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Zwölf schaurige Geschichten von zwölf Autoren über zwölf reale Orte an der Nordsee, angelehnt an Legenden und Ereignisse von der Römerzeit bis in die Gegenwart: von Chauken, Römern und dem Tod an der Wesermündung. Wie der Geist des Liekedeelers in Marienhafe um sich greift. Warum ein alter Fluch auf Sylt immer noch seine Wirksamkeit zu zeigen vermag. Als Gott die Flut nach Suurhusen schickte, um die Erde von Sünden reinzuwaschen. Warum der alte Dänenkönig Frederic einen Mord auf der Hallig Hooge auslöst u. a.
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Seitenzahl: 294
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Lutz Kreutzer (Hrsg.)
Schaurige Orte an der Nordsee
Unheimliche Geschichten
Schauer und Grusel an der Nordsee Zwölf schaurige Geschichten von zwölf Autoren über zwölf reale Orte an der Nordsee, angelehnt an Legenden und Ereignisse von der Römerzeit bis in die Gegenwart: von Chauken, Römern und dem Tod an der Wesermündung. Wie der Geist des Liekedeelers in Marienhafe um sich greift. Warum ein alter Fluch auf Sylt immer noch nachwirkt. Als Gott die Flut nach Suurhusen schickte, um die Erde von Sünden reinzuwaschen. Was ein aufgehängter Toter bei Cuxhaven mit versunkenen ägyptischen Mumien zu tun hat. Warum der alte Dänenkönig Frederic einen Mord auf der Hallig Hooge auslöst. Wie eine Schifffahrt mit einer Turnmannschaft im Haaks Gat tödlich endet. Auf welche Weise ein Bunker auf Helgoland drei bösen Jungs zum Verhängnis wird. Vom kalten Tod des Jaguars in den Dünen von Juist. Wenn der Hass auf E-Scooter direkt zum Dünenfriedhof von Langeoog führt. Warum ein tragisches Missverständnis eine Familie auf Norderney heimsucht. Wie einem skrupellosen Mann die Schlicklöcher vor Eiderstedt zum Verhängnis werden.
Lutz Kreutzer wurde 1959 in Stolberg geboren. Er schreibt Thriller, Kriminalromane, Sachbücher und gibt Kurzgeschichten-Bände heraus. Auf den großen Buchmessen in Frankfurt und Leipzig sowie auf Kongressen coacht er Autoren. Am Forschungsministerium in Wien hat der promovierte Naturwissenschaftler ein Büro für Öffentlichkeitsarbeit gegründet. Er war lange als Manager in der IT- und Hightech-Industrie in München tätig. Über seine Arbeit wurden im Hörfunk und TV zahlreiche Beiträge gesendet. Berufliche Reisen und Abenteuer nimmt er zum Anlass, komplexe Sachverhalte in spannende Literatur zu verwandeln. Seine Arbeit wurde mit mehreren Stipendien gefördert. Die Nordsee hat er oft bereist, auch wenn er heute in Bayern lebt.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Susanne Tachlinski
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © T meltzer, CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons; https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Nordsee_0338.jpg
ISBN 978-3-7349-3236-6
Vor langer Zeit erbauten die Chauken an der Wesermündung hohe Erdhügel, die Wurten, die sie mit ihren Händen nach dem Pegel der höchsten Flut errichteten, um im Wechselspiel der Gezeiten ihr Überleben zu sichern und bei Stürmen dem Wasser zu trotzen. Die Idee der Wurten und der Landgewinnung hat sich seither bis heute fortgesetzt.
Drei Tage nach Ostern
Der Sturm fegte von Westen her über die See. Fedder Blohm zog an seiner schwarzen Pfeife. Rhythmisch wie eine alte Dampflok blies er aus dem linken Mundwinkel den Rauch aus, der augenblicklich in Fetzen gerissen wurde. Er hatte den Stirnriemen unter das Kinn gezogen, was er nur selten tat, aber heute pfiff der Osterhaalje so stark, dass er befürchtete, seine Elbseglermütze würde ihm davonfliegen. Die rechte Hand ruhte zwischen dem zweiten und dritten Knopf seiner Jacke, ähnlich wie Napoleon es gemacht hatte. Und so fühlte er sich auch, wenn er den Wellen dabei zusah, wie sie vom Wind an Land gepeitscht wurden, wenn das Wasser hochschoss und jeweils ein paar kalte Tropfen in sein regloses Gesicht spritzten.
Oft kam Fedder schon am Morgen an den kleinen Leuchtturm, brachte sich eine Kanne mit heißem Tee und ein paar Brote mit, um den Tag auf einer der dunkelgrünen Bänke zu verbringen. Gelegentlich schlenderte er dann zum Hafen hinüber, inspizierte die Kutter und hielt einen Schnack mit den Seeleuten. Es gab hier am Wremer Hafen immer eine Handvoll Leute, mit denen er ein paar Worte wechseln konnte. Aber eigentlich brauchte er das gar nicht. Denn viel reden, das war nicht sein Ding. Und wenn sich bei kaltem Schmuddelwetter niemand sehen ließ, lauschte er dem Geschrei der Möwen und schlenderte wieder zurück. Man kannte ihn hier an diesem Platz. Fedder gehörte zum »Kleinen Preußen« wie das Salz in die Nordsee.
