Strandfeuer - Hendrik Berg - E-Book
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Strandfeuer E-Book

Hendrik Berg

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Beschreibung

Ein Mord in Sankt Peter-Ording ruft Kommissar Theo Krumme mitten in der Hochsaison auf den Plan: Am Strand wurde unter einer der Pfahlbauten die Leiche eines jungen Mannes entdeckt. Bei dem Toten handelt es sich um Marten Schilling, Barkeeper und Freund von Insa Clausen, Tochter einer der wohlhabendsten Familien Nordfrieslands. Während Insa völlig aufgelöst über den Tod ihres Freundes ist, scheint sich die Trauer bei ihrer übrigen Familie in Grenzen zu halten. Krummes Argwohn ist geweckt. Zusammen mit seiner Kollegin Pat nimmt er die Clausens genauer unter die Lupe und stößt hinter der vornehmen Fassade auf dunkle Abgründe …

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Buch

Ein Mord in St. Peter-Ording ruft Kommissar Theo Krumme mitten in der Hochsaison auf den Plan: Am Strand wurde unter einer der Pfahlbauten die Leiche eines jungen Mannes entdeckt. Bei dem Toten handelt es sich um Marten Schilling, Barkeeper und Freund von Insa Clausen, Tochter einer der wohlhabendsten Familien Nordfrieslands. Während Insa völlig aufgelöst über den Tod ihres Freundes ist, scheint sich die Trauer bei ihrer übrigen Familie in Grenzen zu halten. Krummes Argwohn ist geweckt. Zusammen mit seiner Kollegin Pat nimmt er die Clausens genauer unter die Lupe und stößt hinter der vornehmen Fassade auf dunkle Abgründe …

Weitere Informationen zu Hendrik Berg

sowie zu lieferbaren Titeln des Autors

finden Sie am Ende des Buches.

Hendrik Berg

Strandfeuer

Ein Nordsee-Krimi

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Originalausgabe März 2022

Copyright © 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: Himmel, Vögel: FinePic®, München;

Pfahlhaus, Strand: © Manfred Voss / HUBERIMAGES

Redaktion: Heiko Arntz

KS · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-29250-8V001www.goldmann-verlag.de Besuchen Sie den Goldmann Verlag im Netz

1

Nordsee, 12. März 1822

Yorick war ein mutiger Mann. Wenn der Schöpfer ihn über das Meer schickte und er im prasselnden Regen die dunklen Wasserberge vor sich aufragen sah, breitete er die Arme aus, lachte und brüllte seinen Spott in den schwarzen Himmel. Sollten sich seine Kameraden zitternd vor Furcht an die Reling oder an die Rettungsseile klammern und wimmernd unter Deck verstecken, er beugte sich nicht. Mit seiner Wollmütze auf dem großen Schädel hielt er die Stellung am Ruder, egal, was passierte – selbst in der dunkelsten Nacht, selbst im schlimmsten Orkan.

Yorick hatte vor nichts Angst. Doch die grenzenlose Wut dieses Sturms, des heftigsten, den er jemals erlebt hatte, ließ sogar den hünenhaften Seemann verstummen.

Schon den zweiten Tag und die zweite Nacht kämpfte die Mannschaft der Edda mit den entfesselten Elementen. Kirchturmhohe Brecher krachten ununterbrochen von achtern auf das Deck des Frachtseglers, warfen das Schiff wie ein Stück Treibholz umher. Ein wütendes Grollen hallte durch die nasse Welt, als wäre ein gewaltiges Ungeheuer aus den Fluten gestiegen, um die Seeleute hinab zu sich in die eisige Tiefe zu ziehen.

Dabei hatten sie es fast geschafft. Vier Monate war es jetzt her, seit die Edda bei strahlendem Sonnenschein den Hafen von Triest verlassen hatte. Die Galeasse hatte Italien umrundet und Livorno an der Westküste angesteuert. Sie waren nach Marseille gesegelt, dann weiter Richtung Süden. Nach kurzem Aufenthalt in Valencia waren sie durch die Straße von Gibraltar in den Hafen von Lissabon gelangt. Schließlich ging ihre Reise entlang der Küste gen Norden. Schon in der Biskaya hatten sie mit schwerer See zu kämpfen. Dann erreichten sie den Ärmelkanal und die Nordsee – und gerieten mitten in einen der fürchterlichsten Orkane seit Menschengedenken!

Ihr holländischer Kapitän, Mathis van Dijk, hatte besorgt in den immer dunkleren Himmel hinaufgeschaut, als sie die Küste vor Dover passierten.

»Wir sollten einen Hafen anlaufen«, sagte er und strich sich mit der Hand über den kahlen Schädel.

Der junge Eigner der Edda, Heinrich Schönbeck, der sie seit Triest begleitete, schüttelte den Kopf. »Wir haben zu viel Zeit verschenkt. Wir sind schon seit drei Monaten unterwegs. Da werden wir die letzten paar Tage wohl auch noch schaffen.«

Die Mannschaft murrte, doch niemand wagte einen Einwand vorzubringen.

»Der Käpt’n hat recht«, sagte schließlich Yorick.

»Nun hört schon auf, ihr Feiglinge!«, lachte Schönbeck. Er wandte sich ab und sah zum Horizont. »Man kann den Michel doch praktisch schon sehen. Nein, wir fahren weiter.«

Die falsche Entscheidung.

Tatsächlich war es bis Hamburg nicht mehr weit. Aber die brave Edda war nicht für solch ein Unwetter gebaut, die achtköpfige Mannschaft nach der langen Reise müde und erschöpft. Sie konnten gerade die schmale Linie der ersten westfriesischen Inseln auf Steuerbord sehen, als das Gaffelsegel unter der Wucht des Sturms riss. Die Takelung des Großmastes stürzte zischend wie eine große Schlange herab und begrub den jungen Sören unter sich. Ein schwerer Haken fuhr in seine Schulter, drohte, ihn zusammen mit der rutschenden Takelage über Bord zu ziehen. Erst im letzten Moment gelang es seinen Kameraden, ihn festzuhalten. Im strömenden Regen sah Yorick, dass der Haken Sörens Arm fast abgerissen hatte. Der Käpt’n hatte ihm befohlen, unter Deck zu bleiben. Hätte der Junge nur auf ihn gehört!

Umkehren war nicht mehr möglich. Der wütende Orkan drückte von hinten gegen das steile Heck, trieb das schwerfällige Schiff vor sich her, immer weiter hinaus auf das offene Meer. Als Steuermann stand Yorick auf dem Achterdeck. Er hatte sich an das Ruder gebunden, um nicht von Bord gespült zu werden. Mit aller Macht versuchte er zu verhindern, dass die hohen Wellen das Schiff längsseits trafen. Bei dem geringen Tiefgang der Edda hätte das ihr sofortiges Kentern bedeutet.

