Studierte Mädel - Else Ury - E-Book

Studierte Mädel E-Book

Else Ury

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Beschreibung

Hilde und Daisy sind Freundinnen. Sie schreiben sich beide an der Universität ein, um Medizin zu studieren und um dem traditionell bürgerlichen Familien- und Frauenbild zu entkommen. Während Hilde sich in einen ihrer Professoren verliebt und ihr Studium abbricht, gelingt es Daisy, Ärztin zu werden. Obwohl sie nicht heiratet, genießt sie eine erfüllte und erfolgreiche Karriere. Erfahre mehr darüber, wie das Leben von Hilde und Daisy sich entwickelt. -

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Else Ury

Studierte Mädel

Eine Erzählung für junge Mädchen von

Saga

Studierte Mädel

 

Coverbild/Illustration: Shutterstock

Copyright © 1906, 2021 SAGA Egmont

 

Alle Rechte vorbehalten

 

ISBN: 9788726883763

 

1. E-Book-Ausgabe

Format: EPUB 3.0

 

Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für gewerbliche und öffentliche Zwecke ist nur mit der Zustimmung vom Verlag gestattet.

Dieses Werk ist als historisches Dokument neu veröffentlicht worden. Die Sprache des Werkes entspricht der Zeit seiner Entstehung.

 

www.sagaegmont.com

Saga Egmont - ein Teil von Egmont, www.egmont.com

Hurra — erreicht!

„Hilde, wie kommst du bloss darauf?“ — — — „Na so was, gerade du!“ — — —„Und heut schon wird Sturm gelaufen?“ — — — „Wirklich — ich glaubte, du ulkst den Direks nur an!“ — — — „Verdreht, wozu tust du’s denn überhaupt?“ — — — „Ach, dein Vater gibt’s ja doch nicht zu!“ — „Hast du nicht mächtige Angst?“ — — — so schwirrten die aufgeregten Mädchenstimmen auf dem Schulhof durcheinander.

„Was — Kinder — ’n Bammel soll ich haben? — Keine Spur,“ unterbrach die lebhafte Hilde Dahlen mit blitzenden Augen das auf sie eindringende laute Stimmengewirr der Mitschülerinnen. „Na, so feige bin ich nicht, heute gleich nach Tisch schwinge ich mich zu einem Speech mit Papa auf, er wird zwar erst paff sein — aber — ich werd’ den alten Herrn schon rumkriegen!“ Damit schlang sie den Arm um ihre Busenfreundin Daisy Greeham und schlenderte langsam, mit gesundem Appetit ihr Frühstücksbrot vertilgend, unter dem kahlen, graubraunen Geäft der Schulhofslinden auf und nieder.

Die Erregung der zurückbleibenden Mädchenschar legte sich nicht so schnell. Der Direktor hatte eben in der vorhergehenden Stunde die in kurzem abgehenden Schülerinnen gefragt, wie sich jede ihre Zukunft zu gestalten gedenke — und da war es herausgekommen! Hilde, die lustige Hilde Dahlen, die zu keiner französischen Stunde präpariert hatte, die noch nie eine Rechenaufgabe selbständig gelöst und grundsätzlich Turn- und Handarbeitsstunden schwänzte, die wollte aufs Mädchengymnasium — wollte studieren!

„Das ist doch ganz sicher nur Nachäfferei; weil Daisy studiert, muss Hilde auch aufs Gymnasium,“ meinte die blasse Anna, die im geheimen auf die innige Freundschaft der beiden neidisch war.

„Na, ein halber Student ist sie ja schon ohnedies durch ihre Brüder, viel burschikoser braucht sie nicht mehr zu werden,“ meinte die Erste der Klasse ein wenig zimperlich.

„Wie kann der Mensch nur so vernagelt sein und sich auch nur eine Stunde länger als nötig in dem Schulgefängnis einsperren lassen — Kinder — noch siebenundsiebzig Stunden — dann sind wir frei!“ Die helle Blondine reckte ihre jungen Arme jubelnd in die feuchtwarme Frühlingsluft.

„Na, ich danke für Obst,“ lachte Lilli, ein niedlicher kleiner Backfisch, „Schulmädel bin ich lange genug gewesen, jetzt will ich die Dame spielen,“ und dabei sah die Kleine so drollig und kindlich aus, dass die anderen in ihr fröhliches Lachen einstimmten.

,,Bimbam — bimbam!“ klang es da dröhnend aus dem Schulgebäude — Himmel — Peschke, der Schuldiener, läutete schon wieder — hu, jetzt wurden die englischen Extemporalien zurückgegeben — seufzend trollten sich die Mädchen in die Oberklasse zurück. — — —

„Daisy, nimm mich mit unter deinen Schirm — es giesst mit Mollen,“ sagte Hilde zwei Stunden später, ihren Bücherriemen hin und her schlenkernd, als sie auf die Strasse traten.

Daisy raffte sorgsam den fussfreien Kleiderrock zusammen und spannte dann gemütlich das schwarze Regendach auf.

„Aber beeile dich doch, ich bin ja schon nass wie eine Katze,“ Hilde trippelte ungeduldig von einem Fuss auf den anderen.