Die Bänke aus Drahtgeflecht waren nass von der Gischt. Das machte nichts, dann setzte sich Fedder heute eben nicht hin. Er klopfe seine feucht gewordene Pfeife an der Lehne aus und steckte sie in die linke Tasche seines Cabans, in der er sie seit über 50 Jahren aufbewahrte. Zufrieden hingen seine Augen an den Schaumkronen der rauen See. Dann hörte er Stimmengewirr. Er wandte sich um und blickte zu dem schwarz-weiß geringelten Leuchtturm hinter sich. Der »Kleine Preuße« war schon lange außer Dienst und nur noch eine Touristenattraktion an der Wesermündung, seit man ihn 2005 originalgetreu wiederhergerichtet hatte. Heute diente er dem Gemeindestandesamt als Zeremonienraum.
Der gedrungene Turm spuckte gerade eine Hochzeitsgesellschaft aus. Augenblicklich wurden Braut, Bräutigam und Gäste vom Wind gepackt, alle unter wildem Rufen bemüht, sich in Sicherheit zu bringen. Eine Böe riss dem Bräutigam die weiße Stola der Braut aus den Händen, die er ihr gerade schützend um die Schultern legen wollte. Das dünne Stück Stoff flatterte durch die Luft und landete geradewegs an Fedders Brust. Die Braut kicherte, was dem Bräutigam sichtlich nicht gefiel. Mit herrischem Gehabe versuchte er, sein Missgeschick lauthals zu überspielen, und schickte einen schlaksigen Burschen los, den Umhang zurückzuholen.
»Entschuldigung, das … gehört meiner Mutter«, stammelte der Halbwüchsige mit einer sich vom Stimmbruch überschlagenden Stimme und bekam in dem Moment einen Schwall Wasser ab. Wie gelähmt vor Schreck, mit lautlos geöffnetem Mund und aufgerissenen Augen breitete er die Arme aus und starrte bestürzt an sich hinab, als ob ihn sein entsetzter Blick hätte trocknen können.
Fedder lachte. »Schon gut, mein Junge«, sagte er, reichte ihm die Stola und fasste ihn wohlwollend am Oberarm. »Pass drauf auf.«
»Auf die Stola?«, fragte der Bursche und nahm das edle Stück entgegen.
»Auf deine Mutter«, antwortete Fedder und sah ihm hinterher, als er ungelenk zurücklief und der Braut die Schultern bedeckte.
Donnerstag, eine Woche später
Die Sonne lugte ab und zu zwischen den zerrissenen Wolkenbändern hindurch. Fedder blinzelte und stopfte sich gerade seine Pfeife, als der Junge von letzter Woche sein Fahrrad an die nächste Bank lehnte und sich neben ihn setzte. »Guten Tag«, sagte er schüchtern und steckte seine beiden Hände gefaltet zwischen seine Knie.
Wie ein Mädchen, dachte Fedder beim Blick seitwärts, aber er sah den Burschen nicht an. »Du warst die Tage schon einmal hier, richtig?«
»Ja, bei der Hochzeit. Der fliegende Umhang, Sie wissen schon …«
Fedder nickte, holte eine Streichholzschachtel aus der Hosentasche, riss ein Zündholz an und hielt die andere Hand schützend um die Pfeife. Sogleich quoll süßlich bitterer Rauch aus seinem Mund. Der Junge wedelte ihn von sich, doch Fedder nahm keine Notiz davon.
»Wie geht es deiner Mutter?«
Der Junge schüttelte kurz den Kopf. »Geht so.«
»Wie heißt du, mein Junge?«, fragte er, während er seine Pfeife mehrmals mit dem Mittelfinger der rechten Hand nachstopfte.
»Hauke, Hauke Moor ist mein Name.« Er sah den Alten von der Seite an, als ob er ihn so dazu bewegen könnte, zurückzuschauen.
»Hauke also«, grummelte Fedder, lehnte sich zurück und richtete seinen Blick auf die ruhige See.
»Sagen Sie, tut das nicht weh am Finger, wenn Sie ihn dauernd in die brennende Pfeife stecken?«
Fedder musterte ihn mit mürrischem Blick und zeigte ihm seine Fingerkuppe, die grauschwarz mit angekohlter Hornhaut überzogen war. »Dort vor uns, irgendwo zwischen Wangerooge und Neuwerk, am Rand des Wattenmeers«, sagte er und deutete mit der Hand in die Richtung, »da steht mein Leuchtturm ›Alte Weser‹. Auf dem hab ich vor über 50 Jahren als junger Anwärter gearbeitet.«
»Hm«, brummelte der Junge und nickte kaum wahrnehmbar. »Das hat Ihnen sicher Spaß gemacht, oder?«
»Ich hab als Junge, so alt wie du und noch viel jünger, von nichts anderem geträumt, als Leuchtturmwärter zu werden. Dann hatte ich das endlich geschafft, als ich 18 war, und nach ein paar Jahren haben sie mir den Traum wieder geklaut.«
»Warum?«
»1972, da haben sie den Turm automatisiert.« Fedder wandte sich ab und spuckte aus. »Gab’s also auch damals schon, so was.«
»Blöd, was?« Hauke sah zu Boden und nickte betroffen. »Ich weiß, wo das ist. Hab den Turm schon gesehen, oder besser sein Licht. Das war bestimmt scheiße, oder?« Jetzt blickte auch der Junge aufs Meer hinaus.
»Ja, großer Schiet. Wir waren jeden Tag zu viert im Turm. Und dann aus und vorbei.« Fedder hob die Schultern. »Man kann nicht alles haben, oder?«
»Was haben Sie dann gemacht?«, wollte Hauke wissen.
