Sturmbote - Tom Lloyd - E-Book

Sturmbote E-Book

Tom Lloyd

0,0
11,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Der grandiose Nachfolger zu „Sturmkämpfer“

Das Land, entstanden aus den Launen der Götter, ist zerrissen im Chaos. Der Held, aufgewachsen als Außenseiter, wurde erwählt als Nachfolger des weißäugigen Herrschers Lord Bahl. Als dieser stirbt und eine böse Macht sich im Land ausbreitet, steht der Krieg kurz bevor. Die Hoffnung aller ruht jetzt auf dem jungen Mann, der überall mit Widersachern kämpfen muss. Auf ihn wartet die größte Herausforderung seines Lebens …

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 1011

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Das Buch

Ein Land, geschaffen aus einer Laune der Götter heraus, zerrissen von inneren Konflikten und überschattet von magischen Prophezeiungen  – dies ist die Heimat des jungen Isak, dem Weißauge. Kaum wurde der unscheinbare Junge zum Nachfolger von Lord Bahl erwählt, dem Gebieter von Farlan, muss er sich auch schon unter Beweis stellen. Denn Bahl stirbt plötzlich, und Isak steht als neuer Herrscher vor schweren Entscheidungen. Krieg bricht über das Land herein, und in seiner Heimat brodelt eine Rebellion. Alle Augen richten sich nun auf das kleine Städtchen Scree, in dem sich seltsame Veränderungen abspielen. Die Stadt leidet unter einer unnatürlich langen Dürre, und mächtige Armeen haben die Stadt umzingelt, während eine düstere Macht den Willen der Menschen versklavt. Als Angehöriger des mächtigen Geschlechts der Weißaugen ist Isak zwar mit magischen Fähigkeiten begabt. Doch in Scree sind offenbar dunklere und stärkere Kräfte am Werk. Schließlich bricht ein dämonisches Chaos aus, in dem sich Menschen, Monster, Götter und Dämonen gegenseitig aufreiben. Kann Isak sich als Herrscher behaupten und seinem Reich Frieden bringen? Und um welchen Preis?

Tom Lloyds atemberaubendes Fantasy-Epos um den jungen Isak Weißauge:

Erstes Buch: SturmkämpferZweites Buch: SturmboteDrittes Buch: Sturmauge

Der Autor

Tom Lloyd, Jahrgang 1979, arbeitete nach einem Studium der Politikwissenschaften und Internationalen Beziehungen an der Universität von Southampton für diverse Verlage und Literaturagenturen. Nach seinem gefeierten Debüt »Sturmkämpfer« erscheint mit »Sturmbote« die Fortsetzung von Lloyds großer Fantasy-Saga.

Inhaltsverzeichnis

Das BuchDer AutorProlog: Erster TeilProlog: Zweiter TeilKapitel 1Kapitel 2Kapitel 3Kapitel 4Kapitel 5Kapitel 6Kapitel 7Kapitel 8Kapitel 9Kapitel 10Kapitel 11Kapitel 12Kapitel 13Kapitel 14Kapitel 15Kapitel 16Kapitel 17Kapitel 18Kapitel 19Kapitel 20Kapitel 21Kapitel 22Kapitel 23Kapitel 24Kapitel 25Kapitel 26Kapitel 27Kapitel 28Kapitel 29Kapitel 30Kapitel 31Kapitel 32EpilogCopyright

Titel der englischen Originalausgabe THE TWILIGHT HERALD Deutsche Übersetzung von André Wiesler

Prolog: Erster Teil

Ein runzeliges Gesicht sah auf die Straße hinaus und hob sich dabei bleich vom Dunkel des Torbogens ab. Der Platz vor ihm lag menschenleer, und doch war alles in Bewegung, denn ein immer gewaltiger werdender Wolkenbruch verwandelte die festgestampfte Erde in hochspritzenden Matsch. Der alte Mann hatte sich einen dicken Wollschal über den Kopf geworfen und fest unter dem Kinn verknotet, so dass der mittlerweile tropfnasse Stoff sein Gesicht umrahmte. Besorgnis lag in seinen Augen, weil er nur den Regen erblickte, der den Boden aufweichte, in Strömen von den Dächern lief und die Gosse in der Mitte der Straße überflutete. Das Hautbild einer schwarzen Feder auf der rechten Seite seines Gesichtes sah verschrumpelt aus; im Laufe der Jahre waren die einst scharfen Linien verblasst. Die lauten Geräusche des sintflutartigen Regens erfüllten die Luft, während der alte Mönch in der Dunkelheit erschauderte. Es schien ihm, als wolle ihn der Regen zurück in die Schatten spülen.

»Wo bist du, Mayel?« Seine Stimme war nur ein zitterndes Flüstern, doch kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da bog eine Gestalt um die Ecke und kam auf ihn zu, die Arme zum Schutz vor dem Sturm vergeblich über den Kopf gehoben.

Mayel lief geradewegs auf den Torbogen zu, den Kopf zwischen die Schultern gezogen, und stürmte in die dunklen Schatten des Bauwerks, das dem alten Mann Schutz bot. Er schüttelte sich so heftig wie ein Hund und spritzte das Wasser in alle Richtungen.

»Abt Doren«, sagte er eindringlich. »Ich habe ihn gefunden. Er wartet in einer Schenke auf uns, nur einige Straßen östlich von hier.« In seinen Augen lag ein triumphierendes Funkeln, das den Abt betrübte. Mayel war noch jung genug, um all dies für ein großes Abenteuer zu halten; es war wohl noch nicht bis zum Geist des Novizen vorgedrungen, dass ihnen ein Mörder auf den Fersen war.

»Ich habe dich gewarnt«, sagte der alte Mann, »dies ist kein Spiel. Sogar die Andeutung meines Namens könnte unseren Tod bedeuten.«

»Aber hier ist doch niemand!«, protestierte Mayel erschrocken.

Offensichtlich hatte er nicht mit einem weiteren Tadel gerechnet; der junge Mann hatte Lob verdient, das wusste der Abt. Aber wenn es um ihre Sicherheit ging, durften sie sich keine Nachlässigkeiten erlauben. Dafür war ihre Mission zu wichtig.

»Trotzdem musst du vorsichtig sein. Du kannst nie mit Sicherheit wissen, wer in der Nähe ist. Indes, du hast es ja gut gemacht. Suchen wir uns also einen warmen Ort mit einer warmen Mahlzeit und einem Bett für die Nacht. Morgen finden wir dann gewiss eine Bleibe für längere Zeit.«

»Ich glaube, mein Vetter kann uns da helfen«, sagte Mayel und versuchte trotz des Sturms wieder fröhlich zu klingen. »Er vermietet Zimmer an Arbeiter, wird uns also gewiss einen guten Preis machen – und auf uns aufpassen.«

Er begann in der Kleidung, die klamm auf seiner Haut klebte, zu zittern. Mit einem nervösen Blick unter dem Torbogen hervor sah er das wütende Grau des Himmels. Es war Frühsommer, doch glich die Nacht eher einem Herbstabend. Es war, als beraubten ihre Verfolger, je näher sie kamen, die Jahreszeit immer stärker ihrer Freude und Wärme.

»Wir brauchen ein Haus, etwas mit einem Keller«, sagte der Abt. »Ich habe Arbeit zu erledigen, benötige völlige Abgeschiedenheit. Die Zeit läuft uns davon.«

»Das verstehe ich nicht.« Mayel starrte den alten Mann an und fragte sich, was wohl so wichtig sein könne, während sie eigentlich um ihr Leben liefen.

»Wenn Prior Corci herausfindet, wo wir uns befinden, muss ich auf ihn vorbereitet sein – und dazu brauche ich deine Hilfe. Du sollst nicht nur die Bücher tragen, sondern mich auch vor dem Rest dieser Stadt schützen.«

»Müssen wir all diese Bücher wirklich bei uns führen?« Mayel klang verständlicherweise ärgerlich. Er hatte die sechs dicken Bände schon zwei ganze Wochen lang mit sich herumgeschleppt.

»Du weißt, was sie bedeuten, Junge. Die Schriften unseres Ordens sind heilig. Dieser Verräter hat es vielleicht geschafft, mich aus meinem Kloster zu vertreiben, aber er wird mich nicht auch noch dazu zwingen, die Traditionen aufzugeben, die er zu zerstören trachtete. Die Bücher müssen sich stets in der Nähe des Abtes befinden – das ist die allererste Lektion, die man uns beibringt.«

»Das weiß ich natürlich«, sagte Mayel, »aber seid Ihr denn auch noch Abt, nachdem Ihr von der Insel geflohen seid?«

Der alte Mann erschauderte und Mayel sprach hastig weiter. »Ich meine, die heiligen Schriften sind doch für die Gemeinde gedacht, die darin Weisung finden soll. Sollten sie dann nicht auf der Insel bleiben?«

»Die augenblickliche Lage ist etwas verzwickter«, blaffte der alte Mann. »Du bist Novize. Glaube nicht, du seiest im Besitz allen nötigen Wissens. Genug geschwatzt! Führe mich zu der Schenke, in der dein Vetter auf uns wartet.«

Mayel öffnete den Mund, um Widerworte zu geben, besann sich dann aber, mit wem er sprach und schloss ihn wieder. Er wies die Straße entlang, und Abt Doren drückte sich an ihm vorbei und ging durch die Pfützen los, den Beutel mit seinen Besitztümern  – zwei weitere Bücher und ein seltsames, perlenverziertes Kästchen, das Mayel in der Nacht ihrer Flucht zum ersten Mal gesehen hatte – fest an die Brust gepresst. Der Abt beugte sich weit vor, die Augen auf den Boden gerichtet, um den Beutel vor dem Regen zu schützen.

