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**Eine verbotene Liebe** Als Nika Sky zum ersten Mal begegnet, lebt sie auf der Straße. Skys Job ist es, Jugendlichen eine neue Zukunft zu ermöglichen, aber Nika ist kein Mädchen, das sich einfach so retten lässt. Sie hat schon in genug Heimen gelebt, um zu wissen, dass sie alleine besser dasteht. Und sie ist schon genug Sozialhelfern begegnet, um ihnen nicht zu vertrauen. Dass Sky sie dennoch zu einem Platz in seinem Jugendprogramm überreden kann, liegt ganz sicher nicht an seinem faszinierenden Beschützerinstinkt oder seinem guten Aussehen. Denn Nika braucht niemanden und schon gar nicht jemanden wie Sky. Nur leider ist es für all die guten Vorsätze schon zu spät… //Alle Romane der »Street-Stories« bei Impress: -- Street Love. Für immer die deine (Street Stories 1) -- Street Heart. Nie mehr ohne dich (Street Stories 2)// Alle Bände der Reihe sind in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 535
Laini Otis
Street Love. Für immer die deine
**Eine verbotene Liebe** Als Nika Sky zum ersten Mal begegnet, lebt sie auf der Straße. Skys Job ist es, Jugendlichen eine neue Zukunft zu ermöglichen, aber Nika ist kein Mädchen, das sich einfach so retten lässt. Sie hat schon in genug Heimen gelebt, um zu wissen, dass sie alleine besser dasteht. Und sie ist schon genug Sozialhelfern begegnet, um ihnen nicht zu vertrauen. Dass Sky sie dennoch zu einem Platz in seinem Jugendprogramm überreden kann, liegt ganz sicher nicht an seinem faszinierenden Beschützerinstinkt oder seinem guten Aussehen. Denn Nika braucht niemanden und schon gar nicht jemanden wie Sky. Nur leider ist es für all die guten Vorsätze schon zu spät …
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Vita
Danksagung
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© privat
Laini Otis ist das Pseudonym einer musikverrückten Mittdreißigerin, deren Geschichten alle eines gemeinsam haben: sie beginnen mit einem Song. Ein Song, der während des Schreibens zu einem Soundtrack wird, der den Herzschlag der Geschichte wiedergibt. Neben dem Schreiben und der Musik begeistert sich die Autorin für das Fotografieren und die traumhaften Inseln Hawaiis.
Für mich.
Und all jene, die sich nicht unterkriegen lassen, egal wie stark sich Murphy’s Law an euch drangehängt hat.
Haltet an euren Träumen fest.
Immer!
Mein Inneres brannte. Lichterloh. Es war weit nach Mitternacht, abseits der Straßen, fernab von Häusern, Geschäften, Clubs. Kaum einer suchte zu dieser Uhrzeit einen so verlassenen Ort auf. Nicht einmal irgendwelche Teenager, die unbeobachtet knutschen wollten. Ich war auf mich allein gestellt.
Gegen zwei Männer.
Als Frau.
Und es gab keine Hilfe für mich.
Ich wusste das.
Die beiden Angreifer ebenso.
»Steh auf, Dreckstück«, zischte einer der beiden und zerrte mich an den Haaren hoch. Wankend kam ich zum Stehen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals. Mein Magen rebellierte von dem harten Fußtritt, den er mir gerade verpasst hatte. Mir stieg die Galle hoch und ich würgte.
»Wehe, du kotzt«, brüllte der andere Mann und knallte mir seine Faust auf den Mund. Augenblicklich explodierte der metallische Geschmack von Blut zwischen meinen Lippen. Ich riss mich los und wich zur Seite aus.
Renn, Nika, renn. Der vordere Angreifer griff nach mir und stieß mich gegen seinen Kumpel. Dessen Hände packten mich grob an den Oberarmen und hielten mich fest.
»Das ist es, was Mädchen wie du wert sind«, zischte der Mann vor mir und spuckte mir ins Gesicht. Angewidert schloss ich das eine Auge, welches noch nicht von ihren Schlägen zugeschwollen war.
»Lasst die Frau los«, grollte plötzlich eine Stimme hinter uns.
»Verpiss dich, Arschloch!«, erwiderte der Kerl vor mir und setzte sich in Bewegung. Der andere stieß mich von sich und ich stürzte auf den harten Asphalt.
Kampfgeräusche erklangen hinter mir. Mit kraftlosen Händen schob ich mich auf die Knie. Klageseufzer schmetterten durch die Nacht. »Weg, weg. Du musst hier weg«, schluchzte ich und Adrenalin schoss durch meine Adern. Taumelnd richtete ich mich auf und stolperte los. Mein Herz hämmerte bei jedem Schritt lauter gegen meine Brust. Meine Knie waren butterweich. Ich strauchelte, fiel hin.
Wimmernd zwang ich mich einen Punkt zu fokussieren, damit ich bei Bewusstsein blieb. Ich konzentrierte mich auf einen unförmigen Stein, der von meiner Position aussah wie ein abgebrochener Zahn. Blutsprenkel sickerten an ihm herab und das groteske Aussehen symbolisierte meine Situation. Entstellt, blutend, unbeweglich.
Die Verzweiflung schnürte mir die Luft ab. Mit allerletzter Kraft hievte ich mich hoch und schwankte weiter. Das Pochen meines Herzens schlug im Einklang mit meinen Gedanken, die unentwegt ein Mantra abfeuerten: Du bist stark. Du schaffst das. Du bist stark. Du schaffst…
Schritte polterten hinter mir auf dem Asphalt. Keine Sekunde später packte mich eine Hand am Oberarm. Kraftlos sackte ich zu Boden.
Zumindest hatte ich es versucht.
***
»Sie kann nicht hierbleiben.«
»Warum nicht?«
»Wir haben keine Plätze mehr. Das weißt du genau.«
»Kein Platz im Himmel?«, murmelte ich dösend. Ich fühlte mich schwerelos und träge zugleich. Als läge ich in einer Zwischenwelt. Fliegen. Liegen. Fliegen. Keine Ahnung, ob mir dieser Zustand gefiel, aber es war sowieso egal. Ich verspürte keine Schmerzen und das ständige Wegdriften meines Verstands benebelte mich so sehr, dass es mein klares Denken zum Stillstand brachte. Egal. Alles egal.
Halt. Stopp. Etwas war nicht egal. Ich versuchte mich zu erinnern. Was war noch mal das Problem auf dem Weg ins Paradies?
»Warum hast du sie dann nicht gleich ins Krankenhaus gebracht?«
Ah. Jetzt! »Es gibt ein Krankenhaus im Paradies?«, nuschelte ich beim Versuch die Augen zu öffnen. Das musste ich mir doch ansehen. Ich verpasste ja meine ganze Fahrt. Aber meine Augen gehorchten mir nicht. Kein Einziges. Was für ein Betrug.
Egal.
»Sie kann nicht hierbleiben!«
Wie? Wo kann ich nicht bleiben? An was hatte ich gerade gedacht?
***
»Hey!«
Ich blinzelte mit einem Auge, um nachzusehen, wer sich hinter der Stimme versteckte. Es dauerte, bis mein Blick sich schärfte und die Konturen einer jungen Frau vervollständigt wurden.
»Dein rechtes Auge ist verbunden. Deswegen ist dein Sehbereich eingeschränkt.« Sie lächelte sanft. Ihre vollen Lippen entblößten kerzengerade, weiße Zähne. Hellgrüne Augen schimmerten hinter dunklen Wimpern hervor. Ein wahnsinniger Kontrast zu der dunkelbraunen Haarfarbe, die fließend in ihren Hautton überging. Sie war wunderschön.
Ich probierte mich aufzusetzen, doch ein Stich in der Seite hinderte mich daran. Kraftlos sackte ich zurück.
»Moment. Ich helfe dir.« Die Frau stand auf, holte ein Kissen unter dem Bett hervor und schob es hinter meinen Rücken. Sie hielt mich an der Hand und zog mich nach oben. »Besser?«
Nickend beantwortete ich ihre Frage. Mein Hals fühlte sich kratzig und rau an, meine Lippen spröde. »Ich brauch …«, krächzte ich und zeigte auf eine Wasserflasche.
»Moment!«, sagte sie und reichte mir das Getränk. Gierig sog ich an dem Plastikhalm. Das Wasser glättete meine Stimmbänder, ölte sie. Das tat verdammt gut.
Ich trank die komplette Flasche aus und gab sie der Frau zurück, die sie auf den Tisch neben dem Bett stellte. Ich schluckte ein paar Mal und fuhr mir mit der Hand über die Augen. »Wo bin ich?«
»Ich kann dir sagen, wo du nicht bist.«
Abwartend sah ich sie an. Ich war mir nicht sicher, weswegen sie so belustigt aussah.
»Du bist weder im Himmel noch im Paradies.«
»Okay.«
»Du bist auch nicht in einem Krankenhaus, das zum Paradies gehört.«
Hä? Beklemmung breitete sich in mir aus und Szenen aus dem Horrorklassiker Misery von Stephen King fluteten durch meine Gedanken. Panik brach in mir aus und angsterfüllt krallte ich mich am Laken fest.
Lachend hob die Frau die Hände in die Luft. »Entschuldige. Du hast im Schlaf ziemlich wirre Dinge von dir gegeben. Lag an den Medikamenten, die wir dir verabreicht haben.«
»Medikamente?«
»Um die Schmerzen zu lindern und damit du schlafen kannst.«
Augenblicklich stürmten Erinnerungsfetzen auf mich ein. Zwei Männer, die mich in der Dunkelheit überraschten. Groß. Breit. Furchteinflößend.
