Sturmnacht - Hendrik Berg - E-Book

Sturmnacht E-Book

Hendrik Berg

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Beschreibung

Über der Nordsee zieht ein Sturm herauf und bringt den Tod mit sich ...

Ein Mord an einem idyllischen Badestrand von Amrum. Kommissar Theo Krumme und seine Kollegin Pat ermitteln auf der kleinen Insel mitten im nordfriesischen Wattenmeer. Der siebenjährige Tomme ist der einzige Zeuge des Verbrechens. Nur er kennt das Gesicht des Täters und gerät dadurch selbst in große Gefahr. In einem Wettlauf gegen die Zeit setzen Krumme und Pat alles daran, um den Mörder zu fassen. Da zieht ein Sturm auf und bringt neues Unheil auf die Insel ...

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Buch

Ein Mord an einem idyllischen Badestrand von Amrum. Kommissar Theo Krumme und seine Kollegin Pat ermitteln auf der kleinen ­Insel mitten im nordfriesischen Wattenmeer. Der siebenjährige Tomme ist der einzige Zeuge des Verbrechens. Nur er kennt das ­Gesicht des ­Täters und gerät dadurch selbst in große Gefahr. In ­einem Wettlauf gegen die Zeit setzen Krumme und Pat alles daran, um den Mörder zu fassen. Da zieht ein Sturm auf und bringt neues Unheil auf die Insel …

Weitere Informationen zu Hendrik Berg

sowie zu lieferbaren Titeln des Autors

finden Sie am Ende des Buches.

Hendrik Berg

Sturmnacht

Ein Nordsee-Krimi

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Originalausgabe März 2024

Copyright © 2024 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Vermittelt durch die Literarische Agentur Kossack.

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: © FinePic®, München; alamy stock foto / Anders Tukler

Redaktion: Heiko Arntz

KS · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-31439-2V001

www.goldmann-verlag.de

»Das Herz des Menschen ist sehr ähnlich wie das Meer. Es hat seine Stürme, es hat seine Gezeiten, und in seinen Tiefen hat es auch Perlen.«

Vincent van Gogh

1

1825, Ärmelkanal, vor der Küste von Dover

Das Meer hatte ihn auf jede nur erdenkliche Weise gerettet. Es wurde ihm zur Heimat, als er seine verloren hatte. Es zeigte ihm unendliche Horizonte, als ihn alle Wege in dunkle Abgründe führten. Es gab ihm Leben, als er nicht mehr leben wollte. Und es gab ihm den Glauben zurück, als er nichts mehr hatte, woran es sich zu glauben lohnte.

Auch an diesem Morgen stand er vorne am Bug und blickte hinaus aufs Meer. Er spürte die vom Salzwasser glatt gespülten Planken unter seinen nackten Füßen, hörte über sich das laute Knattern der Segel im frischen Westwind. Das gleichmäßige Auf und Ab der Wellen war zum Rhythmus seines Lebens geworden, seit er vor zehn Jahren einsam und verzweifelt auf einem alten Frachtkahn angeheuert hatte. Inzwischen war er auf unzähligen Schiffen gesegelt, hatte das kristallblaue Wasser der Ägäis gesehen und auf der Fahrt von Porto und Lissabon ins Mittelmeer viele Male die Straße von Gibraltar passiert. Er war auf einem arabischen Segelschiff mehrfach die Route Alexandria – Konstantinopel gefahren, hatte wochenlang mit quälendem Fieber auf einer Galeasse vor Triest gelegen, hatte vor Korsika ­gegen Piraten gekämpft und unter der sengenden Sonne der Balearen Schmugglern geholfen.

Er hatte ein abwechslungsreiches Leben geführt, viele Menschen getroffen und Freunde gefunden. Aber nichts, nicht einmal die warmen Wasser des Mittel­meeres hatten die schmerzlichen Erinnerungen vertreiben können, die sein Herz seit den Ereignissen von ­damals quälten.

Heute sah er zum ersten Mal die grauschwarze Nordsee. Als sie die weißen Felsen von Dover passierten, glaubte er, in der Ferne an Steuerbord den hohen Kirchturm von Calais im trüben Morgennebel zu erblicken.

Noch nie war er so weit nach Norden gesegelt.

Er atmete tief durch, versuchte, den Geschmack des ihm unbekannten Meeres in sich aufzunehmen. Lauschte dem Rauschen der dunklen Wellen, die auf das Schiff zuliefen. Er spürte die unergründliche Tiefe, die raue Schönheit und glaubte, den gurgelnden Ruf uralter Legenden und Abenteuer zu hören.

»Hola, Gabriel«, begrüßte ihn Eduardo, der Steuermann der Ariadna. Wie der Frachtsegler kam er aus Spanien, aus La Coruña an der galizischen Atlantikküste. Er stellte sich neben seinen Kameraden und stützte seine kräftigen, nackten Arme auf die Reling.

Eduardo war fast einen Kopf größer als er. Stolz lächelnd blickte er aufs Meer hinaus. Dass ihm die eiskalte Gischt ins Gesicht spritzte, störte ihn nicht.

»Warst du schon mal im Norden?«, fragte Gabriel nach einer Weile.

Eduardo strich sich durch die vom Salzwasser verklebten Haare und nickte. »Ein paar Mal«, antwortete er, den Mund voller Kautabak.

»Wie ist es dir ergangen?«

»Es ist eine fremde, raue Welt. Das Wetter ist grauenvoll. Oben im Skagerrak sind wir einmal in einen ­Orkan geraten. Sechs tapfere Seeleute sind innerhalb von zwei Tagen über Bord gegangen.«

»Wie schrecklich.«

Eduardo nickte. »Die Nordsee mag im Vergleich ein kleines Meer sein. Aber seine Stürme sind umso fürchterlicher.«

»Und die Menschen?«, fragte er.

»Alles Wilde.« Eduardo spuckte den Tabak ins Meer. »Es stimmt, dass es dort viele gute Seefahrer gibt. Ich kenne einige Kapitäne, die auf den friesischen Inseln geboren sind. Aber der Rest? Nur dumme ­Bauern. Und viele Strandräuber und Piraten, die es kaum ­erwarten können, dir ein Messer in den Rücken zu ­rammen.«

Gabriel sah seinen Freund an. »Vielleicht ist es das Beste, wir kehren um.«

Eduardo grinste. »Aber die Frauen. Die werden dir gefallen. Stolze, blonde Kriegerinnen. Nicht leicht zu erobern, aber wenn du eine zähmen kannst, wirst du nie wieder eine andere Frau ansehen wollen. Und das Beste: Sie sind ganz verrückt nach Spaniern wie uns.«

»Ich komme aus Portugal«, sagte Gabriel.