»Mich führst du nicht an der Nase herum, alter Mann«, murmelte Mayel. Das Lärmen des Wetters übertönte seine Worte, doch wenn der Abt sich umgedreht hätte, wäre ihm der kalte, berechnende Ausdruck aufgefallen, der in den Zügen eines Novizen nichts zu suchen hatte. »In dieser Kiste liegt etwas, das Dohle bekommen will. Er hat Bruder Edin nicht nur im Wahn getötet. Der Prior würde uns nicht wegen einiger dreckiger alter Bücher verfolgen, also warum sagst du mir nicht, was sich in diesem Kästchen befindet? Es muss wertvoll sein, wenn Dohle es so sehr begehrt – wertvoll genug, dass ich mich in die Bande meines Vetters einkaufen kann. Wenn wir überleben, wirst du diese verdammten Bücher selbst zur Insel zurücktragen, alter Mann.«

Er schnitt hinter dem Rücken des Abts eine wütende Grimasse, dann schloss er eilig zu ihm auf, zog erst im letzten Augenblick seinen eigenen Beutel an die Brust, um ihn ein wenig zu schützen.

Vom oberen Ende des Bauwerkes, unter dem der Abt Schutz gesucht hatte, erklang eine sanfte Stimme über das Geräusch des Regens hinweg: »Er hat den Schädel bei sich, ich kann ihn spüren.«

»Das müssen wir dem höheren Ziel opfern. Der Alte ist nicht so zerbrechlich wie er aussieht, und auch nicht so schutzlos. Begnüge dich damit, dass er getan hat, was wir wollten. Jetzt kann der nächste Akt unseres Schauspiels beginnen.«

»Aber ich könnte ihn hier und jetzt töten.« In den tiefliegenden Augen unter den buschigen Brauen blitzte Gier auf. Der Sprecher nahm den Regen, der sein dichtes schwarzes Haar durchnässt hatte und über die Hautbilder von Federn auf seiner Wange und auf seinem Hals lief, nicht wahr, während er finster die Straße entlangstarrte. Der Abt aber war bereits um eine Ecke gebogen.

»Sein Gott würde es nicht zulassen«, sagte sein Begleiter. »Jedem Gott abzuschwören, wie du es tatest, ist nicht leicht, und Vellern würde dich daran hindern, einem seiner wichtigsten Gläubigen ein Leid anzutun. Vielleicht würde auch der Herr der Vögel die Gelegenheit nutzen, um ein wenig Rache zu nehmen.«

Der zweite Mann trug den grünen Hut und die grüne Robe eines Spielmanns und hatte sich eine Flöte unter den linken Arm geklemmt. Er wirkte nur etwas feucht, als wollte ihn der Regen nicht berühren. Sein hellbraunes Haar war noch nicht nass genug, um sich dunkel zu färben. Und seine Wangen, die trotz der Aura des Alters, die ihn umgab, so glatt wie die eines Jungen waren, blieben trocken. Ein schmales Lächeln, wissend und verachtend zugleich, legte sich auf seine Lippen.

»Andere könnten es vollbringen«, knurrte der Dunkelhaarige. Einst kannte man ihn als Prior Corci, heute war er Dohle, als Verräter und Mörder geschmäht. Sein neuer Herr hatte ihn so genannt, als sie sich zum ersten Mal trafen, vor nicht einmal sechs Monaten, in einem der feuchten, ungenutzten Keller des Klosters. Damals hatte er es für einen Scherz gehalten, aber dann hatte sich der Name langsam verbreitet, sogar unter Brüdern, die nichts von dem geplanten Verrat gewusst hatten. Prior Corci wurde stetig weiter aus der Geschichte getilgt. Mit jeder vergehenden Woche hatte ein weiterer Mann ihn vergessen. Dohle wusste genau, dass es kein Zurück gab, kein Entkommen vor den getroffenen Entscheidungen. Nur der Gedanke daran, was Azaers Macht noch erreichen könnte, verhinderte, dass er in einer düsteren Verzweiflung über den Verlust seines früheren Lebens versank.

Jetzt blinzelte Dohle den Regen weg und spähte auf die dunkle, leere Straße. »Der alte Mann mag stark sein, solange er den Schädel hat, aber ein Pfeil würde seinen brüchigen Nacken dennoch durchschlagen, Magie hin oder her. Die Hunde würden ihn nur zu gern zerreißen.«

»Es ist zu klug für so etwas. Er hat sich gegen einen Meuchelmord gewappnet – und wenn ein Schädel im Spiel ist, wohnen der Sache immer auch Gefahren inne. Sie enthalten zu viel Macht, als dass ein Novize sie beherrschen könnte. Er hält seinen Aspektführer stets in seiner Nähe; es kann zu leicht geschehen, dass er die Beherrschung über die Magie verliert, und dann hätten wir es stattdessen mit einem geringen Gott von gewaltiger Kraft zu tun. Soll sich jemand anders um dieses Problem kümmern. Wir werden noch früh genug Priester töten, das verspreche ich dir.«

Der Barde holte einen Pfirsich aus seiner Gürteltasche und hob ihn an die Lippen.

Sein Begleiter schnüffelte und wandte sich dann angewidert ab. »Wie kannst du den essen? Der verfault doch schon.«

»Nichts ist gegen den Zerfall gefeit«, antwortete der Barde sanft, den Blick auf die Wolken gerichtet. »Verderbnis ist unausweichlich. Ich bin nur ihr Diener.« Er biss erneut ab und warf die angenagte Frucht dann auf die Straße hinab. »Niemand will diesen Schädel mehr als ich, aber unser Herr verfolgt einen größeren Plan.«

»Einen, an dem ich keinen Anteil habe?«

»Beschwer dich ruhig, wenn du den Mut dazu findest.«

»Ich …« Dohle zögerte. Er erinnerte sich zu spät daran, dass Azaer stets in der Nähe des Barden war, dort lauerte, wo einst der Schatten des Mannes gewesen war.

Du willst etwas von mir?

Dohle zuckte zusammen, als Azaers Stimme mit einem Mal in seinem Kopf erklang. Neben ihm senkte der Barde wie zu einer kleinen Verbeugung den Kopf.

»Nein, Herr«, stotterte der ehemalige Mönch. Er spürte ein Streicheln an seiner Wange, dann ließ ihn ein stechender Schmerz aufjaulen. Das Fleisch über seinem Kiefer fühlte sich roh und aufgerissen an und als Dohle sein Gesicht berührte, spürte er dort Blut. Er hob die Hand, und an seinen blutigen Fingern klebte eine schwarze Feder. Auch ohne Spiegel wusste er, dass ein Teil seines Hautbildes verschwunden war.

Halt den Mund, oder ich rupfe dir weitere Federn aus. Wir müssen hier in Scree ein Spiel spielen, Freunde finden und Freunde verlieren. Lockt sie alle her und lasst dem Drama seinen Lauf, wie es eben geschieht. Wir verbeugen uns, wenn die Vorstellung beendet ist.

Prolog: Zweiter Teil

Im Zwielicht des langen Ganges bewegte sich ein Schatten. Nur das teilnahmslose Rascheln der dünnen weißen Vorhänge vor den hohen Bogenfenstern am einen Ende störte die Stille. Ein schmiedeeisernes, mit Weinranken verziertes Geländer trennte den Gang vom offenen Treppenhaus darunter, aber die drückende Nachmittagshitze hatte jede Regung im Palast erstickt. Sogar die Diener hatten sich kühlere Eckchen gesucht, in denen sie müde vor sich hindösten.

Die Wache seufzte innerlich. Die Hitze war schon ohne die schwere Lederrüstung Last genug. Schweiß rann in Strömen an seinen Armen und seinen Schläfen hinab und prickelte heiß in seinem Schritt. Sein Kopf sank nach vorn und die Lider wurden ihm schwer, der Gang vor ihm geriet zu grauen Schlieren.

Der Schatten glitt hinter ihn, flach an der Wand entlang, ohne jemals wirklich auf den Soldaten zu fallen. Trotz der Dunkelheit des Ganges wirkte der Schatten unwirklich. Als er auf der weißen Tür erschien, neben der die Wache stand, zeigte sich das Profil eines ausdruckslosen Gesichts zwischen den Türpfosten, dann glitt der Schatten durch den dunklen Spalt zwischen Tür und Rahmen und verschwand im kühlen Schatten des Raumes dahinter.

Auch hier war alles ruhig, bis auf die gemächlichen Bewegungen der Vorhänge vor dem offenen Fenster. Ein großes Himmelbett rechts von der verschlossenen Tür bestimmte den Eindruck des Zimmers. Grüne und goldene Vorhänge waren an die Pfosten gebunden. Das Bett und die Schlafenden, die kaum bekleidet auf den Laken lagen, beachtete der Schatten nicht. Auch die Waffen, die an einer Stuhllehne hingen, zogen seine Aufmerksamkeit nicht auf sich: ein verziertes Rapier mit Korbgriff und eine Axt, deren Blatt von glühenden, rot umrandeten Runen durchbrochen war. Der Schatten glitt in die Ecke des Raumes, wo er einer kleinen Wendeltreppe bis in ein nur etwas mehr als vier Schritt durchmessendes Obergeschoss folgte. Ein schlichter, aber eleganter Schreibtisch stand in der Mitte.