»Siehst du die Wolken da oben? Wohin sie ziehen?«
Hauke richtete seine Augen auf den Himmel. »Ja, wir haben Nordost, sie ziehen also nach Südwesten.«
»Und genau das hab ich damals auch gemacht. Ich bin nach Südwesten gezogen. Mein Schulfranzösisch hat kaum ausgereicht. Aber«, sagte er lachend, »dat weer mi egaal. Ich bin bis nach Brest in der Bretagne. Fünf Tage hab ich gebraucht, hab erst an der Straße gestanden und den Daumen rausgehalten. Ein Versicherungsvertreter mit einem Mercedes hat mich bis Bremerhaven mitgenommen. Dann hab ich als Smut auf ’nem Dampfer angeheuert. Kartoffeln schälen, Hühner putzen und Fische ausnehmen. Bremerhaven, Dover, Portland und schließlich Brest.«
Hauke starrte immer noch in den Himmel. »Was, ähm, was wollten Sie in Brest?«
»Aufn Leuchtturm. Vor Brest, da liegt die Insel Ouessant, und da gibt es so viele Leuchttürme wie Finger an deinen Händen. ›Insel der Leuchttürme‹ wird sie genannt, das Fahrwasser ein Albtraum. Felsen über Felsen, oft Nebel, da brauchte man Männer wie mich. Ich hab dann angeheuert und war da bis zur Rente.«
»Und warum sind Sie jetzt wieder hier?«, wollte Hauke wissen.
Fedder hob erneut die Schultern. Eine Möwe kreischte ein Stück entfernt über dem Meer. »Warum kehren Zugvögel immer wieder zurück? Und warum finden ausgesetzte Katzen selbst über zig Kilometer immer wieder nach Hause?« Er schwieg eine Weile, während Hauke ihn beobachtete. Dann sagte er leise: »Wenn du wiederkommst, dann kannst du mich Fedder nennen. Bin jeden Tag hier.« Er richtete seinen Blick stoisch aufs Wasser, das allmählich unruhiger wurde.
Hauke erhob sich und schlenderte zu seinem Fahrrad. Dann drehte er sich noch einmal um. »Ich komm nur donnerstags. Und Französisch, das hab ich auch. Leistungskurs, Gymnasium Langen.«
Wieder Donnerstag
»Na, Hauke, du siehst betrübt aus.«
Hauke nickte und klemmte wieder die Hände zwischen die Knie. Ein Kutter glitt an ihnen vorbei und bog in die Wasserlöse ein, um den Fischereihafen anzufahren. Der Geruch von Krabben und Seetang wehte herüber.
»Wie alt bist du, mein Junge?«, fragte Fedder und fixierte ihn mit zusammengekniffenen Augen.
»17, werd nächsten Monat 18. Erwachsen, ich freu mich schon.«
»Stolzes Alter. Du wirst volljährig. Erwachsen wird man erst, wenn man was Besonderes geleistet hat.«
»Mag sein. Aber ich kann dann endlich machen, was ich will.«
»Nanu?«, antwortete Fedder. »Das klingt ja so, als wärst du nicht sehr glücklich mit deinem Leben.«
Hauke rieb sich kurz die Hände und druckste herum, bevor er sie wieder zwischen die Knie schob.
»Was ist mit deinen Händen, Hauke, warum versteckst du sie zwischen den Knien wie ’ne schüchterne Deern?«
Hauke antwortete nicht. Stattdessen zog er die Hände langsam zurück und steckte sie in die Taschen seiner Jacke. Fedder begriff, dass seine Frage dem Jungen peinlich war, und wechselte arglos das Thema. »Sag mal, warum kommst du eigentlich nur donnerstags?«
»Da arbeite ich am Nachmittag in dem Restaurant hinten am Hafen. Ein bisschen Geld verdienen nach der Schule. Krabben pulen, Fische putzen und so ’n Zeug. Gar nicht schlecht. Wie du damals auf dem Schiff«, bemerkte er und lachte flüchtig. »Meine Eltern halten mich kurz.« Sein Blick schien sich in den Boden zu bohren.
»Ich hab dich zuvor nie hier gesehen.«
Hauke sah auf und wollte etwas antworten. Doch ihm schien das Wort im Hals stecken zu bleiben. Er stammelte nur Unverständliches.
»Ja?«, fragte Fedder.
»Na ja, ich … ich komme wegen … wegen …«
»Wegen was?«
Der Junge bewegte den Kopf auf und ab, als wollte er die Wörter aus sich herausschütteln. »Na ja, wegen Ihnen, Fedder!«
»Wegen dir, Fedder, heißt das.« Fedder lächelte. Das tat er selten. »Wegen mir also. Und warum wegen mir?«
Haukes an sich bleiches Gesicht nahm einen leicht rötlichen Ton an, und das nicht etwa vom kalten Wind. »Ja, äh, weil Sie, äh, weil du mir zuhörst, Fedder. Du hörst zu, ja«, schwurbelte Hauke mit wippendem Kopf. Dabei gestikulierte er wild und ließ beide Hände durch die Luft fliegen. »Und, und du erzählst mir was. Du erzählst mir … mir was …«, murmelte Hauke schließlich so leise, dass Fedder ihn kaum verstehen konnte.
»Hauke, was ist … mit deinen Händen?« Fedder deutete auf die Striemen in dessen Handinnenflächen.
Erschrocken verbarg Hauke die Hände in seinen Achseln. Sein Gesicht wurde augenblicklich knallrot und er sprang auf. Bevor Fedder etwas sagen konnte, schwang sich der Junge auf sein Rad und fuhr auf und davon.
Der nächste Donnerstag
»Es tut mir leid, ich wollte nicht einfach so abhauen.« Hauke stand vor ihm und senkte den Kopf.
