich brauchte dringend etwas in den Magen und ich kannte mich in dieser Stadt nicht aus. Ich musste mir ein Bild machen. Mir einen Unterschlupf suchen, den ich gefahrenlos nutzen konnte. Wer weiß, vielleicht war Kalun dazu auserkoren, meine neue Heimat zu werden? So schlecht hatte meine Ankunft ja nicht begonnen.

Ein paar Minuten gönnte ich mir noch in diesem himmlischen Bett, dann schälte ich mich aus den Laken und sprang ins Bad, um mich anzuziehen. Nachdem ich gestern gebadet hatte, hatte ich mich komplett nackt in die Laken und Decken eingehüllt, mein Weihnachtsfestessen verspeist und war kurz darauf völlig erschöpft eingenickt.

Mit dem Zeigefinger putzte ich mir die Zähne und tupfte mit dem Toilettenpapier, das ich gestern zum Glück im Mulligans eingepackt hatte, meine Wunde ab. Sekret löste sich aus der leicht klaffenden Wunde an meiner Stirn und das Pochen nahm zu.

»Es hätte schlimmer kommen können«, bescheinigte ich meinem Spiegelbild und strich mir die Haare aus dem Gesicht. Ein sehr dunkles Blond, das fast schon als helles Braun durchgehen konnte. Absolut passend zu den graublauen Augen, die mehr grau als blau aussahen. Außer, ich war sehr glücklich. Dann strahlten sie wie der Himmel an einem Sommertag. Das hatte zumindest Dallas immer behauptet.

Ich fischte mir die Tylenol aus der Tasche, entnahm eine Tablette und schluckte sie mit dem Wasser aus dem Hahn runter.

Es hätte tatsächlich schlimmer kommen können! Das war nicht so dahergesagt. Eine Wunde an der Stirn war das Geringste von dem Übel, das mir passiert wäre, hätte ich mich nicht aus der Situation befreien und wegrennen können. Es war verwunderlich, dass ich trotz dieses Vorfalls heute Nacht gut geschlafen hatte, denn tatsächlich hörte ich noch ganz genau seine Worte in mir nachhallen: Ich werde dich finden.

Eiskalter Schauder überkam mich. Es musste schon mit dem Teufel zugehen, dass er mich fand. Ich war meilenweit entfernt und er besaß keinen einzigen Anhaltspunkt, wohin es mich verschlagen hatte. Doch das Leben wartete immer wieder mit neuen Wendungen auf und Vorsicht war besser als Nachsicht. Es konnte sowieso nie schaden, die Augen offen zu halten.

Ich richtete das Bett und rollte eine Decke zusammen. Die würde ich mitnehmen. Je nach Ausbeute und Wohnplatz hatte ich wenigstens etwas zum Wärmen. Meine erste Errungenschaft in dem neuen Kapitel meines Lebens.

***

Ein paar Stunden später setzte ich mich gefrustet auf eine leicht schneebedeckte Mauer, die den örtlichen Park umrundete. Kalun war ein Sammelsurium an obdachlosen Seelen. Was ganz schlecht für mich war. Aus zwei Gründen. Erstens: Ich würde härter um alles kämpfen müssen und vermutlich dennoch verlieren, einfach weil ich nicht von hier stammte. Und zweitens: Aufgrund der Begebenheit herrschte bereits eine aggressive Grundstimmung unter den Leuten, ohne dass man sie erst provozieren musste. Und dann war ich allein. Als Frau. Und das war niemals gut. Nie! Je größer deine Gang und deine Beziehungen waren, desto bessere Chancen hattest du auf der Straße.

Ich war zwar in Peytence aufgewachsen, hatte aber mein gesamtes Obdachlosenleben in Maceo verbracht. Ich kannte die Strukturen dort, die Gewohnheiten der Menschen in meinem Umfeld, die Leute auf der Straße und ihre Eigenheiten. Wie der alte Larry, der lieber auf seine Mahlzeit verzichtete und seinem Hund das Essen gab, bevor Teddy hungerte. Wie die Bandits, eine Gang aus circa fünfzehn Leuten, von denen immer einer im Knast saß. Sie raubten gemeinsam Leute aus, um an Kohle für Alkohol und Essen zu kommen, schmissen dafür aber auch mit Vergnügen Partys, in denen sie großzügig ihre Ausbeute teilten. Und auch wie diese Idioten rund um Coy, dem ich meine Wunde zu verdanken hatte, denen man am besten nicht über den Weg lief. Zumindest nicht allein. Und schon gar nicht als Mädchen.

Ich klammerte mich an die Decke. Es war so kalt und am liebsten hätte ich mich in sie hineingekuschelt, aber wenn ich heute Nacht draußen schlafen musste, würde ich nur noch mehr frieren, wenn ich meine einzige Wärmequelle jetzt schon benutzte.

Hin- und hergerissen überlegte ich, ob ich es im Obdachlosenheim probieren sollte, obgleich die Plätze meist sowieso rar waren, besonders zu dieser Jahreszeit.

