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Viele Beobachter kritisieren die Entwicklung, die das öffentliche Recht in Europa seit Ende des Zweiten Weltkriegs genommen hat, als eine entfremdende Verrechtlichung. In seinem neuen Buch plädiert Armin von Bogdandy für eine andere Lesart dieses Prozesses, nämlich als Strukturwandel zu einer europäischen demokratischen Gesellschaft. Dieses Narrativ erlaubt eine Neubewertung wichtiger Ereignisse, Urteile, Begriffe sowie aktueller Herausforderungen. Bogdandy zeigt überdies, wie der aus dem Globalen Süden stammende Ansatz des transformativen Konstitutionalismus einen Weg bietet, sowohl autoritären als auch hegemonialen Tendenzen in der europäischen Gesellschaft zu begegnen und ihre demokratische Verfasstheit zu stärken.
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Seitenzahl: 831
3Armin von Bogdandy
Strukturwandel des öffentlichen Rechts
Entstehung und Demokratisierung der europäischen Gesellschaft
Suhrkamp
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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2022
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2356
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Umschlaggestaltung von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt
eISBN 978-3-518-77014-6
www.suhrkamp.de
Der Dienstagsrunde und dem ICCAL-Netzwerk
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Informationen zum Buch
Hinweise zum eBook
Cover
Titel
Impressum
Widmung
Inhalt
Vorwort
Aufriss
§1 Idee und Programm
§2 Die europäische Gesellschaft
§3 Strukturwandel als Forschungsinteresse
§4 Europäischer Hegelianismus und Schmittianismus
I
. Begriffe
A. Das alte Jus Publicum Europaeum
§5 Eine Antwort auf den Dreißigjährigen Krieg
§6 Das
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droit public de l’Europe
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§7 Schmitts
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Jus Publicum Europaeum
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B. Erste Begriffe des neuen Rechts
§8 Die erste Sattelzeit
§9 Hallsteins Rechtsgemeinschaft
§10 Moslers Europarecht
§11 Die verkannte Union
C. Öffentliches Recht ohne Staatsrecht
§12 Nichtstaatlichkeit: Dogma und Zivilisationsgewinn
§13 Die Transformation des Souveränitätsbegriffs
§14 Schmitts Begriff des Politischen
§15 Öffentlich als Grundbegriff
D. Verwaltungsrecht ohne Staat
§16 Zur Ambivalenz der Entstaatlichung
§17 Casseses begriffsgeschichtliche Notizen
§18 Ipsens Zweckverband
§19 Demokratisches Verwaltungsrecht
E. Verfassungsrecht ohne Verfassungstext
§20 Die zweite Sattelzeit
§21 Der Siegeszug des verfassungsrechtlichen Ansatzes
§22 Zur Reichweite des Primats
F. Transformativer Konstitutionalismus
§23 Demokratische Gesellschaft statt
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ever closer union
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§24 Emergenz eines neuen Begriffs
§25 Lateinamerikanische Innovationen
§26 Europäischer transformativer Konstitutionalismus
Transformatives Recht und transformativer Konstitutionalismus
Die Transformationsgovernance der 1990er Jahre
Transformativer Konstitutionalismus und offene Marktwirtschaft
II
. Prinzipien
A. Prolegomena
§27 Das Versprechen
§28 Werte und Rechtsprinzipien
§29 Der europäische Verfassungskern
§30 Von der Privatrechts- zur Bürgergesellschaft
B. Grundprinzipien und Identitätspolitik
§31 Ein schwieriges Feld
§32 Identitätstheoretische Eckpunkte
§33 Europäische und nationale Identität
Der Vermittlungsversuch des Vertragsgesetzgebers
Prinzipieller Widerstand als Struktur
§34 Prinzipienpluralismus
C. Das Prinzip Rechtsstaatlichkeit
§35 Vertrauen als Fluchtpunkt
§36 Legalität des Unionshandelns
§37 Wirksamkeit im nationalen Recht
§38 Stärkung schwacher Staatlichkeit
D. Der mühsame Weg zum demokratischen Prinzip
§39 Die Debatten der ersten Periode
§40 Das Maastricht-Urteil des Zweiten Senats
§41 Homogenität und Hellers Europa
E. Demokratie der vielen Vermittlungen
§42 In wessen Namen?
§43 Demokratische Repräsentation
Ungleiches Wahlrecht
Der exekutive Bock als demokratischer Gärtner
Weilers Zweifel
Der demokratische Wert trilogischer Gesetzgebung
§44 Weiterer demokratischer Strukturwandel
F. Transformativer Konstitutionalismus
§45 So notwendig wie schwierig
§46 Systemische Defizite als Fokus
§47 Instrumente
III
. Gerichte
A. Ein neuer Akteur
§48 Eine unerwartete Entwicklung
§49 Die Vielfalt der Moderne
§50 Der Hebel zum Strukturwandel
§51 Beobachtungen zum Machterwerb
B. Europäisierung nationaler Verfassungsgerichtsbarkeit
§52 Europarechtliche Mandatierung
§53 Pluralisierung der Rechtsquellen
§54 Verbundbildung
C. Europäische Gesellschaft durch
EuGH
und
EGMR
§55 Das ursprüngliche Mandat
Der
EuGH
: ein europäisches Verwaltungsgericht
Der
EGMR
: eine liberal-demokratische Rückfallversicherung
§56 Einheitsbildung: der
E
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GH
Förderung europäischer Rechtsetzung
Durchsetzung europäischer Rechtsetzung
Der prozessuale Hebel
§57 Vermenschenrechtlichung: der
EGMR
Die europäische
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rights revolution
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Der prozessuale Hebel
§58 Die Macht europäischer Präjudizien
D. Gemeinsame, aber differenzierte Verantwortung
§59 Zwei Senate einer Verfassungsgerichtsbarkeit
§60 Wachsende Wälder und fallende Bäume
§61 Der Einschätzungsverbund
E. Demokratische Gerichte
§62 Das Mandat zum Strukturwandel
§63 Demokratische Personalpolitik
§64 In wessen Namen?
F. Transformativer Konstitutionalismus
§65 Herausforderungen und Antworten
§66 Die Vorgaben des EGMR
§67 Die Mobilisierung des EuGH
IV
. Wissenschaft
A. Rolle und Gestalt europäischer Rechtswissenschaft
§68 Wissenschaftliches Selbstbewusstsein
§69 Schmitt und wir
§70 Das Hegemonieproblem
§71 Rechtswissenschaftliche Identitäten
B. Eine autonome Stimme der Vernunft
§72 Autonomie und Demokratie
§73 Rechtsvergleichung mit Eduard Gans
§74 Innereuropäische Rechtsvergleichung
C. Interessen und Verfahren
§75 Wissenschaft und Praxis
§76 Kritik
§77 Grundlagen
§78 Dogmatik
D. Feuer gegen Feuer
§79 Regierungsunrecht
§80 Strafbarkeit
§81
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. Quintessenz mit Marius Ivaškevičius
Entscheidungsverzeichnis
Namenregister
Sachregister
Fußnoten
Informationen zum Buch
Hinweise zum eBook
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Dieses Buch rekonstruiert den Strukturwandel des öffentlichen Rechts mit Blick auf Entstehung und Demokratisierung der europäischen Gesellschaft. Es nutzt dafür den Rechtsvergleich mit Lateinamerika. Seinen positivrechtlichen Angelpunkt bildet Art. 2 EU-Vertrag.
Mit Blick auf Perspektiven, Vorverständnisse und blinde Flecken sei vermerkt, dass hier ein deutscher Staatsrechtslehrer schreibt, dem Eberhard Grabitz und Claus-Dieter Ehlermann europäischen Enthusiasmus geschenkt haben. Um dialektisch Substanz zu gewinnen, erfolgt die Rekonstruktion daher vor allem in Auseinandersetzung mit Carl Schmitt, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Joseph Weiler und dem Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts.
Dieses Buch nimmt, stets ausgewiesen, Gedanken früherer Texte auf, von denen einige in Koautorschaft mit Jürgen Bast, Sergio Dellavalle, Matthias Goldmann, Stephan Hinghofer-Szalkay, Laura Hering, Michael Ioannidis, Christoph Krenn, Davide Paris, Luke Dimitrios Spieker, René Urueña und Ingo Venzke entstanden. Dank für kritische Lektüren gilt Sabino Cassese, Philipp Dann, Rainer Forst, Klaus Günther, Reinhard Mehring, Alexander Somek und dem stellvertretenden polnischen Ombudsman Maciej Taborowski, einem beispielhaft mutigen Rechtswissenschaftler. Viele Anregungen verdanke ich dem von Mariela Morales Antoniazzi organisierten Netzwerk Ius Constitutionale Commune en América Latina (ICCAL) sowie unserer Dienstagsrunde. Es unterstützten mich Eva Neumann, Michael Ioannidis, Giacomo Rugge, Dana Schmalz, Desirée Schmitt, Luke Dimitrios Spieker, Silvia Steininger, Benedict Vischer und ganz besonders Lea Berger, Yvonne Klein und Catharina Ziebritzki. Den Kampf mit EndNote führten Ben Fridrich, Joshua Puhze und Effi Spiegel. Verlagsseitig finalisierte Jan-Erik Strasser das Projekt.
Das Buch entstand im Kontext des von Rainer Forst und Klaus Günther geleiteten Exzellenzclusters Normative Ordnungen. Es beruht auf meinem General Course an der Academy of European Law des Europäischen Hochschulinstituts. Mittel aus 12dem Leibniz-Programm der DFG ermöglichten den Ausbau des ICCAL-Netzwerks.