„Allright — komm, Kleinchen,“ schützend hielt die schlanke Daisy den Schirm über den grossen Felbelhut der etwas kleineren Freundin, die sich fest in ihren Arm hängte.

„Daisy, hast du das klassische Gesicht von dem Direks gesehen, als ich heute sagte, dass ich aufs Mädchengymnasium möchte?“ kicherte Hilde. „Als ob ich seiltanzen lernen wollte, so sprachlos hat er mich angestarrt.“

„Seiner Ansicht nach würdest du dich dafür vielleicht auch besser eignen als zum Studieren, Hilde.“

„Und du, Daisy — was ist deine Ansicht?“

„Ich bleibe dabei, was ich dir immer gesagt habe, es ist jammerschade, dass du solch arger Faulpelz bist, du hast die glänzendsten Fähigkeiten von der Welt — lernst spielend, was ich mir mühsam durch Fleiss erringen muss. Wenn du Ausdauer genug hast, wirst du sicher dein Ziel erreichen.“ Daisys weiche Stimme verriet, trotzdem sie schon einige Jahre in Deutschland lebte, immer noch die Amerikanerin. Hildes hellbraune, sonst so mutwillige Augen blickten ein wenig zaghaft zu der Freundin auf.

„Und Rechnen, Daisy, meine schwache Seite — im Rechnen bestehe ich die Aufnahmeprüfung nie!“

„Deutsch-Literatur macht es wieder wett, darling,“ tröstete Daisy, „Professor Richter, der Direktor, legt den Hauptwert auf Deutsch — leider!“ sie seufzte drollig.

Sie standen vor dem Hause von Daisys Verwandten, bei denen diese nach dem Tode ihrer Eltern Aufnahme gefunden hatte.

„Du begleitest mich doch noch ein Stückchen,“ bat Hilde, und sie setzten sich wieder in Trab.

„Wenn nur deine Eltern es erlauben,“ meinte Daisy beklommen.

„Ach — Mutters bin ich sicher,“ Hilde zog die Stirn in nachdenkliche Falten. „Muttchen ist eine moderne Frau, die ist mit der Zeit mitgegangen, aber Vater — Vater denkt, die Mädchen sind gleich mit dem Kochlöffel auf die Welt gekommen,“ da brach sich der Übermut schon wieder Bahn.

Im Gespräch vertieft begleitete Hilde bereits zum zweiten Male wieder die Freundin zu ihrer Wohnung zurück.

„Na und deine Brüder?“

„Werden einfach gar nicht gefragt,“ lachte Hilde. „Richard ist bestimmt dagegen, so ’n Referendar denkt wunder, was er ist, der nennt gleich alles emanzipiert und unweiblich, aber Max, der ist ja selbst noch ein junger Fuchs, der findet es sicher kolossal schneidig von mir.“

„Na ich bin gespannt, was Richards Freund Günther Berndt dazu sagen wird,“ meinte Daisy mit möglichst gleichgültiger Stimme, während verräterische Röte ihr langsam in das zarte Gesicht stieg.

„Pah der“ — Hilde war viel zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftigt, um auf Daisy zu achten — „der hetzt Richard sicher nur noch auf, behandelt mich so wie so immer noch wie ein Wickelkind im Steckkissen. Aber er soll nur was sagen — weisst du, was ich ihm dann antworte? ,Herr Doktor‘ werde ich sagen — ich nenne ihn jetzt immer Herr Doktor, trotzdem er’s noch gar nicht ist, weil er noch ganz dreist Hilde zu mir sagt — ,Herr Doktor, das ist ja nur Konkurrenzneid von Ihnen, weil ich auch Medizin studieren will wie Sie‘ — ja, das sage ich ihm!“ Hilde schleuderte zur Bekräftigung ihrer Worte ihr Bücherpaket so nachdrücklich hin und her, dass der Federkasten in weitem Bogen entsprang. Hochauf spritzte die Pfütze zu Füssen eines ihnen entgegenkommenden Herrn, der nahm mit einem erstaunten „Nanu?“ das längliche Etwas empor.

„Hilde — — —“ Daisy kniff die Freundin vor Aufregung in den Arm, da hatte Günther Berndt sie auch schon erkannt.

Er lächelte ein ganz klein wenig und lüftete den Hut.

„Süss“ fand die errötende Daisy heimlich dieses Lächeln, während Hilde es innerlich als unglaublich mokant bezeichnete.

„Wem gehört dieser Ausreisser?“ fragte Günther Berndt, den schmutzigen Federkasten mit spitzen Fingern emporhaltend.

„Mir,“ rief Hilde, ihm den Kasten so energisch aus der Hand reissend, dass ihr weisser Trikothandschuh schwärzliche Spuren aufwies.

„Na, machen Sie nur, dass Sie nach Hause kommen, Hilde, die Suppe steht schon auf dem Tisch, ich komme eben von Richard, sonst gehen Sie heute mittag leer aus,“ rief er lachend.

Hilde warf einen entsetzten Blick auf die Turmuhr drüben.