Acht schmale Öffnungen im Steinboden ermöglichten den Blick in den unteren Raum. An der Wand hingen elf purpurfarbene Schiefertafeln, zwei Fuß hoch, von Samttüchern verdeckt, auf die eine Biene mit abgespreizten Flügeln und ein Stadtname gestickt waren. Der Schatten ignorierte die vorderen und glitt um den Schreibtisch herum, bis er das Tuch mit dem Namen »Scree« darauf erreicht hatte. Er hob einen langen Finger, der in einer scharfen Kralle endete, und schrieb damit vor der verdeckten Tafel etwas in die Luft. Ein leises Kratzen durchbrach die Stille.

Der Schatten beendete seine Niederschrift und blickte durch einen Steinschlitz auf das Paar, das in dem großen Bett schlummerte. »Kommt und gesellt euch zu der Vorstellung hinzu, meine Freunde. Ihr spielt eine Hauptrolle«, murmelte er, während er das Tuch leicht beiseiteschob.

Dann spreizte der Schatten seine unwirklichen Finger wie die Krallen eines Adlers. Als er sie durch die Luft zischen ließ, hallte ein gedämpftes Knacken durch den Raum. Nach vollbrachter Tat zog sich der Schatten auf dem gleichen Weg zurück, auf dem er gekommen war, und hielt dabei kurz am Bett inne, in dem die beiden Gestalten noch immer schliefen, und zwar trotz der Hitze mit ineinander verschlungenen Beinen. Ein unirdischer Finger streichelte die Wange des Mannes und schwebte dann über einem Augenlid, das leicht zuckte.

»Und wenn ich dich nun blende, o mächtiger König? Dir die Fähigkeit nähme, dieses Land, das du so liebst, zu sehen? Aber das werde ich nicht. Es gibt noch so viel, das du mitansehen sollst, bevor es endet.«

Der Schatten glitt zur Tür und hinaus ins Zwielicht des Ganges, verging dann ins Nichts und machte der drückenden Stille des Sommers Platz, die in den Raum zurückkehrte.

König Emin verzog beim Anblick der Tafel das Gesicht, zupfte sein Hemd zurecht und steckte es in seine Beinkleider.

»Komm wieder ins Bett«, schnurrte Königin Oterness vom Ruhelager aus und streichelte die leichte Wölbung ihres Bauches. Eine scharfäugige alte Herzogin hatte sie bereits bemerkt, und nun gab es plötzlich Vermutungen darüber, dass endlich doch ein Thronerbe unterwegs sein könnte. Das königliche Paar schwieg bisher dazu – sie war noch nicht lange schwanger und die Königin befürchtete, dass ihr Alter für Schwierigkeiten sorgen könnte – doch immerhin hatte diese kleine Wölbung die sonst so wankelmütige Zuneigung ihres Ehemannnes wieder zum Leben erweckt.

»Bedauerlicherweise ist das nicht möglich«, murmelte Emin. Er starrte die Tafel weiter an, während er nach dem Klingelzug griff, der über dem Schreibtisch hing, und daran zog.

»Oh, wie reizend«, sagte die Königin leise. »Mein Gatte ist zu beschäftigt, um sich seiner Frau anzunehmen, also ruft er für diese Aufgabe seinen Leibwächter herbei.«

Emins finsterer Blick ließ die Königin verstummen, sie bedeckte ihren nackten Körper mit den Laken. Für ein Nachthemd war es zu heiß, selbst wenn sie Gesellschaft von Coran bekommen sollten, und sie hatte es zu bequem, um die Kuhle zu verlassen, in der sie noch einen Augenblick zuvor mit Emin gelegen hatte.

»Ich bitte um Verzeihung, Emin, du weißt, dass ich das nicht böse gemeint habe. Aber was ist los? So wütend habe ich dich seit Jahren nicht mehr erlebt. Was ist geschehen?«

Coran riss die Tür auf und kam hereingestürzt, bevor der König seiner Frau antworten konnte. Das Weißauge sah zum Bett und deutete mit einem Kopfnicken eine Verbeugung an, während seine Augen den leinenbedeckten Kurven der Königin folgten. Das Weißauge hatte selbst nicht viel an, hatte sich nur ein langes Hemd übergeworfen, das an der Hüfte vom Schwertgut umschlungen wurde, an dessen Verschluss er noch nestelte.

Oterness sah auf die bleichen Narben an Corans Knie, während er ihr einen düsteren Blick zuwarf und die Wendeltreppe hinaufeilte. Kaum war er oben angekommen, da wies Emin schon auf die enthüllte Tafel.

»Ruf die Bruderschaft zusammen. Wir reiten gen Scree.«

Coran starte schweigend auf die Schieferplatte, bis Emin ihn anwies, wieder hinabzugehen. Das Weißauge hob langsam das Bein und fuhr mit dem Finger über die hässliche Narbe am Knie. Sein Gesicht färbte sich rot vor Wut. Dann folgte er seinem König nach unten.

Königin Oterness beobachtete die zwei Männer. Bei der Frage, was die beiden so aufwühlte, lief ihr ein Schauder über den Rücken.

Dann sprach Coran mit vor Hass zitternder Stimme. »Ilumene«, sagte er.

Oterness wurde bleich. Dieses eine Wort erklärte alles. König Emin ergriff die Hand seiner Königin und drückte sie, dann nahm er seine Kleidung auf.

Sie legte die andere zitternde Hand auf ihren Bauch. Dort, auf der Haut unter ihrem Nabel, spürte Oterness raue Narben, die einen Namen bildeten. Das Hautbild, das sie dort hatte stechen lassen, verbarg diesen Namen nur vor den Augen anderer. Die Narbe blieb.

»Und wo wir Ilumene finden, wird Rojak nicht weit sein«, sagte Emin. »Und sie werden beide dafür zahlen.«

1

Auf der Spitze einer flachen, langgestreckten Anhöhe brachte Isak sein Streitross mit einem kurzen Ruck am Zügel zum Stehen und lehnte sich auf den Sattelknauf, um das Gelände vor sich zu mustern. Seine Begleiter gesellten sich auf der flachen Hügelkrone zu ihm und genossen schweigend den Anblick. Es war bereits der späte Nachmittag eines sonnigen Tages und eine warme Brise wehte von der weiten, leeren Aue herüber, trug den Geruch von trockenem Gras und blühenden Wildblumen mit sich. Die Hügellandschaft, von verstreuten Baumgruppen durchzogen, erstreckte sich über Meilen, bis an den dunklen Rand eines Waldes. In der Ferne deutete ein dunkler Flecken auf eine Art See hin.

Isak kannte diesen Wald von Reisen in seinem früheren Leben, als er noch ein unwissender und unwichtiger Junge in einem Wagenzug gewesen war. Sein heutiges Leben als Herzog war dagegen gänzlich anders.

Es gab nur eine Straße, die sich mit Kiefernadeln bedeckt unter einem Baldachin aus großen, alten Kiefern hindurchschlängelte. Es war ihm wie die letzte Bastion seiner Heimat erschienen, obwohl sie sich weit jenseits der Grenze zu Farlan befanden, bevor sich das Land öffnete und alle anderen einließ. Zur Rechten erstreckte sich eine Reihe kleiner Hügel, mit Ginsterbüschen gesäumt, und er erinnerte sich daran, sie dereinst von der anderen Seite aus gesehen zu haben. Die regelmäßigen Huckel hatten stets zu gleichmäßig ausgesehen und wirkten, als würde sich eine riesige Schlange aus ihrem Bau in die Senke winden, über der sie nun standen.

Carel, der Hauptmann von Isaks Garde, Freund und Mentor aus seiner Jugend, hatte ihm von all den Schlachten erzählt, die geführt worden waren, nur weil diese Hügel an eine Schlange erinnerten, das erwählte Tier ihres Gottes Nartis; dies allein war für vergangene Lords in Tirah Grund genug gewesen, diesen Ort als die rechtmäßige Grenze zwischen den Ländern zu betrachten. Doch waren sie nicht in der Lage gewesen, diese Grenze zu halten. Das Gelände war so beschaffen, dass dieser Ort durch von Süden heranziehende Armeen leicht zu umzingeln und abzuriegeln war. Die Wachtürme, die man errichtet hatte, um vor nahenden Feinden gewarnt zu werden, waren ebenso wie die auf der Grenze errichtete Burg schon lange niedergerissen worden. Heute fand sich kaum noch eine Spur von ihnen.

Sie kamen auf ihrer eiligen Heimreise dank König Emins königlicher Barke gut voran. Diese hatte sie flugs bis zur Grenze gebracht, wo einer seiner in Schwarz gekleideten Getreuen ihnen bereits ein schnelles Flussschiff für den nächsten Abschnitt der Reise gesichert hatte. Doch mit einem Mal hatte Isak keine Eile mehr, in Gebiete zu gelangen, die ihm gehörten. Hier war es friedlich. Hier hatten sie das Land für sich. Nach seiner Niederlage in Narkang hatte sich der Weiße Zirkel vollständig aus dem Konflikt in Tor Milist zurückgezogen und der herrschende Herzog hatte all seine Truppen zurückgerufen, um mit den Zurückgelassenen aufzuräumen. Beinahe über Nacht war es an Tor Milists östlicher Grenze, die entlang des Flusses verlief, der Isak und seine Mannen nach Hause gebracht hatte, so ruhig wie seit einem Jahrhundert nicht mehr geworden. Isak spürte ein Lächeln auf seinem von der Sonne gewärmten Gesicht. Er hörte Vögel, das eindeutige Trillern einer Singdrossel in den dunklen Ginsterbüschen und etwas weiter entfernt das Geschnatter von Staren, die am Himmel kreisten.