»Claro! Aber Spanier oder Portugiesen, das ist denen egal, Hauptsache du hast schwarze Locken.«

Gabriel blickte schweigend hinaus auf das dunkle, unergründliche Meer.

Eduardo seufzte und legte ihm mitfühlend den Arm auf die Schulter. »Gabriel, du musst Sara endlich vergessen. Sieh nach vorne. Du kannst nicht dein ganzes Leben in der Vergangenheit leben.«

»Mach dir keine Gedanken darüber, was ich kann und was nicht.«

»Ich bin dein Freund, vielleicht dein einziger. Also hör mir gut zu. Lass dich einfach überraschen, frag nicht, wohin der Wind dich trägt. Sondern such dir ­einen Ort, an dem du sein willst. Es wird Zeit, dass du endlich wieder irgendwo ankommst.«

Gabriel dachte einen Moment nach. Dann schüttelte er den Kopf und deutete weit hinaus auf das offene Meer. »Mach dir keine Sorgen. Ich bin schon da, wo ich sein will.«

2

Gegenwart, Norderney

Dunkle Wolken waren am späten Nachmittag aufge­zogen, hatten sich langsam, aber unaufhaltsam vor die Sonne geschoben und den bis dahin makellos blauen Himmel verfinstert. Sie hingen so tief über der Insel, dass Kinder sich auf der Promenade reckten und nach oben zeigten, in dem Glauben, sie mit ihren kleinen Fingern erreichen zu können.

Alex, Gino und Jan war das Wetter egal. Die drei Freunde aus Dortmund hatten sich an diesem Tag für ihre Verhältnisse ziemlich lange an die frische Luft ­getraut. In dicke Jacken gehüllt, waren sie durch die Dünen gewandert und hatten sich dann auf eine Decke ­gehockt, die bleichen Füße in den Sand gesteckt und ­dabei ihre Handys gecheckt.

Jetzt war Abend, und es sah aus, als würde es bald regnen. Also rafften sie sich auf und trotteten zurück zu ihrem Ferienhaus. Sie hatten es über einen Kollegen von Alex’ Vater gemietet, ein komplettes Haus für nur dreihundert Euro die Woche. Das war fast nichts, noch dazu in der Hochsaison.

Gut, groß war es nicht, lag dafür aber am ruhigen Ortsrand von Norderney und bot einen herrlichen Blick auf den Strand und die Nordsee.

Doch das Meerpanorama interessierte die drei Freunde weniger. Wichtiger war ihnen der 70-Zoll-Fernseher im Wohnzimmer.

Heute wollten sie es sich gemütlich machen. Das ­Essen war bestellt, und im Kühlschrank stand genug Bier für einen langen Filmabend mit der neuesten Star- Wars-Serie.

»Wo bleibt denn die verdammte Pizza?«, schimpfte Gino, der es sich bereits auf dem Sofa bequem gemacht hatte und gelangweilt in der dünnen Inselzeitung blätterte. »Langsam kriege ich Kohldampf.«

»Hey, wir sind hier nicht in Dortmund«, brummte Jan, der im Flur vorm Spiegel stand und einen Pickel ausdrückte, den er nach ihrem Ausflug zu den Dünen auf der Nase entdeckt hatte. »Die brauchen hier alle ein bisschen länger. Das sind Ostfriesen, Mann.«

Alex hockte auf einem kleinen Schemel direkt vor dem Fernseher. »Hoffentlich klappt das mit dem Streaming, Leute.« Er stöhnte.

Gino richtete sich alarmiert auf. »Mach keinen Scheiß.«

»Das WLAN hier ist die Hölle. Ich krieg einfach keine Verbindung.«

Jan trat hinzu und schnappte sich die Fernbedienung aus Alex’ Hand. Mit geübten Fingern tippte er einen Moment auf den kleinen Tasten herum.

»Alter, du bist im falschen Netz. So wird das nie was.« Mit breitem Grinsen korrigierte Jan den Fehler, warf die Bedienung neben Gino auf das Sofa und setzte sich.

»Hol mal Chips«, forderte er Alex auf, »dann fangen wir schon mal mit der ersten Folge an.«

Alex stand ächzend auf und ging über den Flur hi­nüber in die Küche.

»Und bring ein paar Kaltschalen mit«, rief Gino ihm hinterher und meinte damit frisches Bier.

Alex öffnete den Hängeschrank und holte erst einmal die Kartoffelchips heraus. Er schloss den Schrank wieder und stand eine Weile gedankenverloren vor dem Küchenfenster, das auf den Garten hinausging. Sie waren echt Glückspilze, sogar eine Terrasse mit einem Weber-Grill hatten sie. Morgen mussten sie unbedingt ein paar Bratwürste kaufen. Vielleicht gab es in dem kleinen Supermarkt an dem Ende der Strandpromenade ja sogar Steaks.

Alex betastete seine Wangen. Sein Gesicht glühte. Das lag nicht nur an der Sonne, die er heute abbekommen hatte, sondern auch an der frischen Seeluft. Als Großstadtjunge aus dem Pott war er so intensiven Kontakt mit der Natur einfach nicht gewohnt.

Er betrachtete sein Spiegelbild in der Fensterscheibe und fand, dass er eigentlich ganz okay aussah. Schade nur, dass sein Bart nicht richtig wachsen wollte. Er war jetzt fast zweiundzwanzig und hatte die Haut eines ­Babys. Gino dagegen sah mit seinem Vollbart aus wie ein Grizzly. Alex strich sich gedankenverloren über den dünnen Flaum am Kinn und blickte dabei hinaus in den Sommerabend. Nur zwei Mädchen waren ­unterwegs, spazierten lachend auf dem Weg hinter dem Garten entlang. Vielleicht sollte er sie fragen, ob sie Lust auf ein paar Bier, Pizza und eine gute Serie hatten. So nett es hier war, mit ein paar Mädels wäre es gleich viel cooler.

Alex überlegte einen Moment, reckte den Hals, um den Mädchen nachzuschauen, aber die waren schon hinter der nächsten Ecke verschwunden. Egal, Frauen konnten mit Star Wars sowieso nichts anfangen. Naturgesetz.

Er schaute in den Himmel. Komisch, diese dunklen Wolken. Irgendwie unheimlich. Die Luft, die von ­außen durch das nur angelehnte Fenster ins Haus strömte, roch nach geschliffenem Metall. Alex kannte den Geruch. Er wohnte in Dortmund direkt neben einer Schlosserei.