Die Schläge. Die Tritte. Die Hilflosigkeit. Die Schmerzen.
Ich streckte meine Hand aus und betastete vorsichtig mit den Fingerspitzen meine Lippen. Sie fühlten sich geschwollen und verkrustet an. Angsterfüllt zuckte ich zusammen. »Sind sie hier? Gehörst du zu ihnen?« Meine Stimme bebte. Mein gesamter Körper zitterte vor Furcht und ich drückte mich eng an die Liege. Wohl wissend, dass mir das im Notfall so gar nichts brachte.
»Keine Angst!« Die Frau hob beschwichtigend die Hände hoch. »Du bist hier in Sicherheit. Die Kerle, die dir das angetan haben, rühren dich nicht mehr an. Versprochen!«
»Wo bin ich?«, fragte ich bang, denn ich fühlte mich kein bisschen sicher. »Und wer bist du?«
Ich sah mich im Zimmer um. Es war klein. Keine Fenster, nur eine Tür. Das Bett beanspruchte fast den gesamten Raum. Auf dem Beistelltisch stand die leere Wasserflasche. Ein Plastikstuhl in Grün in der Ecke, auf einem anderen saß die Frau. Viele Fluchtmöglichkeiten gab es nicht.
»Meinen Namen darf ich dir leider nicht sagen. Für gewöhnlich rekrutiert meine Gruppe Mädels und Jungs wie dich oder bringt sie sofort ins Krankenhaus, beziehungsweise nach Hause. Je nachdem.«
»Was meinst du damit, Mädels wie mich?«
»Gewaltopfer.«
»Gehört ihr zur Polizei?«
Die Frau schüttelte den Kopf. Ihre mächtige Mähne schwang mit.
»Nein. Tut mir leid, dass ich mich bedeckt halten muss. Trotzdem brauchst du dich nicht fürchten. Wir sind die Guten und du kannst jederzeit gehen. Aber wenn du magst, kannst du noch eine Nacht bleiben. Nenn mich so lange Bee.«
»Biene?«
»B. Der Anfangsbuchstabe meines Nachnamens.«
Aha. Bee. Ruhig, Nika, ermahnte ich mich, als erneut Panik in mir heraufkroch. Ich schloss die Augen. Bees Worte hallten in mir nach. Ich bin in Sicherheit? Die Kerle legten keine Hand mehr an mich? Sie durfte mir nicht sagen, wer sie sind?
Das war doch verrückt. Oder nicht? Wer waren sie, wenn sie mir so selbstlos halfen? War ich vielleicht doch in Gefahr?
Die Unwissenheit schnürte mir die Luft ab. Wie sehr wünschte ich mir, dass das alles nie passiert wäre und ich jetzt in meinem Lager liegen könnte. Allein und obdachlos, aber zumindest selbstbestimmt. Wissend! Plötzlich kam mir mein Schicksal, als Siebzehnjährige auf der Straße zu leben, nicht mehr so schlimm vor wie vor ein paar Stunden. Stunden? Was sagte Bee? Noch eine Nacht?
Ich riss die Augen auf und fragte: »Seit wann bin ich hier?«
»Seit gestern. Erinnerst du dich, wer dich hergebracht hat?«
Ich überlegte. Das Bild eines Steins flimmerte auf. Eine Stimme. Die Möglichkeit zur Flucht. Ich schloss die Arme vor meiner Brust und wog mich sanft vor und zurück. »Ist er tot?«, flüsterte ich und mein Magen zurrte sich zusammen. »Der Mann, der mich retten wollte?«
Tiefe Furchen gruben sich in das schöne Gesicht von Bee. »Nein, ist er nicht. Im Gegenteil. Er hat die Männer, die dir das angetan haben, ausgeknockt und dich dann hierher gebracht.«
Ein schwerer Schluchzer brach aus mir heraus. Ich schlug die Hände vor den Mund und nickte.
»Hör mal. Ihm geht es gut. Und du hast viel Glück gehabt.«
Meine Tränen unterdrückend sah ich sie an. »Ich bin erleichtert. Das ist alles.«
»Wir dachten, du würdest dich erinnern. Du bist weggelaufen und er hat dich abgefangen, du brauchtest dringend ärztliche Hilfe.«
»Ich weiß noch, wie ich auf den Boden stürzte … Dann wurde alles schwarz.«
»Ja. Du bist in Ohnmacht gefallen. Was dir keiner verübeln kann. Du bist echt tough. Nicht jede wäre so standfest gewesen.«
Unbehaglich rieb ich mir die Arme. Das sah ich nicht so. Aber das musste sie ja nicht wissen. Wie auf Kommando, um das Gespräch in andere Bahnen zu lenken, meldete sich meine Blase. »Ähm. Ich muss mal!«
»Klar.«
Ich schlug die Decke von mir und starrte auf eine Art Krankenhaushemd. Es war lindgrün mit Streifen und hing schlabbernd an mir herunter. »Meine Kleider?«, fragte ich und unterdrückte die aufkommende Scham. Besser nicht darüber nachdenken, wer mich umgezogen hatte.
»Die sind in der Wäscherei. Ich hol sie dir, während du im Bad bist.«
Sie half mir aufzustehen und in Minischritten tapste ich zur Tür. Das Atmen fiel mir schwer, aber zumindest war ich nahezu schmerzfrei. Wir traten auf einen hell beleuchteten Flur, ähnlich wie in einem Bürogebäude. Hellgrauer, dünner Teppich lag auf dem Boden aus. Die Wände in schlichtem Weiß gestrichen und ohne jegliche Aushänge, ließen keinen Spielraum für Vermutungen darüber, wo ich mich aufhielt. Ein paar Pflanzenkübel standen trostlos zwischen den Türen. Grelle Neonleuchten strahlten kalt von der Decke und das war der ganze Zauber. Absolut steril und nichtssagend. Aber das bezweckten sie offensichtlich damit.
Wir liefen bis ans Ende des Flurs. Vor einer Tür auf der rechten Seite blieben wir stehen.
»Hier ist das Badezimmer. Du kannst auch duschen, wenn du willst. Es ist alles vorhanden, was du brauchst. Deine Kleider lege ich dir in dein Zimmer. Ich komme nachher vorbei und bringe dir etwas zu essen.«
»Danke«, murmelte ich und trat in den Raum ein. Rechts neben dem Eingang war das Waschbecken mit einem Spiegel. Daneben stand die Toilette. Gegenüber der Tür befand sich die Dusche. An der linken Wand lehnte ein offenes Regal, auf dem Badetücher, Seife und andere Hygieneartikel lagen. Alles machte einen sauberen, wenn auch unpersönlichen Eindruck.
Ich schloss die Tür ab und stellte mich vor den Spiegel.
Verdammt! So übel sah ich in meinen schlechtesten Zeiten nicht aus. Meine Haare waren teilweise verfilzt und so schmutzig, dass sie gräulich schimmerten. Stellenweise war das Dunkelblond durch rostrote Flecken unterbrochen. Rote, geplatzte Äderchen überdeckten das Weiß von meinem linken Auge. Die warme, dunkelbraune Farbe der Iris sah aus, als würde sie in Flammen stehen. Von der rechten Hälfte des Mundes und bis hinunter zum Kinn schimmerte es lilafarben. Die starke Schwellung sah so derb aus, wie man sich eine misslungene Lippenaufspritzung vorstellte. Auf meiner Stirn klebte ein dickes Pflaster.
Blutgetrocknete Schrammen und Kratzer verliefen kreuz und quer über mein Gesicht. Ich wollte mir gar nicht vorstellen, wie es unter dem Verband aussah.
Sacht schälte ich mich aus dem Hemd. Ich begutachtete im Spiegel meinen Rücken und blickte auf den Bauch herab. Große, unförmige Blutergüsse prangten dunkel an meinem zerschundenen Körper. Ich seufzte, kletterte unter die Dusche und stellte die Temperatur des Wassers so heiß wie möglich ein. An meine letzte warme Dusche erinnerte ich mich nicht mehr, so lange lag sie schon zurück.
Sobald der warme Duschregen auf mich prasselte, entspannte ich mich und genoss jede Sekunde. Zitrusduft stieg mir in die Nase, als ich mich einseifte. Mein Herz pochte vor Dankbarkeit. Ich hatte überlebt, bekam Hilfe und als wäre das nicht genug, durfte ich duschen.
***
Die Jeans war an den Knien aufgerissen, was mich ärgerte, da sie neu war. Ich hatte sie mir bei einer Nacht-und-Nebel-Aktion gemeinsam mit Peanut aus einem Kleidercontainer ergattert. Der graue Strickpullover dagegen sah aus wie frisch aus dem Laden gekauft. Geduscht, eingecremt, angezogen und mit geputzten Zähnen lag ich auf dem Bett und verlor mich im Duft des Waschpulvers. War schon eine Weile her, dass ich so saubere Kleidung getragen hatte. Oder selbst so sauber und gut riechend gewesen war.
Es fühlte sich unbeschreiblich an.
Bee betrat das Zimmer und balancierte auf ihren Händen ein Tablett. Der Geruch von warmem Essen wehte zu mir herüber. Mein Magen knurrte.
»Ich komme wohl gerade richtig«, sagte sie und lächelte.
»Wenn’s ums Essen geht, gibt’s keinen falschen Zeitpunkt.«
Sie stellte das Tablett auf den Beistelltisch, schob ihn seitlich an das Bett und half mir beim Aufsetzen. Ich riss die Augen auf und starrte auf die Köstlichkeiten. Hühnerbrühe, Kartoffelbrei mit brauner Soße und zum Nachtisch Schokoladenpudding.