Yorick war ein Hüne von einem Mann, aber mittlerweile am Ende seiner Kräfte. Mit den in der eisigen Kälte steif gefrorenen Fingern konnte er das Ruder kaum halten. Der Käpt’n half ihm, hatte sich ebenfalls an den Ruderschaft gebunden. Gemeinsam versuchten sie, das Schiff vor den immer wieder über sie herabstürzenden Wellen auf Kurs zu halten.

»Nur Mut, Männer!«, brüllte der in den Rettungsseilen hängende Schönbeck, war unter der Kapuze seines schweren Ledermantels aber kaum zu verstehen. »Die Elbmündung kann nicht mehr weit sein! Hamburg erwartet uns.«

Van Dijk wechselte einen stummen Blick mit Yorick. Der wusste, was der Käpt’n meinte. Schon seit vielen Stunden hatten sie die Küste nicht mehr gesehen. Sie waren verloren, allein auf der Nordsee, ohne Orientierung in einem tosenden Albtraum aus Wogen und eisiger Gischt. Kein Stern zu erkennen. Die tiefen Wolken rasten wie vom Teufel gejagt über den Himmel. Kaum vorstellbar, dass sie noch einmal eine Küste zu sehen bekamen.

Yorick schimpfte, wischte sich mit dem Arm den Regen aus dem Gesicht und stemmte seinen ganzen Körper gegen den Druck des Ruders.

Auf ihrer Fahrt lag ein Fluch! Von Anfang an, schon seit sie den Hafen von Triest verlassen hatten, damals vor drei Monaten in einem anderen Leben. Der Ruderbruch vor Sardinien. Die Ruhr, die fast die ganze Mannschaft in Marseille erwischt hatte. Tagelang hatten die Männer stöhnend in ihren Hängematten gelegen. Die Diebe, die in Lissabon versucht hatten, ihre Ladung zu klauen. Yorick selbst hatte sie auf dem Abgang zum Laderaum erwischt und mit einem Knüppel von Bord gejagt. Dann der Sturm. Das Ende schien gekommen.

Irgendjemand hatte etwas dagegen, dass sie Hamburg erreichten. Yorick wusste genau, warum.

Sie hatten den Tod an Bord!

Er blickte zum Käpt’n, dessen kahler Kopf im flackernden Licht der kleinen, heftig hin- und herpendelnden Laterne aussah, als würde er in Flammen stehen.

Yorick erinnerte sich an den Tag vor der Abfahrt. Er war sofort zu van Dijk gegangen, nachdem er erfahren hatte, was da in den fast hundert Kisten in ihrem Laderaum lag. Doch der Alte hatte nur gelacht.

»Ausgerechnet du machst dir deshalb in die Hose? Ich dachte, du spuckst sogar dem Teufel ins Gesicht?«

»Aye, Käpt’n. Aber wenn der Leibhaftige von Anfang an mit auf dem Schiff ist, hilft das auch nicht mehr.«

Der Alte hatte ihn mit plötzlich ernster Miene in eine Ecke gedrängt. »Halt bloß die Klappe! Ich will nicht, dass du die Männer mit deinem Gerede verrückt machst. Kapiert?«

Ja, Yorick hatte kapiert und während der langen Fahrt den Mund gehalten, obwohl er wusste, dass die Kameraden längst ahnten, dass mit ihrer Fahrt irgendetwas nicht stimmte.

Und er hatte recht behalten. Die Edda war verflucht. Und jetzt erwartete sie ihr Schicksal. Das Schiff würde den sicheren Hafen in Hamburg nie erreichen.

»Aufpassen!«

Es war Schönbeck, der ihn aus seinen dunklen Gedanken riss. Im nächsten Moment stürzte die Edda fast senkrecht in ein Wellental, raste durch spritzende Gischt hinab, bis der breite Bug tief in die kochende See tauchte. Einen langen Moment war alles nur Wasser und Schmerz, dann sprang der Frachtsegler wieder nach oben an die Luft wie ein Korken, schwankte, torkelte, drohte zu kippen, richtete sich dann aber wieder auf.

»Ha, seht ihr, der blanke Hans wird uns nicht besiegen, niemals!«, prustete Schönbeck mit irrem Grinsen.

Yorick lachte nicht. Diese dämliche Landratte hatte ihnen diesen Albtraum eingebrockt. Er verfluchte den Tag, an dem er bei ihm angeheuert hatte. Auch der Käpt’n wollte die Begeisterung des milchgesichtigen Reeders nicht teilen.

»Wir können uns nicht mehr lange halten!«, brüllte er heiser durch den Regen.

»Ach was, die Edda ist ein gutes Schiff, die hält das aus!«

»Ach ja?«, rief Yorick. »Wir werden alle verrecken!«

»Nicht, wenn du das Ruder weiter auf Kurs hältst.«

»Welchen Kurs? Wir haben keinen Kurs, wir …«

Yorick stockte. Vor ihnen erhob sich eine riesige Wasserwand. Wie ein Geist, der einer Truhe entstieg, wuchs sie an, wurde größer und größer. Auf einmal erfüllte ein dröhnendes Brausen die Luft. Mit weit aufgerissenen Augen beobachtete Yorick, wie der Bug der Edda sich langsam erhob, dann immer steiler Richtung Himmel stieg.

Plötzlich ein lautes Krachen und ein brutales Knirschen. Das Schiff bebte.

»Donner?« Schönbecks Stimme war im Unwetter kaum zu verstehen.

»Nein, das ist kein Donner«, erwiderte der Alte und blickte sich um. »Das kam aus dem Laderaum.«

Das schwer beladene Schiff hatte den Wellenkamm erreicht. Vor ihnen tat sich erneut ein endloser Abgrund auf. Groß genug, um Hunderte Eddas zu verschlingen.

»Hol mich der Teufel«, stammelte Schönbeck.

»Der Herr sei unseren Seelen gnädig«, flüsterte van Dijk und hielt sich mit beiden Händen am Ruderschaft fest.

Von einem Moment zum anderen legte sich die Edda auf die Seite. Das Vorsegel klatschte wie ein riesiger Lappen auf die See. Yorick hörte, wie der Käpt’n Kommandos brüllte. Die Edda musste sich wieder aufrichten, unbedingt!

Aber es war zu spät. Innerhalb weniger Augenblicke lief das Schiff voll Wasser. Welle auf Welle krachte auf sie herab. Schreie gellten durch das Tosen des Sturms. Dann brach die Edda mit einem lauten Krachen entzwei, sank gurgelnd in die dunklen Fluten und wurde von der nächsten Welle vollends unter sich begraben.

2

Dithmarschen, August 1999

»Nicht so schnell«, rief Dörte, als sich das kleine Cabrio mit Schwung in die Kurve legte. Sie lachte, warf sich dramatisch gegen die Beifahrertür, als wären sie mit ihrem Wagen auf einer Formel-1-Piste unterwegs.