Fedder schmunzelte. »Ist schon gut, mein Junge. Ich frag dich nicht mehr nach deinen Händen.«
Hauke setzte sich. »Es ist mein Stiefvater. Jedes Mal, wenn ich etwas mache, was ihm nicht gefällt, schlägt er zu. Mit einer Weidenrute. Hat eine ganze Anzahl davon in einer großen Blumenvase stehen.«
Fedder legte die Pfeife zur Seite. »Hauke, du bist 17 Jahre alt. Und du lässt dir das gefallen?«
Betreten seufzte der Junge. »Wenn ich das nicht zulasse, dann …« Haukes Stimme brach ab.
»Was tut er dann?«, drängte Fedder.
»Dann schlägt er irgendwann meine Mutter«, presste er heraus.
Fedder war sprachlos. Aufgebracht rutschte er auf der Bank hin und her. »Hauke, die beiden haben vor Kurzem hier im ›Kleinen Preußen‹ hinter uns geheiratet. Wie kann denn das sein?«
»Puh«, schnaubte Hauke, »meine Mutter ist eine dumme Nuss. Sie hat ihn nur geheiratet, weil er ihr gedroht hat, sie und mich nicht mehr zu versorgen. Das geht schon seit fünf Jahren so. Erst hat sie ihn kennengelernt, im Internet, so ein Scheiß! Mama und ich aus Frankfurt, er aus Bremerhaven. Dann sind wir hierher zu ihm gezogen. Er hat Geld, hat Mama alles gezahlt. Schöne Kleider, Schmuck, ein neues Auto, tolle Wohnung aufm Land. Und mir auch. Neue Playstation, neues Fahrrad, neue Sportschuhe, die besten Markenklamotten.« Hauke stellte sich hin und präsentierte seine Schuhe, die Kappe und die sündhaft teure Jacke, indem er mit den Händen an sich entlangzeigte.
»Na, schöön is dat ja graad nich«, maulte Fedder. »Sütt ut as en amerikaanschen Gangster.«
Hauke machte ein enttäuschtes Gesicht und setzte sich wieder hin. »Aber nach einem halben Jahr fing es an. Hat nur rumgenörgelt an mir, an Mama. Ich fand ihn ätzend. Immer wenn wir mal allein waren, dann hat er mich ausgelacht, mich beschimpft. In der neuen Schule bin ich nicht gleich mitgekommen. Er hat gesagt, wie blöd ich bin, mir Vorschriften gemacht. Mir gedroht. Ich bin in der Schule dann total abgerutscht. Und dann, nach zwei Jahren, fing das mit den Schlägen an. Weil ich in der Schule so schlecht war. Zur Züchtigung, sagte er. Züchtigung! Ein Wort, das ich gar nicht kannte. Hab’s nachschlagen müssen. Meine Mutter hat anfangs nichts gesagt.« Hauke zitterte. Er verzog sein Gesicht zu einer bitterbösen Grimasse. »Aber ich hab ihm von Anfang an angesehen, dass er es genossen hat. Er schlägt gerne zu, dieses Schwein.«
Fedder war fassungslos. »Jung«, rief er aufgeregt, »dar musst du na de Polizei!«
»Polizei, ha!«, spie Hauke aus. »Weißt du, was der mit Mama macht, wenn ich zur Polizei geh?«
»Wi sünd in ’n 21. Jahrhunnert. Dorför is de Polizei för di dar!«
»Nix Polizei, und wage nicht, was zu erzählen!«, drohte Hauke wütend.
Fedder spürte, dass der Junge ihm vertraute, und das durfte er nicht zerstören. Immer noch aufgebracht, versuchte er abzulenken. »Aber so wat, mien Jung, dat hett dat to de Tiet ok al geven.«
Hauke sah ihn fragend an.
»Also, das hat es damals, zu meiner Zeit, auch schon gegeben.« Fedder machte eine kurze Pause, und allmählich kam seine Fassung zurück. »Einer meiner Freunde, der Heini, der hat auch regelmäßig Schläge bekommen zu Hause«, erzählte er sanft. »Der arme Kerl! Da haben wir dem Vadder aufgelauert. Windelweich hammert den verprügelt. To fieft weern wi. Mit Masken un so. He hett den Heini nie wedder anpackt.«
»Toll, Fedder. Das nutzt mir gar nichts! Ich hab keine Freunde wie dein Heini«, erklärte Hauke betrübt.
Fedder nickte. »Hm, ja, war blöd von mir, kann man nicht vergleichen. Aber du musst Mut schöpfen.«
»Das sagst du so einfach, Fedder.« Hauke ließ den Kopf hängen und zeigte seine Hände. »Wie geht das, Mut schöpfen?«
Fedders Augen wurden feucht, der Junge tat ihm leid. Er drehte sich zu ihm hin, hielt inne und legte ihm seine Hand auf die Schulter. »Weißt du, hier, wo wir beide sitzen, da lebte mal ein Volk, das verreckt wäre, wenn nicht ein paar starke Männer und Frauen genau den Mut gehabt hätten, den du jetzt brauchst. Genau den Mut.«
»Was waren das für Leute?«, fragte Hauke neugierig.
Fedder nahm seine Pfeife von der Bank und stopfte sie neu. »Ich erzähle dir …«, erläuterte Fedder, während er Zug um Zug die Flamme in die Pfeife hineinsog, »… von ihnen. Also, wenn du es hören möchtest.«
»Ja, bitte. Erzähl’s mir!«, bat Hauke und drehte sich erwartungsvoll zu ihm hin.
»Vor langer Zeit, es ist fast 2.000 Jahre her, da lebte hier das Volk der Chauken. Sie hatten keine andere Gegend. Sie kannten nur den Fluss, das Watt und die Wolken über ihnen. Sie trotzten dem Meer, der Ebbe und der Flut, und wie auch ihre Nachbarn, die Friesen, waren sie ein friedfertiges Volk. Doch wenn man sie reizte, dann …« Fedder machte eine Pause und beobachtete, wie der Rauch, den er genüsslich ausstieß, unruhig tänzelnd in den Himmel stieg.