»Wow! Sieht aus, als wäre ich doch im Paradies gelandet.« Mit fahrigen Händen schnappte ich mir das Besteck und begann zu essen.
»Darf ich dich was fragen?« Bee setzte sich auf den grünen Plastikstuhl und musterte mich aufmerksam.
Ich schlürfte langsam die Suppe vom Löffel. »Nur zu. Keine Garantie, dass ich antworte.«
Amüsiert verschränkte die braunhaarige Schönheit ihre Arme vor der Brust. »Deal.«
Ich sog den würzigen Duft der heiß dampfenden Brühe ein, bevor ich weiter aß. Verdammt, tat das gut. Wann war noch mal meine letzte warme Mahlzeit gewesen? Ich erinnerte mich nicht.
»Verrätst du mir, wie du heißt?«
»Nika.«
»Schöner Name.«
»Danke.«
»Nika, bist du obdachlos?«
Ich genehmigte mir einen Schluck Wasser und nickte bedächtig. »Ist kaum zu übersehen.«
Sie verzog leicht die Lippen. »Du hattest keine Tasche dabei. Keinen Geldbeutel. Wir wussten nicht, ob oder wem wir eventuell Bescheid geben sollten.«
Ich schüttelte den Kopf. »Niemandem mit Adresse.«
»Seit wann lebst du auf der Straße?«
»Ein paar Jahre. Lang genug …« Ich versuchte zu lächeln, obwohl mir zum Heulen zu Mute war. Ich dachte an meine Mom. Meine gutherzige, liebevolle Mom. Der Kloß in meinem Hals wurde größer. »… viel zu lang.«
Es klopfte leise.
»Komm rein.«
Fragend blickte ich zur Tür, durch die ein Mann zügig eintrat. Das Erste, was mir auffiel, waren die kurzen Haare, die gefärbt sein mussten. Völlig verwuschelt strahlten sie in einem dunkelblauen, samtfarbenen Ton und glichen exakt seiner Augenfarbe. Er hatte ein männliches, markantes Gesicht. Eine blasse Narbe zog sich quer über die linke Augenbraue, an der er gepierct war. Ein weiteres Piercing steckte in Form eines Rings rechts an seiner Unterlippe. Der schwarze Kapuzenpullover lag lässig über der dunklen Bluejeans, die sich perfekt um seine Beine schmiegte.
Seine Bikerboots knallten laut auf dem Linoleumboden auf, als er näherkam. Mein Herz setzte aus. Was für ein Kerl.
»Nika, das ist der Mann, der dich gerettet hat.«
Unvermittelt schob ich den Tisch zur Seite und bemühte mich, ohne blöde Verrenkungen aufzustehen.
»Du musst nicht …«
Mit wackligen Beinen kam ich zum Stehen. Er überragte meine ein Meter fünfundsechzig mit mindestens anderthalb, wenn nicht sogar zwei Köpfen. Ich blickte nach oben, im Wissen, was für ein jämmerliches Bild ich abgab. Besonders als mir Tränen in das eine Auge schossen und mein Retter verschwamm.
Aber das war mir egal. Diesem Kerl verdankte ich es, dass ich jetzt hier war. Dass ich lebte.
Ich hielt ihm meine Hand hin, die er mit seinen warmen, kräftigen Fingern umschloss. Gänsehaut zog sich über meinen Körper.
»Danke!«
»Nichts zu danken. Das ist mein Job«, versicherte er mir kühl. Getroffen zuckte ich auf.
Bee seufzte, woraufhin er ihr einen Blick zuwarf, der Bände sprach. Ich ließ seine Hand los und setzte mich zurück aufs Bett.
»Meine Kollegin hat dich darüber aufgeklärt, dass wir dich in unserer Einheit nicht aufnehmen können?«
Hä? Wo aufnehmen? Hatte ich was verpasst? Unsicher antwortete ich: »So ungefähr.«
»Gut. Wie alt bist du?«
»Ähm. Ich werde diesen Monat achtzehn, warum?«
»Unwichtig. Wenn du gegessen hast, bekommst du eine Abschlussuntersuchung und dann fahre ich dich dahin, wo immer du hin willst.«
»Können wir uns kurz unterhalten?«
Der Mann nickte knapp seiner Kollegin zu und hielt im nächsten Moment die Tür auf.
»Ich bin gleich wieder bei dir.«
»Okay«, sagte ich und lud mir Kartoffelbrei auf die Gabel.
Die Tür schloss sich sanft hinter den beiden und ihre Stimmen schwebten unverzüglich gedämpft, nichtsdestotrotz klar verständlich, in den Raum.
»Ich habe Nika angeboten, noch eine Nacht zu bleiben.«
»Dann nimm dein Angebot zurück. Wir haben genug zu tun.«
»Warum musst du dich wie ein Arsch aufführen?«
»Warum kannst du dich nicht an die Regeln halten?«
Ein Schnauben ertönte. »Sie lebt auf der Straße.«
»Das tun die meisten. Wir können uns nicht um alle kümmern. Wir sind nicht die Wohlfahrt.«
»Wie einfühlsam!«
»Wäre ich so einfühlsam, wie du es dir wünschst, würde diese Gruppe im Chaos versinken. Nimm dein Angebot zurück und bring sie zur Untersuchung. Verstanden?«
Statt einer Antwort schmetterten schwere Schritte den Flur entlang. Mit betretenem Gesicht kam Bee zurück ins Zimmer und setzte sich auf den Stuhl.
Ich schob das Essen beiseite. Mir war der Appetit vergangen. Was mir mein Magen bestimmt dankte. So viel Essen war ich nicht gewohnt und ich verzichtete auf zusätzliche Schmerzen in Form von Krämpfen oder Völlegefühl.
»Nika …«
»Schon gut. Ich wollte sowieso gehen. Ihr habt sehr viel für mich getan. Mehr als ich euch je danken kann.«
Traurig blickte sie mich an.
»Warst du schon mal im Obdachlosenheim?«
»Zweimal. Und jedes Mal wurde ich ausgeraubt, also …«
»Verstehe.«
»Ich bin satt. Danke fürs Essen.«
»Sicher?«
Ich nickte bekräftigend.
»Na gut. Komm. Ich bring dich zum Doc.«
***
Eine Stunde später saß ich in einem unauffälligen Wagen, mit meinem Retter und verbundenen Augen.
»Vorsichtsmaßnahme«, hatte er knapp gesagt und mir ein Tuch umgebunden, bevor er mich ins Auto bugsiert hatte.
Die Behandlung beim Arzt war zügig vonstattengegangen. Routiniert untersuchte der grauhaarige Mann die Verletzungen und entfernte die Augenbinde. Durch die Schwellung war es mir unmöglich das Auge zu öffnen. Wahrscheinlich sah ich aus wie die weibliche Version von Quasimodo. Die Kratzer und Blessuren versorgte der Arzt mit antiseptischer Salbe, von der ich eine Tube behalten durfte. Er erklärte mir, dass eine oder zwei Rippen geprellt seien und ich viel liegen und mich schonen sollte. Dann hatte er mir ein orangefarbenes Röhrchen mit Schmerzmitteln gegeben und mich über die Dosierung und mögliche Nebenwirkungen aufgeklärt.
»Wo willst du hin?«
»Foggery Street. Am Waldrand.«
»Das ist in der Nähe vom Überfall.«
»Da wohne ich. Ist eigentlich sicher dort.«
Mein Retter erwiderte nichts. Und da ich nichts sehen konnte, wusste ich auch nicht, was er von meiner Antwort hielt.
»Was dagegen, wenn ich das Radio einschalte?«, fragte er kurz darauf.
»Nein. Im Gegenteil. Ich liebe Musik und vermisse sie sehr. Früher habe ich fast nur Rock gehört. Ich bin ein großer Fan von My Chemical Romance.«
Ich wartete einen Moment ab, bekam jedoch erneut keine Antwort. Gesprächig war er ja nicht gerade. Aber verflixt, er roch fantastisch. Ich sog seinen Duft tief ein, eine Mischung aus frisch gewaschener Wäsche und herbem Aftershave. Punkmusik strömte leise aus den Boxen. Verdutzt neigte ich mich auf die Seite, näher an den Lautsprecher heran.
»Das ist – oh, Mann.« Glücksgefühle rauschten durch meine Adern und Wehmut breitete sich in meinem Inneren aus. Auf Knopfdruck Musik zu hören gehörte zu den Dingen, die mir in meinem Leben am meisten fehlten. Ich sang ein paar Zeilen mit und trommelte zum Takt mit den Fingern auf meinen Oberschenkeln.
»Dookie ist ein Wahnsinnsalbum. Die neuen Sachen kenne ich nicht so, aber Green Day werden immer meine Helden bleiben.«
Wieder erhielt ich keine Antwort. Beschämt darüber, dass ich offensichtlich Selbstgespräche führte, schwieg ich den Rest der Fahrt und verlor mich in der Stimme von Billy Joe.
Nach der Hälfte des Albums hielt der Wagen an. Mit wendigen Griffen zog der attraktive Kerl die Binde von meinen Augen. Ich rieb mir das unverletzte Auge und sah durch die Windschutzscheibe auf das düstere Waldstück, das von den Scheinwerfern hell erleuchtet wurde.
»Home Sweet Home!«, sagte ich und lächelte ihn an. Mein Retter verzog keine Miene.
Okay. Er war eindeutig ein Held. Ein gut aussehender Held. Aber Humor oder Freundlichkeit gingen ihm völlig ab. Was ich absolut daneben fand.
Er sprang aus dem Auto, öffnete mir die Tür und half mir aufzustehen.