Ein leises Knistern riss ihn aus seinen Gedanken. Oder waren es Schritte? Bei dem Rhododendron am Straßenrand? Und war da nicht ein Schatten hinters Haus gehuscht?

Alex rieb sich mit dem Handrücken über die Augen und blinzelte hinaus in den Garten. Hatte er sich getäuscht oder war da wirklich jemand? Ein Hund vielleicht? Oder ein paar von diesen frechen Inselkindern? Die liefen mit ihrem fetten Bluetooth-Lautsprecher am Garten vorbei, auf dem nur ihr dämlicher Idiotenrap lief, und schmissen aus Langeweile Steine in den Garten.

Verächtlich schüttelte er den Kopf. Provinzler. Außer ihrer kleinen Insel kannten sie nichts von der Welt.

»He, Mann, bist du eingeschlafen? Wo bleibt das Bier?«, rief Gino aus dem Wohnzimmer.

»Ja, ja, geht gleich los«, rief Alex zurück.

»Hoffentlich. Sonst fangen wir ohne dich an.«

Er ging gerade zum Kühlschrank, als es an der Tür klingelte. »Endlich, die Pizzas«, rief Gino.

»Ich geh schon«, hörte er Jans Stimme.

Alex lächelte. Jetzt konnte die Party losgehen. Vergiss die Mädels! Er versuchte, zwei Sixpacks mit Jever und die Chipstüte gleichzeitig zu tragen. Doch das Sixpack, das er sich unter den Arm geklemmt hatte, begann sofort, gefährlich zu rutschen. Er beschloss daher, alles noch mal abzustellen – als er ein dumpfes Ploppen aus dem Wohnzimmer hörte. Dann ein Geräusch, als würde etwas Schweres zu Boden gehen.

Verwirrt blickte Alex in den Flur. Doch durch die angelehnte Tür konnte er nichts erkennen.

»Alles in Ordnung bei euch?«, rief er.

Keine Antwort. Doch dann hörte er Gino: »He, was soll das? Wer sind …«

Wieder das dumpfe Ploppen.

Dann Stille.

Was zum Teufel war da los? Jemand war im Haus. ­Jemand, der absolut nicht hierhergehörte.

Alex schnappte sich eine Bierflasche, ein Reflex, keine bewusste Entscheidung. Er umklammerte sie mit der Hand, wie eine Keule.

»Gino? Jan? Alles in Ordnung?«

Keine Antwort. Vorsichtig trat er in den Flur. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals hinauf.

Sein erster Blick ging in den kleinen Raum vor der Haustür. Sie war geschlossen. Davor lag ein Körper mit seltsam verdrehten Gliedern.

Jan.

Das Gesicht war von ihm abgewandt. Der Kopf lag in einer größer werdenden Blutlache.

Alex schwankte benommen. Für einen Moment wurde ihm schwarz vor Augen.

Was passierte hier?

War das ein Traum?

Jetzt sah er Gino. Er lag mit dem Rücken auf dem Sofa, die Augen weit aufgerissen. Und mit einem dunklen Fleck mitten auf der Stirn, aus dem ein feiner Blutfaden seitlich auf das Kissen lief.

Die Flasche glitt Alex aus der Hand, fiel mit einem dumpfen Schlag auf den Teppich und rollte unter das Sofa.

In diesem Moment löste sich ein Schatten aus der Zimmerecke.

Ein Mann, dessen Gesicht Alex im Halbdunkel nicht erkennen konnte. Aber er war groß, trug dunkle Kleidung.

Alex rührte sich nicht von der Stelle. Wie hypno­tisiert starrte er auf die Waffe, die der Fremde in der Hand hielt. Erkannte den schweren und im schwachen Licht matt glänzenden Schalldämpfer.

Sah das rote Licht der Zielvorrichtung, einen dünnen Strahl, der sich jetzt auf seine schmerzhaft pochende Stirn richtete.

»Warum so überrascht?«, hörte Alex eine sanfte, ja mitfühlende Stimme.

Dann erklang wieder das leise dumpfe Knallen. Es war das Letzte, was Alex wahrnahm, als es ihn nach hinten warf in ein unendliches schwarzes Nichts.

3

Krumme saß auf einer Bank auf dem Bahnsteig 1 des Husumer Bahnhofs. Er reckte den Hals und hatte trotzdem Mühe, das Polizeipräsidium zu finden, das sich schräg gegenüber an der Poggenburgstraße befand.

Kein schöner Anblick. Ein schmuckloser Siebzigerjahrebau mit einer stillgelegten Tankstelle und einem sandigen Parkplatz als Nachbarn. Wenn er genau schaute, konnte er sogar in sein Büro im dritten Stock sehen, wo Pat allein an ihrem gemeinsamen Schreibtisch saß. Das Fenster war einen Spalt geöffnet, trotz des Lärms der immer wieder vorbeifahrenden Güterzüge. Anders war die Hitze in dem kleinen Raum nicht zu ­ertragen.

Dennoch wäre er an diesem Morgen lieber bei seiner jungen Kollegin gewesen, als sich hier auf dem Bahnsteig dieser schwierigen Situation zu stellen.

»So’n Schiet«, schimpfte Marianne. »Schon wieder eine halbe Stunde Verspätung. Warum kann die Bahn nicht einmal pünktlich kommen?«

Krumme nickte und sah zu seiner Freundin, die neben ihm auf der Bank saß und kopfschüttelnd auf ihre Uhr schaute.

»Ja, blöd«, stimmte er ihr zu.

Für einen Moment trafen sich ihre Blicke. Marianne versuchte es mit einem traurigen Lächeln. Krumme wandte sich verlegen ab und sah wieder zum Präsidium.

»Du musst hier nicht mit mir und Sonny herum­sitzen«, sagte Marianne. Sie tätschelte freundlich den Kopf des großen Hundes, der zu ihren Füßen auf dem Boden lag. »Geh doch zu Pat, wenn du so dringend arbeiten musst.«

»Schon gut. Ich lasse euch hier nicht allein«, brummte Krumme und wies mit dem Kopf zu ein paar halbstarken Fußballfans, die einige Meter entfernt mit Bier­flaschen in der Hand herumstanden.

»Mach dir keine Sorgen. Sind doch nur Jungs, die ein bisschen Spaß haben wollen.«

»Was die so Spaß nennen.«

»Ach Theo.« Sie seufzte. »Warum musst du immer gleich vom Schlimmsten ausgehen?«

»Ich weiß, du willst das nicht hören. Aber das gehört nun mal zu meinem Job.«

»Wirklich?«

»Ein guter Kommissar muss immer auf das Schlimmste gefasst sein.«

»Lernt man das auf der Polizeischule?« Sie lächelte.