Ich erinnere mich an einen Tag wie diesen. Ich war auf Beizjagd mit meinen Söhnen und Cousins. Der Wind roch genauso wie heute, nach warmem Gras und Wildblumen.

Gedankenverloren nickte Isak zu den Worten der Stimme in seinem Kopf. Graf Vesna bemerkte die Bewegung aus dem Augenwinkel. Der gut aussehende Adelige hob den Blick zu Isak, erschauderte beinahe unmerklich und wandte sich ab. Isak hatte seinen Gefährten berichtet, was in der Nacht in Llehden geschehen war, als die Prophezeiung in sein Leben und die Seele eines toten Königs in seinen Kopf einmarschiert war. Vesna hatte damals nichts dazu gesagt und es auch seitdem nur selten erwähnt. Isak ahnte, dass der Mann gar nicht wusste, was er darüber denken sollte. Die Auswirkungen waren ebenso schrecklich wie folgenschwer, nicht nur für Isak, sondern für das gesamte Reich.

Mihn saß schweigend hinter Isak, beobachtete jede Bewegung seines Lords. Er hatte die Lage mit der ihm üblichen Schicksalsergebenheit hingenommen. Carel und Tila hatten sich hingegen nach anfänglichem Erstaunen schnell sehr interessiert gezeigt – sie hatten ihn schon bald darauf angesprochen und es hatte mehr als eine Stunde gedauert, bis Isak ihre Befürchtungen zerstreut und ihnen hatte klar machen können, dass er nicht in Gefahr war. Es fiel ihnen schwer hinzunehmen, dass die Seele von Aryn Bwr vergeblich versucht hatte, seinen Körper zu übernehmen. Isak aber hatte sie davon überzeugt, dass Aryn Bwrs Scheitern ihm zugutekam. Wenn das Land von ihm verlangte, sich wie ein König zu benehmen, dann war niemand besser als Berater geeignet als der größte König, den das Land jemals erlebt hatte. Es wurde ein wenig dadurch erschwert, dass der tote Elf gleichzeitig der größte Feind der Götter gewesen war, aber Isak war sicher, dass er alles im Griff hatte. Er musste nur noch seine Freunde davon überzeugen.

Die Mohnblumen am Boden sahen wie Blutspritzer aus. Im Himmel und überall im Land hatte es Vorzeichen gegeben, doch ich habe sie nicht beachtet. Ich habe nicht bemerkt, was vor mir lag.

Isak ignorierte die Stimme, die sich in eine Wehmut hineinsteigerte, denn er wollte nicht zulassen, dass ihm der gefangene Geist die gute Laune verdarb. Eine strahlende Sommersonne war in den Spinnwebbergen selten und die Farlan hielten solche Tage in Ehren. In der Fremde scherzte man, dass die Farlan sogar einen Krieg unterbrechen würden, um die Sonne zu genießen, und wie Isak so dasaß und die Wärme im Gesicht spürte, erschien ihm dies wie ein sehr vernünftiger Gedanke. Es war früher Abend und die Sonne hing knapp über dem Horizont, warf goldenes Licht auf das Land, ließ es in einem Augenblick des Friedens innehalten, bevor das Zwielicht seine Herrschaft beginnen würde.

Der letzte König hatte seine Seele in Stücke gerissen, um dem letzten Rechtsspruch durch Tod zu entgehen, hatte seine Gedanken und Erinnerungen in den Kristallschädeln versteckt, die er zu diesem Zweck gefertigt hatte. Jetzt, da die Erinnerungen zum toten König zurückkehrten, konnte Isak den Nachhall von Aryn Bwrs Schmerz spüren.

Er sah sich um, suchte nach etwas, mit dem sich die düsteren Gedanken des Elfs aus seinem Geist vertreiben ließen, aber es gab nur wenig Interessantes zu sehen. Sie befanden sich am beinahe höchsten Punkt der Gegend, doch abgesehen von dem schmalen Trampelpfad, auf dem sie reisten, gab es nur einen kleinen Haufen Steine, etwa dreißig Schritt vor ihm.

In den Hügeln von Meyon hielt ich meinen sterbenden Erben in den Armen. In den Hügeln von Meyon habe ich den Boden verflucht, auf dem Velere starb.

Isak spürte Traurigkeit und Wut in sich aufsteigen und erinnerte sich an den Brief, den er König Emin gebracht hatte, und in dem es um einen Ort namens Veleres gegangen war. Das war nicht länger eine schreckliche Geschichte auf einem Blatt, sondern ein kurzer Blick auf Leid und Wut, die so stark gewesen waren, dass das Land noch heute, siebentausend Jahre später, Narben davontrug. Der Nachhall hinterließ einen bitteren Geschmack in Isaks Mund.

Er seufzte und kratzte sich an der Wange, wedelte eine dreiste Fliege weg, die sein Gesicht umschwirrte. Willst du mir diesen wunderschönen Ausblick wirklich verderben?, fragte er.

Dieses Land unterscheidet sich so sehr von dem, das ich kannte, sagte die Stimme nachdenklich. Es ist über die langen Jahre verblasst. Jetzt ist es grau und von den Narben meiner Existenz gezeichnet.

Aryn Bwr hatte sich in seinen Gedanken wieder verloren. Seit sie Llehden verlassen hatten, hatte sich Isak erst zweimal mit dem Geist unterhalten können, der in seinem Kopf das Lager aufgeschlagen hatte.

»Und damit ist meine gute Laune verschwunden«, murmelte er und glitt aus dem Sattel.

»Mein Lord?«, fragte Vesna.

»Ich muss mir nur mal die Beine vertreten«, sagte Isak mit einer wegwerfenden Handbewegung. Carel befahl den Wachen sofort, sich zu verteilen, wie er es bei jeder Pause zu tun pflegte, dann saß er selbst ab und trat zu seinem jungen Lord. Isak rang sich ein Lächeln ab und legte dem alten Mann den Arm um die Schulter. Während sie langsam auf den Steinhaufen zugingen, wurde Isaks Lächeln aufrichtiger. Es war seltsam: Erst seit es sich für einen Mann seiner Stellung nicht mehr ziemte, verspürte er das Bedürfnis, den Mann zu umarmen, der stets eher wie ein Vater für ihn gewesen war als Horman.

»Willst du beten?«, fragte Carel zweifelnd. Er kannte das Weißauge schon fast sein ganzes Leben lang und wusste darum, dass Isak Mitleid stets verabscheut hatte.

Isak zuckte mit den Schultern. »Das sollte ich mir wohl früher oder später angewöhnen, jetzt, da ich so wichtig bin.«

»Es ist dennoch nichts, was ich von dir erwartet hätte«, sagte der Marschall leise und achtete darauf, dass niemand sie hören konnte. Die Soldaten waren handverlesen, Männer der Palastgarde, und vollkommen vertrauenswürdig. Aber dieses Geheimnis war zu unerhört, um es anderen anzuvertrauen.

»Von ihm auch nicht«, erinnerte Isak ihn lächelnd. »Hör auf zu hadern wie ein altes Weib. Tila kann das gut genug, um es für euch beide zu übernehmen.«

»Worum geht es dann?«, fragte Carel verwundert.

Isak seufzte. »Nichts Wichtiges. Ich wollte nur einige Minuten die Aussicht genießen und den Kopf frei bekommen. Er erinnert sich jetzt langsam an die Dinge, die er in den Kristallschädeln eingeschlossen hat. Ein Teil von ihm hat mich seit meiner Geburt begleitet, aber so viel mehr war für Jahrtausende verschollen, und diese Dinge heitern einen nicht eben auf. Die Unterlegenen haben nur wenige fröhliche Erinnerungen.«

Während dieser Worte fanden seine Finger wie von selbst ihren Weg zu der gläsernen Form, die mit seinem Brustpanzer verschmolzen war.

Seit er ihre gewaltige Macht gespürt hatte, hatte er es nicht gewagt, sich mit den uralten Artefakten zu beschäftigen. Dennoch blieb ihre Nähe seltsamerweise beruhigend.

»Was für Erinnerungen?«

»Schlachten, der Tod seines Sohnes, manchmal nur Bruchstücke, die keinen Sinn ergeben, wie meine Träume; und manchmal auch Dinge, die einiges erklären.«

»Zum Beispiel?«, hakte Carel sanft nach.