»Danke für alles. Ich –«
»Ich begleite dich zu deinem Platz«, unterbrach er mich harsch.
»Ähm, ist nicht nötig. Ich finde den Weg auch im Dunkeln«, antwortete ich und deutete auf mein geschwollenes Auge. »Oder mit geschlossenen Augen.«
Er seufzte. »Ich diskutiere nicht.« Dann drehte er sich um, holte einen Rucksack aus dem Auto und verschloss den Wagen.
Schulterzuckend trat ich in den Wald hinein. Bitte. Ich hatte zwar noch nie Besuch in meiner Unterkunft, aber das störte mich nicht wirklich. Ich wagte zu bezweifeln, dass er mich ausrauben würde.
Leise zählte ich die Schritte. Einundachtzig geradeaus. Zweiundzwanzig nach links. Acht nach rechts.
Das Licht einer Taschenlampe leuchtete plötzlich auf und gab den Blick auf meine Behausung hinter einem breiten, hohen Beerenbusch frei. So wie ich die Sache sah, schien alles unberührt. Mein Rucksack mit Wechselkleidern, eine Tüte mit Zahnbürste, Zahnpasta und zwei Wasserflaschen. Meine Decke. Alles da.
Ich stieß die angehaltene Luft aus und drehte mich um.
»Das ist für dich.« Mein Retter hielt mir den Rucksack entgegen.
»Was ist das?«
»Essen. Trinken. Hygieneartikel und so weiter. Grundausstattung.«
»Oh«, sagte ich überrumpelt. »Danke!«
»Pass gut auf dich auf, Nika.« Er nickte eindringlich und stiefelte davon. Bevor er links abbog, zögerte er kurz. »Hast du eine Taschenlampe?«
»Dafür müsste ich mir Batterien organisieren. Halt mich für verrückt – Essen ist mir wichtiger.«
Er kam zurück. »Hier. Die Batterien dürften eine Weile halten.«
Unsere Finger berührten sich für einen kurzen Augenblick. Die Wärme, die von ihm ausging, strömte wie kleine elektrische Blitze über meine Haut. Der absolute Kontrast zu der Kühle des Metalls.
»Es tut mir leid.« Betreten senkte ich die Lampe, so dass sich vor unseren Füßen ein kreisrunder Lichtkegel bildete, der die perfekte Kopie des Mondes darstellte. Durch die sanften Lichtstrahlen, die nach oben flirrten, funkelten seine Augen wie die Sterne über ihm.
»Was tut dir leid?«
Ich schluckte den Kloß herunter, der sich in meinem Rachen gebildet hatte. »Dass ich dich im Stich gelassen habe, ohne zurückzuschauen. Ohne zu helfen. Das war selbstsüchtig. Ich … Es tut mir leid!«
Stirnrunzelnd blickte er mich an. So standen wir uns eine Weile gegenüber. Als er ging, verschwand er in die Dunkelheit ohne ein weiteres Wort.
In dieser Nacht schlief ich kaum. Meine geprellten Rippen freundeten sich mit dem unebenen Waldboden überhaupt nicht an. Und daran änderten nicht mal die Superpillen vom Doc irgendetwas. Ausgeprägter als die Schmerzen war die Panik, die ein Feuer in meinem Inneren entfachte. Jedes Mal, wenn ich die Augen schloss und ein Geräusch hörte, was im Wald so ziemlich im Drei-Sekunden-Takt passierte, pochte mein Herz so stark in meiner Brust, dass es mir die Luft raubte.
Dabei war es mir bis zu dem Abend des Überfalls problemlos gelungen, die Angst unter Kontrolle zu halten. Denn wer sich fürchtete, überlebte nicht lange auf der Straße. Aber die Bilder der Männer, die mir diese Schmerzen zugefügt hatten, klebten in meinen Gedanken wie Abziehtattoos und straften das Gesetz der Straße Lügen. Ich fragte mich, was mit den Männern passiert war, und ob ich Bee glauben konnte. Würden die beiden mich wirklich nicht mehr anrühren? Wie konnte sie sich da so sicher sein?
Seufzend setzte ich mich auf. Die ersten Sonnenstrahlen drangen durch die Baumkronen und tauchten den Wald in ein Spiel aus Licht und Schatten. Vielleicht sollte ich mir einen anderen Unterschlupf suchen. Der Sommer neigte sich dem Ende zu und es stand außer Frage, dass ich mir etwas gegen den Regen und die Kälte suchen musste. Mein Magen rebellierte bei diesem Gedanken. Nicht der Ort war das Problem. Sondern ich. Wenn ich diese Angst nicht in den Griff bekäme, würde mir das Leben auf der Straße immer mehr zusetzen. Das durfte ich nicht zulassen.
Ich zog den geschenkten Rucksack zu mir herüber und besah mir den Inhalt. Brot, Wasser, Erdnussbutter, Obst und Kaugummis. Wahnsinn! Ich liebte Kaugummis. Sie schmeckten gut, es machte Spaß Blasen zum Platzen zu bringen und sie vertrieben eine Weile den Hunger. Ich zauberte eine Zahnbürste, Zahnpasta, Einwegwaschlappen, Duschgel, Shampoo, Tampons, Baumwollunterhosen und einen Bund Pflaster hervor. Mein Glücksgefühl stieg bei jedem einzelnen Gegenstand. Damit würde ich mich eine Weile über Wasser halten können.
Summend schmierte ich mir ein Erdnussbuttersandwich, in der Hoffnung der Übelkeit zu entkommen. Ich spülte es mit Wasser hinunter und erlaubte mir, eine Schmerztablette zu schlucken. Dann säuberte ich mir die Hände und zog das Tagebuch, das mir meine Mutter geschenkt hatte, aus dem Rucksack. Ein schwarzes Samtband umfasste das hellbraune Leder. Es war das einzige Erinnerungsstück, das ich von ihr besaß; zusammen mit einem Foto, das vor Jahren bei einem Strandbesuch von uns beiden aufgenommen wurde.
18. April 2004
Heute haben wir den Geburtstag von meinem Sonnenschein gefeiert. Ich überraschte sie mit einem Picknick am Strand. Brolin hat mir extra freigegeben, damit ich den Tag mit Nini verbringen kann. Er ist ein guter Chef und ich bin froh, dass er Verständnis für unsere Situation aufbringt.
Ich habe einen Schokoladenkuchen für sie gebacken und im Supermarkt konnte ich günstig ein paar Minikerzen ergattern, die ich ihr auf den Kuchen gesteckt habe. Acht Stück! Acht Jahre ist mein Sonnenschein heute geworden. Ich kann es kaum glauben. Wieder ist ein Jahr vergangen. Sie wird größer und schöner und klüger. Jeden Tag. Ich bin so stolz auf sie. Ohne meine Nini wäre mein Leben nicht lebenswert.
Wir waren schwimmen und haben gefaulenzt. Den halben Kuchen haben wir aufgegessen und ich habe ihr gesagt, dass sie sich etwas wünschen soll, wenn sie die Kerzen auspustet. Ich hoffe, ihr Wunsch geht in Erfüllung.
Ich klappte das Buch zu, ohne dem Bild Beachtung zu schenken. Mühevoll kniff ich die Augen zusammen, bevor sich nur eine einzelne Träne daraus hervorstehlen konnte. Mein Wunsch war nicht in Erfüllung gegangen. Und das würde er auch nie.
***
»Nika!«
Erleichtert drehte ich mich um und sah Peanut auf mich zu schlendern. Ich hatte schon befürchtet, umsonst den Weg zu unserem Treffpunkt am Strand gemacht zu haben, deswegen freute ich mich umso mehr, ihn zu sehen. Seine Shorts schlotterten ihm um die Beine, genauso wie das übergroße T-Shirt an seinem dürren Oberkörper. Wärme strömte durch meine Adern. Sein immer sonniges Gemüt machte es einem schwer, schlecht gelaunt oder traurig zu bleiben. Verdammt – war ich dankbar, diesem Albtraum weitestgehend unbeschadet entkommen zu sein. Ich durfte Peanut nicht alleinlassen, niemals.
»Ich hab dich schon gesucht. Schau mal«, rief ich ihm zu und zeigte auf den Rucksack zu meinen Füßen. Noch bevor ich mich in den Sand fallen lassen konnte, stand er bei mir und packte mich an den Armen.
»Was ist passiert?« Seine Stimme zitterte und hektisch glitt sein Blick über mein Gesicht.
»Hab Bekanntschaft mit zwei Kerlen gemacht. Hat ihnen nicht gefallen, dass ich nicht mit ihnen rummachen wollte.«
Mit einem Ruck umarmte er mich. »Scheiße, Nika.«
»Au. Vorsicht!«
»Was?« Irritiert sah Peanut mich an.
»Meine Rippen sind geprellt.«
»’Tschuldige!« Vorsichtig ließ er mich los. »Diese Dreckskerle mache ich fertig. War es jemand, den wir kennen?«
»Nein.«
»Beschreib sie mir«, sagte er grollend und kniff die Augen zusammen.
Ich winkte ab. »Hör auf. Gegen diese Typen hättest du keine Chance. Außerdem würde ich dich nie so einer Gefahr aussetzen!«
Peanut kickte den Sand herum und schimpfte vor sich hin. Das machte er gerne, wenn er aufgeregt war und seinen Zorn zügeln wollte. Das fand ich in Ordnung. Es war mir allemal lieber, als wenn er Frust oder Ärger in Alkohol ertränkte, oder schlimmer noch, durch Drogen oder Schlägereien auslebte. Ein paar Minuten verstrichen, bis sein Zorn verpuffte und er sich beruhigt hatte. Er strich sich durch die hellblonden, langen Haare. »Zieh doch bitte endlich zu uns, Nika. Ich schwör dir, dass dich keiner anfasst! Ehrenwort!« Flehend sah er mich an.