Heidelberg, im Juni 2021
Auch nach siebzig Jahren EU-zentrierter Europäisierung fragen sich viele Europäerinnen und Europäer, wie sie diesen Prozess begreifen sollen. Die beschwichtigende Antwort, die Union sei nun mal sui generis, zieht nicht mehr: Infragestellungen wie der Brexit, Enttäuschungen wie bei der Bekämpfung von COVID-19, Konflikte wie diejenigen zu innereuropäischen Finanztransfers, außereuropäischer Zuwanderung oder dubiosen mitgliedstaatlichen Justizreformen verlangen substantiellere Antworten. Zur Beantwortung dieser Frage rekonstruiere ich eine Frucht dieses Prozesses: das europäische öffentliche Recht.[1]
Da die Europäisierung ein Prozess ist, erschließe ich das europäische öffentliche Recht in seinem Wandel. Ausgangspunkt ist das staatszentrierte Recht der europäischen Mächte: Mablys droit public de l’Europe, Carl Schmitts Jus Publicum Europaeum (§§5-7). Wie ist das heutige europäische Recht zu verstehen? Ich bin ein deutscher Jurist und starte deshalb, vielleicht hypertextualistisch, mit dem positiven Recht. Laut Art. 2 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) bilden die Europäerinnen und Europäer der siebenundzwanzig Mitgliedstaaten inzwischen eine Gesellschaft. Danach hat der Prozess zwar keinen europäischen Staat und kein europäisches Volk, wohl aber eine europäische Gesellschaft hervorgebracht. Das europäische Recht ist das Recht der europäischen Gesellschaft. Diesem selbstverständlich, vielleicht gar trivial erscheinenden Gedanken ist dieses Buch gewidmet.
Die europäische Gesellschaft und das europäische Recht, insbesondere das europäische öffentliche Recht, sind engst verwoben. Der Vertragsgesetzgeber, also die siebenundzwanzig mitgliedstaatlichen politischen Systeme in Zusammenarbeit mit den Unionsinstitutionen, charakterisiert diese Gesellschaft über öffentlich-rechtliche Standards. Nach Art. 2 EUV ist die europäische Gesellschaft 14eine, »die sich durch Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität und die Gleichheit von Frauen und Männern auszeichnet« unter den Werten »der Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und der Wahrung der Menschenrechte einschließlich der Rechte der Personen, die Minderheiten angehören« (Art. 2 EUV).
In hegelianischer Tradition kann man dieses vermeintliche (§29) Potpourri von Grundbegriffen als Manifest, Identität und Verfassungskern einer sittlichen oder freiheitlichen oder, so dieses Buch, einer demokratischen Gesellschaft deuten.[2] Das ist keine Spekulation im akademischen Elfenbeinturm: Die Denkschrift der Bundesregierung sagt klipp und klar, dass die Werte des Art. 2 EUV »das Wesen einer demokratischen Gesellschaft ausmachen«.[3] Die Antwort auf die Frage der Europäerinnen und Europäer, wie sie den Prozess der Europäisierung begreifen sollen, lautet somit, dass er sie in eine europäische demokratische Gesellschaft geführt hat. Die folgende, diese Antwort ausbuchstabierende Rekonstruktion des europäischen öffentlichen Rechts als Recht der europäischen demokratischen Gesellschaft nimmt den Stier bei den Hörnern: Demokratie bildet den Schlüsselbegriff im Ringen um die europäische Grundstruktur.
Mancher wird zweifeln, ob Art. 2 EUV als identitätsstiftender Verfassungskern taugt. Er wirkt kompromisshaft. In der Tat muss er zwischen vielen Identitäten, Ideen, Interessen, Traditionen und Weltanschauungen vermitteln. In hegelianischer Tradition erscheint das allerdings nicht als Manko: »Der Weg des Geistes ist die Vermittlung, der Umweg.«[4] Entsprechend ist auch eine recht verstandene Verfassung ein System der Vermittlung,[5] und Art. 2 EUV legt die Maßstäbe nieder, unter denen die europäische Gesellschaft 15ihre Kompromisse sucht. Wirkliche Demokratien leben von ihren vielen Vermittlungen,[6] hybride oder autoritäre Regime hingegen vom Versprechen der Unmittelbarkeit.[7]
Die in Art. 2 EUV zum Ausdruck kommende Kompromisshaftigkeit ist das demokratische Herz der europäischen Gesellschaft. Hegelianisch formuliert: Das Brüsseler Geschacher ist vernünftig, wenn es Vermittlungen generiert, die den Maßstäben des Art. 2 EUV genügen. Auch diese Vermittlungen werden regelmäßig kompromisshaft sein und jeder Position in je anderer Hinsicht als unzulänglich erscheinen. Die entsprechende selbstkritische Grundeinstellung der europäischen Gesellschaft ist ein demokratisches Faustpfand.
Dieses Buch entfaltet das heutige europäische öffentliche Recht als Struktur der europäischen demokratischen Gesellschaft. Der Leser sei gewarnt. Folgt man dem Staatsrechtslehrer Christoph Schönberger, so ist dieses Programm nicht Rechtswissenschaft, sondern »verfassungsrechtliche Science-Fiction«, welche »die blaue Blume der Demokratie […] jenseits aller institutionellen Erdenreste« sucht.[8] Schönberger begreift das neue europäische öffentliche Recht denn auch in der Logik des alten Jus Publicum Europaeum: »[D]ie Brüsseler Verhandlungsmaschine [ist] die heutige Form jenes alteuropäischen diplomatischen Konzerts.« Noch ärger sieht es der Politikwissenschaftler Philip Manow: »Wer Europa sagt, will betrügen.«[9]
Der Wandel des europäischen öffentlichen Rechts zur Struktur einer europäischen demokratischen Gesellschaft ist offensichtlich und vielleicht sogar konstitutiv unvollendet. Assoziationen der Brüsseler Institutionen mit einem entfremdenden Betrieb, exekutivem Gezänk oder einem bürokratischen Monster liegen nahe und werden oft erfolgreich bemüht.[10] Es greift daher zu kurz, alle 16Brexiteers als dumm oder böse abzuqualifizieren. Der Wandel ist weiter unvollendet, weil in einigen Mitgliedstaaten die demokratische Verfasstheit wankt. Grundbegrifflich ist festzuhalten, dass Kompromisse auch kompromittieren können.[11] Dieses Buch will demokratische Strukturen im europäischen öffentlichen Recht rekonstruieren, aber nicht den Status quo legitimieren, sondern sie im Lichte eines transformativen Konstitutionalismus weiterdenken.
Ich schreibe nicht in hegelianischem Fortschrittsvertrauen: Der weitere Strukturwandel des europäischen öffentlichen Rechts kann in viele Richtungen gehen, ebenso wie die Interpretation der Maßstäbe des Art. 2 EUV. Ein transformativer Konstitutionalismus für eine europäische demokratische Gesellschaft ist eine Option unter vielen. Die Optionen eines europäischen Konzerts der mächtigen Staaten, deutscher Hegemonie, exekutiven Föderalismus, nationalen Rückzugs und nicht zuletzt der Ideen, die Viktor Orbán personifiziert, kursieren in der europäischen Gesellschaft.[12] Es gibt eine europäische demokratische Gesellschaft, aber sie wirkt nicht konsolidiert und ist vielleicht sogar prekär.
Dieses Buch rekonstruiert das europäische öffentliche Recht als das Recht der europäischen Gesellschaft. Das ist keine rechtswissenschaftliche Science-Fiction, sondern eine naheliegende Interpretation des Worts Gesellschaft in Art. 2 EUV.[13]
17Es gibt viele europäische Gesellschaften: fast 3000 europäische Aktiengesellschaften in der Rechtsform der Societas Europaea und Tausende von zivilgesellschaftlichen Zusammenschlüssen, die von der European Society of International Law über die Europäische Gesellschaft für Kardiologie bis zur Europäischen Gesellschaft für Spirituelle Rückführungen reichen. Das Wort in Art. 2 EUV umfasst all das, meint aber offensichtlich mehr. Art. 2 EUV spricht als Gesellschaft die soziale Gesamtheit an, die der EU-Vertrag verfasst.
Die Tragweite des Begriffs Gesellschaft wird deutlich, reflektiert man ihn mit Hegels Staatsbegriff. Staat hat in Hegels Rechtsphilosophie zwei Bedeutungen. Die engere Bedeutung bezeichnet die Gesamtheit öffentlicher Institutionen, also vor allem Apparat, Personal, Prozesse und Instrumente der Herrschaft. Die weitere Bedeutung meint das soziale Ganze.[14] Dieses Ganze bezeichnet im Laufe des 19.Jahrhunderts zunehmend der Begriff Gesellschaft.[15] Anfang des 20.Jahrhunderts schreibt etwa Max Weber in »Wirtschaft und Gesellschaft« ganz selbstverständlich über öffentliche Herrschaft, Nation und Staat.[16] Damit schließt die deutsche Terminologie an den europäischen Diskursstrang an: Man erinnere nur Jean-Jacques Rousseaus Gesellschaftsvertrag als Grundlage seines Staatsrechts.[17] Heute erwartet niemand, aus Niklas Luhmanns Recht der Gesellschaft etwas über Aktiengesellschaften zu erfahren. Damit ist natürlich noch lange nicht entschieden, dass eine Gesellschaft, die kein Staatsvolk bildet, eine Rechtsordnung tragen kann, die sich durch so anspruchsvolle Prinzipien wie Menschenwürde, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Pluralismus, Nichtdiskriminierung, Toleranz, Gerechtigkeit und Solidarität auszeichnet. Wie die europäische Gesellschaft das hinbekommt, soll dieses Buch zeigen.