»Nein. Das sagt mir meine über dreißigjährige Erfahrung.«

»Aber so gefährlich wie du denkst, ist die Welt gar nicht.« Als Krumme schwieg und auf seine Hände starrte, fuhr Marianne fort: »Ich weiß, Berlin war schlimm. Aber jetzt bist du schon so lange in Nordfriesland. Es wird Zeit, dass du endlich hier im Norden ankommst.«

»Du redest immer so, als wäre ich ein gemütskranker Idiot.«

»Du bist kein Idiot. Und gemütskrank auch nicht. Aber leider bist du ein Berliner Sturkopf.«

»Darf ich den Hund mal streicheln?«

Ein kleines Mädchen hatte ihre Mutter zu ihrer Bank gezogen und schaute sie jetzt mit großen Augen an.

Marianne lächelte. »Natürlich.«

»Sicher?«, erkundigte sich die Mutter, die im Gegensatz zu ihrer kleinen Tochter Angst vor dem Hund zu haben schien. »Er ist so groß. Ein Happs und …« Sie ließ die Finger der einen Hand nach dem Gelenk der anderen schnappen, um zu zeigen, was sie meinte.

Marianne schüttelte den Kopf. »Keine Sorge, Sonny tut keiner Fliege was.«

Sonny hatte sofort den Kopf gehoben und sah das Mädchen mit seinen großen braunen Augen freundlich an. Nach kurzem Zögern strich die Kleine ihm vorsichtig über den breiten Rücken und strahlte glücklich, als er den Kopf wohlig hechelnd zur Seite drehte.

»Was für eine Rasse ist das?«, fragte die immer noch besorgte Mutter.

»Da kommt einiges zusammen«, verriet Marianne. »Sein Vater war eine Mischung aus Bernhardiner und Leonberger, seine Mutter eine Hütehündin auf einem Schafhof auf Eiderstedt.«

Mit kreischenden Bremsen fuhr der RB 64 nach St. Peter-Ording in den Bahnhof ein. Mutter und Tochter verabschiedeten sich und stiegen ein, genau wie die Gruppe Halbstarker. Kurz darauf waren Krumme und Marianne fast allein auf dem Bahnsteig.

Immerhin – eine Ansage verriet, dass der Zug nach Kiel in fünf Minuten endlich kommen würde.

Marianne deutete auf Sonny, der seinen mächtigen Kopf mittlerweile auf Krummes Knie abgelegt hatte.

»Der Kleine wird dich vermissen.«

Krumme tätschelte Sonnys Kopf. »Ist ja nur für ein paar Tage.«

Sie griff nach seiner Hand. »Ich werde dich auch vermissen.«

»Ach ja? Gestern klang es so, als wärst du ganz froh, wenn wir uns ein paar Tage aus dem Weg gehen.«

»Von wegen. Ich hätte mich sehr gefreut, wenn du mit nach Rendsburg gekommen wärst.« Sie seufzte. »Aber du willst ja nicht.«

»Ich habe eben viel zu tun.«

»Vor einer Woche hast du was ganz anderes gesagt.«

»Ach ja?«

»Du hast mir erzählst, dass du langsam dick und rund wirst, weil ihr ständig während der Dienstzeit Eis essen geht, du und Pat.«

Krumme strich sich verlegen durch das spärliche Haar. »Mittlerweile sind eben neue Fälle reinge­kommen.«

Marianne blickte ihm tief in die Augen. »Komm schon, Theo, du hast es doch längst zugegeben. Du hast keine Lust auf meine Schwester und ihren Mann.«

»Jetzt bin ich wieder schuld, oder wie?«

»Manchmal bist du wie ein kleines Kind.«

»Stimmt gar nicht.«

»O doch. Sobald man dich ein bisschen kritisiert, bist du sofort sauer.«

Er schwieg, schaute wieder auf seine Hände. Eine innere Stimme forderte ihn auf, kein Narr zu sein und sich mit Marianne zu versöhnen, wo er sie doch eine Weile nicht sehen würde. Und wo sie an diesem Morgen doch so hinreißend aussah in ihrer hellen Bluse, der hellblauen Jeans und dem offenen, blonden Haar.

Aber eine andere Stimme sagte energisch: Nein! Nach dem Streit am Abend zuvor wollte er es seiner Freundin auf keinen Fall zu leicht machen.

»Du hast mich mehr als nur ein bisschen kritisiert«, murmelte er, den Blick auf den Boden gerichtet.

»Ich habe dir gesagt, dass du manchmal ein ziem­licher Arsch sein kannst.«

»Siehst du? Schon wieder. Und dann beschwerst du dich, dass ich sauer bin.«

Marianne musterte ihn mit jetzt ernster Miene.

»Aber was du gesagt hast, war nicht gemein?«

Er schwieg, atmete tief durch und schaute Richtung Hafen, wo jeden Moment der Zug auftauchen würde.

»Gleich sind wir weg. Willst du uns nicht zum Schluss noch mal anschauen?«

Krumme drehte den Kopf, presste aber die Lippen zusammen und wollte immer noch nichts sagen.

Marianne seufzte. »Du hast recht. Vielleicht ist es wirklich besser, wenn wir uns eine Weile nicht sehen.«

»Wenn du das sagst«, erwiderte er. Und schämte sich sofort dafür. Was stimmte mit ihm nicht, dass in diesem Moment nur dumme Sachen aus seinem Mund kamen? Sie hatte ja recht, er benahm sich wie ein kleines Kind. Trotz dieser Erkenntnis starrte er wieder nur stumm auf seine Hände.

Auch Marianne beschloss, nichts mehr zu sagen.

Endlich fuhr der Regionalzug nach Kiel in den Bahnhof ein.

Marianne stand auf und schnappte sich ihren Rollkoffer und den Hund und ging zum Zug. Krumme trottete schweigend hinterher. Er wollte sich noch von Sonny verabschieden. Doch der Hund war von der ­Situation völlig überfordert. Wieso blieb Krumme ­zurück, während Marianne ihn mit sanftem Druck in den Wagen zog? Aufgeregt wollte er wieder auf den Bahnsteig springen, aber Marianne hielt ihn an der kurzen Leine fest.

»Ganz ruhig, mein Junge«, rief Krumme, dem plötzlich flau im Magen wurde. »Pass gut auf sie auf und mach dir eine schöne Zeit in Rendsburg. Ist ja nur eine Woche. Dann bist du wieder zurück, und wir beiden Nordmänner machen wieder schöne Spaziergänge am Deich.«

Er blickte zu Marianne, schenkte ihr zum Schluss nun doch ein stilles Lächeln.