»Mann, Peanut. Das haben wir schon so oft durchgekaut. Ich hab echt keinen Bock so zu werden wie die Mädels, die zu euch gehören.« Vehement schüttelte ich den Kopf. Da würde ich lieber noch mal verprügelt werden. Es war mir unbegreiflich, warum er sich immer noch mit diesen Idioten abgab. Die Cracks, Peanut inklusive, bestanden aus fünf Jungs und zwei Mädels. Ich verstand, dass er mit elf noch Schutz gebraucht hatte, aber jetzt? Die meiste Zeit pöbelten die Cracks herum, schikanierten andere Leute und waren dauerbetrunken oder bekifft, je nachdem. Sie stahlen alles, was sie in die Finger bekamen, brachen in Häuser ein und brachten sich ständig in Schwierigkeiten. Die zwei Mädchen aus der Clique wurden von einem Kerl zum nächsten herumgereicht. Sie hatten nichts zu melden, und wenn sie nicht spurten, blühten ihnen Schläge. Abschaum war der nettere Ausdruck für die drei Jungs, die nicht älter als zwanzig waren.
Ich lebte vielleicht auf der Straße, das bedeutete jedoch nicht, dass ich keinen Anstand oder Respekt der Gesellschaft gegenüber aufbringen konnte und Peanut surfte diesbezüglich mit mir auf der gleichen Welle.
Ich setzte mich in den weichen Sand und streckte die Beine aus. Peanut tat es mir gleich und fragte: »Was wolltest du mir denn jetzt zeigen?«
Ich drückte kurz seinen Arm, dankbar, dass er nicht weiter nachhakte. Dann schnappte ich mir den Rucksack und zog das Brot, die Erdnussbutter und eine Flasche Wasser hervor.
»Für dich.«
»Wow. Wo hast du das denn aufgegabelt?« Mit glasigen Augen brach er sich ein Stück Brot ab und tunkte es in die Dose. Genüsslich verschlang er den ersten Bissen. »Gigantisch gut«, schmatzte er versonnen und ich lachte. Peanuts Leidenschaft war Erdnussbutter, was auch der ausschlaggebende Grund für seinen Namen war. Es war so simpel, ihn glücklich zu machen.
»Die Frage ist nicht, von wo – sondern von wem«, antwortete ich.
»Wie meinst du das?«
»Als ich überfallen wurde, kam mir ein Mann zu Hilfe. Er brachte mich in ein Gebäude, wo ich zusammengeflickt wurde. Ich durfte duschen, bekam etwas zu essen und danach ging’s nach Hause. Das Zeug ist ein Geschenk von ihm.«
»Du hast die Organisation kennengelernt?« Peanuts Mund klappte vor Entsetzen so weit auf, dass ihm ein Stück gekautes Brot auf die Beine fiel.
»Du weißt, wer sie sind?«
Er schüttelte den Kopf. »Nee. Ich habe keinen blassen Schimmer. Hör nur seit Jahren Gerüchte über eine Gruppe von Lebensrettern, die unvermittelt auftauchen und helfen, wenn’s brenzlig wird. Niemand weiß, wie sie aussehen, wie sie heißen oder wo sie herkommen.«
Ich grub meine nackten Füße in den Sand. Mein Körper kribbelte, als ich an ihn dachte. Meinen Retter. »Woher willst du dann wissen, dass es sich um eine Organisation handelt?«
»Gerüchte. Für ne Gruppe von selbst ernannten Superhelden scheinen sie zu gut ausgebildet.«
Ich dachte einen Augenblick darüber nach und gab ihm letztendlich Recht. Gut organisiert und ausgestattet waren sie zweifellos.
»Wer hat dich zusammengeflickt?« Er deutete auf die Platzwunde, die genäht worden war.
»Ein Arzt. Hoffe ich. Hab ja keine Diplome oder so was gesehen. Kein Namensschild, nichts.«
Peanut presste die Lippen zusammen und starrte mich an.
Schulterzuckend sagte ich: »Viel mehr kann ich dir nicht sagen. Dort war alles grau und trist. Wie in einem Bürogebäude. Die Leute, die ich getroffen habe, hielten sich bedeckt.«
»Krass. Aber du weißt jetzt, wie sie aussehen!«
Ich nickte. »Wüsste nicht, was mir das bringen sollte. Ich meine, wenn es ihre Aufgabe ist, in Notsituationen zu helfen, dann haben sie ihre Tat bei mir schon erfüllt. Aber so was von.«
Peanut schluckte und ergriff meine Hand. »Verdammtes Glück, Nika.«
***
Die folgenden Tage verbummelte ich am Strand. Im Sand zu liegen tat meinen geschundenen Rippen gut. Zumindest besser als umherzustreunen, um nach Essen zu suchen. Außerdem schlauchten mich die Nächte mehr, als es mir lieb war. Peanut kam so oft wie möglich zu unserem Treffpunkt, brachte Essen und leistete mir Gesellschaft.
Heute stand mein wöchentlicher Besuch bei Emma an. Sie arbeitete in einem Café, abseits der Innenstadt. Dienstags war ihr Chef nicht im Haus, weswegen es mir möglich war, dort aufzutauchen. Emma durfte etwa um die fünfzig sein, mit grauen Strähnen in den dunklen Haaren und Lachfalten um die Augen. Seit ungefähr einem Jahr kam ich jeden Dienstag hierher, benutzte die Gästetoilette und bekam von ihr eine Tüte mit Muffins und Bagels zugeschoben, die man nicht mehr verkaufen konnte.
»Es wäre Verschwendung, das kostbare Essen in den Müll zu werfen«, hatte sie gesagt.
Manchmal befand sich frisches, warmes Gebäck zwischen den trockenen Teilen. Ich sprach sie nie darauf an und Emma sagte auch nichts dazu, aber ich vermutete, dass sie die Teile nur für mich kaufte.
Es gab wirklich noch Engel auf dieser Welt.
Mit eingezogenem Kopf schritt ich die Straße entlang und hielt nach Jim Ausschau, dem Chef. Es war schon vorgekommen, dass er doch im Geschäft war. Wenn er herausbekommen sollte, dass Emma mir half zu überleben, würde er ihr mit Sicherheit kündigen. Er hielt nichts von Jugendlichen, die auf der Straße hausten, wie ich hautnah erleben musste. Mit einem Baseballschläger hatte er mich einst zur Flucht gezwungen, als ich in seinen Mülltonnen nach Essen suchte. Und Mann, was dieser Kerl alles wegwarf. Nichtsnutziges Drecksgör war eins von den freundlicheren Bezeichnungen, die er mir hinterherschrie, nachdem er mir mit der Polizei gedroht hatte.
So lernte ich Emma kennen. Sie war gerade im Begriff zu gehen, als sie die Szene beobachtete und mir dann hinterher kam. »Dienstags ist Jim nicht da«, sagte sie im Vorbeigehen und lächelte mich kurz an. Nach einigen Bedenken traute ich mich zwei Wochen später ins Café und bekam dort das erste Mal eine ihrer Tüten, prall gefüllt mit Leckereien.
Ich sah hinüber zum Laden. Emma stand hinter der Theke und Pedro, der Kellner, schlich zwischen den Tischen herum. Kein Jim. Weit und breit. Dafür blieb mein Blick an einem Mann hängen, der an einem der Tische vor dem Café saß. Seine dunkelblauen Haare strahlten förmlich in Trillionen von Farbreflexen. Mein Herz schlug mir bis zum Hals.
Was wollte der denn hier? Ausgerechnet heute?
Ich überlegte später wiederzukommen, doch just in dem Moment hob er den Kopf und sah mich an. Nervös ging ich einen Schritt nach rechts. Schwankte, machte einen Schritt nach links.
Wo wollte ich hin? Mein logisches Denken hielt offensichtlich Mittagspause. Ins Café!Und da gehst du jetzt rein, schalt ich mich. Ich hatte Hunger und Durst und da ich ihn offiziell nicht kannte, musste ich ihn weder begrüßen noch mit ihm Small-Talk halten.
Warum schwitzten dann meine Hände so?
Beim Überqueren der Straße erkannte ich aus dem Augenwinkel, dass er nicht alleine am Tisch saß. Eine junge Frau, ungefähr in seinem Alter, saß ihm gegenüber. Sie trug perfekt passende Jeans, High Heels und ein modisches Top. Ihr Haar glänzte in einem warmen, bräunlichen Ton und lag ihr in fluffigen Wellen auf dem Rücken.
Neid zwickte mich, was mich mehr ärgerte, als ich mir eingestehen wollte. Diese Szene machte mir deutlich, dass so ein toller Typ wie er sich niemals in jemanden wie mich verlieben würde.
Reflexartig strich ich mir die strähnigen Haare aus dem Gesicht, bevor ich das Café betrat. Nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte.
Trotzdem.
»Nika! Oh, Himmel, Mädchen. Was ist passiert?« Erschrocken schob mich Emma ans Ende der Theke, ausgerechnet in die Nähe seines Tisches, und umklammerte meine Hände.
»Da konnten zwei Kerle ein Nein nicht akzeptieren«, erwiderte ich knapp. »Es geht mir gut, Emma. Ehrlich.«
Betroffen schüttelte sie den Kopf. »Ach, Liebes. Wie kann ich dir helfen?«
Ich drückte kurz ihre Hand und lächelte. »Emma. Du hilfst mir doch schon so viel. Jeden Dienstag!«
»Bestellung, Emma!«, rief Pedro zu ihr hinüber.