»Weiter, weiter«, drängte Hauke.
»Spannend?«, frotzelte Fedder. »Na, dann pass auf …«
*
28 nach Christus, am selben Ort
Das Meer war zurückgewichen. Die Ebene vor ihnen war von glänzendem Schlick überzogen, so weit das Auge reichte. Publius Cornelius Tacitus stand am grün überwucherten Ufer und beobachtete die Menschen, die in grob gewebten und vom Regen durchweichten Gewändern das Treibgut bargen. An einer Stelle des trockengefallenen Watts, die von zwei Prielen umflossen wurde, häuften Kinder, Frauen und Alte alles an, was die See angespült hatte. Die Männer waren dabei, das Zusammengetragene mit Astwerk aus den Wäldern des Hinterlandes zu verflechten, zu verbauen und festzustampfen.
»Ein beklagenswertes Volk, findest du nicht?«, stichelte der Mann neben ihm.
»Ich finde es bewundernswert, was sie tun. Sie trotzen der Natur, ringen ihr Land ab, das eigentlich dem Meer gehört.«
Marius Tullius Crassus schnippte einen Fleck hochgespritzten Schlicks von seinem weit nach vorn gewölbten Brustpanzer, der seinen riesigen Bauch noch mächtiger erscheinen ließ, und starrte wie teilnahmslos auf die Menschen vor ihnen. »Sie haben es sich wohl ausgesucht, nicht wahr?«, antwortete er in überheblichem Tonfall.
»Gehört die Natur dort vor uns zum Land oder zum Meer?«, fragte Tacitus nachdenklich.
Marius hob gleichgültig die Schultern und blies die Luft aus. »Was weiß denn ich? Ich bin nur ein römischer Beamter, der den Tribut einfordern muss. Mit unserem mare internum haben wir diese Probleme nicht. Dieses Kommen und Gehen des Wassers hier, wie lästig!«
»Sieh sie dir doch an mit ihren Schaufeln und Körben! Sie bauen schon wieder einen Erdhügel, um eine neue Hütte zu errichten. Ist es nicht unglaublich, wie alle zupacken, um einer Familie eine neue Bleibe zu schaffen? Und sie haben nur wenige Stunden Zeit, bis das Wasser wiederkehrt und sich alles, was nicht befestigt ist, zurückholt.«
Marius zog die Nase hoch. »Warum bauen sie nicht aus Stein, wie unsere Baumeister es zu tun gelernt haben?«, bemerkte er gelangweilt und kratzte beiläufig den Dreck unter seinen Fingernägeln heraus. »Es wird Zeit, dass sie ihre Tribute zahlen. Etwas anderes interessiert mich nicht.«
»Ach, ihr Censoren habt nur die Staatseinnahmen im Kopf, Steuereintreiber, für nichts anderes habt ihr einen Sinn! Sieh dir ihre Hütten an. Sie sind nur aus Holz und Lehm erbaut, aber sie halten den Naturgewalten stand. Weil sie sie auf diesen Erdhügeln errichten, die sie Wurten nennen.«
Ein paar Männer trugen Pferdemist heran, den sie im Wechsel mit Schlick auf die Hügel zwischen die Holzgeflechte schichteten und festtrampelten. Andere wiederum brachten Stroh, und ein paar Frauen schleppten geflochtene Körbe voller Abfälle aus ihren Haushalten herbei, die sie auf der immer weiter anwachsenden Anhöhe ausleerten. Fischgräten, Knochen von Rindern, alte zerrissene Felle und sogar ein kaputter Pflug, den zwei Kinder heranzogen, waren dabei.
»Sie nutzen alles, was das Leben hergibt. Und sie brauchen wenig. Statt andere Stämme anzugreifen und zu erobern, sind sie friedlich und trotzen lieber dem Meer neues Land ab. So etwas habe ich zuvor nie gesehen.« Aus Tacitus’ Stimme klang Bewunderung.
»Wie lächerlich sie sind. Graben im Dreck und im Schlamm, statt sich gegen uns zu wehren«, höhnte Marius.
»Du solltest sie nicht unterschätzen. Ich denke, dass sie uns in den Sümpfen und Dickichten überlegen sein könnten.« Tacitus grinste. »Erinnere dich an den unglücklichen Quinctilius Varus, dessen Legionen von anderen Germanen mit List und Tücke im Dickicht der teutonischen Wälder vor nicht allzu vielen Jahren vernichtet wurden.«
Marius’ Kopf schnellte herum. »Du hast Glück, dass du ein berühmter Geschichtenschreiber und Berichterstatter bist, Tacitus. Sonst wärst du aufgrund einer solchen Bemerkung des Todes.«
Tacitus zog eine Braue hoch, sah Marius kurz an und warf seinen Blick wieder auf die Wattlandschaft vor ihnen. »Habt ihr übrigens schon eine Lösung für die zu kleinen Felle gefunden?«
Marius nickte und stieß einen verächtlichen Ton aus. »Ihre Rinder sind einfach zu mickrig. Eine wirklich mindere Rasse.« Kurz schwenkten seine Augen verstohlen zu den kleinwüchsigen Rindern hinüber, die hinter ihnen in der Nähe mit langen Mähnen und zotteligem Fell im kniehohen Gras weideten. »Als Tribut reichen ihre Felle für die Belange unseres Heeres nicht aus. Sie sollen Felle von den großen Auerochsen liefern, ihre Wälder ringsherum sind voll davon.«
»Aber wie sollen sie das schaffen? Du siehst doch, wie sie schuften. Sie haben einfach keine Zeit, Auerochsen zu jagen. Also, wenn sie doch ihre Rinder haben, sollten wir zufrieden sein mit dem, was sie uns geben können«, mahnte Tacitus. »Sie werden sich das nicht mehr lange gefallen lassen. Wenn die germanische Wut einmal hochkocht, dann weiß ich nicht …«
»Schweig, Tacitus!«, schnaubte Marius. »Wir haben uns schon eine wirksame Methode ausgedacht. Die wird ihnen zeigen, was es bedeutet, Rom nicht zu gehorchen«, rief er schnittig und spuckte ins Gras.