»Zurückbleiben, bitte« hallte es über den Bahnsteig. Marianne schob Sonny weiter in den Wagen hinein. Sie hatte extra einen Sitz bei den Fahrrädern reserviert, damit der Hund genug Platz hatte.

»Tut mir leid, aber für einen Nordmann gehört mehr dazu, als nur am Deich spazieren zu gehen.«

Damit schloss sich die Tür, und der Zug fuhr ab.

Die Scheibe spiegelte stark, Krumme konnte Marianne und Sonny nur schemenhaft erkennen.

Ein paar Augenblicke später und der Zug war verschwunden. Krumme stand allein auf dem leeren Bahnsteig, hörte nur das spöttische Kreischen einer Möwe über sich. Nachdenklich blickte er nach oben in den wolkenlosen Himmel, blinzelte in die Sonne, zog ein Taschentuch aus der Hose und wischte sich den Schweiß von der hohen Stirn.

Noch nie hatte er sich so verlassen gefühlt.

Und noch nie so dämlich.

4

Amrum

Der Nachmittag war ganz nach ihrem Geschmack gewesen. Die meiste Zeit hatte sie am Strand zugebracht. Ab und zu war sie ins Wasser gegangen, aber ansonsten hatte sie faul in der Sonne gelegen. Jetzt saß Camilla auf ihrem Handtuch, die Zehen im warmen Sand vergraben und ließ ihren Blick über das Treiben am endlosen Strand schweifen. Stolze Väter, die ihre Babys wie Trophäen herumtrugen. Kinder, die mit ihren Schaufeln Kanäle zu ihren großen Burgen bauten. Knutschende Paare, die sich in Strandmuscheln vor dem heftigen Wind schützten, nur ihre sich aneinanderreibenden Füße waren hinter den Planen zu sehen. Ältere Herren, die durch die Brandung wateten und dabei stolz ihre gebräunten Bierbäuche präsentierten. Damen im besten Seniorenalter, die kleine Hundepinscher über den Sand trugen. Hübsche Teenagerinnen, die kichernd zusahen, wie sich ihre Jungs beim Beachvolleyball schwitzend zum Affen machten.

Eines der Mädchen bemerkte, wie Camilla, die allein war, einen Blick auf ihre Freunde warf. Sie tippte einer ihrer Freundinnen auf die Schulter und machte sie auf ihre potenzielle Konkurrentin aufmerksam. Gemeinsam beschlossen sie, sich so vor sie zu schieben, dass ihr die Sicht auf das Spielfeld versperrt war.

Kinder, dachte Camilla und schüttelte verächtlich den Kopf. Als ob sie sich für die pickeligen Halbstarken interessierte. Längst hatte sie hinter ihrer dunklen Oversize-Sonnenbrille ein anderes Ziel ausgemacht.

Die Kitesurfer, die vor dem strahlend blauen Himmel über die in der Sonne glitzernden Wellen jagten.

Einer hatte es Camilla besonders angetan. Schwarze gelockte Haare, in denen das Salzwasser blitzte. Scharf geschnittene Gesichtszüge, Lederarmband und Halskette. Ein muskulöser Body, den nicht das Training in irgendeinem Studio geformt hatte, sondern der Sport hier am breiten Amrumer Strand.

Natürlich war es kein Zufall, dass er sein Board und seinen Lenkdrachen nur ein paar Meter entfernt von ihr im Sand abgelegt hatte. Sie spürte seine Blicke auf ihrem gebräunten Körper in ihrem neuen roten Bikini, ließ sich aber hinter ihrer übergroßen Sonnenbrille nichts anmerken. Im Gegenteil, sie tat, als wäre sie genervt, dass er ihre Aussicht auf das Meer versperrte.

Doch dann stieg er auf sein Board, und sie hatte nur noch Augen für ihn und seine Show auf den rauschenden Wellen. Sie beobachtete, wie er über die spritzenden Wellenkämme glitt, und hielt staunend die Luft an, als sein Segel ihn viele Meter hoch in den Himmel hob.

Schließlich kehrte er zum Strand zurück, schritt lächelnd wie ein siegreicher Gladiator durch den Sand, wohl wissend, dass diverse Strandschönheiten seinen nassen, glänzenden Körper genau taxierten.

Bestimmt hatte er schon einigen von ihnen das Herz gebrochen. Aber Camilla wusste, dass er heute nur Augen für sie hatte.

»Hat’s dir gefallen?«, fragte er, als er sich nicht weit von ihr in den Sand warf.

Sie nickte. »Sehr beeindruckend.«

Er zog eine Wasserflasche aus seiner Sporttasche und trank einen großen Schluck. Dann wischte er sich mit einem Handtuch über die breite Brust. Er blickte wieder zum Meer.

»Guter Wind heute. Aber letzte Woche bei den Masters auf Sylt war er noch besser.«

»Und wie ist es gelaufen?«

»Was?«

Der Hellste war er nicht. Aber dafür sah er aus der Nähe noch besser aus als in der Ferne auf seinem Board. »Na, die Masters.«

Er stöhnte. »Geht so. Vierter. Hatte mir eigentlich mehr erhofft.«

Er blinzelte mit seinen meerblauen Augen in die Sonne und wandte sich dann wieder ihr zu. »Ich heiße Marco. Und du?«

»Maria«, log sie.

»Schöner Name«, sagte er und grinste. »Surfst du auch?«

Camilla schüttelte den Kopf. »Kein bisschen.«

»Ach nein? Ich dachte nur, bei dem Body machst du doch bestimmt irgendeinen Sport?«

»Ich … tanze.«

Er schaute auf. »Ach ja? Was denn?«

»Hip-Hop. Und Jazz.«

»Cool.«

Eine Weile schwiegen sie und beobachteten das Treiben auf dem Strand.

»Wohnst du hier in Norddorf?«, fragte er schließlich.

Vorsicht, dachte sie. »Nein, in … Wittdün«, log sie wieder.