Sie kniff ihre Lippen zusammen und schnaubte, ehe sie die braune Papiertüte aus dem Unterschrank der Theke holte und mir reichte.
»Vielen Dank«, flüsterte ich. »Ich geh schnell.«
»Mach das, Mädchen. Wir sehen uns nächste Woche wieder. Pass gut auf dich auf!«
»Ich tu mein Bestes.«
Emma drückte meinen Oberarm und ich wuselte flink zwischen den Tischen hindurch zu den Waschräumen. Ich freute mich. Eine saubere Toilette zu benutzen, anstatt in der Natur das Geschäft zu verrichten, war unbezahlbar.
Nachdem ich fertig war, ging ich ans Waschbecken, holte die Seife aus dem Rucksack, wusch mich und trocknete mich mit Papiertüchern ab. Dann holte ich die beiden leeren Plastikflaschen hervor und füllte sie mit Wasser auf.
Ich packte mir eine Rolle Toilettenpapier ein und betrachtete mich im Spiegel. Mein rechtes Auge war zwar noch geschwollen, funktionierte aber wieder problemlos. Mein Gesicht schimmerte in Lila-, Gelb- und Grüntönen, die Schwellung am Mund war zurückgegangen und die Verkrustungen blätterten langsam ab. Die Platzwunde an der Stirn vernarbte und die roten Ränder verblassten. Alles in allem sah ich schon deutlich besser aus.
Ich griff nach dem Rucksack, öffnete die Tür und blickte geradewegs in dunkelblaue Augen, die kurz aufblitzten. Völlig überrumpelt drückte ich mich an die Wand. Mein Puls beschleunigte sich.
»Hey Nika.«
»Ich habe dich nicht verfolgt«, rutschte es mir heraus und im gleichen Moment ärgerte ich mich über so einen blöden Kommentar.
»Ich weiß. Ich komme jeden Dienstag hierher.«
Überrascht horchte ich auf. Jeden Dienstag? Dann hatte er mich vermutlich schon öfter gesehen … Andererseits war er mir bisher nicht aufgefallen. Und das wäre er bestimmt! Oder?
Durchdringend sah er mich an. »Wie geht’s dir?«
»Bestens! Ich spare momentan Unmengen an Make-up. Siehst du?«, fragte ich und zeigte auf mein Gesicht. »Außerdem kann ich endlich wieder mit beiden Augen in die wunderschöne Welt blicken, in der ich lebe.«
»Findest du deine Situation komisch?«
»Du etwa nicht?«
Ohne mir zu antworten, verschränkte er die Arme vor der Brust. Das schwarze T-Shirt spannte sich über den Muskeln seiner braun gebrannten Oberarme. »Hast du noch genug Schmerzmittel?«
»Absolut. Ich dröhne mich nur nachts mit den Dingern zu, damit ich überhaupt Schlaf finde.«
Ich hievte den Rucksack hoch und setzte ihn mir vorsichtig auf. Mein sowieso recht kurzes T-Shirt rutschte dabei ein Stück höher und gab den Blick auf meinen Bauch frei, der in den gleichen Farben strahlte wie mein Gesicht.
»Hast du kein längeres T-Shirt?«, fragte er gepresst und seine Augen verdunkelten sich einen Tick.
Wie bitte? Ist mein Retter jetzt zu einem Stylingberater mutiert? Hitze strömte in meine Wangen. Gereizt antwortete ich: »Das ist mein einziges T-Shirt. Ich habe es zu meinem vierzehnten Geburtstag geschenkt bekommen.«
Tatsächlich war es das letzte Geschenk meiner Mutter, bevor sie starb. Mein heiß geliebtes My-Chemical-Romance-Bandshirt. Niemand durfte es kritisieren. Am allerwenigsten jemand wie er.
Wütend stiefelte ich den Gang entlang. Bevor ich um die Ecke bog, blieb ich jedoch stehen. »Wenn deine Augen nicht ertragen, was ich anhabe, solltest du den Blick auf deiner Freundin lassen. Ihr Top hat offensichtlich die richtige Länge.«
Nach einer knappen Verabschiedung von Emma verließ ich hastig das Café. Als ich schon ein gutes Stück die Straße runtergelaufen war, drehte ich mich noch einmal um.
Mein Retter sah mir hinterher.
Moms ausgezehrtes Gesicht drängte sich beim Aufwachen in mein Bewusstsein. In den letzten Wochen bevor sie starb, wich jegliches Leben aus ihrem Körper. Ihr sonst so strahlendes blondes Haar hing stumpf und farblos an ihrem Kopf herunter. Der Glanz ihrer grünen Augen war verschwunden. Sie war kraftlos und auch wenn sie es immer zu verbergen versuchte, wusste ich schon damals, dass sie unter starken Schmerzen litt.
Ich blieb noch einen Moment liegen und die Erinnerungen an meinen vierzehnten Geburtstag fluteten über mich hinweg.
»Tut mir leid, mein Schatz, ich habe vergessen die Kerzen zu kaufen.« Mom schüttelte bedrückt den Kopf.
»Aber an den Kuchen hast du gedacht. Außerdem ist mein Wunsch schon in Erfüllung gegangen. Wir beide verbringen gemeinsam einen sonnigen Tag am Strand.« Lächelnd küsste ich ihren knochigen Handrücken.
Mom zog hastig ihre Sonnenbrille auf und winkte ab. »Geh doch ein bisschen schwimmen. Ich schau dir zu.«
»Keine Lust. Außerdem kann ich mein Geschenk kaum noch abwarten.« Hibbelig rutschte ich im Sand umher.
»Erst ein Stück Kuchen. Dann gibt’s Geschenke!«
»Du musst aber auch ein Stück essen, okay? Nur ein Kleines. Für mich.« Ich schnitt uns beiden etwas vom Schokoladenkuchen ab und schob ihr den Teller zu. Der süße Schokoduft zog mir in die Nase und mit einem großen Bissen hatte ich die Hälfte des Kuchenstücks verputzt. »Hmmm.«
Lachend klatschte Mom in die Hände. »Ich hab eine Schokoholikerin auf die Welt gebracht. Unfassbar.«
Ich stimmte in das Lachen mit ein und verdrückte dann den Rest. »Bekomm ich jetzt mein Geschenk?«, fragteich, kaum dass ich heruntergeschluckt und meine Finger abgeschleckt hatte.
Mom schob die Brille auf ihren Kopf und schnappte sich die Überraschung aus dem Korb. »Es ist wahrscheinlich nicht das, was du dir gewünscht hast, aber ich hoffe, es gefällt dir trotzdem.«
Mein Herz pochte wild. Ich sah auf den ersten Blick, dass es zu groß für eine Konzertkarte war, was mich jedoch nicht enttäuschte. Seit Mom nicht mehr arbeiten gehen konnte, war das Geld knapp. Neugierig riss ich das blaue, mit roten Herzen versehene Papier auf.
Ein Pärchen mit rot gefleckten Gesichtern, das dabei war, sich zu küssen, fiel mir sofort ins Auge. Nach Luft ringend drückte ich das T-Shirt an meine Brust, sprang auf und tanzte lachend herum. »Das ist soooooo cool. Danke, Mom!«
Mit einem Sprung hechtete ich zu ihr und umarmte sie stürmisch. Mom stieß laut den Atem aus. »Gerne, mein Schatz. Ich freue mich, dass es dir gefällt.«
»Mehr als das. Es ist perfekt!«
Schmerz brannte in meinen Adern, als ich die Augen öffnete. Würde ich mich je erinnern können, ohne dass es wehtat? Ich schlug die Decke von mir, pellte mich aus dem Pullover und drückte mein Gesicht in das T-Shirt.
Zwei Tage war es jetzt her, seit dem unverschämten Kommentar von diesem Kerl, und ich ärgerte mich immer noch darüber. Wie konnte er es wagen, mich so etwas zu fragen? Was dachte er sich eigentlich? Glaubte er etwa, dass ich zwischen den Büschen einen Kleiderschrank mit der neusten Mode versteckt hatte?
Bestimmt besaß er einen XXL-Schrank, in dem unzählige T-Shirts lagerten und die Hälfte davon gammelte sicher vor sich hin.
Gut. Er ging einem Job nach, verdiente sein eigenes Geld und konnte sich demnach Unmengen T-Shirts leisten.
Trotzdem.
Taktgefühl sah anders aus. Wie schaffte es ein Kerl mit solchen Eigenschaften nur, so einen Job zu ergattern? Testete die Organisation ihre Mitarbeiter nicht auf Feingefühl? War das kein wesentlicher Kritikpunkt bei der Einstellung?
Kopfschüttelnd entschied ich mich für einen Bagel zum Frühstück und spülte ihn mit Wasser herunter. Was soll’s. In Zukunft würde ich später am Tag zu Emma gehen. Vielleicht bekam ich ihn dann erst gar nicht zu Gesicht.
***
Nach dem Frühstück marschierte ich zu meiner zweitliebsten Beschäftigung in der Woche. Dem Besuch in der Stadtbibliothek.
Zwar besaß ich keinen Ausweis, da ich die Jahresgebühr nicht bezahlen konnte, aber solange ich die Bücher dort las und niemanden störte, durfte ich das Angebot ebenfalls nutzen.
Und dafür war ich unglaublich dankbar. Ich wüsste nicht, was ich ohne Bücher machen sollte. Für einige Stunden konnte ich meinem eigenen Leben entfliehen und mich in Liebesgeschichten, Abenteuer und Komödien stürzen. Dabei liebte ich jene Storys am meisten, die mit einem Happy End abschlossen.
Verständlicherweise.