,,Allmächtige Schokolade — gleich zwei — Daisy, ich komme nachmittag zu dir, um Bericht zu erstatten — adieu, Herr Doktor!“

Trotz ihrer Eile betonte sie die spöttische Anrede noch so auffallend, dass es wieder belustigt um Günthers Lippen zuckte. Trapp — trapp rannte sie durch den strömenden Regen ihrem Hause zu, während Daisy herzklopfend an Günthers Seite in entgegengesetzter Richtung dahinschritt.

„Netter kleiner Backfisch!“ sagte Günther Berndt harmlos zu Daisy, ohne im geringsten zu ahnen, dass er ihre empfindlichste Stelle damit traf.

Daisy richtete sich in ihrer ganzen stattlichen Grösse empor, sie war nicht viel kleiner als der junge Mediziner.

„Backfisch“ — sagte sie kühl und sehr vor oben herab, „meine Freundin wird bald siebzehn und geht in drei Wochen von der Schule ab, bei uns in Amerika heiratet man in diesem Alter.“

„Pardon, gnädiges Fräulein,“ er machte ein ganz zerknirschtes Gesicht, „man vergisst, dass man alt wird; gedenkt denn Ihre Freundin nun auch gleich zu heiraten?“ Da erst merkte sie den Spott in seinen schönen grauen Augen — Hilde hatte recht, er konnte wirklich unausstehlich sein.

„Hilde wird studieren!“ voll Empörung warf sie ihm das grosse Geheimnis an den Kopf.

„Was denn — Küchenchemie?“ neckte er.

Daisys Blauaugen flammten.

„Nein, Medizin — grade wie ich!“ — — — Lachte er nicht schon wieder?

Daisy sah ihn scheu von der Seite an.

„Sie — Miss Daisy — Sie auch?“ Sie wollte den ernsten Ton in seiner Stimme nicht hören — er machte sich ja über sie lustig.

„Jawohl ich — ich — Herr Berndt — denken Sie, ich bin zu dumm dazu? — o, ich werde es Ihnen schon beweisen ...“ die sonst so sanfte Daisy war ganz ausser sich.

Sie standen vor ihrer Haustür.

Er reichte ihr die Hand und sah sie so merkwürdig an.

„Zu schade sind Sie zum Studieren — viel zu schade!“ sagte er langsam, dann grüsste er kurz und ging schnellen Schritts davon.

Daisy aber starrte ihm noch nach, als längst schon der letzte Zipfel seines dunklen wehenden Lodenmantels um die Ecke verschwunden war. — — —

Hilde stieg inzwischen herzklopfend die Treppen zu ihrer Wohnung empor — war nur das schnelle Laufen an dem ungestümen Pochen ihres Herzens schuld oder — hatte sie am Ende doch ein ganz klein bisschen „Bammel“? Sie wagte sich selbst keine Antwort darauf zu geben.

Fatal, dass es schon so spät war, nun war Papa sicherlich schlecht gelaunt, aber „Mut zeiget auch der Mameluck,“ murmelte Hilde vor sich hin und zog dann die Glocke unter dem weissen Porzellanschild, auf dem mit grossen schwarzen Buchstaben „Dr. Ludwig Dahlen, Augenarzt“ prangte.

,,Die Herrschaften sind schon beim Fleisch, Fräulein,“ flüsterte ihr Mine, der dienstbare Geist, nicht sehr ermutigend zu. Vier Augenpaare richteten sich bei Hildes Eintritt fragend auf sie — tiefe Stille.

„’n Tag,“ sagte Hilde möglichst unbefangen und nahm ihre Serviette hoch.

Da lagen auf ihrem Teller drei Taschenuhren — selbst der Vater hatte ihr seine Uhr aufgebaut — dann war er nicht allzu böse! Hilde lachte befreit auf.

,,Na — hier gibt’s nichts zu lachen, Mädel,“ sagte der Vater mit angenommener Strenge, „ist das eine Art, so spät zu Tische zu kommen, wo hast du dich denn ’rumgetrieben, he?“ Mit geheimem Stolz betrachtete er sein blühendes Töchterchen.

„Hast wohl nachsitzen müssen, was, Kleine?“ neckte Bruder Max.

„Es regnete so ...“ begann Hilde.

„Ach — ne!“ machte Max erstaunt.

„Höchstens ein Grund, schneller nach Haus zu kommen,“ sagte Richard mit seiner grässlichen Logik. „Also erste Entschuldigung wird rundweg abgelehnt, was kann die Angeklagte sonst noch zu ihrer Entlastung anführen?“

„Gott — hör doch schon mit deinem Unsinn auf,“ rief Hilde unwirich, „ich habe mich eben mit Daisy verspätet.“

„Ja — natürlich — an mich denkst du ja nicht,“ klagte die Mutter, „das ist dir ganz gleich, ob Wäsche ist oder nicht, selbst den Tisch habe ich heute für dich decken müssen.“

„Na, lasst sie nur in Ruhe essen,“ brummte Papa, der es nicht mit anhören konnte, wenn andere seinem Liebling etwas taten, und Hilde blickte dankbar zu dem guten Vater herüber.