Dieses weite Verständnis des Begriffs Gesellschaft findet sich in allen Verträgen, welche die europäische Gesellschaft verfassen. Das gilt insbesondere für die Europäische Menschenrechtskonvention, 18die diesen weiten Begriff der Gesellschaft schon lange vor dem EU-Vertrag benutzt. Sie spricht an vielen Stellen von »einer demokratischen Gesellschaft« (vgl. nur Art. 6 Abs. 1, Art. 8 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2, Art. 10 Abs. 2, Art. 11. Abs. 2 EMRK). Damit meint sie in erster Linie die öffentlichen Institutionen der Konventionsstaaten. Natürlich spricht die 1950 verfasste EMRK noch nicht von einer europäischen Gesellschaft wie Art. 2 EUV, der die Frucht von 57 Jahren politischer Einheitsbildung ist.
Art. 2 EUV konzipiert eine europäische Gesellschaft ohne einen europäischen Staat, aber keine staatenlose Gesellschaft. Er versteht vielmehr die Mitgliedstaaten, mit allen ihren öffentlichen Institutionen, als Teil der europäischen Gesellschaft. Die Gesellschaft des Art. 2 EUV beschränkt sich nicht auf die Sphäre, die Hegel als bürgerliche Gesellschaft bezeichnet, also auf das Geflecht ökonomischer Beziehungen. Art. 3 Abs. 3 EUV spricht von diesem Geflecht als Binnenmarkt.[18] Wenn der EU-Vertrag die Sphäre gesellschaftlichen Engagements meint, dann spricht er von Zivilgesellschaft.[19] Gesellschaft in Art. 2 EUV bezeichnet demgegenüber das soziale Ganze, in dem sich die Institutionen der Union und ihrer Mitgliedstaaten sowie alle Bürgerinnen und Bürger bewegen. So bildet die Gesellschaft nach Art. 2 EUV die ultimative soziale Referenz des europäischen Rechts. Dass Art. 2 von einer europäischen Gesellschaft spricht[20] und nicht von den mitgliedstaatlichen Gesellschaften,[21] ergibt sich aus dem Singular Gesellschaft.
Dass Art. 2 EUV von der europäischen und nicht von der Weltgesellschaft spricht, ergibt sich aus dem Bezug auf die EU-Mitglied19staaten sowie der Fundierung in Werten.[22] Dieser Wertbezug macht zugleich klar, dass Art. 2 EUV Gesellschaft nicht aus dem Gegensatz zu Gemeinschaft versteht: Der deutsche, Ferdinand Tönnies zu verdankende Dualismus von Gesellschaft und Gemeinschaft unterscheidet ja die beiden Phänomene durch den spezifischen Wertebezug einer Gemeinschaft.[23] Im Anschluss an Tönnies versteht man in Deutschland als Gesellschaft oft eine nur marktförmig integrierte Gruppe, als Gemeinschaft hingegen eine innigere, namentlich durch Werte integrierte Gruppe. Die Terminologie der europäischen Verträge zeigt hingegen eine geradezu gegenteilige Logik. Auf die europäische Wirtschaftsgemeinschaft des EWG-Vertrags von 1957, zentriert in dem gemeinsamen Markt, lässt der Vertragsgesetzgeber 2007 die in Werten gegründete Gesellschaft folgen (§30).
Die faktische Aussage in Art. 2 EUV, nämlich dass es eine europäische Gesellschaft tatsächlich gibt, ist soziologisch belastbar.[24] Dabei verbleiben natürlich zahlreiche Fragen, wie man die europäische Gesellschaft begrifflich fassen und anhand welcher Phänomene man sie beobachten kann. Gesellschaft, ein Grundbegriff europäischen Denkens, kennt unterschiedlichste Theoretisierungen und entsprechend unterschiedliche Rekonstruktionen des Datenmaterials. Für den juristischen Umgang mit Art. 2 EUV genügt ein rudimentäres und eklektisches Verständnis von Gesellschaft als soziale Interaktion oder kommunikative Praxis.[25] Solche Interaktion oder Praxis wird rechtswissenschaftlich vor allem anhand bestimmter Texte beobachtet: Verfassungen, Verträge, Gesetze, Verordnungen, Richtlinien, Urteile und wissenschaftliche Publikationen. Sie bilden die wichtigste Empirie rechtswissenschaftlicher Forschung.
Juristinnen und Juristen beschäftigt vor allem der rechtsförmig geführte Streit, eine besonders intensive Form sozialer Interaktion und kommunikativer Praxis. In den vielen Konflikten entlang der 20Begriffe des Art. 2 EUV, wenn es um europäische Rechte, europäische Gerechtigkeit, europäische Solidarität, europäische Demokratie oder europäische Rechtsstaatlichkeit geht, ereignet sich die europäische Gesellschaft, ja bringt sich gleichsam selbst hervor.[26] Das europäische Recht ist dabei konstitutiv, insoweit es die Konflikte als europäische Konflikte konzeptualisiert, hegt und ihren rechtsförmigen Ergebnissen europaweit Geltung, Wirksamkeit und Legitimität verleiht.
Ist die Adressierung aller Unionsbürgerinnen und Unionsbürger als Teil einer europäischen Gesellschaft nur eine Fremdbeschreibung? Oder kann man sie sogar als eine Selbstbeschreibung verstehen? Skeptiker werden darauf hinweisen, dass sich dieser Wortlaut des Art. 2 EUV einigen wenigen Menschen verdankt, die ihn in der Brüsseler Blase rund um die Rue de la Loi auskochten.
Aber das Grundgesetz und die Verfassung der Vereinigten Staaten entstanden in wahrscheinlich noch kleineren Blasen.[27] Der Prozess zum Vertrag von Lissabon von 2003 bis 2009 ist wohl öffentlicher, umstrittener, also politischer als der Prozess zur amerikanischen und zur bundesdeutschen Verfassung: ein öffentlichkeitswirksam inszenierter Konvent, ein erstes dramatisches Scheitern in dem französischen und dem niederländischen Referendum und sodann erneut zwei irische Referenden, eine Reihe mitgliedstaatlicher Ratifikationen, die eine verfassungsändernde Mehrheit verlangen, spektakuläre Gerichtsprozesse.[28]
Hartmut Kaelbles wegweisende Studie zur europäischen Gesellschaft der EWG von 1987 ist eine Fremdbeschreibung. Kaelble identifiziert zwar eine europäische Gesellschaft, kann aber kaum selbstreflexive Prozesse feststellen.[29] Seit 1987 sind die nationalen Gesellschaften aber, so Kaelble im Jahr 2020, in vielen Krisen weiter 21»substantiell« zusammengewachsen.[30] Mir erscheint es naheliegend, die Gesellschaft, die der Vertragsgesetzgeber 2007 in Art. 2 EUV postuliert, als eine Selbstbeschreibung zu deuten (§9.2).
Dass es im europäischen Recht transformativ zugeht, ist heute ein Gemeinplatz.[31] Der Begriff Strukturwandel vertieft diesen Erkenntnisstand. Strukturwandel ist ein theoretischer Begriff mit praktischen Absichten. Was das für mein Forschungsinteresse bedeutet, sei an Leibholz’, Habermas’ und Friedmanns wegweisenden Studien zum Strukturwandel ausgeführt.
Der Staatsrechtslehrer Gerhard Leibholz, 1938 vor dem Nationalsozialismus nach England geflohen, hält 1952 vor der Juristischen Studiengesellschaft in Karlsruhe den Vortrag Der Strukturwandel der modernen Demokratie. Obwohl er 1933 Faschismus und Demokratie versöhnen wollte,[32] ist er Teil der Erstbesetzung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts. Dort wird er sogar auserkoren, die berühmte Denkschrift zu verfassen, mit der das Bundesverfassungsgericht seine machtvolle Rolle im politischen Leben der Bundesrepublik erstreiten sollte.[33] Was Leibholz mit dieser Rolle im Sinn hat, ist Thema seines Karlsruher Vortrags: Die Feststellung eines Strukturwandels ist Rechtfertigung eines gewaltigen Programms richterrechtlicher Demokratiegestaltung. Leibholz bezeugt den möglichen gerichtlichen Beitrag zur Demokratisierung von Gesellschaften.
22Leibholz war über zwei Jahrzehnte mastermind einer Verfassungsinterpretation, welche den politischen Parteien eine herausragende Rolle bei der Demokratisierung der jungen Bundesrepublik zuwies. Er dreht das, was in der Weimarer Republik als Kritik des Parteienstaats artikuliert worden war, ingeniös um. Auf dieser Grundlage propagiert er eine Verfassungsinterpretation, welche Westdeutschland fast zu einem Parteienstaat macht. Allerdings verpflichtet er dabei die Parteien auf demokratische Grundsätze.[34] Die Idee dieser Rechtsprechung legitimierte Leibholz mit einer breiten, historisch und begriffsgeschichtlich angelegten Analyse, die eben einen Strukturwandel belegen soll. Die parteienstaatliche Massendemokratie, welche das Grundgesetz anerkennt, ist »in ihrer grundsätzlichen Struktur […] völlig verschieden« von der liberal-repräsentativen Demokratie, welche viele Verfassungen bis zum Zweiten Weltkrieg vorsahen.[35] Diese Veränderung sei von solchem »Gewicht«, dass sie eben als »Wandel« daherkomme.[36] Leibholz bewertet diesen Strukturwandel positiv, als Weg zu einer demokratischen Gesellschaft.