Tacitus ging einen Schritt zurück. »Was habt ihr vor? Das hört sich … hm … entschlossen an.«
»Bei den Friesen am Rhenus, da haben wir doch das gleiche Problem. Zu kleine Rinder, sprich zu kleine Felle, ungehorsame Menschen. Wir haben uns überlegt, dass sie nun einen Tribut leisten sollen, der ihnen wehtut.«
*
»Die haben ihren Müll in die Warften – oder Wurten, wie sie wohl früher hießen – eingebaut?«, fragte Hauke gespannt. »Echt jetzt? Fischgräten, Abfälle, Tierknochen? Das ist ja krass.«
»Alles, was sie hatten. Hauptsache, der Erdhügel wuchs und hielt zusammen. Holzabfälle, Tierreste, der Mist ihrer Rinder. Von diesen Erhebungen aus fingen sie Fische. Die Menschen damals hatten unglaublichen Mut, ja, den hatten sie. Vielleicht war es auch oft der Mut der Verzweiflung. Aber ohne ihn wären sie nicht frei gewesen, frei, sich eine Heimat zu erschaffen, frei, ihre Familien zu ernähren. Erst mit diesem Mut kannst du die Freiheit spüren, woanders hinzugehen oder auch zu bleiben.« Fedder machte eine Pause und nahm Hauke direkt in den Blick. »Die Chauken jedenfalls entschieden sich zu bleiben. Doch dann kamen die Römer. Anfangs kamen sie gut miteinander aus. Irgendwann aber lief alles aus dem Ruder.«
*
»Was habt ihr vor?«, fragte Tacitus erneut, Unheil ahnend.
Marius warf ihm einen triumphierenden Blick zu, der Tacitus sogleich zu packen schien, als würde er ihn in Fesseln legen. »Wir nehmen uns ihre Frauen und ihre Kinder«, geiferte Marius mit glühenden Augen. »Arbeiten sollen sie für Rom, und andere schöne Dienste sollen sie für uns leisten.«
Tacitus wandte sich ab und sah betreten zu Boden. »Unsere Habsucht, die bringt uns noch um, Censor. So soll Rom nicht sein«, flüsterte er. »Die Chauken, sie sind unter den Germanen das vornehmste Volk. Sie erhalten ihre Gemeinschaft durch Frieden, ohne Gier und ohne Überhebung. Sie leben ruhig und abgeschieden, sie ziehen nicht in den Krieg mit ihren Nachbarn, sie plündern nicht, sondern sie schaffen Land. Sieh sie dir an!«, fügte er hinzu und zeigte auf die schuftenden Menschen vor ihnen. »Aber was du wissen solltest, und das solltest du nach Rom weitergeben: In ihren Wäldern horten sie genügend Waffen, um uns in Schwierigkeiten zu bringen.«
*
»Das ist ja unglaublich, haben sie ihnen wirklich die Frauen und Kinder genommen?« Hauke konnte es nicht fassen. »Und haben die Chauken und Friesen sich das gefallen lassen?«
»Nein. Irgendwann wurde es den Friesen zu bunt mit den Römern, und die Chauken machten mit ihnen gemeinsame Sache. Ab dem Jahr 28 nach Christus zettelten sie einen Aufstand an.«
Hauke gestikulierte wild. »Und was haben sie getan? Haben sie die Römer plattgemacht?«
Fedder nickte langsam. »Anfangs haben sie genau das mit den Römern gemacht, was die Römer mit ihren Verbrechern taten. Sie haben die römischen Soldaten, die zum Eintreiben des Tributs kamen, überfallen und ans Kreuz genagelt.«
»Mannomann, das klingt hart«, nuschelte Hauke und verzog das Gesicht.
»Die Römer konnten den Aufstand zwar beenden, aber die Nordseegermanen haben bei den Römern auch für hohe Verluste gesorgt, sie sogar teilweise eingekesselt und in den Selbstmord getrieben. Reihenweise haben sie sich in ihre eigenen Schwerter gestürzt, damit sie nicht in Gefangenschaft gerieten, denn die Soldaten wussten, was ihnen dort blühen würde. Seither, so schrieb Tacitus, hatte ihr Name bei den Römern einen hellen Klang«, schloss Fedder und schob seinen Finger in den Pfeifenkopf, um die Glut zu verdichten.
»Und dann?«
»Dann haben sie weiter an ihren Wurten gebaut. Man erzählt sich sogar«, fügte Fedder lachend hinzu, »die Chauken hätten die Knochen, Rüstungen und Leiber der getöteten Römer in ihren Wurten verbaut.«
Hauke riss vor Grauen die Augen weit auf. »Also nicht nur Fischgräten und Rinderknochen, sondern auch tote Römer?«
»Vielleicht ist es nur ein Scherz, aber vielleicht auch nicht«, sponn Fedder weiter. »Dieses Land, das Watt und die Menschen bergen Geheimnisse, von denen wir nichts wissen.« Er schob seine Mütze nach hinten, verschränkte die Arme und beobachtete die Wolken, wie sie über ihnen dahinzogen. »Und von denen wir auch gar nicht alles wissen wollen.«
Am nächsten Donnerstag
Fedder war unruhig. Es war 9 Uhr am Morgen, und heute war er extra früh gekommen, obwohl er ja wusste, dass Hauke erst am Nachmittag da sein würde. Aber schon die ganze Woche hatte er Sorge gehabt, ihn heute zu verpassen. Würde der Junge wiederkommen? Er gestand es sich nicht gerne ein, aber Hauke würde ihm fehlen, wenn nicht.