Das Essen rutschte nicht — erstens gab’s Kohl, das obligate Waschfrauenessen, und dann überhaupt — sie hatte keinen rechten Hunger. Vater war in sein Sprechzimmer gegangen, die Teller waren zusammengestellt, der Tisch abgefegt — Hilde fand keinen Grund mehr, die Sache hinaus zuschieben.

„Also denn los!“ Mit gepresstem Herzen folgte Hilde dem Vater in sein Zimmer.

Sie legte ihm die Zeitung auf sein Tischchen neben den Liegsessel und stellte Zigarren, Aschbecher und Streichhölzer zurecht, verwundert schaute der Vater ihr zu.

„Nanu, Wildfang, solch zarte Aufmerksamkeiten bin ich ja gar nicht von dir gewöhnt, da steckt doch irgend was dahinter — also heraus mit der Sprache!“

Die grosse Hilde sprang dem Vater wie ein kleines Mädel auf das Knie und schlang ungestüm beide Arme um seinen Hals.

„Du bist mein kluges, allerbestes Vaterchen!“ schmeichelte sie.

Zärtlich strich der Vater seiner Jüngsten das zerzauste goldbraune Haar aus der Stirn.

„Also zur Sache, Kind, die lange Einleitung kannst du dir schenken, wo hapert’s denn?“

Hilde schwieg noch immer.

„Wieder was ausgefressen in der Schule, hm?“

Sie schüttelte das hübsche Köpfchen und flocht mechanisch den langen Vollbart des Vaters in kleine Zöpfe.

„Ach, Papa — ich habe eine Riesenbitte!“

„Konnte ich mir lebhaft denken — na, was ist’s denn — ein neues Kleid — nochmal Tanzstunde oder — — —“

„Nein, Vater — ich möchte studieren!“ —

Gottlob — nun war es heraus!

Der Vater brach in ein schallendes Gelächter aus.

„Weiss der Himmel, Mädel, du verstehst es, einen doch immer vergnügt zu machen, man mag noch so verstimmt sein — aber nun geh, Kind, ich bin heut noch nicht dazu gekommen, die Zeitung zu lesen.“

„Aber es ist doch mein Ernst, Papa,“ beharrte Hilde, „ich möchte aufs Mädchengymnasium gehen und Medizin studieren.“

„Wa — as?“ Der Vater hob ihren Kopf zu sich empor, blickte ihr in die hellbraunen Schelmenaugen, die ernst und bittend zu ihm aufschauten und griff nach ihrem Puls.

„Ist dir die warme Frühlingsluft zu Kopf gestiegen oder — — —“

„Aber Vaterchen, es gehen doch so viele Mädchen aufs Gymnasium, Daisy kommt doch auch hin!“

Hilde zeigte eine gekränkte Miene.

,,Daisy ist Amerikanerin, wird bei den Verwandten nur geduldet und ist nebenbei eine vorzügliche Schülerin, das ist etwas ganz anderes! Aber du — Mädel — jedes Halbjahr zittert Mutter vor deiner Zensur — du studieren! — es ist wirklich zum Lachen.“

,,Ach, Papa — nur im Betragen, Aufmerksamkeit und Fleiss hatte ich ein schlechtes Zeugnis und — und im Rechnen.“

„Ja — aber Betragen — — —“

„Ist die Hauptsache bei einem Mädchen,“ fiel Hilde dem Vater lachend ins Wort, „das weiss ich ja noch ganz genau von der letzten Zensur her! Du kannst es doch mal probieren, Vaterchen; wenn ich nicht vorwärts komme, ist es doch immer noch Zeit, mich herauszunehmen — und Richard und Max hast du’s doch auch erlaubt,“ schloss sie weinerlich.

„Jawohl,“ sagte der Vater grimmig, „zwei studierte Esel hab’ ich schon.“

„Alle guten Dinge sind drei,“ flehte Hilde, die um der guten Sache willen selbst den Esel mit in Kauf nahm. Aber der Vater fuhr unbeirrt fort: „Weiss gar nicht, wie meine Tochter zu so übergeschnappten Ideen kommt — in die Küche gehört ein Mädel, an den Herd — und nicht an die Universität!“

„Früher, Vaterchen,“ sagte Hilde altklug, „wir Frauen nehmen jetzt doch eine ganz andere Stellung ein, wir haben doch heute ein ganz anderes Arbeitsfeld.“ Das hatte sie irgendwo mal gelesen. „Und du hast doch immer gesagt, ich hätte eine weiche, sichere Hand und solle einmal deine Assistentin werden. Nun sei doch auch mein einziges, süsses, allerallerbestes Vaterchen und sage ,ja’ — ja?“ Ihre kleinen Hände strichen glättend über des Vaters gefurchte Stirn.

„Nein —“ sagte der Vater mit Nachdruck, „ganz ausgeschlossen!“ und griff nach seiner Zeitung, „hilf du nur der Mutter im Hause, da hast du ein grosses Arbeitsfeld — und nun geh Kind, ich will endlich meine Ruhe haben!“

Hildes Augen begannen zu tropfen, sie sah, wie der Vater sich in die langweiligen Reichstagsverhandlungen vertiefte, nun war nichts mehr zu wollen, für heute musste sie die Waffen strecken. Weinend schlich Hilde in ihr Stübchen.