Mit seiner Feststellung eines Strukturwandels eröffnet Leibholz der Verfassungsinterpretation ein freies Feld, entlastet vom Erbe der parteienkritischen Dogmatik des Kaiserreichs und der Weimarer Republik. Er schafft »begriffliche Zombies« aus der Welt. Mit geschichtsphilosophischer Gravitas postuliert Leibholz das Nachzeichnen und Weiterdenken solchen Strukturwandels als rechtswissenschaftliche Aufgabe.[37]
Dass seit Leibholz weiterer Strukturwandel stattgefunden hat, ist offensichtlich. Die deutsche Gesellschaft wird in eine europäische Gesellschaft eingebettet, für die sich die demokratische Frage anders stellt: Sie kennt keine europäische Mehrheitspartei, welche die europäische öffentliche Meinung repräsentiert und eine europäische Regierung trägt, und auch keine Volksparteien, welche die politischen Auffassungen einiger weniger gesellschaftlicher Milieus prägen und deren Interessen formieren. Mit den hundertneunzig 23Parteien, die 2020 im Europäischen Parlament vertreten sind,[38] kommt Leibholz’ Demokratieverständnis nicht zurecht.[39] Sein Modell war immer arg eng[40] und ist heute veraltet. Eine demokratische Gesellschaft ist heute als ein weit komplexeres System der Vermittlung zu denken, wofür der Vertragsgesetzgeber die Maßstäbe des Art. 2 EUV vorgibt (§§42-44).
Ein Aspekt kann bereits ausgewiesen werden: Kompromisshaftigkeit. Kompromisshaftigkeit diente bereits dazu, das Potpourri der Maßstäbe des Art. 2 EUV zu erklären. Mit einem Parlament aus hundertneunzig Parteien zeigt sich, dass Kompromisshaftigkeit tief in der Struktur der europäischen Gesellschaft angelegt ist. Die europäische Demokratie geht einen anderen Weg als die englische oder US-amerikanische, in der zwei Parteien die Geschicke der Nation bestimmen. Bei allem Kummer über die eigene Demokratie werden nur wenige Unionsbürgerinnen und Unionsbürger der Auffassung sein, dass man sich an der dortigen Demokratie ein Beispiel nehmen sollte.
Der demokratische Gedanke bildet auch den Angelpunkt von Jürgen Habermas’ Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit, die zehn Jahre nach Leibholz’ Vortrag erschien. Die mit juristischer Rückversicherung entstandene Arbeit überwindet die Engführung auf staatliche Organe und Parteien. Sie entfaltet den Begriff einer politisch aktiven Öffentlichkeit, der, nicht zuletzt dank Habermas, wegweisend in den Diskussionen zur europäischen Demokratie werden sollte.[41] Demokratische Verhältnisse, wie sie Art. 9 bis 12 EUV einfordern, verlangen daher nicht nur Wahlen und Mehrheitsherrschaft, sondern viele Vermittlungen im Lichte der republikanischen Maßstäbe des Art. 2 EUV.
Anders als der spätere Habermas rekonstruiert der frühe den Strukturwandel der Öffentlichkeit über weite Strecken als eine 24Verfallsgeschichte, da anonyme Massenmedien die demokratische Öffentlichkeit zu verschütten drohen. Er verharrt allerdings nicht im negativen Gestus, sondern verfolgt vielmehr das Ziel, »unsere eigene Gesellschaft von einer ihrer zentralen Kategorien her systematisch in den Griff zu bekommen«.[42] Das öffentliche Recht, so zeigt seine spätere Schrift Faktizität und Geltung, zählt zu diesen Kategorien. Und in der Tat wird Habermas fast ein halbes Jahrhundert später stimmgewaltig der europäischen Gesellschaft Ideen unterbreiten, wie sie ihre demokratische Natur stärken kann.[43]
Habermas argumentiert 1962, wie Leibholz 1952, noch ganz im Gehäuse des hegelschen Staats. Dieses Gehäuse einer demokratischen Gesellschaft ist ihnen so selbstverständlich, dass sie transnationale Strukturen kaum thematisieren. Diese Thematisierung und eine wegweisende Erfassung verdanken wir Wolfgang Friedmanns The Changing Structure of International Law. Der vor den Nationalsozialisten geflohene Berliner Arbeitsrichter ist einer der Begründer der progressiven Manhattan School des Völkerrechts.[44]
Friedmanns Buch rekonstruiert eine strukturelle Ausdifferenzierung des Völkerrechts. Es diagnostiziert zunächst das Fortdauern des traditionellen Völkerrechts, das als Recht des diplomatischen Verkehrs vor allem dem Friedenserhalt zwischen militärisch hochgerüsteten Mächten dient. Er nennt es das Völkerrecht der Koexistenz. Darüber hat sich eine weitere Schicht des Völkerrechts ausgebildet, mit dem Staaten mittels gemeinsamer Institutionen gemeinsame Interessen verfolgen: das Völkerrecht der Kooperation, welches das innerstaatliche Recht in vielen Materien überlagert. Strukturwandel bedeutet nicht zwingend, dass alte Strukturen verschwinden. Sie können durch neue Strukturen ergänzt und überlagert werden.
Und dann sieht Friedmann über das Völkerrecht der Kooperation hinaus eine Avantgarde: das Integrationsrecht der drei Eu25ropäischen Gemeinschaften als Teil des Strukturwandels zu einer europäischen Konföderation.[45] So zeichnet sich eine in rechtlichen Strukturen verfasste, die Mitgliedstaaten und ihre Bürgerinnen und Bürger umfassende und mit eigenen politischen Institutionen versehene europäische Gesellschaft ab, die sich von der weit schwächer institutionalisierten Weltgesellschaft deutlich abhebt.
Wissenschaftliche Forschung soll ihre Positionalität reflektieren. Dieses Buch wird Friedmanns Intuition in der Tradition entfalten, die Georg Wilhelm Friedrich Hegel mit seinen Grundlinien der Philosophie des Rechts vor zweihundert Jahren begründet hat. Meine begriffsstrategische Positionierung bedeutet nicht, dass ich den Strukturwandel des europäischen öffentlichen Rechts als Anwendungsfall dieser Theorie des Vormärz präsentiere. Aber so fern diese Zeit ist, so gewiss bietet die hegelianische Theorietradition viele Anknüpfungspunkte zum besseren Verständnis unserer Gesellschaft.[46] Zudem erleichtert die hegelianische Positionierung meine systematische Profilierung in den einschlägigen rechtswissenschaftlichen Theoriedebatten.
Hegel nimmt teil an einem transformatorischen Projekt: den preußischen Reformen nach den napoleonischen Kriegen, von denen man sich Freiheit, Fortschritt, eine Überwindung der autoritären Tradition erhofft. Hegel bringt diese Reformen auf den Begriff. Ebenso will dieses Buch ein transformatorisches Projekt besser verstehen. Hegel schreibt unter einer anspruchsvollen, intersubjektiv konzipierten Idee der Freiheit;[47] dahinter wollen wir nicht zurück. 26Verfassung und Gesetzgebung dienen bei ihm der Vermittlung; hierin liegt ein Schlüssel zum Verständnis der Brüsseler Kompromissmaschine und der demokratischen Natur des europäischen Rechts. Seine Theorie ist begrifflich geleitet, ebenso dieses Buch. Wie Hegel geht es nicht abstrakt deduzierend, sondern historisch und institutionalistisch vor.[48] Hegel nennt ein solches Vorgehen »rekonstruieren«;[49] die Methode der rationalen Rekonstruktion von rechtlichen Institutionen wird auch hier verfolgt.[50]
Es ist eine Grundeinsicht Hegels, dass das Verständnis sozialer Phänomene eine Rekonstruktion ihrer Entwicklung verlangt, heute spricht man oft – mit dem historischen Institutionalismus – von Pfadabhängigkeit. Aber es geht nicht um Entwicklung allgemein, sondern genauer um Wandel. Wandel ist eine Perspektive, die evolutiv ansetzt, aber nach Diskontinuitäten, Sattelzeiten und Transformationen sucht. Unter Strukturwandel versteht man grundlegende Veränderungen, wie die Bücher von Leibholz, Habermas und Friedmann zeigen.
Wer von Strukturwandel spricht, muss sich für die Frage nach treibenden Kräften wappnen. Hegel verweist auf den Gang Gottes, das mag heute nicht mehr zu überzeugen. Friedmann identifiziert etwa Macht, Werte, Ideologien und Interessen, lässt aber deren Verhältnis offen.[51] Als maßgebliche Kräfte hinter dem Strukturwandel des europäischen Rechts gelten: die Regierungen der Nationalstaaten,[52] die Logik transnationaler Vergesellschaftung,[53] die 27Entwicklungsdynamik des Kapitalismus,[54] die Binnendynamik des rechtlichen Feldes,[55] die diskursive Macht einer guten Idee.[56]
Über das Verhältnis dieser Kräfte vermag ich nichts zu sagen, möchte aber mein Verständnis einer Kraft, nämlich des Rechts, offenlegen. Das Recht ist nicht allein eine abhängige Variable rechtsexterner Kräfte, sondern besitzt eigene Kraft (§68). Entsprechend enthält der Titel dieses Buches Strukturwandel des öffentlichen Rechts sowohl einen Genitivus obiectivus als auch einen Genitivus subiectivus.[57] Der Strukturwandel des öffentlichen Rechts hat zwei Seiten.[58] Der Wandel des öffentlichen Rechts bedeutet zum einen, dass sein Wandel dem komplexen Kraftfeld der europäischen Gesellschaft folgt (Genitivus obiectivus), zum anderen, dass das Recht selbst Wandel im sozioökonomischen Kraftfeld verursachen kann (Genitivus subiectivus), dank seiner transzendierenden Normativität.[59] Das ist eine der Bedeutungen von Hegels berühmten, für manchen berüchtigten Satz, das Wirkliche sei vernünftig.