»Du erinnerst dich an den Tag, an dem all dies hier begann?«

»Aracnan?«

Wut kochte in Isaks Bauch auf, doch er besänftigte sie. »Aracnan. Er tötete Velere, Aryn Bwrs Sohn und Erben. Ich spürte Aryn Bwrs Hass, darum ging ich nicht mit ihm – und ich vermute, dass Aracnan aus dem gleichen Grund nicht näher kam. Er wusste nicht, mit was er es zu tun hatte. Als er seine Sinne aussandte, fanden sie nicht nur den ängstlichen Jungen, den er erwartet hatte.«

»Und wenn du erneut auf ihn triffst?« Vesna trat mit Tila, die sich bei ihm eingehakt hatte, zu Isak und Carel. Beide blickten besorgt auf das Weißauge. Die religiösen Amulette, die an gelben Bändern hingen und in Tilas langes Haar geflochten waren, klimperten leise im Wind.

Isak schnitt eine Grimasse. »Darauf habe ich keine Antwort.« Er blickte den Weg zurück, den sie gekommen waren, beinahe als erwarte er Aracnan dort zu sehen. Doch der Pfad war leer. Bienenfänger zischten mit gespreizten grünen Flügeln dicht über dem Boden dahin, schnappten nach Beute, die er nicht erkennen konnte. Die schlanken Vögel wären ein gutes Zeichen gewesen, wenn er sich wirklich Sorgen über Verfolger gemacht hätte. Sie würden nicht jagen, wenn sich Männer im Gras versteckten. »Wenn ich Aracnan erneut treffe, weiß ich nicht, was er tun wird«, gab er zu.

»Aber was werdet Ihr tun? Werdet Ihr in der Lage sein … ihn … zu kontrollieren, bevor er zuschlägt, wie er es bei dem Hohepriester Larats getan hat?«, fragte Tila.

»Das war etwas anderes, da war ich noch nicht auf ihn vorbereitet«, sagte Isak. »Jetzt weiß ich aber, welche Gefahr er darstellt. Ihr werdet mir vertrauen müssen, wenn ich sage, dass Aryn Bwr nicht stark genug ist, die Kontrolle über mich an sich zu reißen. Bei den Efeuringen hatte er seine einzige Chance – und er hat versagt. Jetzt bin ich vorbereitet – und damit stärker als er. Und meine Stärke nimmt weiter zu.«

»Noch immer?«

Isak lächelte. »Vielleicht nicht körperlich, aber ich habe erfahren, dass auch andere Dinge wichtig sind. Ihr Götter, Carel, kannst du es fassen, dass es weniger als ein Jahr her ist, seit ich deinen Wagen lenkte und mich beschwerte, dass ich nicht einmal zur Palastgarde zugelassen werden würde?« Er lachte.

Sie erreichten den Schrein und Isak strich mit den Fingern über den hüfthohen Steinhaufen. Jemand hatte sich große Mühe gegeben, die Steine so zusammenzufügen, dass sich eine nach innen gewölbte Form und keine kegelförmige ergab. Sie wölbte sich um eine Opferschale, die so in das Bauwerk eingelassen war, dass nur eine Hälfte herausragte. Die Schale war aus grobem Ton, einfach und unbehandelt, aber der Inhalt zeigte, dass dieser Schrein in Ehren gehalten wurde: ein geschnitzter Knochenkamm, ein abgenutztes, aber intaktes Messer und zwei kleine Kupfermünzen. Für Isak bedeuteten sie nichts, aber für den Hirten, der sie hiergelassen hatte, waren sie wichtig genug. Über der Schale ruhte eine gerundete Schieferscherbe, in die Vrests Hornsymbol gekratzt worden war.

»Ja«, bestätigte der erfahrene Kämpe mit ernstem Gesicht. »Vor weniger als einem Jahr scherzte ich noch, die Götter könnten so einiges mit dir vorhaben. Achtlose Worte …«

Der grauhaarige Mann trat beiseite, zog laut die Nase hoch und spuckte auf den staubigen Boden. Für diese Tat erntete er einen strafenden Blick von Tila, woraufhin er den Kopf senkte und nach einem Augenblick der Reue in seinen Geldbeutel griff, um eine Münze in die Opferschale zu werfen. Tilas tadelnder Ausdruck wurde durch jenes gleißende Lächeln ersetzt, dem Carel noch nie hatte widerstehen können. Sie strahlte den Mann an, als wäre der erfahrene Wachmann ein Fünfjähriger, der gerade richtig und falsch zu unterscheiden lernte.

Carel kniete vor dem Schrein nieder und sandte seiner Opfergabe ein kurzes stummes Gebet nach. Als der Mann den Kopf senkte, spürte Isak die Berührung einer Brise im Nacken, wie kühlen Atem. Er drehte sich um, aber da war nichts, nur die Gewissheit in seinem Innern, dass der Gott dieses Ortes nah war.

Isak sandte so vorsichtig wie möglich seine Sinne aus und sah überrascht eine verschwommene, schattenhafte Gestalt, einem Falken ähnlich, die gemächlich über dem Schrein kreiste. Er erkannte erschrocken, wie furchtsam der Geist war. Seltsam, Isak hätte erwartet, dass er sich so weit wie möglich von ihm fernhalten würde. Er legte eine Hand auf den Schrein und spürte den Schauder, der den Geist über ihm durchfuhr. Nun ergab all dies auch einen Sinn: der Gott hatte sich nicht entfernt, weil er nicht zulassen konnte, dass sich Isak zwischen ihn und den Schrein stellte. Der Schrein war alles, was er hatte.

»Er wurde nicht geweiht«, murmelte Isak.

»Hm?«, fragte Carel. »Der Schrein? Und das Symbol Vrests?«

»Ich nehme an, dass der Hirte, der ihn errichtet hat, nicht viel über Religion wusste. Er hat den Schrein vermutlich gebaut, um sich für das Wiederfinden eines verlorenen Lamms oder etwas Ähnliches zu bedanken. Darum ergab es für ihn Sinn, dieses Symbol dort anzubringen. Ihm war nicht bewusst, dass ein Priester den Schrein dennoch weihen muss.«

»Ich werde es mir aufschreiben und wir unterrichten das nächstliegende Grenzdorf davon, Unmen«, sagte Vesna.

»Spar dir die Mühe«, sagte Isak. »Es liegt jenseits der Grenze – und der Frieden in Tor Milist wird nicht lange anhalten. Zu viele Söldner. Jeder Priester, der versucht durchzukommen, braucht eine bewaffnete Eskorte. Und so eine Eskorte müsste aus der Leibwache des örtlichen Lordprotektors stammen – in welchem Fall man uns vorwerfen würde, in diesem Streit Partei zu ergreifen. Oder sie müsste aus Soldaten bestehen, die weder Wappen noch Farben tragen, und die von jedem angegriffen würden, dem sie begegnen.«

Vesna starrte ihn an, dann lächelte er. »Götter in der Höhe, da machen wir womöglich doch noch einen Lord aus dir!«

Isak schnaubte und packte Carel am Kragen, um ihn aufzurichten. »Das stimmt vielleicht sogar. Und dies, obwohl ich doch eigentlich nur der Palastgarde beitreten wollte. Ihr Leute solltet besser zuhören, wenn ihr eure Posten verteilt!«

Das rief Gelächter bei seinen Begleitern hervor. »Wenn Ihr mir diese Erkenntnis verzeiht, mein Lord«, sagte Vesna und sein Lächeln wurde noch breiter, »Ihr habt die Aufnahmeprüfung noch immer nicht bestanden. Ich gebe zu, Ihr habt das eine oder andere auf dem Schlachtfeld vollbracht, das man würdig nennen könnte, aber das bedeutet noch nicht, dass Ihr einfach so in den Reihen der Geister marschieren könnt.«

Isak zischte in gespielter Verzweiflung auf und klopfte dem Grafen statt einer Antwort auf die Schulter.

»Ich glaube nicht, dass Kerin dies zulassen würde«, pflichtete Carel ihm bei, »aber mir steht es nicht an, über unverdiente Ehren zu klagen. Ich kann immer noch nicht recht glauben, dass ich jetzt Marschall Carelfolden bin, und du bist immer noch ein rotznäsiges Kind, mit dem ich von Zeit zu Zeit Mitleid hatte. Gütiger Nartis, es muss über dreizehn Jahre her sein, dass ich dich schniefend im Wald gefunden habe, die Knie und Ellbogen aufgeschlagen. Fühlt sich an, als wäre das erst im letzten Monat gewesen. Was hatten sie noch mit dir angestellt?«

Die vier gingen zu den Pferden zurück. Mihn stand bei der Dame Daran, Tilas Anstandsdame, und hielt die Zügel.

»Sie führten mich zum Fluss«, antwortete Isak leise und sein Lächeln verblasste etwas. »Dann stießen sie mich die Böschung hinab ins Wasser und ließen mich dort zurück.«

»Richtig, einige von denen waren üble kleine Mistkerle. Aber Kinder wissen es nicht besser und ihre Eltern gaben ihnen keinen Grund zu glauben, ihre Taten wären unrecht. Wir haben es ihnen jedoch heimgezahlt, nicht wahr?« Carel kicherte.

Die Erinnerung daran stellte Isaks gute Laune wieder her. »Garnerbeeren, bis heute eine deiner besten Ideen. Wie habe ich mich an diesem Tag über den Geruch von Kot gefreut!«

Er kratzte sich die Wange und blickte nach Westen, nach Scree hin, wohin die überlebenden Mitglieder des Weißen Zirkels und die Truppen der Fysthrall mutmaßlich geflohen waren. »Ich glaube, dieser Tage braucht es mehr als Garnerbeeren für eine Rache.«

Vesna nickte. Isak hatte die Frage, wie er auf den Versuch des Weißen Zirkels reagieren wollte, ihn zu versklaven, vertagt, auch wenn er offen über die Geschehnisse im verlassenen Tempel in Llehden und seiner Verbindung mit dem Weißauge Xeliath sprach.