Ach, das war ein trauriger Nachmittag! Zu Daisy durfte sie auch nicht, um ihr Herz zu erleichtern, sie musste der Mutter beim Blauen und Stärken der Wäsche zur Hand gehen, mit todestraurigem Gesicht drehte Hilde die Wringmaschine.

Der Mutter fiel schliesslich die Einsilbigkeit ihres sonst so munteren Töchterchens auf.

„Hilde, du drehst ja wie im Schlaf — sei doch bei der Sache, Kind! Flink und gewandt muss ein junges Mädchen sein. — Nanu, Tränen? Aber was ist denn los, Hildchen, du bist doch sonst nicht so dicht am Wasser gebaut?“

Hilde schluchzte, dass es einen Stein hätte erbarmen können, vergeblich suchte die erschreckte Mutter durch sanften Zuspruch ihr Kind zu beruhigen; nach und nach erst kam es heraus — stossweise — das ganze grosse Elend — ihr heisser Wunsch zu studieren, der Überfall heute nachmittag auf den ahnungslosen Vater und ihre jämmerliche Niederlage.

„Ach, Muttchen, hilf du mir doch bloss,“ schloss Hilde mit verzweifelter Miene, „vielleicht kannst du Papa noch umstimmen.“

Die kluge Mutter, die im Herzen ihres Kindes zu lesen gewöhnt war, zeigte absolut keine Überraschung; längst schon hatte sie den geheimen Wunsch ihrer Hilde erkannt, und im Grunde war sie demselben durchaus nicht abgeneigt. Hilde hatte ihrer Ansicht nach auf der Schule blutwenig gelernt, es schadete ihr gar nichts, wenn sie noch ein paar Jahre gewissenhaft arbeitete, vielleicht nahm sie sich auf dem Gymnasium mehr zusammen. Lauter Dummheiten und lustige Streiche spukten der Hilde im Kopfe herum, ernstes, zielbewusstes Streben konnte ihrer geistigen Entwicklung nur förderlich sein. Und mit dem Studium, da hatte es ja noch gute Wege, das konnte man sich ja dann immer noch überlegen.

So versprach die Mutter, selbst noch einmal mit dem Vater zu reden, und ein klein wenig getröstet, half Hilde beim Aufhängen der Kragen und Manschetten. Allerdings erschien sie beim Abendbrot, immer noch mit verheulten Augen, Richard, der scharfsichtige Jurist, hatte es natürlich gleich entdeckt.

„Was ist’s, dass du so traurig bist,

Wo alles froh erscheint,

Ich seh’ dir’s an den Augen an,

Gewiss — du hast geweint!“

deklamierte er mit pathetischer Stimme.

Hilde warf dem älteren Bruder einen bitterbösen Blick zu und zerknudelte nervös ihre Serviette — die Tränen stiegen ihr schon wieder heiss in die Augen.

„Na weine man nicht, na weine man nicht —

In der Röhre stehn Klösse, du siehst sie bloss nicht!“

begann jetzt Max in höchst unmelodischen Tönen das Schwesterlein anzuulken. Das nahm Hilde nun aber gewaltig krumm, heftig sprang sie von ihrem Stuhl auf.

„Ihr sollt mich in Ruhe lassen — ihr dummen Jungs!“ rief sie laut weinend und wollte aus dem Zimmer.

„Aber hier geblieben!“ rief Papa, der die ganze Zeit über schon unbehagliche Blicke auf das verstörte Gesicht seines Lieblings geworfen hatte.

„Lasst mir das Kind in Frieden, verstanden!“ wandte er sich an die Herren Söhne — „und du, Hildchen, komm, sei vernünftig, sie meinen es doch nicht böse, hier hast du ein schönes, zartes Stück Schinken; so nun iss, Kind,“ er legte dem Töchterchen eigenhändig das Fleisch auf den Teller.

,,Eklige kleine Kratzbürste!“ brummte Max noch in sein hoffnungsvoll spriessendes Bärtchen, während Richard etwas von „empfindsamem Backfisch“ murmelte.

Hilde aber würgte und würgte, sie konnte nicht essen, bald nach dem Abendbrot sagte sie Gute Nacht und suchte ihr Lager auf. Ach, was würde Daisy bloss sagen! Und all die anderen in der Schule — wie schadenfroh würden sie sein, dass sie sich so blamiert hatte! O, wie schämte sie sich — ruhelos wälzte sich Hilde in ihren Kissen hin und her.

Mit bleichem Gesicht und übernächtigen Augen erschien sie am nächsten Morgen am Kaffeetisch. Hatte Mama schon mit dem Vater gesprochen?

,,’n Morgen,“ sagte sie mit müder Stimme.

Der Vater blickte prüfend in Hildes blasses, trauriges Gesichtchen.