Die i-Tüpfelchen meines Besuchs waren jedoch der kühle Unterschlupf im Sommer, der warme im Winter, die gemütliche Sitzmöglichkeit und die Toilette.
»Hi Greta!« Lächelnd begrüßte ich die stilvoll gekleidete Frau hinter dem Schalter. Eine Besucherin, die im Begriff war, ausgeliehene Bücher in ihre Tasche zu stecken, verzog das Gesicht bei meinem Anblick und rückte ein Stück zur Seite. Klar. Als würden die zwei Zentimeter Abrücken mich davon abhalten, sie anzuspringen. Oder ihr die Tasche zu klauen. Oder vor was auch immer sie sich fürchtete. Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und presste die Lippen aufeinander. Die meiste Zeit versuchte ich nicht aufzufallen und solchen Leuten aus dem Weg zu gehen. Dann und wann ― und heute war so ein Tag ― rang ich mit mir, nicht genau das Gegenteil zu tun. Kurz überlegte ich, näher an sie heranzurücken. Oder in ihre Richtung zu husten.
Aber dafür war ich trotz meiner Zeit auf der Straße immer noch zu gut erzogen. Außerdem ging ich gerne in die Bücherei. Kein Grund, das zu gefährden.
»Nika, hallo. Oh. Was ist denn mit deinem Gesicht passiert?« Entgeistert schaute mich die Bibliotheksleitung durch ihre kreisrunde Brille an.
»Ein kleiner Unfall. Es geht mir aber gut.«
»So sieht das nicht aus.«
Greta kam um die Theke herum und strich mir besänftigend über den Arm. Die Frau neben mir riss angewidert die Augen auf und spurtete davon. Kopfschüttelnd lenkte ich die Aufmerksamkeit zurück zu Greta, die das Verhalten ihrer Kundin geflissentlich ignorierte. In ihrem Blick erkannte ich Mitleid, was ich absolut nicht leiden konnte. Mitleid half mir nicht weiter, im Gegenteil. Dadurch fühlte ich mich meinem Gegenüber noch unterlegener. Und dieses Gefühl war schlicht zum Kotzen.
»Wirklich, Greta! Mir fehlt nichts«, sagte ich eindringlich. »Kannst du mir heute etwas Romantisches empfehlen?«
Sie nickte und bedeutete mir, ihr zu folgen. Greta ging hinter den Empfangs- und Ausgabeschalter und zog aus einem Stapel ein Buch hervor.
»Das hier ist eben zurückgekommen und vorbestellt.« Sie hielt es vor ihre Brust und ich las: »Summer – verrockt verliebt«.
»Es geht um einen Rockstar, der die Liebe seines Lebens trifft.«
Ich nahm das Buch an mich. »Hört sich gut an. Geschichten, in denen Musik eine Rolle spielt, mag ich besonders gern.« Lächelnd verzog ich mich in die hintere Ecke der Bücherei auf einen bequemen Sessel und tauchte ein, in eine Welt, in der zum Schluss alles gut sein würde.
***
Ein paar Stunden später brachte ich das Buch zurück. »Danke, Greta. Das war genau das Richtige für mich.«
Sie lächelte. »Möchtest du einen Kaffee?«
»Danke, heute nicht. Ich muss los. Bis nächste Woche.«
Greta winkte zum Abschied. »Pass auf dich auf, Nika.«
Im Schein der untergehenden Sonne machte ich mich auf den Weg nach Hause. Früher, als Mom noch lebte, ging ich ebenfalls wöchentlich in die Bücherei. Das war allerdings eine andere, näher an unserem Zuhause. Von hier aus gesehen lag sie am anderen Ende der Stadt. Als meine Mom starb, nahm mich das Jugendamt mit und ich wurde in einem Heim untergebracht. Das war die Hölle. Eines Tages hielt ich es dort nicht mehr aus und ging nach der Schule einfach nicht mehr hin. Das bedeutete allerdings, dass ich alles zurücklassen musste. Meine Freunde in der Schule, meine Lieblingsplätze wie die Bücherei und anfangs auch das Grab meiner Mutter. Monatelang versteckte ich mich, hatte aus Angst, entdeckt und zurückgebracht zu werden, Albträume.
Über die Jahre wurde es besser, wobei ich den Stadtteil trotz allem, selbst heute noch, weitestgehend mied.
***
»Verdammt!«, fluchte ich leise, blieb stehen und hielt den Atem an, damit ich mich voll und ganz auf die Geräusche konzentrieren konnte. Panisch sah ich mich im Wald um. Mein Herz pochte so laut, dass es in meinen Ohren dröhnte. Mehrere Minuten lauschte ich jedem Rascheln, inspizierte jedes Fleckchen. Beklemmung zog mein Rückgrat herauf. Es kostete mich einiges an Mühe mich nicht zu bewegen, nicht davonzurennen.
Hier ist niemand! Du halluzinierst, redete ich mir mit Vehemenz ein und näherte mich nach einer Weile zögernd dem Rucksack, den mir mein Retter geschenkt hatte. Jemand war hier gewesen. Ich wusste mit absoluter Sicherheit, dass ich ihn hinter das Gebüsch gelegt hatte. Nun stand er da. Abseits von meinem Platz.
Mit Herzklopfen öffnete ich den Rucksack. Dabei linste ich immer wieder hektisch über die Schulter. Meine Hand streifte etwas Weiches, es fühlte sich an wie ein Stück Stoff, und der Geruch von Waschmittel strömte auf mich ein. Vorsichtig holte ich es heraus und wickelte das eingerollte Teil aus. Etwas fiel daraus hervor und knallte auf den Boden. Verdutzt starrte ich auf ein schwarzes T-Shirt. Was? Wie kam das hierher? Fassungslos legte ich es an meine Wange und roch daran. Gänsehaut zog sich über meinen Körper. Ich kannte diesen Duft. Meine Hände zitterten, als ich das T-Shirt vor meine Brust hielt. Es war zu groß. Viel zu groß.
Natürlich war es das. Es war nämlich sein Shirt.
Ich verharrte einen Moment mit geschlossenen Augen, bis ich nachsah, was herausgefallen war. Dort, neben ein paar Beeren, entdeckte ich ein orangefarbenes Röhrchen und ein schwarzes Gerät mit Kopfhörern. Mir stockte der Atem. »Das ist doch nicht etwa …«, stieß ich entgeistert aus und nahm das kleine Etwas in die Hand. Ein MP3-Player! Mein Herz plumpste in die Hose und ich sackte perplex auf den Boden. Mehrere Minuten vergingen, in denen ich dasaß und dümmlich in die Luft starrte. Dieser Kerl machte mich fertig. Ein wortkarger Retter, der zu einem Stylingberater mutierte. Sollte ich nun sauer sein oder mich freuen?
Ich drehte das Röhrchen in meinen Händen hin und her. Schmerztabletten. Genau die gleichen, die der Arzt mir mitgegeben hatte. Akribisch durchsuchte ich den Rucksack nach einer Nachricht, fand aber nichts dergleichen vor.
Da es dämmerte, aß ich einen Muffin zu Abend, nahm zwei Schmerztabletten und putzte mir die Zähne. Ich zog den Pullover über mein T-Shirt und dann sein Shirt darüber. Die Decke wickelte ich von Kopf bis Fuß einmal um mich herum und legte mich hin.
Gespannt steckte ich die Kopfhörer in die Ohren und schaltete das Gerät ein. Als die ersten Töne erklangen, schossen mir Tränen in Bächen über die Wangen. Es war Jahre her, dass ich ihrer Musik lauschen konnte. Der Musik meiner absoluten Lieblingsband. My Chemical Romance.
***
Am Samstag, meinem Geburtstag, vertrieb ich mir die Zeit mit Peanut. Wir hingen in der Innenstadt ab. Beobachteten die Leute. Probierten in den Geschäften Kleider an, die wir uns nie leisten können würden. Aßen Probehäppchen und tranken Probegetränke in der Mall. Schauten im Elektrogeschäft fern und lauschten der Musik der Straßenmusiker. Nachmittags faulenzten wir auf der Wiese im Park und schauten den Kindern beim Spielen zu.
»Hast du etwas über die Organisation rausgefunden?«, fragte ich und zupfte an einem Grashalm.
»Nichts Neues. Angeblich sind ihre Kampfkünste einschüchternd und manchmal würden sie zu zweit oder zu dritt auftauchen.«
»Tragen sie Kostüme?« Grinsend linste ich zu Peanut rüber, der auflachte. »Glaub ich kaum. Das wäre doch aufgefallen.«
»Stimmt. Ich frag mich nur, wie sie es schaffen, unerkannt zu bleiben?« Besonders er! Mit diesen Haaren. Diesem Aussehen …
»Hm. Gute Frage, Nini. Vielleicht sind sie doch Superhelden.«
Superhelden, wiederholte ich in Gedanken seine Worte. Tja. Ein Held war mein Retter zweifellos. Mister Unterkühlt.
»Ich hab Josie gesehen.«
Überrascht setzte ich mich auf. »Wo?«
»Beim Kino. Sie war mit ’nem Kerl dort.«
»Hat sie was gesagt?«
»Nee. Sie hat mich kurz umarmt und irgendwas davon gefaselt, dass die Vorstellung gleich beginnt.« Er richtete sich auf und zog die Knie an. »Drei Jahre hab ich sie jetzt nicht gesehen und sie tat so, als wären wir Fremde. Als wären wir nie in einer Familie aufgewachsen und hätten nicht unter den Gemeinheiten unserer Eltern leiden müssen. Dabei ist sie die Ältere.«
Peanut nahm ein Steinchen in die Hand und warf es mit Schwung weg.