Das Yeetatchen-Mädchen war auch etwas, das Isak nicht ganz verstand und benötigte eine Entscheidung, die er bald treffen musste. Er konnte nur hoffen, dass seine engen Vertrauten beim Gedanken an das, was er in seinem Geist bewahrte, nicht zu nervös wurden: den größten Feind der Götter und die Tochter eines fremden Adeligen, einem der altvorderen Feinde Farlans.

»Ein Wagenzugbalg sollte solche Entscheidungen nicht treffen müssen«, seufzte Isak.

Tila schüttelte den Kopf: »Lieber ein Wagenzugbalg mit etwas Verstand als die Hälfte derer, die für diese Aufgabe erzogen wurden.« Die Leidenschaft in ihrer Stimme überraschte sie alle, doch Tila fuhr ungerührt fort: »Lest einmal ›Die Geschichte der Litse‹, dann wisst Ihr, wovon ich spreche. Die Farlan sind stark geblieben, weil sie frisches Blut in die Ränge der Adeligen bringen. Die anderen Stämme mögen uns für die Unverrückbarkeit unserer Traditionen verspotten, doch das größte Problem der Litse war schon immer, dass der einfache Mann nie etwas erreichen konnte. Die herrschende Klasse war stets schwach und streitsüchtig und die Heere werden von Männern mit der richtigen Herkunft und nicht mit den nötigen Fähigkeiten für diese Aufgabe geführt. Ihr seid für Euren Titel vielleicht nicht ausgebildet worden, aber das werden wir beheben – und wenigstens schleppt Ihr nicht die Lasten mit Euch herum, die eine stolze Familiengeschichte unweigerlich mit sich bringt.«

»Lieb von dir, dass du das sagst«, sagte Isak lächelnd.

»Ich meine, was ich sage«, gab Tila zurück und überging seine Posse. »Ihr werdet noch lernen, was Ihr wissen müsst und Lesarl wird sich um die Einzelheiten kümmern, genau so, wie er es für Lord Bahl tat. Das Wichtigste ist, dass Ihr die Kraft besitzt, Entscheidungen zu treffen, und auf Eure Kraft verlasse ich mich gern.«

»Dann hat man mich doch für diesen Posten geschaffen«, gab Isak nach einem Augenblick des Schweigens zu. »Stärker und größer als der normale Mann und nur mit meiner eigenen, seltenen Art in der Lage, Kinder zu zeugen. Weißaugen werden geboren, um Anführer zu sein und eben jene Familienbande nicht zu besitzen, von denen du sprichst.«

Tila nickte. »Und das ist bei Euch umso stärker der Fall, wie es scheint. Seit der Schlacht von Narkang und den Ereignissen in Llehden erinnert Ihr mich an eine Zeile aus den alten Stammeslegenden. Dort sagt König Deliss Farlan, der Vater Kasis, des ersten Weißauge: »Die Geschichte hallt in seinen Schritten wieder.«

»Das ist doch mal ein Fluch«, murmelte Carel, und seine Falten wurden tiefer, weil er die Stirn runzelte.

»Nein, ist es nicht«, widersprach sie. »Eine Last, ja, aber denkt doch an all das, was Ihr vollbrachtet, seit Ihr den Wagenzug verlassen habt. Ihr seid erst achtzehn Sommer alt und schon jetzt beschämen Eure Taten die Helden der alten Mythen. Weißaugen wurden von den Göttern für den Kampf und die Führerschaft in ihrem Namen geschaffen, aber die meisten werden niemals solch einen großen Einfluss auf das Land haben.«

Isak wies auf Mihn hin, während sie sich den Pferden näherten. »Was ist mit ihm? Er tötete die Königin der Fysthrall, ein Weißauge, und sie trug zudem noch einen Kristallschädel bei sich.«

Mihn beachtete den Finger nicht, der auf ihn wies, doch er beobachtete jede Kleinigkeit. Als Einziger nicht von Farlanblut, war er deutlich kleiner als die anderen Männer und seine unauffällige Kleidung und seine ordentliche Art sorgten dafür, dass man ihn leicht übersah. Nur seine Augen widersprachen der sonst unauffälligen Erscheinung. Sie waren zu hell und aufmerksam, wie die Augen eines Raubtiers.

Isak senkte die Hand, als Mihn vortrat, um sich zu ihnen zu gesellen, und sagte dabei: »Eine Tat, die mich mein ganzes Leben lang verfolgen wird.«

»Warum?«

»Ihr seid ein Weißauge, geboren für große Taten. Ich bin für das Land nicht von Bedeutung und das Schicksal einfacher Männer, die in große Ereignisse stolpern, ist nie glücklich.«

Bevor jemand diese Worte anzweifeln konnte, rief eine Stimme hinter ihnen: »Glück ist etwas Unbestimmtes. Mich ärgert die mangelnde Belohnung.«

Isak erschrak und hatte die Hand am Schwertgriff, als er herumwirbelte, aber dann erkannte er den Sprecher und hielt die heranstürmenden Wachen mit einer Geste ab. Morghien sah genauso heruntergekommen aus wie bei ihrer ersten Begegnung und zeigte das gleiche spöttische, erzürnende Lächeln. Sein wettergegerbtes Gesicht sah aus, als habe er schwere Jahre hinter sich. Doch Isak war einer der wenigen, der wusste, dass der Mann der vielen Geister auf übernatürliche Weise schneller gealtert war.

»Du«, rief Carel wütend und zog seinen Säbel aus Schwarzeisen aus der Scheide, während er auf ihn zuging. Morghien beließ die abgenutzte Axt in seinem Gürtel und legte auch das schwere Bündel nicht ab, das er auf den Schultern trug, sondern stand mit unveränderter Miene neben dem Schrein und beobachtete den näherkommenden Carel.

»Du solltest beim nächsten Mal vorsichtiger sein, wen du so unvermittelt ansprichst«, blaffte Carel den Mann an. »Ich kann Überraschungen verdammt noch mal nicht leiden, außer an meinem Geburtstag. Wenn du dich also das nächste Mal anschleichst, werden meine Männer dir gehörig den Kot aus dem Leib prügeln.«

»Also bitte, behandelt man etwa so einen … Verbündeten?«

»Heutzutage schon«, sagte Carel nachdrücklich. Er hatte sein Schwert noch immer nicht weggesteckt. »Nur, falls du nicht auf dem Laufenden bist: Überraschungen sind nicht mehr willkommen.«

»Ich habe das von Lord Bahl gehört«, sagte Morghien ausdruckslos in Miene und Stimme. »Eine Schande, aber im Nachhinein betrachtet: keine große Überraschung. Xeliath berichtete mir, dass Lord Styrax ihn tötete. Wenn das wahr ist, haben wir ein ganz schönes Problem.«

»Wir?«, fragte Isak aufgebracht. »Über welche Stadt herrschst du, dass dies dein Problem ist?«

»Ich mag den Lord der Menin nicht, und wenn etwas diejenigen betrifft, die ich Verbündete nenne, und meine Pläne zu durchkreuzen droht, dann wird es auch zu meinem Problem.« Morghiens Blick ruhte auf Isak, er blieb ruhig und selbstbewusst  – bis sich die Augenblicke ausdehnten und er bemerkte, dass Isak langsam mit einem Fingernagel auf den Smaragd in seinem Schwertgriff pochte. Morghien runzelte die Stirn und seine übliche Selbstsicherheit geriet ein wenig ins Wanken.

Unter anderen Umständen hätte es Isak Spaß gemacht, Morghien zu verunsichern, doch im Augenblick gab es wenig Grund zur Freude. »Dein Freund«, sagte er, »der Seher von Ghorendt …«

»Fedei? Was ist mit Fedei?«

»Wir haben auf dem Rückweg bei ihm Halt gemacht, oder wir versuchten es zumindest. Schon bevor wir die Stadt erreichten, machten die Wachen deutlich, dass wir dort nicht willkommen waren.«

»Nicht willkommen?« Morghiens Gesicht wurde ernst. »Ist Fedei tot?«

»Das wissen wir nicht. Ghorendt ist für alle Fremden gesperrt. Wir fanden nur heraus, dass am Tag nach der Silbernacht etwas geschehen sein musste. Als wir den Fluss verließen, sahen wir uns den Spitzen eines Dutzends von Pfeilen gegenüber, also kehrten wir um. Es gab Gerüchte darüber, dass der Seher hinter verschlossenen Türen gefangen und jeder Spiegel im Haus zerbrochen sei.«

Bei Isaks Worten verfinsterte sich Morghiens Ausdruck noch weiter. »Ich weiß, wessen Werk das ist«, murmelte er.