Er strahlte. »Was? Wie geil, ich auch.«

»Tatsächlich?«

»Auf dem Campingplatz. Im Surferlager. Mit ein paar Kumpels. Und du?«

Sie zögerte. »Nein, ich wohne in einer Ferienwohnung. Mit Freunden.«

»Aber jetzt bist du allein hier?«

»Wieso fragst du?«

Grinsend hielt er ihrem Blick stand. »Na ja, ich möchte nur wissen, wie viele Männer ich ausstechen muss, wenn ich dich frage, ob du Lust auf einen Drink im Strunluuker hast.«

Sie lächelte. »Strunluuker?«

»Sag bloß, du kennst das nicht?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Bist noch nicht lange auf der Insel, was?«

Sie überlegte einen Moment, bevor sie antwortete. »Erst eine Woche.«

»Das sollte eigentlich reichen, um die Gastroszene zu kennen. So groß ist die Insel ja nicht.«

»Hatte bisher noch nicht die Gelegenheit.«

»Interesse an einem Guide?«

»Einem Guide?«

»Jemandem, der dich an die Hand nimmt und dir ­alles zeigt.«

»Kommst du immer so schnell zur Sache?«

Er grinste und strich sich lässig durch die schwarzen Locken. »Ist das Adrenalin. Vom Surfen.«

»Und was, wenn ich schon verabredet bin?«

»Bist du?«

»Ich hatte nicht vor, heute Abend allein zu essen«, sagte sie ausweichend.

»Dann heißt das also ja?«

Sie schaute ihn an, überlegte. War das eine gute Idee? Oder konnte das gefährlich werden? Sollte sie nicht so unsichtbar wie möglich bleiben?

Blödsinn!, rief eine Stimme in ihrem Kopf. Was soll schon passieren? Das ist Amrum, eine friedliche Familieninsel! Und überhaupt: Du hast jedes Recht der Welt, dich auch ein bisschen zu amüsieren! Und dieser Bursche sieht aus wie jemand, mit dem du sehr viel Spaß haben kannst.

»Ins Strunluuker also?«, sagte sie endlich.

Ihr neuer Bekannter strahlte über das ganze Gesicht. »Du wirst es nicht bereuen.«

»Aber viel Zeit habe ich nicht.«

»Dann lass uns so schnell wie möglich losgehen.«

Damit sprang er auf die Beine. Völlig überraschend griff er nach ihrer Hand und küsste sie. Dabei schenkte er ihr einen tiefen Blick in die Augen und lächelte. »Ich pack nur schnell meine Sachen zusammen. Dann muss ich kurz was erledigen und bin sofort wieder bei dir. In Ordnung?«

»Einverstanden.« Camilla nickte und beobachtete hinter ihrer großen Sonnenbrille, wie ihr neuer Freund mit seinen braun gebrannten Beinen zu seinem Segel ging und begann, es zusammenzulegen.

»Bin gleich wieder da«, sagte er, als er damit fertig war und mit federnden Schritten davonlief.

Camilla lächelte, sah ihm nach, wie er Richtung Toilette verschwand.

Ihr Blick ging erneut hinaus aufs Meer, jetzt mit ernster Miene.

Schließlich seufzte sie leise, stand auf. Sie stopfte ihr Handtuch, ihr Handy und den Rest ihrer Sachen in die Badetasche und stapfte dann davon. Nicht zum Weg nach Norddorf, sondern nach Süden, am Strand entlang zu den Dünen.

Schon nach wenigen Minuten war sie in der Ferne zwischen den anderen Badegästen nicht mehr zu sehen.

5

Tomme mochte es nicht, auf einem verschlossenen Klo zu sitzen. Er war zwar erst sieben, aber er konnte sich noch gut an die Nacht vor einem Jahr erinnern, als es so gestürmt hatte. Er hatte allein auf der Toilette zu Hause in Wittdün gesessen und den Riegel nicht mehr aufbekommen. Seine Mutter hatte geschäftlich zu tun gehabt, und auch seine beiden Schwestern hatten sich an dem Abend bei Freundinnen herumgetrieben. Tomme hatte die halbe Nacht allein in dem winzigen Raum ausharren müssen, niemand hatte sein Rufen und Weinen gehört.

Seitdem durfte die Klotür bei Tomme nie abgeschlossen werden. Weder zu Hause noch wenn er, wie jetzt, in einem öffentlichen WC am Amrumer Strand saß.

Eigentlich hätte er ja lieber draußen in der Brandung gespielt. Aber diese Bauchschmerzen …

Lag es an der Extraportion Pommes, die ihm seine große Schwester Annalena spendiert hatte? Oder an dem Schokoladenkuchen, den er gestern bei der Geburtstagsfeier seines Freundes Jan gefuttert hatte? Schon in der Nacht hatte Tomme das Gefühl gehabt, als sei sein Bauch voller Steine.

Schließlich war Tomme zu der Strandtoilette geflüchtet, hockte jetzt aber bereits eine Viertelstunde auf dem Klo, ohne dass sich etwas tat.

Eigentlich saß er gerne lange auf der Toilette. Wenn zu Hause seine Schwestern zankten, oder – viel schlimmer – seine Mama und sein Papa miteinander stritten, flüchtete er immer auf das Klo. Da hatte er seine Ruhe und bekam nichts von dem Geschrei und den schlimmen Worten mit. Das war hier am Strand aber zum Glück kein Problem.

Im Gegenteil. Hier war alles schön ruhig. Nur das leise Rauschen der Brandung war zu hören, das entfernte Plappern der Badegäste am Strand und die gedämpften Schritte einiger Besucher, die draußen durch den Sand stapften. Dazu die gelegentlichen Schreie der Möwen, die am Himmel ihre Kreise zogen.

Trotz seiner Bauchschmerzen überlegte Tomme, was es heute wohl zum Abendessen geben würde. Wahrscheinlich Pizza aus der Tiefkühltruhe. Seine Mutter musste wieder arbeiten, kam erst spät nach Hause und konnte dann nicht mehr kochen. Er stöhnte leise. Eigentlich mochte er Pizza, aber gerade fühlte er sich so vollgestopft, dass ihm allein beim Gedanken an Pizza ganz schlecht wurde.

In diesem Moment hörte er, wie sich Schritte näherten. Jemand trat ins Bad. Türklappern, dann Tapsen auf dem feuchten Toilettenboden.

Tomme hielt die Luft an.

Ob er gleich Besuch in seiner Kabine bekam?

Nein, stattdessen hörte er einen Reißverschluss, ­einen erleichterten Seufzer und dann, wie der Typ in das Pinkelbecken pullerte.

Tomme seufzte. Wenn es bei ihm doch nur auch so einfach wäre. Langsam hatte er keine Lust mehr, hier herumzusitzen. Er überlegte, abzubrechen und wieder zurück zu Annalena und Sinja zu gehen. Sie hatten zusammen mit ihren Freundinnen aus Norddorf gequatscht. Bestimmt hatten sie noch nicht mal gemerkt, dass er abgehauen war.

Sollte er aufstehen? In dem Moment hörte er wieder das Klappern der Toilettentür. Noch jemand kam he­rein. Wie der andere schien er zu den Pinkelbecken zu gehen.

Tomme atmete auf, hoffte, weiter seine Ruhe zu haben.