»He, jetzt tu nicht so«, protestierte Markus, der hinter dem Steuer saß, »ich fahr nur so schnell, wie ich darf.«

»Von wegen«, meldete sich Fabio, der auf der Rückbank saß, »das waren mindestens neunzig Sachen.«

»Okay, okay, ist ja gut.« Markus bremste ab. Was er sowieso musste, denn gerade hatten sie das kleine Örtchen Wesselburen erreicht.

Dörte schaute sich um, lächelte. Niemand außer ihnen war in dieser lauwarmen Nacht unterwegs. Alle Fenster waren dunkel, auf den Straßen der Ortschaft war kein Mensch zu sehen. Sie lehnte sich zufrieden zurück, atmete die nach frischem Gras und dem Salz des nahen Meeres duftende Luft tief ein. Sie genoss diesen magischen Augenblick. Sie war so glücklich, dass sie am liebsten die ganze Welt umarmt hätte.

Dörte legte den Kopf in den Nacken, spürte, wie ihre langen schwarzen Haare im Fahrtwind wehten. Sie sah hinauf zum glitzernden Licht der Milchstraße. Nirgends leuchtete der Sternenhimmel so hell wie hier im Norden.

Die perfekte Nacht. Dazu gehörte auch die Musik. Vor allem die Musik. Markus hatte eine CD eingeworfen. Natürlich von den Smashing Pumpkins. Musste sein. Schließlich hatten die drei Freunde die Pumpkins heute gesehen, live, in Hamburg, auf dem Spielbudenplatz in St. Pauli. Danach hatten sie auf der Reeperbahn noch einen Döner gefuttert und waren dann weitergezogen ins La Paloma am Hans-Albers-Platz.

Immer noch berauscht von den heutigen Eindrücken, ging es jetzt mit Markus’ Golf Cabrio zurück nach Hause, nach St. Peter-Ording. Nachdem sie fast eine Stunde über die A23 Richtung Norden gefahren waren – natürlich mit offenem Verdeck –, hatten sie die Autobahn in Heide verlassen. Nun fuhren sie quer durch Dithmarschen, über das Eiderspeerwerk, an der Nordsee entlang bis zur Spitze der Halbinsel Eiderstedt in Nordfriesland.

Was für ein Tag! Was für eine Nacht! Sie passierten gerade die Ortsausfahrt, fuhren hinein in die schlafende Marsch, als »Tonight, Tonight« erklang, Dörtes Lieblingssong der Pumpkins. Fabio riss die Arme hoch und sang zusammen mit Dörte und Markus mit. So laut, so wild und ausgelassen, dass die Kühe, die im Licht der Scheinwerfer auf den Weiden auftauchten, ihnen mit erstaunten Augen hinterherschauten.

Markus drückte das Gaspedal erneut durch, war schnell wieder bei neunzig Stundenkilometern.

Dörte warf ihm einen fragenden Blick zu. Er grinste. »Was ist? Weit und breit keiner außer uns unterwegs. Wir haben die Piste ganz für uns allein.«

»Ja, aber wir wollen doch in einem Stück zu Hause ankommen, oder? Du weißt, warum …«

Markus sah ihr nachdenklich in die Augen, lächelte dann und nahm den Fuß vom Gas. »Besser?«

»Viel besser.«

Kurz darauf konnte sie die Lichter des Eidersperrwerks erkennen, das in der Dunkelheit wie ein gewaltiges, im Meer gelandetes Raumschiff aussah. Das Sperrwerk war nach der Sturmflut von 1962 an der Flussmündung gebaut worden. Es bestand aus zwei Reihen mit jeweils fünf zweihundert Tonnen schweren Stahltoren, die sich im Notfall absenken ließen und das Binnenland vor den Wassermassen schützen sollten. Wie riesige Klammern umschlossen sie zudem einen zweispurigen, über zweihundert Meter langen Straßentunnel, der Dithmarschen mit Nordfriesland verband.

Dörte lächelte. Sie mochte Dithmarschen sehr, ihre Familie kam von hier, viele ihrer besten Freunde wohnten in Büsum oder Heide. Auch die Landschaft gefiel ihr, sah sie doch zumindest hier im Nordteil genauso aus wie in Nordfriesland. Aber jedes Mal, wenn sie den Tunnel des Sperrwerks verließ, hatte sie das Gefühl, dass die Marsch dort noch grüner war und die Luft noch besser roch. Durchs Eidersperrwerk zu fahren und damit auf Eiderstedt zu sein, bedeutete für sie, nach Hause zu kommen.

Endlich näherten sie sich dem Tunnel. Trotz der nächtlichen Stunde war ausgerechnet hier ein alter Trecker unterwegs. Mit seinem hin und her wackelnden Anhänger hielt er auf die Einfahrt zu und bremste sie aus. Das Dröhnen des Dieselmotors in der geschlossenen Röhre klang markerschütternd. Dörte verzog genervt das Gesicht.

Markus seufzte. Trotz der durchgezogenen Linie in der Straßenmitte beschloss er, den Trecker zu überholen. Kein Problem in dem sonst leeren Tunnel.

Er schaltete zurück, gab Gas. Der Motor ruckte kurz, dann zog Markus den Golf neben das Landwirtschaftsgespann. Doch gerade als sie den Anhänger mit den hochgestapelten Strohrollen passierten, geschah es. Der Trecker scherte nach links aus. Dörte schrie auf, sah, wie seine riesigen Räder sich bedrohlich dicht ihrem Wagen näherten.

War der Fahrer eingenickt? Markus drückte auf die Hupe, bremste ab, um zu verhindern, zwischen dem Trecker und der Tunnelwand eingequetscht zu werden.

»Du Idiot!«, brüllte er.

Der Fahrer schien aus seinem Dämmerschlaf erwacht zu sein. Im nächsten Moment zog er seine Maschine zurück auf die rechte Spur.

Markus gab Gas, hupte erneut und schob den Golf neben den Trecker. Er verdrehte den Kopf, versuchte, den Fahrer über den großen Traktorrädern hinweg zu sehen, konnte ihn in seiner Kabine aber nicht erkennen.

»Achtung!«, hörte er auf einmal Dörte schreien.

Markus sah nach vorn, riss die Augen auf.

Ein Porsche kam ihnen rasend schnell entgegen. Blendete die Scheinwerfer auf, wurde aber nicht langsamer. Dörte hielt sich den rechten Arm vor die Augen, während ihre Linke instinktiv hinten nach Fabios Hand griff.

Sie hörte Markus’ Fluchen, das Quietschen der Bremsen. Ein ohrenbetäubendes Krachen. Dann ein heftiger Stoß, ein brutaler Schmerz auf der Brust, die Welt drehte sich und riss sie mit sich fort. Schließlich hörte und fühlte Dörte gar nichts mehr.

3

St. Peter-Ording, Gegenwart

Meeresrauschen erfüllte den Raum. Man hörte Wellen, die sanft am Strand ausliefen. Dazu zarte Harfentöne, als würde irgendwo in den Dünen ein musizierender Engel sitzen.