»Warum? Fedei machte auf mich nicht den Eindruck einer wichtigen Figur in deinen Spielen.«

Morghien schüttelte den Kopf. »Das war er auch nicht, nur ein warmherziger Gelehrter mit einem seltenen Talent, der Gabe nämlich, zukünftige Ereignisse zu sehen.« Er verstummte, fügte dann hinzu: »Xeliath hat mir einiges von dem erzählt, was in der Silbernacht geschehen ist, von dem Umschwung im Lauf der Geschichte.«

»Der zum Teil auf deine Einmischung zurückgeht«, unterbrach ihn Isak. Er war ein bisschen beschämt, dass er sich, als Carel ihm mit dem Tod gedroht hatte, nicht daran erinnert hatte, dass es Morghien gewesen war, der ihm den Weg aufgezeigt hatte, mit dem er Aryn Bwrs Angriff hatte abwehren können. »Ohne dich hätte ich wohl nicht überlebt.«

Morghien nahm den Dank mit einer stummen Geste an und starrte grimmig zu Boden. Nach einigen Augenblicken hatte er eine Entscheidung gefällt. »Ihr könnt mir den Rest der Geschichte beim Abendessen erzählen. Wir müssen mehr besprechen, als ich geahnt habe, und vielleicht kann ich etwas Licht in die Sache mit Ghorendt bringen.«

Sie setzten ihren Weg fort, solange es noch hell genug war, folgten den beiden Waldläufern am kleinen See vorbei und weiter bis zu einer Quelle, die am Rande des Waldes entsprang und durch eine Gruppe von Eschen und Ulmen floss. Sie eilten aus alter Gewohnheit am See vorbei. Stehendes Wasser war ein schlechtes Zeichen, man sollte es nur im äußersten Notfall nutzen. Solche Orte zogen nämlich die verschiedensten Geister an.

Dieser See maß nur etwas mehr als fünfzig Meter in allen Richtungen, aber so nah an der Grenze würde ein gerüttelt Maß an Schwertern und Äxten auf seinem Grund liegen. Eine Opfergabe an den größten aller Götter, der schon die Besitzer der Waffen für sich eingefordert hatte. Obwohl nicht jeder See ein Tor zu Tods Reich war, wollte hier doch keiner unnötig lang verweilen.

Die Sonne war bereits hinter dem Horizont versunken, als sie endlich Rast machten und Feuer entzündeten. Die Wärme des Tages hing noch in der Luft, als die Dunkelheit kam: die Reisenden aßen in aller Ruhe in kleinen Gruppen. An Baumstämme gelehnt, waren sie in freundschaftliche Unterhaltungen vertieft und blickten zum beruhigenden Licht der Sterne und der beiden Monde auf.

Als sich die Soldaten für die Nacht bereitmachten, erhob sich Morghien und winkte Isak, ihm zu folgen. Das Weißauge legte sich den Schwertgurt über die Schulter und bedeutete Carel, dass er keine Begleitung wünschte. Dann brach er auf.

Nach kurzer Zeit gingen Morghien und er zwischen den Bäumen entlang, folgten der Neigung des Bodens, bis sie eine natürliche kleine Senke erreichten, kaum mehr als zwanzig Meter im Durchmesser. Am Boden der Senke befand sich ein halb versunkener Stein, die Oberfläche von Wind und Regen glatt gerieben, der aussah wie ein grob gefertigter Tisch. Isak blickte sich um und sah, dass Mihn sie vom Waldrand aus beobachtete. Der Anblick des von Schatten umrahmten Gesichts des gescheiterten Harlekins war seltsam beruhigend. Er bedeutete dem Mann, er solle wieder zu Bett gehen, war aber doch zufrieden, dass Mihn seine Anweisung missachtete und weiter Wache stand.

»Das ist günstig«, sagte Morghien und ließ eine Hand über die Oberfläche gleiten.

»Wofür günstig?«

»Für ein bisschen Magie. Ich wurde nicht mit großem Können gesegnet, aber mit dem richtigen Werkzeug ist das hier einfach genug.«

Er holte ein von den Jahren der Nutzung abgegriffenes und schartiges Silbermesser hervor. Isak spürte, dass ein leichter Zauber darauf lag, aber nicht, welcher Art er war. Morghien kratzte ein blasses Kreuz in die Oberfläche des Steins und verband die Enden, wodurch das Kreuz von einer Raute eingeschlossen war. Aus der gleichen Tasche zog er eine goldene Kette, an der dicke, übergroße Münzen hingen, die aus unterschiedlichem Material bestanden und mit Edelsteinen besetzt waren.

»Bei den Göttern«, keuchte Isak und streckte die Hand aus, um eine zu berühren. Morghien aber zog sie weg. »Was ist das?«

»Man nennt es eine Omenkette. Sie wird beim Hellsehen benutzt. Die Art, wie die Münzen fallen und liegen, kann überraschend viel aussagen, wenn der Werfende zu lesen weiß, was er da sieht.«

Morghien bemerkte Isaks skeptischen Gesichtsausdruck. »Jetzt guck nicht so«, sagte er ernst. »Das ist nicht etwas so Zufälliges wie Kartenlegen. Jede Münze ist einem Gott des Höheren Kreises geweiht, vom jeweiligen Hohepriester gesegnet und von einem Wesen beseelt, das außerhalb der Zeit und der Gesetze des Landes steht. Wenn ein Magier die Kette wirft, legt sich ein Muster auf die Oberfläche, die bestimmt, wie die Münzen zur Ruhe kommen. Vertrau mir, da ist kein Zufall im Spiel.«

Er hielt eine glatte Goldscheibe hoch und drehte sie, damit Isak die andere Seite sehen konnte, Obsidian oder poliertes Jett. »Zwei sind nicht dem Höheren Kreis zugewiesen. Diese hier, die Münze der Dame, steht für das Glück, aber auf sehr eigene Weise, und für die Sterblichen. Sie ist normalerweise die wichtigste Münze eines Wurfes, da sich alle Ereignisse letztlich um Menschen drehen.«

Er suchte gewissenhaft eine andere Münze an der Kette heraus und hielt sie, während er sprach, Isak hin. Sie war aus Lapislazuli, dunkelblau mit einer dünnen Linie von Katzengoldeinschlüssen.

»Dies ist, wie du sicher ahnst, Nartis’ Münze. Ich würde dir empfehlen, keine der anderen zu berühren, denn das könnte das Gleichgewicht beeinflussen.« Er grinste. »Und noch ein Rat: Vertraue nie einem Priester, der eine solche Kette benutzt. Ohne ein Gleichgewicht der Weihe sind sie nutzlos – mehr als nutzlos sogar. Denn was dann aus ihnen gelesen wird, ist schrecklich verzerrt.«

»Wozu dient das Kreuz?«, fragte Isak und ließ die schlohweißen Finger seiner linken Hand über die glatte Oberfläche der Scheibe gleiten. In der Mitte war das Schlangensymbol eingraviert, umgeben von Zeichen in einer unbekannten Schrift. Isak vermutete, dass sie das Gebet des Waidmanns darstellten.

Als Morghien bestätigend nickte, erkannte Isak, dass seine von Magie gezeichnete Hand vermutlich Nartis’ Münze verstärken würde.

»Das Kreuz stellt unser in Viertel aufgeteiltes Spielfeld dar. Oben die Himmel und das Land, unten Feuer und Wasser. Ich besitze diese Omenkette nun schon seit vielen Jahren und kenne ihre Launen gut. Hast Du erst einmal diejenigen entfernt, die ihre blanke Rückseite zeigen, wird die Lage jeder Münze auf dem Spielbrett und ihre Lage zueinander die Frage beantworten, die in deinem Geist ruht, wenn du sie wirfst.«

»Die Rückseite? Ah, dann ist nur auf einer Seite etwas eingraviert«, sagte Isak und drehte die Nartismünze um. »Und was ist mit der Münze der Dame? Die ist auf keiner Seite graviert.«

»Diese Münze ist wahrlich etwas ganz Besonderes«, stimmte Morghien zu. Die Obsidianseite sagt aus, dass ein Pfad bereits eingeschlagen wurde, und selbst Schicksal nichts mehr daran ändern kann. Hier stellt Schicksal das Glück dar, steht für eine Möglichkeit, die es zu nutzen gilt. Wenn an dieser besonderen Kette, meiner Kette, jedoch die schwarze Seite oben liegt, so steht das – wie ich vermute – für Azaer.«

Das Wort hing zwischen ihnen in der Luft und Isak starrte auf die kleine Spiegelung des größeren Mondes Alterr in der polierten Oberfläche der Münze. Er wusste nur wenig über Azaer – oder den Schatten, wie König Emin ihn genannt hatte – aber er war sicher, dass Azaer ihn in den letzten Monaten beobachtet hatte. Die Nacht machte Isak normalerweise keine Angst, denn er hatte das Land zeitlebens nur von den Monden begleitet durchwandert. In der letzten Zeit aber hatte er einige Male eine unerklärliche Furcht verspürt und war davor ins Licht geflohen. Nicht einmal der König hatte ihm erklären können, was der Schatten tat oder warum. Isak wollte nicht in Azaers Pläne verstrickt werden.

Morghien verlor keine Zeit mehr, öffnete den Haken, der die Kette verband und hielt den Münzenstapel über das Spielbrett. Der Sterbliche befand sich unten. Sie klimperten auf den Stein und gerade in diesem Augenblick kam der Mond des Jägers hinter einer Wolke hervor, um sein farbiges Licht auf die Steinplatte zu werfen.

Morghien lehnte sich über die Münzen, die Hand bereits gehoben, um die auf dem Bild gelandeten zu entfernen, und zischte unwillkürlich auf.

Isak sah ebenfalls hinab und sogar er konnte lesen, was das Spielbrett ihnen sagen wollte: Der Sterbliche lag gerade so eben in dem Viertel, das Morghien die Himmel genannt hatte und war beinahe vollständig von der Obsidianseite der Münze der Dame bedeckt.