Plötzlich ein überraschter Ruf.

»He, du Arsch! Was soll das?«

»Finger weg von dem Mädchen!«, fauchte der andere.

»Was …? Spinnst du?«

»Lass sie in Ruhe! Letzte Warnung!«

»Hau ab! Das geht dich einen Scheiß an, was ich ­mache oder nicht!«

»Finger weg von ihr, habe ich gesagt!«

Tomme hörte ein spöttisches Lachen.

»He, du kleiner Psycho! Willst du mir etwa drohen? Du kannst mich mal am …«

Auf einmal ein Stöhnen, ein Stoßen, das Quietschen von Füßen auf den glatten Fliesen.

Was passierte da? Dann begriff Tomme: Die beiden kloppten sich!

Er packte seine halb heruntergelassene kurze Hose, beugte sich vor, drückte vorsichtig die Tür einen Spalt auf, um zu sehen, was draußen passierte.

Zwei Jungs, ein bisschen älter als Annalena, rauften heftig miteinander. Der eine hatte den anderen gepackt, hielt seinem Gegner von hinten mit einer Hand den Mund zu. Der trug nur eine Badehose und war völlig überrascht. Tomme blickte erschrocken in seine ­entsetzten Augen.

Plötzlich ein Blitzen in der kalten Neonbeleuchtung der Toilette. Tomme erkannte, dass der eine Junge ein Messer in der Hand hielt!

Auch der Junge mit der Badehose sah die funkelnde Klinge. Er stöhnte auf, zuckte, wollte sich befreien, kämpfte um sein Leben.

Doch der hinter ihm stehende Junge hatte kein Mitleid, drückte seine Hand so fest auf den Mund des anderen, dass nur ein leises Ächzen zu hören war.

Dann zog er dem Badehosenjungen das Messer über den Hals. Tomme blickte mit weit aufgerissenen Augen auf die Wunde, aus der sofort Blut spritzte, auf den ­Boden und auf die Hände des Jungen mit dem Messer. Mit zufriedenem Grinsen beobachtete der, wie sein Opfer sich verzweifelt in seinen Armen krümmte und dann schnell schwächer wurde.

Mit einem letzten Gurgeln ging der Junge in der Badehose in die Knie, rutschte auf den Boden, blieb dort zuckend in seinem eigenen Blut liegen.

Der Kampf hatte nur ein paar Sekunden gedauert, doch nun schien es, als würde die Zeit stillstehen.

Tomme schnappte nach Luft, kein Laut kam über seine Lippen. Stattdessen konnte er den Blick nicht von dem Toten lassen, sah, wie die rote Pfütze immer größer wurde und wie das Blut langsam in den Abfluss floss.

Und hörte auf einmal ein leises Klackern, als die Hose ihm aus den Händen glitt und auf den Fliesen­boden rutschte!

Der Mörder drehte sich mit einem Ruck herum.

Tomme reagierte instinktiv. Blitzschnell lehnte er sich nach hinten, zurück in die Kabine und hob die Füße vom Boden. Hielt sich die Hand vor den Mund, wollte nicht schreien und konnte es auch nicht.

Hatte der Mörder ihn bemerkt?

Tomme hockte zitternd auf dem Klo.

Leise, er musste leise sein!

Wahnsinnig vor Angst wartete er darauf, dass die Tür aufging und er in die verrückten Augen des Mörders schauen würde …

Schritte! Ein schiefes Knarren, nebenan wurde eine Tür geöffnet.

Er sucht mich! Gleich wird er mich finden und töten!

Plötzlich Stimmen von draußen. Das Lachen einer Frau. Jemand ging vor der Toilette durch den Sand, kam näher.

Dann hastige Schritte, das Klappern einer Tür – und Stille.

Tomme sackte zusammen. Tränen liefen ihm übers Gesicht, als er zwischen Kloschüssel und Toilettenwand auf den Boden rutschte.

Der Mörder war weg. Er würde nicht sterben.

6

Als Camilla das Haus betrat, wäre sie fast über Denis’ Turnschuhe gestolpert. Wie immer hatte er sie achtlos auf den Boden geworfen. Und den Flur hatte er auch nicht gefegt. Unter ihren Füßen knirschte mehr Sand denn je. Dieser faule Sack! Statt sich einmal nützlich zu machen, hatte der Kerl wieder nur den ganzen Tag vor der Playstation gezockt. Sie fluchte, als sie aus der Ferne hörte, wie er mit einer Horde Zombies abrechnete. Wütend hängte sie ihre Badetasche an der Garderobe auf und ging durch den Flur hinüber ins Wohnzimmer.

Tatsächlich hockte Denis allein vor dem Fernseher, mit einem Controller in der Hand. Trotz der Hitze trug er seine ausgebeulte Jogginghose und dazu ein durchgeschwitztes Baumwollshirt, das auf seiner Brust klebte.

Camilla rümpfte die Nase. Es muffelte nach Chips und abgestandenem Bier. Warum zum Teufel waren alle Fenster geschlossen? Sie waren an der Nordsee, da konnte man doch wohl mal lüften.

Noch hatte Denis sie nicht bemerkt. Jubelnd konzentrierte er sich darauf, einem Untoten den Kopf abzuschneiden.

»Kannst du mir mal verraten, was der Mist soll?«, fuhr sie ihn ohne Begrüßung an.

Überrascht drehte er ihr kurz den Kopf zu. »Ah, da bist du ja«, sagte er.

»Wolltest du nicht aufräumen?«

»Hab ich doch.«

»Von wegen. Der Flur ist die reinste Sandkiste.«

Denis zuckte mit den Schultern. »Da war ich noch nicht.«

Camilla verdreht die Augen. »Und mit dem Essenmachen habt ihr auch noch nicht angefangen, oder?«

»Doch, natürlich.«

»Ach ja? Ich sehe nichts.«

Denis zeigt mit seinem Daumen über die Schulter Richtung Esstisch. »Hab schon gedeckt.«

Camilla sah drei tiefe Teller, dazu jeweils einen Löffel. Keine Gläser, aber eine große Colaflasche.

Sie stöhnte, holte Luft, um Denis eine entsprechende Ansage zu machen, als ihr zweiter Mitbewohner in Badelatschen aus dem Schlafzimmer schlappte.

»Ah, schau an, unsere Urlauberin«, begrüßte er sie.

»Was soll denn der blöde Spruch, Sascha?«

»Wieso blöde? Hast du keinen schönen Tag gehabt?«, fragte er und warf sich neben Denis aufs Sofa. Was sein Kumpel zu viel auf den Rippen hatte, hatte er zu wenig. Sascha war hager, hatte aber Muskeln wie Drahtseile.