Ich legte die Hand auf seinen Arm. »Tut mir leid.«
»Muss es nicht. Es hat mir deutlich gemacht, dass sie jetzt ihr eigenes Leben führt. Und ich meins.« Er verzog das Gesicht und zuckte mit den Schultern. Ich seufzte und richtete den Blick auf zwei Mädchen, die sich Blumen in die Haare steckten. Peanuts Eltern waren beide Alkoholiker und hatten ihn und seine vier Geschwister sich selbst überlassen. Na ja, verwahrlosen traf es wohl eher. Das Einzige, was sie großzügig verteilt hatten, waren Schläge und Beschimpfungen. Mit elf Jahren war er geflohen. Manchmal versteckte er sich in der Nähe des Hauses hinter einem Baum und starrte stundenlang auf dessen Fassade. Ein paar Mal hatte ich ihn dorthin begleitet und dabei zugesehen, wie er darunter litt, dass seine Geschwister weiter dieses Leben leben mussten und er nichts dagegen tun konnte. Das verstörte mich so sehr, dass ich es recht schnell bleiben ließ, ihn zu begleiten.
»Aber weißt du was?«, unterbrach Peanut meine Gedanken.
»Hm?«
»Sie hat mir zwanzig Dollar in die Hand gedrückt!« Grinsend zog er den Geldschein aus der Hosentasche und wedelte damit vor meinem Gesicht herum.
»Was? Das sagst du mir erst jetzt? Du hättest mir ein Eis zum Geburtstag spendieren können!« Entrüstet verschränkte ich die Arme vor der Brust, lächelte aber.
Peanut sprang auf und hielt mir die Hand hin. »Na, dann los. Und hinterher gehen wir an den Strand. Dort steigt heute ne Party von elitären Fuzzis. Eintritt frei!«
***
Ich fühlte mich unwohl in meiner Haut. Die Party war von irgendeinem Club organisiert worden und die meisten Leute waren zwischen Anfang und Mitte zwanzig. Ein großes Lagerfeuer, vier provisorische Bars und ein DJ. Mehr brauchte es nicht, um eine Meute von um die fünfhundert Leuten zum Feiern zu bewegen. Frauen, gekleidet in Miniröcke oder Maxikleider, schick geschminkt, behangen mit Fashionschmuck und raffinierten Frisuren, tanzten wild umher. Tranken, lachten. Wurden bewundert von Männern mit knackigen Oberkörpern in perfekt sitzenden Shorts oder Jeanshosen, die ihren männlichen Aftershavegeruch verströmten. Die Luft war geschwängert von Lebensfreude und Leichtigkeit.
Es war mir unangenehm, zwischen diesen hippen und sorglosen Leuten zu sitzen. Da kollidierten zwei Welten, die unterschiedlicher nicht sein konnten.
Aber ich blieb trotzdem. Wegen Peanut. Wegen seiner unbändigen Freude und seines Enthusiasmus. Weil er sich keinen Deut darum scherte, was wir waren, was unser Hintergrund war. Er genoss einfach den Augenblick.
»Hier.«
»Wo hast du das Bier her?«, fragte ich und nahm die Flasche an mich.
»Die Jungs an der Bar haben keinen Ausweis sehen wollen.« Peanut wackelte mit den Augenbrauen.
»Na dann, cheers.«
Wir stießen an und ich nahm einen großzügigen Schluck.
***
Eine Weile später forderte er mich zum Tanzen auf, was ziemlich albern war, da es mir schwerfiel, mich mit den geprellten Rippen rhythmisch zu bewegen. Abgehackt traf es eher. Peanut überspielte die Situation, indem er mit mir Stehblues tanzte oder meine Hände nahm, um mit mir hin und her zu schunkeln. Lachend gab ich mich seinem Charme hin.
Einige andere Straßenkids gesellten sich zu uns und vergrößerten unser Zweiergespann zu einer großen Traube. Zum Glück war keiner von den Cracks dabei. Wir saßen gemeinsam in der Nähe des Lagefeuers im Sand und erzählten uns Quatsch und völlig belangloses Zeug. Irgendeiner zauberte eine Flasche Wodka herbei, die reihum ging, von der ich aber nichts trank. Mein Blick schweifte über die feiernde Meute und mein Herz setzte für eine Sekunde aus. Ich rieb mir die Augen, weil ich nicht glaubte zu sehen, was ich sah.
Mein Retter!
Er stand auf der gegenüberliegenden Seite des Feuers und unterhielt sich angeregt mit einem Kerl und zwei Frauen. Er trug ein Achselshirt von den Ramones, tiefschwarze Jeans und einen stacheligen Irokesenschnitt.
Was für ein Anblick!
Ich schaute an mir herunter und Scham verdrängte meine gute Laune. Sein T-Shirt hing in Übergröße an mir herunter. Es verdeckte fast meinen gesamten Körper. Die zerrissene Jeanshose war mittlerweile wieder fleckig. Ich ärgerte mich. Wäre ich doch nur heute am Strand baden gegangen … Dann würden wenigstens meine verfilzten Haare nicht so speckig aussehen.
Ich zwickte mir in den Oberschenkel. Was spukte mir da denn im Kopf herum? Was machte es für einen Unterschied, ob meine Haare speckig aussahen oder nicht? Für diesen Kerl würde ich nie mehr sein als das Mädchen von der Straße, dem er mal von Berufs wegen das Leben gerettet hatte.
Betrübt stand ich auf. Ich wollte nach Hause gehen, bevor er mich entdeckte.
»Ach komm, Nika. Bleib noch ein bisschen.« Bittend ergriff Peanut meine Hand. »Ich geh auch zum DJ und frage, ob er etwas von My Chem spielt!«
Mit zusammengekniffenen Augen stierte ich ihn an. »Das ist ein gemeiner Köder, Nuts!«
»Der Beste, den ich zur Verfügung habe«, sagte er lachend und schlug den Weg zum DJ ein.
Grinsend wartete ich ab. Was soll’s. Peanut war mir wichtiger als dieser Kerl, mit dem ich nichts zu schaffen hatte. Na ja. Außer sein T-Shirt zu tragen. Und mit seinem MP3-Player Musik zu hören.
»Auftrag erledigt, Mylady. Und jetzt tanz mit mir.«
Wir bewegten uns gediegener als alle anderen zum schnellen Beat der Musik. Zwei Songs später ertönte Planetary Go und mein Herz vollführte Luftsprünge. Das perfekte Lied für diesen Abend.
Ich sang lauthals mit und trieb mit dem Beat davon. Für wenige Minuten fühlte ich mich frei. Unbesiegbar. Hoffnungsvoll.
***
Kurz vor Mitternacht war ich vom Tanzen, Schäkern und Lachen komplett ausgepowert. Ich warf zum gefühlt tausendsten Mal einen Blick auf meinen Retter. Die meiste Zeit trank er Bier und redete, nun aber tanzte er mit einer Frau eng zu einem Schmusesong. Ich erkannte sie wieder – es war die Frau vom Café. Neidvoll beobachtete ich die beiden. Sie trug ein Minikleid in Weiß, das in absolutem Kontrast zu ihrer gebräunten Haut stand. Seine Hände streichelten ihren Rücken.
Ich atmete hörbar aus. Genug Peepshow für einen Abend. »Peanut! Ich hau ab!«
»Ich begleite dich.«
»Nee, lass. Bleib du hier und feier noch kräftig. Danke für das Bier und alles.«
Wir umarmten uns, bevor ich meine Chucks anzog und davonschlenderte.
Vom Strand aus brauchte ich mindestens zwanzig Minuten, bis ich an mein Lager gelangte. Straßenlaternen leuchteten die Wege gut aus und es war glücklicherweise eine Menge los um diese Uhrzeit an einem Samstagabend. Trotzdem kroch die nun altbekannte Panik in mir hoch und steigerte sich mit jedem Schritt. Unter Hochspannung biss ich die Zähne zusammen und legte einen Zahn zu. Eigentlich achtete ich aus naheliegenden Gründen seit dem Unfall darauf, vor Sonnenuntergang zu Hause zu sein. Aber den Zeitpunkt hatte ich verpasst. Da musste ich jetzt durch.
Als ich den Weg zum Wald einbog, verdunkelte sich die Umgebung. Wie blöd, dass die Taschenlampe in meinem Rucksack lag.
Komm schon, Nika. Reiß dich zusammen. Wie hoch stehen die Chancen, dass dir diese Scheiße ein zweites Mal passiert?, dachte ich und im gleichen Moment hörte ich Schritte hinter mir. Blind vor Angst rannte ich los. Tränen schossen mir in die Augen, gerade als ich am Arm gepackt wurde. Schreiend schwang ich herum und holte wild aus. Mit gebündelter Kraft schlug ich auf die Person ein.
»Hör auf! Nika! Hör auf, ich bin’s. Schau mich an!«, dröhnte eine bekannte Stimme und gab meinen Arm frei. Ich stolperte ein Stück zurück und wischte mir über die Augen.
»Sag mal, spinnst du?«, schrie ich wütend. »Du hast mich zu Tode erschreckt!« Um mich zu beruhigen, schlang ich die Arme um den Bauch, doch der Adrenalinkick hielt an und ich zitterte, als würde ich nackt knietief im Schnee stehen.
»Entschuldige. Das war nicht meine Absicht.« Mein Retter stand da und schob betreten die Hände in die Hosentaschen.
»Was ist dein Problem?«, keifte ich.
»Was mein Problem ist? Was ist dein Problem? Schon wieder bist du zu dieser Uhrzeit hier allein unterwegs, verdammt!«
Wie bitte? Erst Stylingberater und jetzt Oberlehrer, oder was?