Der Junge war eine zarte Seele, vielleicht hatte er ihn überfordert. Hatte ihn vielleicht zuletzt verschreckt, als er ihm all das von den Römern, den Friesen und den Chauken erzählt hatte. Von den Gekreuzigten, von den Gerüchten um die getöteten Soldaten.
Fedder schüttelte den Kopf. Über ihm der Himmel, wie immer mit Wolken übersät, die heute wieder nach Südwesten zogen. Die Ruhe vor dem Sturm. Vor ihm das Meer, wie es allmählich zurückwich. Doch obwohl es genau das war, was Fedder normalerweise so ruhig sein, ihn stundenlang hier sitzen und dem Wasser dabei zusehen ließ, wie es allmählich seinen Rückzug antrat, war es heute anders. Aber was war anders?
Würde er kommen? Heute war doch Donnerstag, oder? Immer wieder drehte Fedder sich zur Wasserlöse, um Hauke vielleicht auszumachen, wie er die Strandstraße entlangradelte. Doch er sah nur Fußgänger, die von dem kleinen Hafen aus hierher unterwegs waren. So ein Blödsinn! Es war doch erst morgens.
Nervös wanderte er hin und her, an den dunkelgrünen Bänken vorbei. Mehrfach nahm er seine Pfeife aus der Jackentasche, doch um sie anzuzünden, war er zu unruhig. Seine Tasche mit den Broten und dem Tee stand auf einer Bank, doch ihm war nicht nach Essen oder Trinken zumute. Himmelherrgott, wat weer bloot mit em los? Zum dritten Mal blieb er stehen, wippte immer wieder von der Fußspitze zur Ferse, hielt die Hände auf dem Rücken zusammen, in der einen Hand die Pfeife, mit der anderen auf sein Hinterteil trommelnd. Er steckte die Pfeife in die Jackentasche zurück und tastete nach seinem Flachmann mit Aquavit, den er stets in der Innentasche trug. Als er zu einem Schluck ansetzte und über das blanke Metall hinweglinste, fiel ihm etwas auf. Im zurückweichenden Wasser. Eine Erhebung. Nicht sehr groß und nur wenig aus dem Wasser ragend. Aber es war eine Erhebung. Eine Wurte? So ein Quatsch, dachte er. Da war bisher doch auch keine gewesen. Er setzte den Flachmann ab und schüttelte sich, schraubte die Flasche zu und ging weiter, wieder an den Bänken vorbei, blieb stehen, blickte erneut aufs Wasser, das ein wenig gesunken war. War das ein Trugbild dort im Watt? Diese Erhebung war merkwürdig. Aber sie war eindeutig da. Und sie wurde größer. Nicht allzu weit weg, aber auch nicht direkt am Ufer. 20 oder 25 Meter von ihm entfernt vielleicht. Noch war sie vom Wasser umspült. Doch es würde nicht mehr lange dauern, dann würde sie trockenfallen. Das leise Meeresrauschen, das er normalerweise beruhigend fand, hatte plötzlich etwas Bedrohliches. Fedder fröstelte, eiskalt lief ihm ein Schauer über den Rücken. Er konnte seinen Blick nicht von dieser Erhebung wenden und kniff die Augen zusammen. Was war das? Ein Stock mit einer kleinen Fahne darauf? Ach, hör auf, Fedder. Doch je länger er das Ganze betrachtete, desto klarer wurde ihm, dass dort jemand in der Nacht etwas hingebaut haben musste.
Das Wasser war jetzt fast weg. Fedder legte seinen Caban auf die Bank, krempelte die Hose hoch, zog Schuhe und Socken aus, schob die Mütze tiefer in die Stirn, stieg über den Schotterdamm und watete auf den Erdhügel zu.
Das verbliebene Wasser war kalt und reichte ihm fast bis zu den Knien. Der Stock auf der Erhebung war nun deutlicher auszumachen. Keuchend und mit hin und her schwingenden Armen kam Fedder dem Hügel näher, der kaum zwei Meter lang war. Jetzt erkannte er, dass an dem Stock keine Fahne hing, sondern eine Plastiktüte, die im Wind zappelte. Fedder griff danach, zog die Tüte zu sich und las verdutzt darauf: »Für Fedder«. Er riss sie ab, öffnete sie und holte einen Zettel daraus hervor.
Lieber Fedder,
wirf mal einen Blick auf die Wolken. Wohin sie ziehen, dorthin hat es auch mich verschlagen – wie dich damals. Auch ich habe nun etwas Besonderes geleistet und bin wohl endlich erwachsen.
Die Chauken und die Friesen hatten recht. Ihr Mut war mir ein Vorbild. Danke dafür. Ach übrigens: Nicht nur tote Römer können Wurten füllen.