„Ja sag mal, Hilde, soll das nun etwa so weitergehen, diese Jammermiene und das miesepetrige Wesen? Ich will mein frisches Mädel wieder haben — verstanden! — nicht solche Tranfunzel!“

Hilde schwieg verstockt.

„Ihr werdet ja nicht eher klug, ihr junges Volk, als bis ihr selbst Lehrgeld bezahlt habt,“ meinte der Vater seufzend — „also denn meinetwegen — in Gottes Namen — wirst mich bald genug quälen, meine Erlaubnis wieder rückgängig zu machen. Und nun bitte ich mir ein anderes Gesicht aus!“

Hilde glaubte ihren Ohren nicht zu trauen.

„Was — du — erlaubst — es?“ stiess sie zweifelnd heraus und blickte fragend auf die Mutter. Diese nickte ihr lächelnd zu. Laut jubelnd fiel Hilde dem Vater um den Hals, dann kam die Mutter an die Reihe, glückselig sprang sie von einem zum anderen.

„Aber das sage ich dir gleich, du Strick,“ sagte der Vater ernst, „Bälle, Kränzchen und sonstigen Firlefanz gibt’s dann nicht, nun wird stramm gearbeitet — entweder — oder!“

So meldete sich Hilde an einem der nächsten Tage zur Aufnahmeprüfung in dem Mädchengymnasium. — — —

Es fiel ein Reif

Natürlich — die Brüder standen Kopf! Richard fand es unerhört, dass man den törichten Wünschen der Hilde nachgegeben hatte, und mit ihm schüttelten sämtliche Tanten der Familie das Haupt. Unglaublich — gar nicht zu verstehen — die Eltern waren doch sonst so vernünftige Leute — na, sie würden es ja sehen, wohin es führte, was sie sich für einen Blaustrumpf damit erzogen! Alle Einwendungen der Mutter, dass der Unterricht ja Nachmittags stattfände, und sie das Mädel am Vormittag schon tüchtig in der Wirtschaft herannehmen würde, verklangen ungehört. Hilde, das unweibliche, wilde Ding, hatte es doch gewiss nötig, mädchenhafter und häuslicher zu werden!

Hilde aber kümmerte sich nicht um alle Tanten der Welt, sie strahlte, nichts war im stande, ihre gute Laune zu trüben. Selbst die ständigen Neckereien der Brüder ertrug sie mit ungewöhnlicher Sanftmut. Sie lehnte höflich die Zigaretten ab, die sie ihr jeden Mittag nach dem Essen anboten, fuhr nicht wütend los, als sie in ihrem zierlichen Mädchenzimmer an der Wand zwischen den Ansichtspostkarten und japanischen Fächern eines Tages eine lange Pfeife und ein Rapier entdeckte, und stopfte die blauen Strümpfe Richards, die dieser extra für sie heraussuchte, mit wahrer Todesverachtung.

Max redete nur noch Lateinisch oder in Hexametern zu ihr, sandte ihr mit der Post Einladungen zu seinen Studentenkneipen und zum Katerfrühstück und lehrte sie mit Stöcken kunstgerecht fechten und seinen Hieben parieren. Aber als die erste Fensterscheibe daran glauben musste, machte die Mutter ein für allemal diesen Mensuren ein Ende. —

So kam der Nachmittag der Aufnahmeprüfung heran.

Hilde hatte Mühe, ihr zuversichtliches Wesen den düsteren Prophezeiungen der Brüder gegenüber, dass sie niemals die Prüfung bestehen würde, aufrecht zu erhalten, denn sie war ihrer Sache selbst mehr als unsicher. Der Andrang war diesmal kolossal gross, sechzig Schülerinnen hatten sich gemeldet, und nur dreissig konnten Aufnahme finden.

„Du sollst sehen, Daisy,“ sagte sie zur Freundin, die ebenfalls sehr erregt war, als sie beim Eintritt in die fremden Klassenräume, in denen die Prüfung stattfand, sich all den neugierig musternden Augen der Konkurrentinnen ausgesetzt fühlte, „pass bloss auf, Rechnen bricht mir den Hals!“

Professor Richter, ein stattlicher, schöner Mann mit rötlichem Vollbart, war sich seines unwiderstehlichen Eindrucks auf die jungen Mädchenherzen voll bewusst; in liebenswürdigster Weise ermutigte er auch die Schüchternsten. Hilde hatte vollständig ihre Unverfrorenheit wieder gefunden.

Kinderleicht war es ja — die schriftlichen Arbeiten in Deutsch, Französisch und Englisch glücklich vorüber, im Rechnen allerdings hatte sie trotz eifrigen Schielens auf Daisys Heft die letzte Ausrechnung nicht genau entziffern können — warum schrieb Daisy auch so undeutlich!

Nun nahm Professor Richter sie natürlich noch extra scharf beim Mündlichen heran, eklig zwiebelte er sie in Geometrie, aber Hildes frische, dreiste Art, die nie eine Antwort schuldig blieb, selbst wenn sie keine blasse Ahnung von dem Gefragten hatte, machte ihm augenscheinlich Spass.