»Stellt die Füße nebeneinander«, sagte eine einschmeichelnde Frauenstimme. »Legt eure Arme an die Seite und den Kopf in den Nacken. Drückt jetzt eure Sohlen vorsichtig auf die Matte, spürt von der Ferse bis in jeden einzelnen Zeh, wie ihr auf der Erde steht. Öffnet jetzt die Augen. Blickt nach oben, lächelt, zeigt dem Leben, wie viel Licht ihr ihm geben könnt. Ihr seid wunderbar, ihr seid einmalig. Genießt diesen Moment. Gebt eurem Körper die Zeit, zu sich zu kommen.«

Krumme seufzte. Nach mehreren Kursstunden wusste er, dass es so angenehm nicht bleiben würde.

»Beugt euch jetzt langsam nach vorne, die Beine immer gerade durchgedrückt. Lasst die Arme fallen, schüttelt sie einen Moment, lasst alles Schwere aus ihnen hinausströmen. Ja, das macht ihr wunderbar. Und nun streckt die Arme durch, genau wie die Beine. Drückt euren Oberkörper nach unten und legt die Hände mit den Ballen sanft auf den Boden. Bleibt so, genießt den Moment. Spürt, wie die Kraft warm durch euren Körper strömt.«

Krumme ächzte und schnaufte, bemüht, den Oberkörper nach unten zu drücken. Den meisten anderen Kursteilnehmerinnen gelang das ohne Probleme, auch Marianne, seiner Freundin. Einige beugten den Oberkörper so weit, dass sie es tatsächlich schafften, die Handballen flach auf den Boden zu legen. Nicht so Krumme. Bei einer Neunzig-Grad-Beuge war Schluss, weiter als bis zu den Knien wollten seine Hände nicht reichen.

»Nicht aufgeben, Theo«, rief Ettje, die gerade mal fünfundzwanzig Jahre junge Yogalehrerin, die sein verzweifeltes Bemühen von ihrer Matte aus mit einem mitfühlenden Lächeln beobachtete. »Komm schon, ein paar Zentimeter sind bestimmt noch drin.«

Waren sie nicht. Krumme schüttelte den Kopf, ächzte niedergeschlagen. Schlimm genug, dass Ettje ihn genau im Auge behielt. Dass aber alle anderen Damen ihm ebenfalls freundlich aufmunternde, manchmal auch amüsierte Blicke zuwarfen, war kaum zu ertragen. Wieso schauten sie nicht woandershin? Warum beachteten sie ihn überhaupt, wo er sich doch schon in der hintersten Reihe direkt an der Wand versteckte?

Außer ihm und Marianne nahmen zehn Frauen an dem Kurs teil: fünf junge Studentinnen aus Osnabrück, zwei Mütter aus Hamburg, die ihre Körper nach der Schwangerschaft wieder in Form bringen wollten. Überflüssigerweise. Obwohl die beiden ihre Kinder erst vor zwei beziehungsweise drei Monaten bekommen hatten, präsentierten sie in ihren hautengen Gymnastikanzügen fast obszön flache Bäuche. Außerirdische. Dagegen zeigten zwei weitere Damen, beide um die fünfzig, mutig ihre überzähligen Pfunde. Die rheinischen Frohnaturen hatten den langen Weg aus der Eifel auf sich genommen, um an diesem Kurs teilzunehmen. Tapfer bemühten sie sich, trotz ihres Übergewichts, Ettjes Übungen zu folgen. Und tatsächlich gelang es ihnen, die Hände mehr oder weniger elegant auf die Isomatten zu legen. Es war zum Verzweifeln. Krumme schaffte es kaum, das Gleichgewicht zu halten und nicht umzukippen. Konnte es sein, dass Frauen schlichtweg andere Muskeln hatten?

Es gab in Ettjes Kurs noch einen weiteren Mann neben Krumme. Dietmar, ein gemütlicher Fast-Sechziger und Gatte von Janine, einer der beiden Eifelerinnen. Er wog hundertzwanzig Kilo, und sein sportliches Engagement beschränkte sich für gewöhnlich auf das Schauen von FC-Köln-Spielen im Fernsehen. Janine und ihre Freundin Susanne hatten ihn nur als Fahrer mit an die Nordsee genommen. Trotzdem nahm er an dem Kurs teil, rollte zu Beginn jeder Yogastunde seine Matte aus – nur um nach wenigen Augenblicken einzuschlafen. Ein schlummernder Wal, passend zu Ettjes Playlist mit maritimen Klängen. Die Yogalehrerin und die anderen Damen störte die Anwesenheit von Janines Mann nicht, denn er schnarchte so leise, dass nur Krumme es hören konnte. Dietmar hatte in ihm sofort einen Männerkumpel ausgemacht und gesellte sich zum Beginn jeder Einheit freundlich grüßend zu ihm ans Fenster.

»Der Quatsch ist nichts mehr für uns alte Männer, was Theo?«, hatte er während der ersten Stunde gutmütig lächelnd festgestellt. Krumme betrachtete den untersetzten Mann und wollte das für sich nicht akzeptieren. So alt und klapprig wirkte er doch hoffentlich noch nicht! Oder doch?

Immerhin hatte er einen guten Grund für die Teilnahme an diesem Kurs: seinen Rücken. Schon früher in Berlin, wo er in Neukölln bei der Kripo gearbeitet hatte, waren seine Bandscheiben ein Problem gewesen. Seit er vor rund fünf Jahren nach Nordfriesland gezogen war, hatte sich die Lage gebessert. Doch in den letzten Monaten hatte sich sein Rücken wieder gemeldet. Manchmal kam er morgens kaum aus dem Bett.

»Theo, so geht das nicht weiter. Du musst dich unbedingt mehr bewegen!«, hatte Marianne mit ihm geschimpft. Schließlich hatte sie diesen Yogakurs in St. Peter-Ording gefunden. Vier Tage im schicken Beach-Park-Hotel, direkt hinter dem Deich und nur etwas mehr als eine halbe Stunde Autofahrt von ihrem Zuhause in Husum entfernt. Fast komplett von der Krankenkasse bezahlt, inklusive Zimmer und Halbpension. Marianne hatte nicht lockergelassen, bis er sich endlich mit Pat, seiner Partnerin bei der Kriminalpolizei, abgesprochen und die drei Tage für ein verlängertes Wochenende freigenommen hatte.