Leb wohl, Hauke
Plötzlich setzte der Sturm ein, aus unerwarteter Richtung. Donnergrollen. Trotz der beginnenden Ebbe trieb der Wind das Wasser vor sich her gegen die Küste. Fedder mühte sich durch die Wogen zurück. Gerade hatte er es über den Schotterdamm geschafft. Abgekämpft und durchnässt schleppte er sich zum Turm. Auf der Bank sitzend schnürte er sich die Schuhe. Er schenkte sich einen heißen Tee ein und schlürfte daran, wobei er hinaus ins überschwemmte Watt lugte. Dann erhob er sich, zerknüllte den Zettel und warf ihn in das anbrandende Wasser, wo gierige Wellen den Brief verschlangen. Noch peitschte der Sturm von Westen kommend die Fluten vor sich her, doch bald würden sie alles im Watt mit sich reißen, hinaus in die Tiefe der See.
In großartiger Bewegung ergießt sich dort zweimal im Zeitraum eines jeden Tages und einer jeden Nacht das Meer über eine unendliche Fläche und offenbart einen ewigen Streit der Natur in einer Gegend, in der es zweifelhaft ist, ob sie zum Land oder zum Meer gehört […] In ihren erbauten Hütten gleichen sie Seefahrern, wenn das Wasser das sie umgebende Land bedeckt, und Schiffbrüchigen, wenn es zurückgewichen ist und ihre Hütten gleich gestrandeten Schiffen allein dort liegen.(Plinius der Ältere, um 77 nach Christus, über die Chauken)
Im ausgehenden Mittelalter operierten die aus der Ostsee vertriebenen Seeräuber um Klaus Störtebeker und Gödeke Michel von der ostfriesischen Küste aus. Ihr wichtigster Stützpunkt war Marienhafe mit seinem markanten Kirchturm, der noch heute Störtebekerturm genannt wird. Um diese Zeit der »Liekedeeler« ranken sich allerhand Legenden und Mythen. In deren Mittelpunkt stehen ein großer Goldschatz – und der Geist des Liekedeelers …
»Die Post ist da!« Klaas Michaelis stand vor der offenen Bürotür seiner Chefin, ein Bündel Umschläge in der Hand, und klopfte symbolisch an den Türrahmen. »Unser Postbote hat’s wieder im Knie, da habe ich ihm die Treppen erspart. Wohin damit?«
Ocka Focken, die Chefin des Marienhafer Seniorenhauses Liekedeeler beim Störtebekerturm, löste ihren Blick vom Computerbildschirm, strich sich die ungebändigten Haare aus dem Gesicht und seufzte. »Schmeiß alles auf den großen Haufen«, wies sie ihn an. »Bestimmt lauter Rechnungen. Keine Ahnung, woher ich das Geld nehmen soll in diesen Zeiten. Überall steigen die Kosten, bloß meine Einnahmen nicht. Ich kann unsere alten Leutchen doch nicht noch mehr schröpfen.«
Klaas Michaelis trat an den Schreibtisch, dessen ausladende Platte die unsortierten Papierberge kaum fasste, und legte das Postbündel auf den einzigen noch freien Fleck. Dann strich er mit beiden Händen seinen Hausmeisterkittel glatt. »Lass den Kopf nicht hängen«, versuchte er die Heimleiterin zu trösten. »Es kommen auch wieder bessere Zeiten. Bis dahin schaffen wir es schon, nicht wahr? Alle gemeinsam.« Dass er seit Jahren auf die überfällige Erhöhung seiner mageren Bezüge wartete, erwähnte er nicht.
»Was war denn das gerade eben?« Die Chefin pustete sich eine besonders widerspenstige Locke aus dem Gesicht.
»Was denn?« Klaas legte seine Stirn in Fragefalten.
»Das Klappern. Irgendwas Metallisches. Kam das von dir? Oder geht schon wieder etwas kaputt?« Die Chefin stöhnte. »Oder ist der Geist des Liekedeelers mal eben vom Kirchturm herübergekommen und spukt jetzt auch bei uns?«
Klaas zuckte mit den Schultern. »Vielleicht war es die Post?«
Die Chefin griff nach den Umschlägen und blätterte sie mit flinken Fingern durch. »Finanzamt, Bauamt, Genossenschaft, Bank – wusste ich’s doch, da ist bestimmt nichts Erfreuliches dabei. Und was ist das hier?« Ihre Hände hielten in der Bewegung inne. »Da steht kein Absender drauf, nicht einmal unsere Adresse. Was soll das denn?« Sie warf das Kuvert zurück auf die Tischplatte. Es klapperte metallisch. Und melodisch. Wie das Klingeln von … etwas Erfreulichem. Der Chefin blieb der Mund offen stehen.
»Soll ich?«, fragte Klaas. Er nahm den Umschlag, riss ihn auf und ließ den Inhalt vorsichtig auf den Schreibtisch gleiten. Es waren Münzen, kaum größer als Eurostücke, zehn insgesamt. Sie glänzten, als wären sie aus purem Gold. Vermutlich waren sie das auch.
»Endlich«, keuchte die Chefin. »Endlich hat er auch uns bedacht! Ich habe so sehr darauf gehofft.«
Trotzdem informierte sie die Polizei. Es musste alles mit rechten Dingen zugehen. Der hagere Beamte in Zivil machte einen unmotivierten Eindruck. Der Anblick der Goldmünzen änderte nichts daran. »Die Dinger tauchen seit zwei Wochen überall in Marienhafe auf. Inzwischen haben sich ein Dutzend Leute, die solche Kuverts erhalten haben, bei uns gemeldet. Von der Dunkelziffer ganz zu schweigen. Mal waren fünf Münzen drin, mal zehn. Anscheinend ist ein anonymer Wohltäter unterwegs, der engagierte Menschen unterstützen will. Menschen, die Gutes tun, im weitesten Sinne.«
»Ist das irgendwie … ungesetzlich?«, fragte die Chefin. »Ist das Hehlerware? Steckt ein Verbrechen dahinter? Oder darf man … darf ich das annehmen?«