Und als sie in Literatur, ihrem Lieblingsfach, einige treffende Antworten über die schlesische Dichterschule gegeben, strich sich Professor Richter mit der weissen gepflegten Hand lächelnd durch den langen Bart und liess ein vernehmliches ,,Gut“ hören.

Hilde hatte bestanden.

Daisys Aufnahme war ja über jeden Zweifel erhaben gewesen, selbst deutscher Aufsatz, die Achillesferse der jungen Ausländerin, war zur Zufriedenheit ausgefallen.

„Mächtiges Schwein hab’ ich gehabt,“ berichtete Hilde frohlockend daheim ihrem Intimus Max, während Mama i über die derb burschikose Ausdrucksweise ihres Töchterchens erschrocken den Kopf schüttelte.

„Natürlich hab’ ich gleich Schillerlocken aus Dankbarkeit spendiert, da, Max, hast du noch ein paar; ach, Daisy war auch ganz glücklich.“

Ja — Daisy, war fast noch glückseliger über Hildes Aufnahme als die Freundin selbst; das elternlose Mädchen, das im Hause der reichen Verwandten ihrer Mutter nur ungern Aufnahme gefunden und dort ein trauriges, freudloses Leben führte, hatte sich mit ihrem liebebedürftigen Herzen fest an die impulsive, warmherzige Hilde angeschlossen. Das Elternhaus der Freundin war ihr eine zweite Heimat geworden, und Frau Doktor Dahlen nahm sich Daisys wie eine Mutter an. Hilde mit ihrem flattrigen, übermütigen Wesen konnte durch den innigen Verkehr mit der um ein Jahr älteren und bedeutend reiferen Freundin nur gewinnen.

Sie sassen beide auf dem niedlichen hellen Cretonnesofa, ihrem Lieblingsplatz in Hildes Zimmer.

Heute hatte das grosse Ereignis stattgefunden, die Pforten der Schule hatten sich für immer hinter ihnen geschlossen.

„Sag mal, Daisy, warum hast du denn bloss wie ein Schlosshund geheult, als dir der Direks die seine Prämie mit den so anerkennenden Worten überreichte, totgefreut hätte ich mich an deiner Stelle!“

„Ach red nur nicht, Hilde,“ verteidigte sich Daisy, „wer hat denn ein Tränchen nach dem anderen im Auge zerdrückt, als der Chor das Abschiedslied ,Ihr lieben Schulgenossen‘ anstimmte? Ich denke, du freust dich so, dass du die Schulzeit hinter dir hast?“

„Tu’ ich auch,“ Hildes Augen strahlten, „gottlob, dass ich aus dem langweiligen ledernen Bildungsstall heraus bin, nun bin ich doch richtig erwachsen — Mädchengymnasium — ja, das ist doch etwas ganz anderes!“

„I don’t think so,“ meinte Daisy, sinnend vor sich hinblickend, „Schule bleibt Schule, die Hauptsache ist, dass man etwas Ordentliches lernt und bald sein Ziel erreicht. Aber wir werden schon tüchtig miteinander arbeiten, nicht, darling?“ sie schlang den Arm zärtlich um Hildes zierliches Figürchen. „Ich bin ja so froh, dass ich mit dir gemeinsam studieren darf.“

„Ja, und mein neues graues Kleid lasse ich mir bestimmt ganz lang machen,“ Hilde spann ihren Gedankengang weiter, „will doch mal sehen, ob der dumme Günther Berndt dann nicht ,Fräulein‘ zu mir sagt.“

Daisy schwieg, herzklopfend dachte sie an ihre letzte Begegnung mit Richards Freund; war es treulos von ihr, dass sie Hilde Günthers seltsame Worte, an die sie seither immerfort denken musste, verheimlichte? Aber es war ihr nicht möglich, davon zu sprechen.

,,Daisy, willst du ein Stückchen Torte essen?“ Hilde zog zu Daisys Erstaunen ein arg zerquetschtes, in ein französisches Extemporalblatt gewickeltes Paket aus ihrer Kleidertasche, es sah nicht sehr vertrauenerweckend aus.

„Woher hast du es?“ erkundigte sich Daisy vorsichtig.

„Ach, Daisy, das war ja gestern zum Brüllen, es ist ja mein zweites Stück von unserer Abschiedstorte. Und gerade, als ich unter den Tisch gekrochen war, um heimlich abzubeissen, gab mir Ehlert mein französisches Extemporale zurück. Ich glaubte, ich müsste an dem grossen Happen ersticken, kein Wort konnte ich herausbringen, während er mir noch zuguterletzt eine Standpauke hielt wegen der vielen Flüchtigkeitsfehler. Da hab’ ich den Rest der Torte dann lieber gleich in das Extemporale hineingewickelt …“ Sie begann eifrig zu schmausen und Daisy half ihr.

„Was haben sie denn zu Hause zu deiner Prämie und dem glänzenden Abgangszeugnis gesagt, Daisy?“ fragte Hilde mit vollem Munde.

Ein Schatten huschte über das holde Gesicht der jungen Amerikanerin.

Sie schwieg.