Die ersten zwei Tage des Kurses waren fast vorbei, doch Fortschritte wollten sich bei Krumme nicht einstellen. Ettje war eine tolle Yogalehrerin, und er sah bewundernd zu, wie elegant und anmutig sie die Übungen vormachte. Leider sah es bei ihm selbst nicht andeutungsweise so geschmeidig aus. Bis er seine Arme und Beine nach Ettjes Vorgaben stöhnend und schwitzend sortiert hatte, war die Übung meistens schon wieder vorbei. Und die Rückenschmerzen waren auch nicht besser geworden. Zum Glück war das Ende der heutigen Stunde fast erreicht. Krumme konnte durchatmen. Ettje ließ das Programm langsam mit ein paar motorisch nicht sonderlich anspruchsvollen Entspannungsübungen ausklingen. Manchmal gab es sogar ruhige Momente, in denen er nur auf dem Bauch oder dem Rücken liegen durfte.

»Spürt ihr, wie sich die Wärme in eurem Körper ausbreitet?«, fragte Ettje mit ihrer sanften Stimme. »Sperrt euch nicht dagegen. Sagt Hallo zu der Wärme, empfangt sie wie einen guten Freund.« Dazu hob sie das Becken mit langsamen, kreisenden Bewegungen. Krumme bemühte sich, ihr zu folgen, war am Ende der Einheit aber so erschöpft, dass er den Hintern nicht mehr hochbekam.

Entgegen Ettjes Empfehlung hatten Marianne und er zusammen mit Dietmar und Janine kurz vor der Stunde lecker Apfelkuchen mit einer Extraportion Sahne gefuttert. Ein Fehler. Denn mit der sinkenden Anspannung durch das nahende Ende der Stunde spürte Krumme auf einmal eine lähmende Müdigkeit. Halt durch! Bloß nicht einschlafen!, warnte ihn eine, leider nur leise, Stimme im Kopf. Aber die wärmende Entspannung, die Krumme nach Ettjes Empfehlung in seinen Körper aufnehmen sollte, war unwiderstehlich. Und die wohligen Meeres- und Harfenklänge aus Ettjes Bluetooth-Lautsprecher machten es ihm fast unmöglich, nicht ins Reich der Träume abzugleiten.

Ein deutliches Furzen störte plötzlich die feierliche Stille.

Auf einmal hellwach, riss Krumme die Augen auf. War er das gewesen? Nein, wohl nicht. Dietmar? Doch sein rheinischer Freund schlief tief und fest, lag jetzt auf der Seite und mit angezogenen Beinen wie ein kleines Kind in der Wiege.

Die Damen kicherten. Krumme blickte nach vorn. Die Unruhe konnte nur bedeuten, dass …

Marianne und er hatten ihren Hund Sonny mit nach St. Peter-Ording genommen. Tatsächlich war das Beach-Park-Hotel, wie der Ort insgesamt, sehr hundefreundlich. Das galt auch für so große Exemplare wie Sonny. Der war zwar immer noch relativ jung, aber bereits ein Riese. Kein Wunder: Seine Mutter Gloria war Hütehund auf einem Eiderstedter Schäferhof und sein Vater Watson wohl eine Mischung aus Bernhardiner und Leonberger. Sonny hatte die Gutmütigkeit, die Treue, den Mut aber auch das Temperament seines Vaters geerbt. Umso erstaunlicher, dass er sich sofort mit Ettjes Malteser Mickey angefreundet hatte. Mickey war daran gewöhnt, bei Ettjes Yogastunden friedlich und ruhig auf einem Kissen zu liegen. Und kaum zu glauben: Sonny, der sonst ständig hin und her sprang und von Krumme oft nicht zu bändigen war, war während des Kurses wie verwandelt. War es Ettjes Stimme, waren es die hypnotischen Meeresklänge oder einfach Mickeys positiver Einfluss? Jedenfalls kuschelte Sonny sich in jeder Stunde an seinen neuen Freund und hatte sich bisher absolut unauffällig verhalten.

Zu Krummes Verblüffung war jetzt nicht Sonny, sondern sein neuer Kumpel der Schuldige. Um alle Zweifel zu zerstreuen, ließ er erneut einen fahren. Ettje tadelte ihn grinsend, aber Mickey reagierte überhaupt nicht und schlief einfach weiter.

Ettje läutete den letzten Teil der morgendlichen Yogastunde ein.

»Zum Schluss richten wir uns jetzt wieder langsam auf. Wir stellen erst den rechten Fuß auf und drücken uns dann mit geradem Oberkörper in die Höhe. Die Augen sind geschlossen. Keine hektischen Bewegungen, schließlich haben wir gerade die Harmonie über unsere inneren Körperströmungen gefunden.«

Das galt für Krumme nur in einem begrenzten Maß. Ächzend kam er auf die Beine und versuchte schwankend, das Gleichgewicht zu halten. Doch er hatte sich zu schnell erhoben. Für einen Moment schwindelte ihm, er stolperte und musste sich an einer anderen Kursteilnehmerin festhalten, um nicht hinzufallen.

»Hoppla! Tschuldigung, der Boden ist so glatt«, murmelte er mit knallrotem Kopf.

Ettje konnte er nichts vormachen. »Alles gut, Theo?«, erkundigte sie sich besorgt.

Er nickte, schaute verlegen in die Runde. Hatten die Damen gesehen, wie dämlich er sich benommen hatte?

Während die Meereswellen in Endlosschleife an den Strand spülten, machte Ettje weiter im Programm: »Wir lassen die Arme hängen, spüren, wie sie sich bis in die Fingerspitzen entspannen. Nun drehen wir die Schultern nach hinten, langsam, ganz bewusst, sagen Hallo zu unserem Körper, Hallo zu unserer neuen Frische …«

»Ich hasse Yoga!«, brummte Krumme, als sie später auf dem Balkon ihres Hotelzimmers saßen.

»Aber warum denn?« Marianne sah ihn erstaunt an. »Du machst das doch super!«

»Super? Ich bin die Lachnummer, der Depp, der sich jede Stunde von Neuem blamiert.«

»Quatsch. Du musst nur ein bisschen Geduld haben. Die anderen sind auch nicht alle besser als du.«

Krumme stöhnte nur und schwieg. Er blickte nach oben in den Himmel. Die Aussicht von ihrem Balkon war spektakulär. Normalerweise schauten sie über den Deich bis zum breiten Ordinger Strand und der Nordsee und konnten vor dem endlos blauen Firmament die Drachen und die Segel der Surfer tanzen sehen.

Aber an diesem Abend nahm der Sommer offensichtlich eine Auszeit. Es hatte sich überraschend schnell bezogen. Dicke schwarze Wolken hingen regenschwer am Himmel. Krumme war sicher, dass ihnen in der Nacht ein heftiges Unwetter bevorstand. Die Luft schmeckte nicht nur salzig, sondern nach Eisen. In der Ferne blitzte ein kurzes Wetterleuchten auf. Ein düsterer Anblick, der recht gut zu seiner Gemütslage passte.

»Möchtest du auch ein Glas Wein?«, fragte Marianne von drinnen.

»Nein danke«, muffelte Krumme, der sich vorgenommen hatte, heute Abend keine gute Laune zu haben. Er wollte ihr auf diese Weise klar und deutlich zu verstehen geben, dass dieser Kurs eine ganz miese Idee gewesen war.