In vielen Hinsichten ist Hegels Ansatz anschlussfähig, in anderen aber hoffnungslos veraltet. Er präsentiert die Berliner Universitäts- und Verwaltungselite, die das transformatorische Projekt betreibt, als die Avantgarde des Weltgeists. Niemand versteht heute, bei allem Respekt, Berliner, Brüsseler, Budapester, Karlsruher, Luxemburger, Pariser, Straßburger, Warschauer oder sonstige europäische Akteure in diesem Sinne. Für Hegel ist das transformatorische Projekt vernünftig und legitim, weil eben der Gang Gottes in der Welt. Heute kann ein transformatorisches Projekt sich nur aus dem demokratischen Gedanken rechtfertigen. Hegels Modell legislativer Vermittlung legitimiert eine Ständevertretung und ein Klassenwahlrecht; ihm fehlt ein Platz für die politische Gleichheit 28der Bürgerinnen und Bürger.[60] Er behauptet, eine Versöhnung aller Antagonismen zu leisten; dieses Buch setzt auf Kompromisse, die es im Lichte des Art. 2 EUV zu rechtfertigen gelingt. Hegel versteht rechtliche Ordnung als objektiven Geist, in diesem Buch geht es um rechtliche Strukturen.[61]
Der Singular Struktur in Strukturwandel ist kein Synonym für Hegels System. Dieses Buch zielt nicht auf eine allumfassende Rekonstruktion des europäischen öffentlichen Rechts. Die diversen Begriffsgeschichten, die Ausbildung europäischer Prinzipien, die Entwicklung des EuGH und des EGMR mit ihren vielen Rechtsprechungslinien, die Erstarkung und Verbundbildung der Verfassungsgerichte, ein europäisches Verfassungsschutzstrafrecht, die europäische Transformation der nationalen Rechtswissenschaften werden nicht als notwendige Aspekte einer Geschichte oder Vernunft gedeutet. Zugleich aber möchte ich über die 81 Paragraphen dieses Buches einen erkenntnisstiftenden Zusammenhang herstellen, indem ich das Material unter einer Idee arrangiere, eben dem Strukturwandel vom staatszentrierten Recht der europäischen Mächte zur normativen Struktur einer europäischen demokratischen Gesellschaft.
Der Anspruch, mit den Strukturen des Rechts gesellschaftliche Strukturen zu erfassen, ist einer hegelianischen, also institutionalistischen Theorie tief eingeschrieben. Man kann gesellschaftliche Strukturen als feste Muster für fortlaufende Interaktionen verstehen.[62] Da soziale Muster oft eine rechtliche Komponente aufweisen, ist das Recht ein Teil vieler sozialer Strukturen.[63] Art. 2 EUV stellt das europäische Recht in eine ganz enge Beziehung zur europäischen Gesellschaft, insofern sich die europäische Gesellschaft durch ihre rechtlichen Maßstäbe sogar »auszeichnet«.
Hegels Theorie versieht das transformatorische Projekt der preußischen Reformer, als Gang Gottes in der Welt, mit einer mäch29tigen Erzählung und Legitimation. An einer solchen Erzählung und Legitimation fehlt es dem heutigen Strukturwandel. Albrecht Koschorke erarbeitet aus diesem Unterschied eine wegweisende Erkenntnis. Die heutige europäische Gesellschaft braucht weit weniger als Hegels Preußen eine legitimierende Großtheorie, weil, so Koschorkes zentraler Gedanke, ihre strukturelle Interdependenz weit höher und ihr rechtliches Netz weit dichter geknüpft ist.[64] Man mag bedauern, dass das die gesellschaftliche Relevanz von Theoretikern und Theoretikerinnen schmälert. Mir erscheint es aber als ein Gewinn, dass der europäische Strukturwandel nicht mit den enormen Kosten und Hypotheken einer gesellschaftsweiten Verankerung einer legitimationsspendenden Großtheorie belastet werden muss.[65] »Man sollte«, so fasst Koschorke seine hegelianische Rekonstruktion der Union zusammen, »die Vorzüge eines politischen Gebildes nicht gering achten, das, und sei es mehr schlecht als recht, ohne eine starke Selbsterzählung auskommen kann«, »als weltoffenes, abgrenzungsschwaches, unfertiges Zukunftsprojekt«.[66] Die öffentlich-rechtlichen Strukturen dieses Gebildes sind der Gegenstand dieses Buches.
Viele werden diese Stoßrichtung als einen Holzweg betrachten, weil er zu einem europäischen öffentlichen Recht ohne europäische Staatlichkeit (§12) und einer europäischen Demokratie ohne ein europäisches Wir (§33, §42) führt. Solche Skepsis ist bei Hegel angelegt, lautet doch eine zentrale Aussage seiner Rechtsphilosophie, dass eine funktionierende Gesellschaft Staatlichkeit voraussetzt.[67] Damit begründet er die wichtigste deutsche Tradition staatszentrierten Denkens. Ich verstehe Carl Schmitt als ihren anregendsten und einflussreichsten Exponenten,[68] weshalb dieses Buch mit ihm wie mit keinem anderen Autor streitet. Die Auseinandersetzung 30mit Schmitt und juristischem Denken auf seinen Spuren erlaubt die weitere systematische Profilierung meines Ansatzes in den gegenwärtigen rechtswissenschaftlichen Theoriedebatten.
Schmitt hat mit seinem Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum 1950 das bekannteste Buch zum europäischen öffentlichen Recht publiziert. Das allein rechtfertigt aber noch keine zentrale Rolle. Man mag auch zweifeln, ob man den rechtlichen Strukturwandel zu einer europäischen demokratischen Gesellschaft im Gespräch mit einem so kompromittierten Autor entfalten sollte; man erinnere Schmitts Verbindung zum etatistischen Autoritarismus im Allgemeinen und zum Nationalsozialismus im Besonderen.[69] Aber die Ablehnung der Positionen eines Autors sollte einer Auseinandersetzung mit ihm nicht im Wege stehen.[70]
Schmitt hat enorm einflussreiche rechtswissenschaftliche Begriffe gestiftet, die ungemein produktive Blickachsen legen. Sie vermitteln rechtswissenschaftliche Erkenntnis auch denen, die seine Prämissen, sein Vorgehen, seine Ergebnisse, sein Ethos ablehnen, aber doch, wie er, in einer hegelianischen Tradition denken.[71] Schmitt artikuliert wirkmächtig wie wenig andere im 20.Jahrhundert die Zentralität des Nationalstaats.[72] Für Schmitt und schmittianisches Denken ist die Vergesellschaftung des Staates (§2) ein Irrweg.[73] Die Versprechungen der Europäischen Union können nach Schmitt nicht wahr sein. Philip Manow beruft sich auf ihn, wenn er behauptet, »Wer Europa sagt, will betrügen« (§1).
Ich interessiere mich für Schmitt nur nachgeordnet als Referenz31autor der europäischen Rechten,[74] welche den politischen Kompromiss als demokratisch defizitär begreifen, auf ethnische Identitäten setzen und internationalen Institutionen prinzipiell misstrauen. Er dient mir vor allem für die Auseinandersetzung mit Positionen des demokratischen und freiheitlichen, aber eben nationalstaatszentrierten Verfassungsdenkens. Schmitts Potential in dieser Hinsicht nutzen viele, paradigmatisch ist Ernst-Wolfgang Böckenförde. Dieser steht in Hegels Tradition[75] und eröffnet mit Schmitts Denken dem freiheitlichen Verfassungsdiskurs ein neues Reflexionsniveau. Er urbanisiert es für die demokratische Bundesrepublik ähnlich wie Hans-Georg Gadamer das Denken Martin Heideggers.[76]
Auf Hegels und Schmitts Spur formuliert Böckenförde das Theorem der notwendigen Homogenität, das zu dem wohl berühmtesten Satz der bundesrepublikanischen Staatstheorie führt: »Der freiheitliche, säkularisierte Staat lebt von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren kann.«[77] Damit artikuliert er einen Mittelpunkt öffentlich-rechtlichen Denkens, den ganz unterschiedliche Autoren dann mit ganz unterschiedlichen Begriffen besetzen: Nation, Volk, christlicher Staatsbürger, sozialstaatliche Umverteilung oder deliberierende Öffentlichkeit.
Man kann diese Nationalstaatszentrierung auch mit anderen Theorien unterlegen. Eine dichte Theorieproduktion gibt es vor allem in Nordamerika, etwa mit dem Kommunitarismus.[78] Ich habe jedoch im Kommunitarismus keinen wirklichen Mehrwert gegenüber der Hegeltradition gefunden und sehe mich durch das 32Verblassen des Ansatzes bestätigt.[79] Ähnliches gilt für den auf ihn folgenden Neo-Republikanismus.[80]
Ohne Hegel, Schmitt und Böckenförde würde es dieses Buch nicht geben. Viele ihrer Einsichten überzeugen mich. Und doch verfechte ich über die nächsten 77 Paragraphen, dass der Strukturwandel des europäischen öffentlichen Rechts Nationalstaatlichkeit im Sinne einer hegelianischen Aufhebung erfolgreich transformiert hat.[81] Die Nationalstaaten bestehen als evolutionäre Errungenschaften fort, aber eingebettet und aufgehoben in der demokratischen europäischen Gesellschaft, von der Art. 2 EUV spricht.