Verschiedene Bildfetzen drängten sich rasant an die Oberfläche – meine bisherigen Erfahrungen waren eigentlich katastrophal: Ich war im Schlaf betatscht worden, meine Habseligkeiten wurden gestohlen und die zweideutigen Blicke und abfälligen Bemerkungen konnte ich irgendwann nicht mehr zählen …

Ich hüpfte von der Mauer und schritt zielsicher weiter. Nein. Ich würde für heute Nacht etwas finden! Ganz bestimmt. Das hatte ich bisher immer. Warum sollte es hier anders sein? Aber zuerst brauchte ich jetzt wirklich etwas zu essen, deswegen schlug ich den Weg in Richtung Innenstadt ein. Dort lagen einige Restaurants und Cafés, deren Mülleimer sicherlich gut gefüllt waren, wenn ich nicht zu spät kam. Erfahrungsgemäß warfen auch die großen Geschäfte wie das Mulligans immer Unmengen an Lebensmitteln weg, obwohl sie gut waren, unbedenklich zum Essen. Trotzdem unverkäuflich, weil zum Beispiel das Mindesthaltbarkeitsdatum abgelaufen war.

So war das in unserer Gesellschaft. Wenn man genug Geld hatte, um sich leisten zu können, was man wollte, wieso sollte man dann Essen kaufen, das einem mit dem bloßen Auge nicht gefiel? Eingedrücktes Obst oder verformtes Gemüse?

Wir lebten in einer Welt, in der wir uns von Ästhetik beherrschen ließen. Und da war es egal, was das Objekt war. Zu welchem Zweck wir es nutzten, wenn es denn überhaupt einem diente. Das Essen musste vollkommen und schön aussehen, die Menschen, die Häuser, die Autos, die Parks, die Urlaubsorte. Alles. Allesallesalles musste in seiner ersten Eigenschaft in einer ansehnlichen Ästhetik anmuten, sonst verlor es umgehend an Wert. Wurde weniger gewürdigt oder gleich abgesägt. Beträte ich ein Restaurant in meinem derzeitigen Aufzug, würde man im harmlosesten Fall über mich tuscheln, im schlimmsten würde ich aus dem Laden geschmissen werden.

Manchmal, wenn mich mein Gedankenchaos mal wieder wachhielt, dachte ich darüber nach, wie wir Menschen wären, würden wir alle blind sein. Was bleibt denn übrig, wenn man die Augen schließt? Auf was würde man dann Wert legen? Würde ich an Wert gewinnen, weil man sich nur darauf konzentrieren müsste, was ich sagte? Wie ich handelte, was mein Tun war?

Wie auch immer. Träumereien. Verrückte Gedanken. Damit machte ich mir mein Leben auch nicht leichter. Wohl eher im Gegenteil.

Ich erreichte den Kern der Stadt. Der Weihnachtsbaum strahlte wie ein leuchtender Feuerball, aber ich bog in die Gasse ab, wo die Mülleimer standen. Essensgerüche strömten mir in die Nase und mein Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Ich hasste dieses Gefühl. Es machte mich träge und unausgeglichen. Ich verlor schneller die Nerven, wenn ich kaum was in meinem Bauch hatte.

Nervös schaute ich mich um. Hoffentlich machte ich niemandem seinen Essplatz streitig. Und hoffentlich kam gerade nicht dann einer der Angestellten oder der Besitzer aus dem Restaurant geprescht.

Langsam schlich ich, mit dem Rücken dicht gegen die Wand, immer tiefer hinein in die schmale Gasse.

Regel Nummer 2 auf der Straße: Halte die Augen offen und deinen Rücken geschützt.

Keiner da. Und auch keine Außenkameras angebracht, was mich zwar sehr wunderte, aber ganz sicher nicht störte.

Mein Magen knurrte erneut, unterbrach meine Grübelei und dieser würzige Geruch wurde immer intensiver, je näher ich dem Hinterausgang des Italieners kam. Drei große schwarze Tonnen thronten rechts davon. Drei gigantische Chancen auf etwas zu essen!

Ich näherte mich der nächstgelegenen und öffnete sie unter leisem Quietschen. Ein leicht modriger Geruch schlug mir entgegen. Das störte mich jedoch nicht weiter. Essen roch nun mal so, wenn es mit anderen, älteren Lebensmitteln in einem nahezu luftdichten Behälter aufbewahrt wurde. Zum Glück war es Winter und die Temperaturen glichen eher denen eines Kühlschranks. Im Sommer machte ich mittlerweile einen riesigen Bogen um Abfalleimer.

Essensreste, Eierschalen und Gemüseabfälle gerieten in mein Blickfeld. Ich tauchte mit der Hand hinein und schob das weggeworfene Essen hin und her, als ich einige unberührte Pizzastücke entdeckte.

Wow! Ich liebe Pizza.

»Hey! Hey! Das is mein Platz. Mein Platz!«, rief es plötzlich neben mir.

Erschrocken sprang ich von der Tonne weg und folgte der Stimme. Eine ältere Frau mit eindeutig zu wenig Zähnen und einer wirren Frisur, gekleidet in einen verschlissenen Mantel, deutete mit einem Regenschirm in meine Richtung. Ich hob umgehend die Hände, doch das hielt sie nicht davon ab, sich mir mit der Spitze des Schirms voran zu nähern. »Verschwinde. Das is mein Platz, mein Platz!«, wiederholte sie und stieß immer wieder vor.

Ich nickte heftig, klaubte meine Decke auf, die mir im Eifer des Gefechts auf den Boden gefallen war, und tänzelte ausweichend an der Alten vorbei.

»Komm nich wieder. Das is mein Platz, mein Platz.«

Frustriert verließ ich die Gasse. Wäre auch zu schön gewesen.

»Hey!«, ertönte es, bevor ich auf die Straße abbog. »Geh in die Suppenküche.«