Leider schien sie ihn in seiner Bockigkeit nicht ernst zu nehmen. Trotz seiner abschlägigen Antwort brachte sie zwei volle Weingläser mit nach draußen und reichte ihm eins. Krumme zögerte, nahm dann aber trotzdem das Glas an.

Marianne setzte sich neben ihn auf einen Stuhl. »Richtig unheimlich, wie dunkel es geworden ist«, sagte sie, legte ihre Füße auf das Geländer des Balkons und strich ihren Sommerrock glatt. Als er nichts erwiderte, betrachtete sie ihn mit besorgter Miene.

»Was macht dein Rücken?«

Er rutschte mit dem Hintern auf dem Stuhl herum. »Nicht so gut.«

»Machst du dir Sorgen, dass die im Präsidium nicht ohne dich klarkommen?«

»Was hat das denn damit zu tun?«

Marianne nippte an ihrem Wein, zuckte dabei gleichmütig mit den Schultern. »Ich frag ja nur.«

»Nein, ich denke nicht an die Arbeit. Warum auch?«, behauptete er. Eine glatte Lüge. Tatsächlich war er in Gedanken die ganze Zeit bei den Kollegen. Er hatte nur Pat und seinem Chef von seinen Rückenproblemen und dem Yogakurs erzählt. Die anderen Kollegen brauchten nichts davon zu erfahren. Schlimm genug, dass er nach all den Jahren immer noch der dazu gezogene Berliner war. Er wollte nicht auch noch der wehleidige Großstädter sein, der sich von seiner Freundin zu Frauenkram wie Yoga anmelden ließ.

»Sehr gut«, antwortete Marianne auf seine Frage. »Du hast schon so lange keinen Urlaub mehr gemacht. Du musst dich endlich mal ein bisschen erholen und an dich denken. Vergiss deine Arbeit und mach dir keine Sorgen. Nirgends ist die Welt so friedlich wie hier in St. Peter-Ording.«

Krumme blickte erneut in den dunklen Himmel. Er spürte den aufkommenden Sturm. So friedlich sah es hier im Moment gar nicht aus. Im Gegenteil, irgendwie hatte er den Eindruck, dass ihnen irgendetwas Schlimmes bevorstand.

4

Was für ein dunkler, trüber Abend. Mitten im Sommer fühlte es sich an, als wenn die Natur den Atem anhielt. Nur ein leises Rauschen erfüllte die Luft, das Rascheln der Blätter der Buche neben der Werkshalle und das Glucksen des Wassers im Hafenbecken. Mehr war nicht zu hören, selbst die Möwen schienen sich in eine stille Ecke zurückgezogen zu haben.

Bernd schaute in den Himmel hinauf. Die Wolken hingen wie schwarze, zerfranste Decken über der Küste. Noch war kein Tropfen gefallen, aber es war nur eine Frage von Minuten, bis der Regen auf sie niedergehen würde.

Ein Glück, dass die Farbe schon trocken war. Er hatte den Katamaran gleich am Morgen zusammen mit seinem Azubi gestrichen, obwohl es Sonntag war. Er hatte gewusst, dass sie sich beeilen mussten. Für den Tag und für den Abend waren kein Regen vorhergesagt worden. Aber Bernd war hier im Norden geboren. Schon viele Stunden vorher hatte er es in seinen alten Knochen gespürt, am Geschmack der Luft und am Licht über der See: In der Nacht würde es gewaltig schütten!

Zu dumm, dass er noch mal wegmusste.

Hatte Marten geahnt, wie mies das Wetter werden würde, als er sich mit ihm verabredet hatte? Hatte er darauf gehofft, dass er ihr Treffen absagen würde?

Bernd spuckte verächtlich auf den ölverschmierten Boden. Niemals. Heute würde er sich den Mistkerl schnappen. Marten hatte schon so oft gelogen und betrogen, dieses Mal gab es keine Gnade.

Er schaute auf die Uhr. Er musste los.

Bernd vergewisserte sich, dass bei den drei Schiffen, die auf dem Platz vor der Halle mit ihren dunklen Leibern aufgebockt in der Luft hingen, alles in Ordnung war. Denn es würde nicht nur regnen, so viel stand fest. Bald würden heftige Böen über das Land fegen. Er fluchte leise. Früher waren diese plötzlichen Wetterwechsel nicht so schlimm, die Schmerzen in seinen morschen Knien nicht so heftig gewesen.

Aber vielleicht war das kommende Unwetter ja genau der richtige Rahmen für sein Treffen?

Er wischte sich die schmutzigen Hände an der Hose ab und ging in die Halle. Er hörte das Knirschen im Gebälk, als der Wind an dem Dach zerrte. Wie so vieles auf der Werft, brauchte auch die Werkshalle unbedingt eine Renovierung. Aber woher sollte er das Geld dafür nehmen? Die Auftragslage war schlecht, schon seit Jahren. Und die Löhne für seine beiden Angestellten zu bezahlen, war ihm wichtiger als ein neuer Anstrich der Halle oder eine Reparatur des kaputten Daches.

Im Büro trank er erst mal einen Schluck. Kein Wasser, wie während der Arbeit, sondern einen Schnaps, um die Synapsen zu ölen, für das, was er heute vorhatte. Dann schob er ein paar leere Kartons zur Seite, um an den Safe zu gelangen, der unter dem Tisch stand. Ächzend ging er in die Knie, öffnete ihn und holte die Pistole heraus. Er betrachtete die Waffe, wog das Ungetüm in der Hand. War es eine gute Idee, sie heute mitzunehmen? So was brachte nur zusätzlichen Ärger. Bernd bevorzugte bei seinen Nebengeschäften genau wie bei der Reparatur der Schiffe Handarbeit.

Aber heute musste er unter Umständen etwas deutlicher werden.

Er dachte an Martens Anruf. Eigentlich hätten sie heute reinen Tisch machen sollen. Doch nun wollte dieser Dreckskerl noch einmal über alles reden.

Bernd schnaufte verärgert. Nein, Schluss mit dem Hickhack! Er stand auf, griff sich seine Jacke und die Autoschlüssel für den alten Daimler. Dann verließ er das Büro und schloss das Hallentor ab.

Wieder schaute er nach oben in den jetzt schwarzen Himmel. Erste Regentropfen klatschten ihm ins Gesicht, der Wind wurde immer stärker.

Plötzlich hörte er hinter sich ein knallendes Geräusch. Sofort griff er nach der Pistole in seiner Jacke, drehte sich um und sah zu den Booten.

Wieder das Knallen. Ein Schatten bewegte sich oben auf dem Katamaran.

Bernd atmete erleichtert aus. Nur eine Plane, die sich im Sturm gelöst hatte. Er steckte die Waffe weg, ging mit eingezogenem Kopf auf das Boot zu. Die Plane war bei diesem Schietwetter wichtiger. Marten würde noch eine Weile warten müssen.