»Ja, hatte ich«, antwortete sie. »Was dagegen?«

»Nein, dafür sind wir ja hier auf Amrum. Um uns ein bisschen zu entspannen. Wie schön, dass wenigstens du die Gelegenheit nutzt«, sagte Sascha betont liebenswürdig.

Camilla betrachtete ihn skeptisch. Von seinem freundlichen Ton ließ sie sich nicht täuschen. Saschas Augen und die geröteten Nasenlöcher verrieten, dass er wieder gekokst hatte.

Zwanzig Minuten später saßen sie draußen auf der Terrasse und aßen zu Abend. Wie so oft hatte Camilla am Ende für sie gekocht. Denis hatte vorgeschlagen, Pizza beim Lieferservice in Wittdün zu bestellen, aber Camilla hatte protestiert.

»Nicht schon wieder Pizza! Ich kriege Pickel, wenn ich nur daran denke!«, hatte sie geschimpft und dann Spaghetti Carbonara gekocht, eines der wenigen Gerichte, die sie beherrschte.

»Hättest du nicht noch ein bisschen mehr Speck in die Soße tun können?«, meckerte Denis.

»Nur, wenn du welchen gekauft hättest.«

»Wieso muss ich hier alles machen, während du ­draußen am Strand in der Sonne brätst?«, beklagte sich Denis, während er in seinen Nudeln stocherte.

»Weil ich die letzte Woche alles allein gemacht hab! Wir hatten besprochen, dass du dich diese Woche darum kümmerst. Ich habe keinen Bock, für euch ­Idioten Putzfrau, Köchin und Mama in einem zu sein.«

»Hey, hey, was hast du denn für eine Laune, Cam?«, erkundigte sich Sascha mit vollem Mund. »Scheint, als hättest du doch keinen so guten Tag gehabt?«

Camilla atmete tief durch und blickte zu den Kiefern, die in der Abendsonne lange Schatten warfen. Kaum zu glauben, dass sie nur wenige hundert Meter vom Meer entfernt waren.

Sie seufzte traurig. »Der Tag war super.«

Denis sah von seinem Teller auf. »Aber?«

Camilla trank einen Schluck Wasser. »Nichts aber. Ich war am Strand und hab dann endlich mal eine richtige Inselwanderung gemacht. Durch die Dünen über den Kniepsand. Dann war ich noch in Wittdün. Shoppen. Hab mir was zu lesen gekauft.«

»Du warst am Strand? Wo denn?«, fragte Sascha.

»Oben in Norddorf.«

Sascha nippte an seiner Cola. »Wo der Strand besonders voll ist?«, fragte er, während er sie über den Rand des Glases beobachtete.

»Da sind zwar viele Leute, aber das verläuft sich. Da ist genug Platz für jeden.«

Für einen Moment schwiegen sie. Denis wischte sich den Mund ab und stand leise ächzend auf. »Bin gleich wieder da«, brummte er und verdrückte sich in Richtung Klo.

»Und? Jemanden kennengelernt?«, fragte Sascha mit lauernder Miene, als er mit Camilla allein war.

Sie sah ihn überrascht an. »Wie meinst du das?«

Sascha sah sie mit seinen dunkel-funkelnden Augen an. »Tu nicht so unschuldig. Du allein mit deinem sexy roten Bikini. Da stehen die Inselburschen doch bestimmt Schlange, oder?«

»Was für Inselburschen?«

»Was weiß ich? Diese Provinzdeppen eben, die da am Strand rumhängen und vor lauter Muckis und dicken Eiern kaum gehen können.«

»Du kennst dich ja aus.«

Aber Sascha ließ sich nicht beirren. »Nun erzähl schon. Lass mich an deinem aufregenden Leben teilhaben.«

Camilla dachte an den Kitesurfer. Seine dunklen ­Locken und sein strahlendes Lächeln.

»Das geht dich gar nichts an.«

Sascha lächelte mit zusammengekniffenen Lippen. »Wir sitzen hier zusammen auf der Insel. Ich finde schon, dass ich das Recht habe, zu wissen, was du so den ganzen Tag treibst. Und mit wem.«

Sie musterte ihn voller Verachtung, wissend, wie er es liebte, sie zu provozieren.

»Was hast du denn heute gemacht, Sascha?«

Er zögerte. »Ich war zu Hause. Wie abgemacht.«

»Okay, sehr gut. Aber ich wüsste nicht, dass diese Abmachung auch für mich gilt.«

»Das sehe ich anders.«

»Wenn ich mich amüsieren möchte und ein bisschen über die Insel ziehe, muss ich ganz bestimmt nicht dich um Erlaubnis fragen.«

Sascha sah sie an. Sie wusste, dass nicht viele Menschen so mit ihm reden durften.

Sie hatten mal eine Affäre gehabt. Nur ein bisschen betrunkenes Geknutsche, das ihm mehr bedeutet hatte als ihr. Entsprechend sauer war er gewesen, als sie die Sache schnell wieder beendet hatte. Selbst schuld, dachte Camilla, immerhin war die Initiative damals von ihm ausgegangen. Aber Sascha war es gewohnt, dass er die Spielregeln bestimmte. Und bei den Püppchen, mit denen er sich sonst abgab, war immer er derjenige, der sie am Ende mit einem Tritt in den Hintern wegjagte.

Dass sie aber ihn zurückgewiesen hatte, würde er ihr nie verzeihen.

Denis kam vom Klo zurück. Wie üblich schloss ihr Bruder den Gürtel seiner Hose erst außerhalb der Toilette. Eine Angewohnheit mehr, die sie fürchterlich aufregte.

»Übrigens, Sascha«, fragte er, während er sich zurück an den Tisch setzte, »hast du an das Bier gedacht?«

Sascha starrte ihn verständnislos an.

»Das Bier«, wiederholte Denis. »Du wolltest doch ein Sixpack mitbringen.«

Camilla blickte überrascht von ihrem Essen auf. »Wie bitte? Du hast das Haus also doch verlassen?«

Sascha wurde rot im Gesicht. »Nur eine kurze Runde. Brauchte auch mal ein bisschen frische Luft.«

»Eine Shoppingrunde? Um Bier zu kaufen? Hier? So kurz kann die Runde nicht gewesen sein. Wo genau hast du dich rumgetrieben?«

Sascha warf Denis einen wütenden Blick zu. »Nein, tut mir leid, ich war nicht im Supermarkt.« Dann sah er wieder zu Camilla. »Auch wenn es dich einen Scheiß angeht – ich bin nur ein bisschen den Wald rauf- und runtergegangen.«