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Ein Witz möge meinen Ansatz erläutern. Eine Akademie lobt einen Preis aus für die beste Erörterung zum Thema Kamel. Der französische Wissenschaftler geht in den Jardin des Plantes, setzt sich auf eine Bank am Kamelgehege, beobachtet einen Nachmittag die Tiere und schreibt in der folgenden Nacht den geistreichen Essay Le chameau et moi.[1] Die englische Wissenschaftlerin reist sechs Monate durch Arabien, erhebt Daten über Daten und publiziert dann die Studie The camel in numbers. Der deutsche Wissenschaftler schließlich präsentiert, nach zwei entsagungsvollen Jahren in der Bibliothek, den 400-seitigen Wälzer Der Begriff des Kamels.
Konkrete Erkenntnis erfordert, so ein Leitgedanke Hegels, die Mühen der Abstraktion. Dieser Wissenschaftstradition verbunden, spüre ich dem Strukturwandel des europäischen öffentlichen Rechts zunächst im Wandel seiner Grundbegriffe nach. Das ist kein Glasperlenspiel. Wie Reinhart Koselleck auf Hegels und Schmitts Spuren zeigt, sind Grundbegriffe solche, die den Forschungsgegenstand konstituieren. Recht ist ein soziales Konstrukt, so dass der begrifflichen Fassung des öffentlichen Rechts eine geradezu ontologische Funktion zukommt. Begriffe sind Wörter, die nicht nur etwas bezeichnen, sondern einen Bedeutungszusammenhang herstellen und Erkenntnis stiften.[2] Die soziale Relevanz von Begriffen wie öffentliches Recht, Gesellschaft oder Demokratie wird sozialwissenschaftlich als frame theoretisiert: dauerhafte Muster von Wahrnehmung und Interpretation, mit dem Gruppen Diskurse führen und Ereignissen Bedeutungen zusprechen.[3] Strukturwandel der Grundbegrifflichkeit ist eben sowohl als Genitivus obiectivus wie als Genitivus subiectivus zu verstehen (§4, §75): Der Wandel der Be36grifflichkeit folgt dem gesellschaftlichen Wandel, ist aber zugleich selbst eine relevante Kraft.
Ich erschließe den Strukturwandel des europäischen öffentlichen Rechts ausgehend vom staatszentrierten Recht des Konzerts der europäischen Mächte (§§5-7). Vor dessen Hintergrund zeige ich die Herausbildung eines neuen europäischen öffentlichen Rechts, das auf Entscheidungen in Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg aufbaut (§§8-11). Ich verteidige dieses öffentliche Recht ohne Staatsrecht gegen die etatistische Vermutung der Substanzlosigkeit und gründe es in einer fundamentalen Ausdifferenzierung der Moderne, in dem Dualismus öffentlich – privat (§§12-15).
Das öffentliche Recht versteht sich entweder als Verwaltungs- oder als Verfassungsrecht. Der Begriffswandel zu einem europäischen Verwaltungsrecht und einem europäischen Verfassungsrecht gibt daher weiteren Aufschluss über den Strukturwandel der letzten Jahrzehnte. Der Begriff eines europäischen Verwaltungsrechts erscheint heute fast trivial, eröffnet aber einen erkenntnisträchtigen Blick auf Potenziale wie Gefahren des Strukturwandels, auf die vermeintliche Monsterhaftigkeit europäischer Institutionen (§§16-19). Anders als das verwaltungsrechtliche Verständnis ist das verfassungsrechtliche bis heute umstritten. Es gewinnt Substanz erst in der Neuordnung des Kontinents nach dem Fall des Eisernen Vorhangs (§§20-22). Der Begriff des transformativen Konstitutionalismus artikuliert zum Abschluss dieses Teils einen Ansatz, wie das europäische öffentliche Recht mit besonders drängenden Herausforderungen umgehen will (§§23-26).
Laut Hegel ist es der »Westfälische Friede […], der dies Verhältnis der Unabhängigkeit der Teile fixiert hat«.[4] Diese Auffassung gilt bis heute. In der Selbstbeschreibung des Westens bildet der Westfälische Frieden den Scheitelpunkt eines großen Strukturwandels: Er verabschiedet endgültig die Vorstellung einer politischen Einheit des christlichen Abendlandes und beschleunigt die Staatswerdungsprozesse.[5] So entsteht im 17.Jahrhundert das moderne öffentliche Recht. Es versteht sich vor dem Hintergrund der Autonomisierung des Politischen, den entsprechenden Souveränitäts- und Staatsräsonlehren, der Vorstellung des Souveräns als Gesetzgeber, einem zunehmend voluntaristischen Rechtsbegriff, der Überführung des lehnsrechtlichen Personalverbandes in einen transpersonalen, raumbezogenen, anstaltlichen Herrschaftsverband.[6] Hegels Rechtsphilosophie wird diese Entwicklungen in einem System zusammenführen.[7]
Im Kielwasser dieses Strukturwandels gewinnt der Begriff des europäischen öffentlichen Rechts ganz unterschiedliche Bedeutungen, je nach den großen Fragen der Zeit. Die folgenden Seiten bringen nicht sämtliche Vorstellungen europäischer Ordnungsstrukturen zur Sprache,[8] sondern beschränken sich auf Joachim Hagemeiers Jus Publicum Europaeum und das droit public de l’Europe Mablys und Talleyrands, welche Carl Schmitt in seinem höchst 38einflussreichen Jus Publicum Europaeum zuspitzend fusioniert. Der folgende Abschnitt beschreibt somit die Konstellation, welche der Strukturwandel nach 1945 transformiert.
Der Zerfall der politischen Einheit, den der Westfälische Frieden von 1648 zum Ausdruck bringt, hat gravierende Folgen für die europäische Rechtseinheit. Im Privatrecht bewahrt die fast europaweite Rezeption des römischen Rechts als Jus Commune eine gewisse Einheit.[9] Dem öffentlichen Recht steht dieser Weg nicht offen. Stattdessen bietet die Rechtsvergleichung einen Modus, mit der verlorenen rechtlichen Einheit umzugehen.
Die wohl erste monographische Verwendung des Jus Publicum Europaeum findet sich in dem Werk Joachim Hagemeiers. Es besteht aus acht Bänden, erschienen zwischen 1677 und 1680. Sie enthalten umfangreiche Berichte über den »Statu« von Dänemark, Norwegen und Schweden, Frankreich, England, Schottland und Irland, Belgien und den Niederlanden, Ungarn und Böhmen sowie Polen, dem Fürstentum Moskau, Italien und nicht zuletzt dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation. Es liefert einen frühen Gesamtblick auf das öffentliche Recht in Europa.[10] Die Vielfalt ist so groß, dass Hagemeier den Gegenstand im Titel seiner Bücher im Plural bezeichnet, Juris Publici Europaei, und den Singular erst im geschützten Inneren des Buches auszusprechen wagt, im »Ad Lectorem«.
39Hagemeier unterbreitet keine dogmatischen Darstellungen, sondern breit angelegte Länderberichte.[11] Er deckt den Zweck seines Jus Publicum Europaeum nicht auf. Seine Person und sein Leben erlauben aber Rückschlüsse. Sicherlich handelt es sich nicht um ein Projekt professoraler Selbstbeschäftigung. Der gebürtige Hamburger fungiert als gräflich-oldenburgischer, später als kaiserlicher Rat und schließlich als Vizekanzler und Syndikus des Collegiums der Grafen in der Wetterau. Er dient als Gesandter am Reichstag in Regensburg, wodurch er mit den deutschen und europäischen politischen Verhältnissen seiner Zeit gut vertraut ist.[12] Seine Bücher verfechten keine europäische Einheit. Sie fördern aber das gegenseitige Verständnis und erleichtern zwischenstaatliche Verhandlungen, die ein neues Ordnungsgefüge schaffen sollen. Das neue Gefüge bildet bei ihm aber noch keine eigene rechtliche Größe: Das, was wir heute als Völkerrecht bezeichnen, hat bei ihm eine nachgeordnete Rolle.
Mitzunehmen ist, dass die Wissenschaft vom europäischen öffentlichen Recht induktiv beginnt, mit Länderberichten, mit einer Darstellung seiner Vielfalt in unterschiedlichen Rechtsordnungen. Zu diesem Ansatz gibt es durchaus eine Alternative: Zeitgleich mit Hagemeiers Jus Publicum Europaeum blüht das viel einflussreichere Jus Publicum Universale auf.[13] Letzteres wird in der Tradition des aristotelischen Naturrechts aus abstrakten Prinzipien deduziert. Hagemeier gibt der Verlockung eines solchen schnellen Weges nicht nach, er geht praxisnah und institutionalistisch vor.
Hagemeiers Jus Publicum Europaeum ist weit vom Jus Commune entfernt. Das privatrechtlich ausgerichtete Jus Commune der frühen Moderne wurde als europaweit einheitlich gedacht und stellte so geradezu das Gegenteil des vielfältigen Jus Publicum Europaeum dar. Man kann Hagemeiers Beitrag als Teil der Entwicklung ver40stehen, die das öffentliche Recht gegenüber dem Jus Commune emanzipiert (§15).