5

Wieso musste das Treffen unbedingt heute stattfinden? Marten hatte den ganzen Tag hinter der Bar des Poseidon gestanden, ein Pfahlbau, der sich auf mächtigen Bohlen über dem Strand erhob und bei Flut sogar vom Wasser umgeben war. Es war Hochsaison, und Sonntag noch dazu. Das hieß, zu den vielen Sommergästen, die sich in den Hotels, Ferienhäusern und Wohnungen eingemietet hatten, kamen noch die Tagesgäste hinzu. Und direkt neben dem Poseidon fand gerade die deutsche Meisterschaft im Kitesurfen statt. Das Poseidon war der perfekte Aussichtspunkt, um die Wettkämpfe in den meist stürmischen Wellen zu beobachten. Für Marten und seine Kollegen bedeutete das Dauerstress und keine freie Minute.

Und jetzt noch dieses dämliche Treffen. Zum Kotzen!

Warum trafen sie sich nicht woanders? Warum nicht im Poseidon? Oder irgendwo im Trockenen? Wieso sollte er unbedingt zu dieser Ruine kommen?

Es hatte angefangen zu regnen. Marten beobachtete, wie die Flut in den Prielen gurgelnd auflief. Nicht mehr lange, und hier war alles vom Wasser bedeckt. Aber wenigstens war er hier zwischen den mächtigen Stelzen des abbruchreifen Pfahlbaus vor dem Regen geschützt.

Eine Zigarette rauchend, dachte er an den heutigen Tag. An den nervigen Streit mit Geert, dem Besitzer des Poseidon. An die hübschen Mädchen, die in ihren knappen Tops direkt vom Strand hoch zu ihm an die Bar gekommen waren. Er erinnerte sich lächelnd an die Telefonnummern, die sie ihm zugesteckt hatten. Die beiden Blondinen hatten ihm sogar den Standort ihres Wohnmobils auf einem Campingplatz in Ording auf die Rückseite ihrer Rechnung gemalt.

Marten bewahrte den Zettel auf. Man wusste ja nie, was sich im Laufe des Sommers ergab.

Er schnippte seine Zigarette in den Priel. Dann wich er ein paar Schritte zurück. Das Wasser kam unaufhaltsam näher. Lange würde er nicht mehr hier warten können. Lauter Gewitterdonner ließ ihn zusammenzucken.

Marten holte tief Luft. Er schaute in seine Zigarettenpackung, griff sich dieses Mal einen Joint. Während er den ersten Zug nahm, sah er zu den tief hängenden Sturmwolken. Vielleicht sollte er in die Berge umziehen. Après-Ski und Hüttenzauber wären zur Abwechslung mal ganz nett. Wenn es wie geplant lief, konnte er sich das schon bald leisten.

Zufrieden umfasste er das Amulett in seiner Hosentasche. Fühlte sich gut an, schwer, irgendwie wertvoll. Er zog es heraus, wollte es genauer betrachten, konnte im trüben Licht aber kaum etwas erkennen. Verrückt, bildete er sich das ein, oder strahlte das Ding irgendwie Wärme aus? Als würde er ein kleines Herz in der Hand halten!

Zuerst hatte er daran gedacht, es für viel Geld zu verkaufen, um seine Schulden zu begleichen, um Kohle für seine zukünftigen Verpflichtungen zu haben. Doch egal was er versprochen hatte, jetzt hatte er andere Pläne.

Natürlich würde das Ärger geben. Aber auf eigentümliche Weise war er sicher, dass sein neuer Besitz und das Wissen um seine Herkunft ihn unantastbar machten. Er musste vor niemandem Angst haben, im Gegenteil.

Wieder dachte er an Geert, seinen Chef. Einen Betrüger hatte der ihn genannt. Nur weil er sich einen Zwanziger fürs Taxi aus der Trinkgeldkasse genommen hatte. So ein Arschloch! Wer bekam denn das meiste Trinkgeld? Er ja wohl!

Sofort loderte die Wut wieder in ihm auf, drohte ihn mit heißen Flammen zu verzehren. Marten schüttelte den Kopf, schloss für einen Moment die Augen. Selbst überrascht über seinen plötzlichen Gefühlsausbruch, versuchte er, sich wieder zu beruhigen. Aber im nächsten Moment zerriss ein Blitz den Himmel, begleitet von einem gewaltigen Donner, der die Erde erbeben ließ. Dann war wieder nur das tiefe Grollen des Sturms zu hören, das Gurgeln der Flut.

Marten atmete langsam aus und ein. Dieser Scheißkerl war es nicht wert, dass er sich aufregte. Er nahm sich vor, Geert morgen noch mal zur Rede zu stellen. Der würde sich wundern, mit wem er sich angelegt hatte.

In Gedanken stand er seinem Chef am Tresen schon gegenüber. Seine Haut kribbelte. Wieder spürte er den brennenden Wunsch nach Rache in sich wachsen.

Er blickte auf seine Uhr. Wie lange musste er denn noch warten? Wollten ihn denn heute alle verarschen? Auf einmal hörte er durch den Wind ein Knacken, dann näherten sich von hinten knirschende Schritte im Sand. Endlich. Jetzt kam es drauf an. Er musste genau aufpassen, was er sagte. Er wandte sich um, konnte aber zunächst niemanden sehen.

»Hallo, Marten«, meldete sich eine vertraute Stimme.

Er sah überrascht zu dem Schatten, der sich hinter einer Bohle aus der Dunkelheit löste, stapfte dabei in das schon knöcheltiefe Wasser des Priels. Er fluchte.

Wieder donnerte es. Das Gewitter war genau über ihnen, und für den Bruchteil einer Sekunde erkannte Marten, wer vor ihm stand, sah das metallische Glänzen in der Hand.

»Was …?«, stammelte er erschrocken, als ein weiterer Blitz die Nacht zerriss, gefolgt von einem heftigen Donnerschlag.

Und von einem Schuss. Marten wurde nach hinten geschleudert. Und war bereits tot, als er rücklings in den Priel stürzte.

6

»Vielleicht ein junges, verliebtes Paar auf Segeltour«, begann Niri. »Sie sind den ganzen Tag auf dem Wasser. Am Ende wollen sie zusammen Abend essen, draußen auf dem Deck. Er hat gekocht, den Tisch gedeckt, lecker Essen, mit einem tollen Wein. Und sie will ihn überraschen, hat sich was Schickes angezogen, ein kurzes Sommerkleid mit hochhackigen Pumps.«

»Und dann?«, fragte Max. Er schluckte, hatte auf einmal einen trockenen Hals.