„Was, waren sie heute etwa wieder eklig zu dir, deine liebe Tante und Fränze, das hochnäsige Ding?“ fuhr Hilde auf.

Daisy nickte traurig.

„Kein freundliches Wort haben sie für mich gefunden,“ klagte sie leise, „Tante Malwine sagte bloss: ,Na, da haben wir das viele Geld doch wenigstens nicht umsonst für dich ausgegeben‘ und Fränze meinte: ,Gott, solche Prämie ist doch gar nichts Besonderes!‘“

„Möchte wissen, ob der Affenschwanz jemals eine bekommen hat, das ist doch sicher wieder der pure Neid von ihr; sei doch bloss nicht immer so schafsmässig sanft, Daisy, wenn sie so gemein gegen dich ist; zeig ihr doch die Zähne — na, ich sollte mal in deiner Haut stecken, ich wäre schon längst aus dem Hause geflogen.“

„Yes indeed,“ lachte Daisy, „das glaube ich selbst,“ und fügte dann gleich wieder ernst werdend hinzu: „Ja, siehst du, Herzchen, wenn man abhängig ist, lernt man den Mund schon halten; kannst mir’s glauben, schwer genug wird’s mir manchmal. Aber was soll ich anfangen, wenn sie die Hand von mir ziehen? Onkel Wilhelm tut, was seine Frau will. Ich glaube, das einzige Mal, dass er sich gegen ihren Willen aufgelehnt, war vor fünf Jahren, als er mich trotz ihres Widerspruchs in sein Haus nahm. Na, und oft genug hat sie’s ihm seitdem anzuhören gegeben. Onkel Wilhelm ist gut, der würde mir gewiss gern manches im Hause erleichtern, aber er darf nicht. Als ich ihm heute mein Abgangszeugnis gab und er freundlich sagte: ,Schade, Kind, dass deine Mutter, meine gute Schwester, das nicht erlebt hat,‘ hielt sich die Tante gleich beide Ohren zu und rief: ,Um Himmels willen, werdet bloss nicht weinerlich, sentimentale Menschen passen nicht in die Welt. Daisy hat doch wohl allen Grund, energisch und tatkräftig zu sein und sich möglichst bald auf eigene Füsse zu stellen‘. —Siehst du, Hilde, deshalb will ich arbeiten und arbeiten und wenn ich die Nächte zu Hilfe nehmen muss; ich werde den Tag segnen, an dem ich nicht mehr das Gnadenbrot dort im Hause zu essen brauche.“

Hilde ballte ihre Hände.

„Ach — ich möchte — könnte ich doch der geizigen, eingebildeten Gesellschaft, die auf nichts weiter pocht als auf ihren Adel und ihren Geldbeutel, mal ordentlich eins auswischen; ins Gesicht möcht’ ich’s ihnen mal sagen, wie lieblos und hässlich sie sich zu dir benehmen; ich wünsche keinem Menschen was Schlechtes, aber ...“

,,Schicht,“ machte Daisy und legte Hilde die Hand auf den vorschnellen Mund, „nichts sagen, was einem nachher leid tut. Tante Malwine kann es eben meiner armen Mutter selbst im Tode noch nicht verzeihen, dass sie damals ihren reichen Vetter ausschlug und meinem verstorbenen Vater, einem bürgerlichen Künstler, in die weite Ferne folgte. Trotzdem sie mich doch möglichst bald los sein möchte, hätte sie es doch nie zugegeben, dass ich Lehrerin, Gouvernante oder Kontoristin geworden wäre, ,plebejisch‘ nennt sie das. Aber studieren, ja, das ist etwas anderes, da braucht sie sich doch vor ihren vornehmen Bekannten meiner nicht zu schämen.“

„Ja und nebenbei hat es noch den Vorteil, dass sie dich doch noch ein paar Jahre in die Schulstube steckt, da stichst du wenigstens ihre hässliche Fränze auf den Gesellschaften nicht aus,“ lachte Hilde boshaft.

„Pfui, Hildchen, sei nicht so mokant!“

„Na, findest du sie vielleicht hübsch mit ihrer plumpen kleinen Gestalt und dem breiten bäuerischen Gesicht? Ich gönne es der gnädigen Frau von Staven, dass ihre Tochter so wenig aristokratisch aussieht.“

„Hilde, ans Telephon, du wirst verlangt,“ rief die Mutter zur Tür hinein.

Daisy blieb allein.

Sie sah sich in dem behaglichen Raum, den Mutterliebe so traulich als möglich gestaltet hatte, um — wie gut hatte es doch die Hilde!

Und so selbstverständlich nahm sie all die Liebe der Ihrigen hin — Daisy seufzte — ja, man weiss immer erst zu schätzen, was man nicht mehr besitzt.

Aus dem Nebenzimmer, der Stube der Brüder, klangen Stimmen herüber, Daisy wollte nicht lauschen. Sie schlug ein Buch auf, das auf dem Tische lag, und begann zu lesen.

„Nein, Richard, du hast nicht recht,“ hörte sie jetzt eine deutliche Stimme — Daisy fuhr empor — war das nicht … Das Buch entsank ihren bebenden Fingern.