Hagemeiers rechtsvergleichendem Ansatz ist keine große Wirkung beschieden. Das bestätigt die Intuition, dass die Rechtsvergleichung nur als Teil einer übergreifenden Ordnung praktisches Gewicht erlangen kann. Eine solche Ordnung ist das droit public de l’Europe des 18.Jahrhunderts.
Die europäische Ordnung juridifiziert sich in einer Rechtsschicht, die heute Völkerrecht heißt.[14] Für unser Interesse am europäischen öffentlichen Recht des 21.Jahrhunderts relevant ist vor allem der Vergleich mit dem historischen droit public de l’Europe oder dem droit public européen. Es gibt zwei Lesarten seiner Relevanz: Laut Christoph Schönberger spiegelt das heutige europäische öffentliche Recht die Grundlogik des historischen Jus Publicum,[15] nach meinem Verständnis hingegen bringt es dessen Überwindung.
Die Bezeichnung droit public de l’Europe steht für das Völkerrecht des »französischen« Zeitalters.[16] Es umfasst aber keineswegs nur zwischenstaatliches Recht (international law), sondern auch innerstaatliches Recht, insbesondere Grundprinzipien öffentlicher Gewalt, sowie dynastische Erbfolgeordnungen, Heiratsverträge, höfische Konventionen und politische Maximen.[17] Die europäische Ordnung des 17. und 18.Jahrhunderts verknüpft ein »dynastisches Zwischen-Familien-Recht« mit einem »Zwischen-Staaten-Recht«.[18] Nach der Französischen Revolution verlieren die dynastischen Elemente an Bedeutung, so dass der Ausdruck droit public de l’Europe sich zunehmend auf Elemente konzentriert, die heute als Völkerrecht oder aber Staatsrecht gelten.
41Die einflussreichste Prägung des Begriffs erfolgt im Jahr 1748 durch den Abbé Gabriel Bonnot de Mably in dessen Werk Le droit public de l’Europe fondé sur les traités.[19] Mably gilt während seiner Schaffensperiode als einer der bedeutendsten politischen Schriftsteller Frankreichs. Als Sekretär des Kardinals de Tencin gewinnt er diplomatische Erfahrungen und legt eine Sammlung aller europäischen Verträge seit 1648 an, das Fundament für sein Werk über das droit public de l’Europe.[20] Dieses darf zwar in Frankreich zunächst nicht verlegt werden, entwickelt sich aber gleichwohl zu einem Standardwerk.[21]
Mably stellt die zwischenstaatlichen Verträge ins Zentrum seines droit public und beginnt mit den Verträgen von Münster und Osnabrück. Diese Verträge sind »Gesetze für Europa«[22] und stellen so eine Form europäischer Einheit dar. Mably unterbreitet eine ausführliche Beschreibung der wichtigsten Verträge, die er historisch einbettet und politisch bewertet, zumeist aus französischer Perspektive.
Mably löst das Völkerrecht aus dem christlichen Naturrecht. Die Bezeichnung droit public befördert ein Verständnis, dass es sich um eine Rechtsordnung handelt, welche die europäischen Mächte, und damit das mächtige Frankreich, gestalten konnten. Transnationale Institutionen sind in ihm nicht vorgesehen.
Eine stärker staatsrechtlich und zugleich prononciert restaurative Note bekommt der Begriff des droit public européen nach der Französischen Revolution durch Charles Maurice de Talleyrand-Périgord, einem der wendigsten Staatsmänner seiner Zeit. Nach dem Scheitern der revolutionären Neuordnung Europas und dem Sieg der Heiligen Allianz verficht er unter droit public européen die monarchische Legitimität als Leitprinzip. Er propagiert es als die Alternative zu einem Recht des Stärkeren, das in allen euro42päischen Hauptstädten gefürchtet war.[23] Seine Pointe liegt darin, dass dem Schutz des Privateigentums im staatlichen droit public der Schutz der monarchischen Souveränitätsrechte durch das droit public européen entspreche.
Talleyrands Verwendung des Begriffs ist legitimistisch. Der ehemalige Repräsentant der Revolution und später des bonapartistischen Empire vertritt nunmehr die Interessen der restaurierten französischen Monarchie gegenüber den konservativen Siegermächten. Dafür scheint die traditionalistische Auffassung von monarchischer Legitimität besonders geeignet, die er kurzum zum Grundprinzip des droit public européen und damit der europäischen Ordnung erklärt. Der Kniff des Geostrategen lautet, dass er ein Prinzip propagiert, das für alle Monarchen von großem Interesse in ihrem Kampf mit freiheitlichen und demokratischen Ideen ist.
Daran knüpft der Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber an. Er hat 1926 bei Carl Schmitt promoviert und wird 1933 Mitglied der berüchtigten Kieler Schule. Sein Verfassungsrecht des Großdeutschen Reiches[24] ist ein Standardwerk des nationalsozialistischen Staatsrechts. Im Entnazifizierungsverfahren gleichwohl nur als »Mitläufer« eingestuft, erreicht er seine Reintegration in das akademische Leben der jungen Bundesrepublik durch seine wegweisende Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789. In deren Band I weist er dem Jus Publicum Europaeum im Zusammenhang mit dem europäischen Legitimationsprinzip eine doppelte Funktion für das innere und äußere Recht der europäischen Staaten des Ancien Régime zu. Nach Huber besteht das Jus Publicum Europaeum jener Zeit nicht nur aus dem Recht der zwischenstaatlichen Beziehungen, sondern auch aus »unverbrüchlichen« Elementen eines gemeineuropäischen Staatsrechtes.[25] Die Verwendung des lateinischen, nicht des üblichen französischen Ausdrucks erklärt sich durch den Einfluss Carl Schmitts.
Auch laut Huber hat das Jus Publicum Europaeum eine legitimistische Stoßrichtung. Er hält dank diesem die Intervention der eu43ropäischen Staaten ins revolutionäre Frankreich für gerechtfertigt, weil der revolutionäre Sturz und die Hinrichtung des Königs das gemeineuropäische Verfassungsprinzip monarchischer Legitimität verletzten. Die Souveränität der Staaten der »abendländischen« Staatengemeinschaft finde ihre Grenze in der gemeinsamen Grundlage der europäischen Staatenverfassung.[26]
Der Ausdruck droit public européen findet aber auch progressive Verwendungen. So erscheint im Jahre 1856 das Werk Introduction à l’établissement d’un droit public européen des politisch engagierten Journalisten Francisque Bouvet, das eine europäische Friedensvision zum Ausdruck bringt. Bouvet ist »une sorte d’abbé de Saint-Pierre républicain«.[27] Er hat sich bereits unter der Regentschaft des letzten französischen Königs Louis-Philippe für demokratische Ideale eingesetzt, sein Werk République et Monarchie[28] bringt ihn im Jahr 1832 sogar ins Gefängnis. In den Revolutionsjahren 1848 und 1849 wird er Abgeordneter in der Assemblée nationale constituante und der Assemblée nationale législative.[29] In diesen Jahren nimmt er an den Kongressen der Freunde des ewigen Friedens in Brüssel und Paris teil.[30] Bereits 1849 ist er als Vertreter eines ewigen Friedens bekannt, welcher die Lösung von Konflikten zwischen den Nationen durch einen permanenten Kongress aller Völker anstrebt. Nach dem bonapartistischen Staatsstreich im Dezember 1851 zieht er sich zunächst ins Privatleben zurück, dient dem Empire jedoch später als Konsul in Mossul.
Die Schrift des Jahres 1856 ist ein Ausdruck seines Bemühens um eine neue Friedensordnung. Sie ist in zwei Teile gegliedert. Der erste Teil erörtert die historischen Funktionen des Krieges. Im zweiten Teil argumentiert Bouvet für seine Idee eines droit public européen. Konkret fordert er vor dem Hintergrund des Krimkrieges ein kon44föderatives europäisches System, gestaltet nach den Grundprinzipien des Deutschen Bundes.[31] Kernstück ist eine parlamentarische Versammlung (diète ou congrès). Sie soll alle Angelegenheiten klären, welche zu Konflikten führen können. Napoleon I. avanciert zum Vorboten dieser Ordnung, und Bouvet setzt auf Napoleon III. zur Umsetzung seiner Ideen.[32] Es gibt bei Bouvet keinen Widerspruch zwischen der europäischen und der kosmopolitischen Dimension. Ähnlich wie hundert Jahre später bei Wolfgang Friedmann soll ein freiheitlich organisiertes Europa auf die ganze Welt ausstrahlen, welche durch den technischen Fortschritt immer enger zusammenwächst.[33] Sein progressives europäisches öffentliches Recht steht so in stärkstem Kontrast mit Carl Schmitts Jus Publicum Europaeum.
Schmitts Jus Publicum Europaeum ist ein begrifflicher Volltreffer. Seinen Schriften, insbesondere seinem Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, ist die heutige Prominenz des Ausdrucks Jus Publicum Europaeum zu verdanken.[34] Schmitt bezeichnet damit, auf den Spuren des droit public de l’Europe, das 45europäisch zentrierte Völkerrecht und die ihm kongenialen verfassungsrechtlichen Ordnungen der es tragenden europäischen Staaten.[35] Er präsentiert es als eine gewaltige Zivilisationsleistung, zu verdanken der Klugheit europäischer Staatsmänner, Diplomaten, Philosophen und Juristen.
Schmitt präsentiert das Ende dieser Ordnung, insbesondere aufgrund der amerikanischen Vormachtstellung. Das Völkerrecht ist 1950 eben nicht mehr europäisch zentriert (§8). Das macht den Weg frei, dem Begriff des europäischen öffentlichen Rechts eine ganz neue Ausrichtung zu geben. Schmitts Analyse des Endes ist daher der vielleicht beste Ausgangspunkt für den begrifflichen Neuanfang. Diese Leistung sollte man anerkennen, auch wenn man die Intentionen und Wertungen seines Buches nicht teilt.