»Azaer wollte nicht, dass du Fedei erneut triffst. So habe ich also einen weiteren treuen Freund verloren«, flüsterte Morghien in die Nacht und senkte den Kopf in Trauer.

2

Am nächsten Tag war es kühler und bedeckt. Große, aufgewühlte Wolken, die zum Horizont hin dunkler wurden, kündeten von Regen. Sie begaben sich auf den Waldpfad und ritten meist schweigend, weil alle im Trupp auf das Knacken von Ästen und das Donnern von Hufen lauschten, das auf Verfolger hindeutete. Sie reisten vom Fluss weg geradewegs nach Norden, an der Grenze von Tor Milist entlang zu den Ländern, welche die Farlan als ihr Eigen ansahen. Ihr Ziel war nun das Lordprotektorat Saroc. Es wurde eine längere Reise, aber auf diese Weise vermieden sie die offensichtlichen Wege nach Hause.

Ein Blick auf die Karte offenbarte, wo die Gefahr lauerte: Am Fluss, dem sie bis zur Grenze zwischen Nerlos und dem Lordprotektorat Tildek gefolgt waren, dem Sitz der unangemessen mächtigen Familie Certinse. Lordprotektor Tildek und sein Neffe, der Herzog von Lomin, würden Lord Isak nur zu gern mit wenigen Wachen erwischen, bevor der junge Mann Tirah erreichen und seinen Anspruch geltend machen konnte. Dann hätten sie nur noch das Problem zu entscheiden, wer von ihnen König werden sollte.

Morghien ritt am Rand der Gruppe und hielt sich ungelenk auf einem der Ersatzpferde, die Augen auf den führenden Geist gerichtet. Da er für Wisten Fedei nichts mehr tun konnte, war Morghien Isaks Vorschlag gefolgt, sie stattdessen nach Tirah zu begleiten. Er war kein besonders guter Reiter, und die Unbequemlichkeit verschlechterte seine Laune noch weiter, je länger sie ritten.

Isak hatte sich Sorgen gemacht, dass der Wald zu still war, aber am frühen Nachmittag, als sich die Bäume ausdünnten und vom vertrauten Anblick der von Weideland umgebenen Haine und Dickichte abgelöst wurden, aus denen große Teile der Farlangebiete bestanden, wirkte das Land wie ausgestorben. Sie hatten grasende Schafe und Rinder erwartet und doch bisher noch nicht einmal einen Hasen erblickt. Kein Vogelsang lag in der Luft. Isak hatte genug Zeit allein in der Wildnis verbracht, um zu wissen, wie ein stiller Tag klingen sollte. Dies hingegen war die Stille, die einem jagenden Raubtier folgte.

»Wir haben den Langbogenfluss vor zwei Stunden überquert«, sagte er in die Stille hinein. »Wir hätten längst auf jemanden treffen sollen.«

Isak ritt, ebenso wie seine Soldaten, in voller Rüstung, der Helm ruhte im Schoß. Jeil und Borl, die Waldläufer, kundschafteten mit Mihn den Weg vor ihnen aus. Isak hielt es für unmöglich, dass jemand sie alle drei überraschen könnte, trotzdem fühlte er sich mit der Hand auf dem Schwertgriff besser. Etwas rumorte in seinem Hinterkopf. Er sah sich erneut um: Es gab nicht viele Stellen in der Nähe, an denen sich jemand verstecken konnte, und doch fühlte er sich beobachtet.

»Glaubt Ihr, wir laufen in eine Falle?«, fragte Tila hinter ihm. Isak drehte sich im Sattel herum und schenkte ihr ein Lächeln, von dem er hoffte, dass es beruhigend wirkte. Die erhoffte Wirkung blieb aus. Tila rümpfte die Nase und sah beiseite.

»Ich hoffe nicht«, sagte er. »Ich habe nur das Gefühl, dass uns jemand ausspioniert.« Ein Schauder rann wie eine geisterhafte Berührung über seinen Rücken, er zuckte zusammen und musste sich erneut umschauen. »Beachte mich einfach nicht, Tila. Ich bin nur ein Narr. Ich würde die Hand für unsere Späher ins Feuer legen.«

»Manche Dinge kōnnen sie nicht sehen«, sagte Morghien gedankenverloren. Er schloss mit nachdenklichem Blick die Augen. »Ist es Magie, was du spürst?«

»Ich …« Isak verstummte. Einmal mehr machte ihm seine mangelnde Erfahrung einen Strich durch die Rechnung. »Ich weiß nicht genug darüber, um sicher zu sein.«

»Isak«, sagte Carel mit entschlossenem Ausdruck. »Was sagen dir deine Instinkte? Nein, denke nicht darüber nach – versuch nicht, Magie einzusetzen oder etwas, mit dem du nicht vertraut bist. Ich kenne dich und vertraue auf deine Instinkte. Sag mir jetzt: Glaubst du, dass wir beobachtet werden?«

Isak nickte. »Ich glaube schon.«

»Gut.« Carel bedeutete dem Zug mit erhobener Hand anzuhalten. »Helme auf, Lanzen heraus. Ersatzpferde hinter uns. Tila, Dame Daran, bleibt in der Mitte – und Morghien, du bleibst bei ihnen, was auch immer passiert. Diese Mistkerle spionieren uns wohl mit Hilfe eines Magiers aus, was bedeutet, dass man uns angreifen wird. Und wenn das geschieht, will ich, dass du die Frauen in Sicherheit bringst. Du bist kein kampferprobter Ritter, also können wir in einem Kampf auf dich verzichten.«

Er verstummte, als er sich an die Etikette erinnerte, blickte zu Isak und wies auf seinen Helm. »Mein Lord?«

Das Weißauge lächelte, denn er erinnerte sich an ein Sprichwort, das er einmal gehört hatte: Tradition herrscht über die Farlan, nur der Lord sagt allen, was zu tun ist. Er nahm die blaue Maske vom Gürtel und zog sie über, dann hob er den Helm, dessen Oberfläche einem Zerrspiegel glich, über den Kopf. Selbst an einem so trüben Tag warf er das Licht auf seltsame Weise zurück. Isak war froh, dass nur seine Feinde den Anblick dieses seelenlosen Gesichts ertragen mussten. »Meine Herren, die Helme.«

Isaks Truppe hatte bereits Verluste zu beklagen, acht Tote und drei Schwerverletzte, die in Narkang zurückgeblieben waren, darum fiel die Abwesenheit der drei Späher umso stärker auf. Vor allem die Anwesenheit Mihns, der Isak wie ein Schatten folgte, wirkte stets beruhigend. Jetzt, da er fehlte, fühlte sich Isak auf eigentümliche Weise verletzlich.

Er sah sich um. Sein Blick traf auf Carel, der die Ersatzpferde so hintereinander anseilte, dass sie im Notfall zurückgelassen werden konnten. Der alte Soldat wäre sicher nicht dankbar, wenn er es vorschlug, aber es wurde höchste Zeit, dass er sich zur Ruhe setzte. Er erschien Isak jetzt zu klein für den Plattenpanzer, als habe die verfließende Jugend den Mann einige Fingerbreit schrumpfen lassen. Dafür war der Kampf in Narkang Beweis genug gewesen. Carel war noch immer gut mit dem Schwert, daran gab es keinen Zweifel, aber lange Stunden des Kampfes in schwerer Platte waren für jeden anstrengend. Carel hatte die Erschöpfung dieses Mal beinahe umgebracht.

Wenn wir Tirah erreichen, werde ich mit Lesarl einmal über Witwen mit großen Anwesen sprechen, die Enkel haben, die er angrummeln kann, dachte er.

»Lord Isak hat recht. Der Wald ist zu still«, sagte Morghien, während Vesna und Carel Tila samt ihrer Anstandsdame dabei halfen, sich Schilde auf den Rücken zu schnallen. Die beiden besaßen natürlich keine Rüstung. Die Wahrscheinlichkeit, dass bei einem Hinterhalt leichte Kavallerie eingesetzt wurde, war hoch, und die Schilde würden gegen Langbogenbeschuss nichts taugen. Aber kleinere Angriffe könnten sie abhalten.

»Die Stille könnte uns nützen«, sagte der Graf. »Es ist windstill, also tragen die Geräusche weit und für einen Angriff brauchen sie schon mehr als ein Regiment – nachdem man Lord Isak im Kampf gesehen hat, ist offenbar, dass sich jeder Trupp mit weniger als einhundert Mann in große Gefahr brächte.«

»Vesna, such uns einen Ort, den wir gut verteidigen können«, blaffte Isak, den Blick auf die Bäume vor ihnen gerichtet. Er konnte dort draußen irgendwo eine Bewegung spüren, eine Bewegung und Augen, die sie beobachteten. Es war Magie im Spiel, aber das hier war ein Raubtier, und die Tiere des Waldes hatten dies erkannt.

Sie schlugen sich durch eine Reihe hochgewachsener Eschen auf offeneres Gebiet. Eine sanfte Neigung führte zu einem Fluss, der zur Linken hinter einem Hügel verschwand, doch der Boden hier war dicht mit verflochtenen Weißdornbüschen bewachsen. Niemand musste Isak erklären, dass dies die falsche Richtung war. Hier hätte sie der Feind im Nu in die Enge getrieben.