Schmitts Jus Publicum Europaeum ist eine Apologie.[36] Schmitt, der als einziger maßgeblicher deutscher Staatsrechtler sich dem Verfahren zur »Entnazifizierung« verweigert, notiert am 5. September 1948: »Ich werde den ›Nomos der Erde‹ als einen Blütenzweig meiner Diskriminierung am Grabe des europäischen Völkerrechts niederlegen.«[37] Klarer wird er in seinen kriegsrechtlichen Ausführungen. Auch wenn die Zulässigkeit des Krieges Schmitt schon länger beschäftigt hat, gewinnt dieses Thema in den frühen Nachkriegsjahren für ihn massiv an Bedeutung. Er bezeichnet die von ihm behauptete Ex-post-Kriminalisierung des Angriffskrieges neben der Atombombe als größtes Verbrechen, schlimmer noch als jene Hitlers.[38]
Vor diesem Hintergrund versteht sich Schmitts Zuspitzung des droit public européen. Das Innovative seiner Rekonstruktion liegt darin, dass er es in einer spezifischen Raumordnung und der prinzipiellen Zulässigkeit des Staatenkriegs zentriert. Eine Ächtung des Krieges behebe nicht die konstitutive Unterscheidung zwischen Freund und Feind, sondern verleihe ihr vielmehr durch die Möglichkeit internationaler hostis-Erklärungen zusätzliche Virulenz.[39] Vor 46dem Hintergrund der stets latenten Gewalt in den internationalen Beziehungen verhindere das klassische Völkerrecht die »hors-la-loi«-Erklärung des Feindes und damit jene äußerste Unmenschlichkeit, welche ein »gerechter« Krieg im Namen der Menschheit nach sich ziehen kann.[40] Diese Zielrichtung erklärt Schmitts Wandel vom Befürworter einer deutschen Großraumordnung zum vehementen Verteidiger eines untergegangenen Jus Publicum Europaeum.
Eine schiere Apologie kann aber kaum eine solche gewaltige Wirkung haben, wie sie Schmitts Nomos beschieden war.[41] Das Buch eröffnet einen ebenso kritischen wie erkenntnisstiftenden Blick auf den Strukturwandel des Völkerrechts und des europäischen öffentlichen Rechts nach dem Zweiten Weltkrieg. Schmitts Jus Publicum Europaeum darf ja nicht so verstanden werden, dass er sich für internationale oder supranationale Institutionen stark macht. Solche Institutionen kann es nach dem Schmittianischen Weltbild nicht geben oder sie bleiben bloße Fassade (§14). Das Jus Publicum Europaeum steht für ein staatszentriertes Ordnungssystem. Es geht um die Hegung des Krieges, nicht um seine Überwindung. Und selbst diese Hegung kann nur gelingen dank der bindenden Kraft einer spezifischen Raumordnung, die das internationale Äquivalent der Entscheidungen eines pouvoir constituant ist.[42] Schmitts Konzeption kennt kein auf der Idee der Supranationalität basierendes jus publicum.[43]
Deshalb ist die Ausrichtung der Ordnung, die Schmitt als Jus Publicum Europaeum präsentiert, der diametrale Gegensatz zu der Ordnungsidee, die der Vertrag über die Europäische Union normiert. Das heutige europäische öffentliche Recht verspricht mit Art. 2 EUV eine europäische demokratische Gesellschaft mit eigenen Institutionen. Pluralismus, Menschenrechte und Toleranz sind Eckpunkte.
47Schmitts Schrift eröffnet gleichwohl fruchtbare Blickachsen auf das heutige europäische öffentliche Recht. Das sich damals am Horizont abzeichnende und heute verwirklichte neue europäische öffentliche Recht reproduziert einiges, was Schmitt bei dem alten Jus Publicum Europaeum schätzt und prägnant fasst: eine geographische Idee, eine partikulare Gemeinschaft von Staaten, Aufnahmekriterien nach Maßgabe des dominanten Verständnisses europäischer Staatlichkeit und nicht zuletzt vergleichbare verfassungsrechtliche Strukturen.[44]
Schmitts Jus Publicum Europaeum stellt dem heutigen europäischen Recht zudem die schwierige Frage nach seiner Rolle in den europäischen Beziehungen zum Rest der Welt. Nach Schmitt hegt es den innereuropäischen Konflikt, nicht aber die Aneignung und Ausbeutung anderer Weltregionen: Es geht um die »Überwindung des Bürgerkrieges und die Ausgrenzung des Kolonialkrieges«.[45]
Diese Dimension des europäischen Völkerrechts ist in letzter Zeit zu einem bedeutenden Forschungsgegenstand geworden.[46] Das neue europäische öffentliche Recht ist in dieser Hinsicht ambivalent. Einerseits stellt es sich hinter das universelle Völkerrecht und die Ideen globaler Solidarität und gegenseitiger Achtung (Art. 3 Abs. 5 EUV). Andererseits sollte man das ursprüngliche Motiv, mit Hilfe der Europäischen Gemeinschaft koloniale Herrschaft aufrechtzuerhalten, nicht übersehen und nach seinem Fortwirken suchen.[47] Eine nähere Analyse des europäischen Außenwirtschaftsrechts und Entwicklungshilferechts zeigt, dass in ihnen alte Strukturen fortleben.[48] Konzeptuell stellt sich die schwierige Frage, was die Idee einer demokratischen Gesellschaft für ihre Außenbeziehungen fordert, wie die Maßstäbe des Art. 2 EUV in dieser Hinsicht interpretiert werden sollten. Dieses Buch wird sich ihr nicht stellen.
48So wohnt dem Begriff Ius Publicum Europaeum erhebliche Aktualität inne, in kritischer wie in konstruktiver Hinsicht. Er gewinnt an Zugkraft, als nach dem Mauerfall das Ordnungsmodell des Westens nach Osten avanciert. Ein frühes Beispiel für die neue Verwendung des Ausdrucks findet sich 1991 in einem Aufsatz, in dem Peter Häberle ein gemeineuropäisches Verfassungsrecht im Sinne gemeinsamer Verfassungsprinzipien und Staatszwecke postuliert.[49] Nicht zufällig tragen diverse wissenschaftliche Projekte, die solchen gemeinsamen europäischen Verfassungsstrukturen nachforschen, diese Bezeichnung, etwa die Societas Iuris Publici Europaei (SIPE) und das Ius Publicum Europaeum (IPE)-Projekt.[50]
Die Probleme Schmitts und zugleich das Potenzial eines neuen europäischen öffentlichen Rechts hat der Schweizer Völkerrechtler Paul Guggenheim 1954 artikuliert.[51] Er brandmarkt das Jus Publicum Europaeum, »was seinen materiellen Inhalt betrifft«, als »eine ideologische Motivierung für zahlreiche Rechtssätze des allgemeinen Völkerrechts«. Zwar bleibt Carl Schmitt unerwähnt, aber ein Antwortcharakter auf seinen Nomos liegt auf der Hand. An diese Ablehnung knüpft Guggenheim die Prognose, dass die gerade geborene Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl zu einem echten Jus Publicum Europaeum führen könnte, das zwischen dem universellen Völkerrecht und den staatlichen Rechtsordnungen Europas steht. Guggenheims Schlusssatz prophezeit das transformative Potenzial dieses europäischen öffentlichen Rechts: »Es wäre aber keine geringe Ironie im weltgeschichtlichen Geschehen, wenn der souveräne Staat europäischen Ursprungs, dieser selbst heute noch wichtigste Faktor in der politischen Struktur der zeitgenössischen Völkerrechtsgemeinschaft, durch die Entfaltung des Jus publicum Europaeum einem Gestaltungswandel unterworfen würde.«[52] Genau so wird es kommen.
Es erleichtert die Darstellung von Strukturwandel, wenn sie Perioden und Umbrüche oder Übergänge zwischen solchen Perioden identifiziert.[53] Der historische Institutionalismus spricht von critical junctures.[54] Dieses Buch benutzt dafür lose Kosellecks Begriff der Sattelzeit, da er, in hegelianischer Tradition, Ereignisgeschichte und Begriffsgeschichte eng verknüpft.[55]
Dieses Buch identifiziert als die erste Sattelzeit für das neue europäische öffentliche Recht die Jahre nach der Niederlage Deutschlands 1945, die zu den Gründungsverträgen führt, welche die erste Periode des neuen öffentlichen Rechts als eine supranationale Rechtsgemeinschaft entfaltet. Die zweite Sattelzeit beginnt mit dem Zusammenbruch des Sozialismus 1989 und mündet im Maastrichter Unionsvertrag zur Neuordnung Europas. Die darauf aufbauende Periode hebt die Rechtsgemeinschaft in einer politischen Union auf, welche die europäische Gesellschaft mit den Maßstäben des Art. 2 EUVverfasst.
Seit der Finanzkrise 2008 und dem Wahlsieg Viktor Orbáns 2010 könnten wir uns in einer dritten Sattelzeit befinden.[56] Ein transformativer Konstitutionalismus soll dazu beitragen, dass die 20er Jahre des 21.Jahrhunderts nicht in diesem Sinne erinnert werden.
Schmitts Erkenntnis des Niedergangs der europäischen Zentrierung des Völkerrechts hilft den Strukturwandel zu verstehen, der 50