»Natürlich ist ihr Freund total verknallt in sie. Als sie aus der Kabine kommt, fällt ihm fast das Glas aus der Hand. Vor der untergehenden Abendsonne sieht sie umwerfend aus. Und er ist ihre große Liebe. Sie küssen sich leidenschaftlich. Und bevor die beiden auf die Liege sinken, streift sie die Schuhe frech von den Füßen. Wobei einer über die Reling fliegt und platschend ins Wasser fällt. Aber das ist ihr völlig egal. Denn das ist der schönste Tag ihres Lebens.«

Für einen Moment herrschte Stille. Max holte tief Luft. Er schaute Niri mit großen Augen an, als wäre sie ein überirdisches Wesen.

Ein überirdisches Wesen in Gummistiefeln. Denn genau wie Max und Mathilda war Niri eine junge Naturfreundin, die ein freiwilliges ökologisches Jahr in der »Schutzstation Wattenmeer« absolvierte, im oder besser am Leuchtturm von Westerhever. Ihr gemeinsamer Auftrag an diesem freundlichen Morgen, nachdem in der Nacht ein schlimmer Sturm über Nordfriesland gerauscht war: Müllsammeln in den Salzwiesen, die sich vor ihnen weit hinaus bis zum Watt erstreckten. Bei Fluten wie der von letzter Nacht wurden sie regelmäßig vom Meer überspült, und bei Ebbe fand sich dort jede Menge Strandgut und Müll – verfaulte Bretter, Plastiktüten und Trödel. Eine Schande. Und das Zeug aus den schlammigen Prielen und dem scharfen Seegras zu ziehen, machte keinen Spaß.

Niri hatte sich ein Spiel ausgedacht: Während einer kleinen Pause, in der sie die Butterbrote aßen, die sie sich am Morgen in ihrer Unterkunft am Leuchtturm geschmiert hatten, sollte sich jeder eine Geschichte zu ihren Fundstücken ausdenken. Niri zum Beispiel hatte einen vom Salzwasser fast halb zersetzten, hochhackigen Damenschuh gefunden.

Mathilda schien von ihrer Geschichte nicht sonderlich überzeugt. »Hochhackige Schuhe auf dem Deck eines wackeligen Segelschiffs? Wie soll das gehen?«

Sie kam aus einem kleinen Dorf im hessischen Taunus, wie man an ihrer singenden Sprachmelodie gut hören konnte.

»Kommt auf das Schiff an«, erwiderte Niri.

Max beobachtete, wie sie sich eine dicke schwarze Locke aus dem Gesicht schob. Sie hatte sich ihre Haare wegen des stürmischen Windes zu einem Zopf zusammengebunden. Aber ihre dunkle, von der salzigen Luft verklebte Mähne war viel zu wild und widerspenstig, als dass sie sich von einem Gummiband bändigen ließ.

»Nur so ein kleiner Kahn geht natürlich nicht«, sagte Niri zu ihrer Freundin. »Aber auf so einer großen Segelyacht, wieso soll es da nicht auch ein richtiges Sonnendeck geben?« Sie grinste.

Max wusste, dass Niri im noblen Hamburger Stadtteil Nienstetten wohnte. Sie hatte erzählt, dass man von dem Haus ihrer Familie in nur zehn Minuten an der Elbe war. Er war überzeugt, dass Niri genau wusste, von was für einem Schiff sie sprach. Garantiert war sie schon selbst auf so einer Yacht gefahren.

Mathilda war als Nächste dran. Sie rückte ihre runde Brille zurecht und blickte auf die Fundstücke in ihrem Eimer. Sie entschied sich für ein Nudelholz und hielt es wie einen Pokal in die Höhe.

»Vielleicht das gleiche Pärchen wie bei dir, Niri«, fing sie an. »Nur dass die Frau es nicht geschafft hat, den Mann zu verführen. Dabei wollte sie doch unbedingt an seine Kohle. Kohle muss er ja haben, wenn er sich so eine tolle Yacht leisten kann. Also hat sie sich das Nudelholz aus der Kombüse gegriffen, ihm eins übergezogen, dann noch mal, immer wieder, so oft, bis er hinüber war. Dann hat sie das Ding einfach über Bord geworfen. Ist ja schließlich die Tatwaffe. Und natürlich musste sie jeden Beweis für den Mord vernichten.«

Mathilda lächelte, wartete zufrieden auf die Reaktionen der Freunde. Die schauten sie mit großen Augen an.

»Also … Niris Geschichte fand ich irgendwie besser«, sagte Max vorsichtig.

Mathilda zuckte mit den Schultern und schob ihre Brille mit dem Zeigefinger die Nase hoch. »Krimis sind eben nichts für jeden.« Sie hatte eine leichte Neurodermitis und kratzte sich gedankenverloren am nackten Unterarm.

Niri lächelte. »Also ich fand’s cool. Ein Mord auf einem Segelschiff, krass.« Sie sah zu Max. »Wie sieht’s bei dir aus? Hast du auch was Interessantes gefunden?«

Max blickte sie erschrocken an. Niris ungeteilte Aufmerksamkeit zu haben, verstörte ihn. Sie lächelte. Die Salzkristalle in ihren Haaren und auf ihrer Haut funkelten in der Sonne.

»Na, was ist?« Sie legte den Kopf schief.

Max konnte den Blick nicht von ihrem hübschen Gesicht nehmen. Er spürte, wie sich seine Nackenhaare in einem wohligen Schauer aufrichteten, brachte aber kein Wort heraus.

Mathilda wurde es zu dumm. Sie begann in seinem Eimer zu kramen. »Kuck mal, das ist doch schön!« Sie zog eine Sonnenbrille heraus. »Dazu sollte dir doch leicht was einfallen.«

Max atmete tief durch und schaute sich die Brille an. Ein Glas hatte einen Sprung, das andere war im Salzwasser vollkommen matt geworden.

Er spürte die Blicke der beiden Mädchen auf sich und hatte auf einmal das Gefühl, nur Brei in seinem Kopf zu haben. Er war kein großer Redner und hatte nicht so tolle Ideen wie Niri. Oder wie Mathilda.

»Ich weiß nicht …«, stammelte er.

Niri gab ihm einen freundlichen Schulterklaps. »Nun komm schon. Wir machen nicht weiter, bevor du dir nicht auch was ausgedacht hast.«

Max hob den Kopf, sah in ihre Augen und senkte schnell wieder den Blick. Eine Silbermöwe krächzte über ihm im Himmel, lachte ihn aus. Der eben noch weite Horizont der Nordsee konzentrierte sich auf einmal auf die dämliche Sonnenbrille, die er in seinen schmutzigen Händen hielt.

Das war die Chance, bei Niri zu punkten. Und ausgerechnet jetzt fiel ihm überhaupt nichts ein. Er räusperte sich. Wenn er nicht sofort eine Idee hatte, blamierte er sich bis auf die Knochen.

»Ein Mann. Ein Mann auf einem Schiff«, stocherte er im Trüben.

»Was für ein Schiff?«, wollte Mathilda sofort wissen. »Doch nicht schon wieder auf einem Segelschiff?«

»Nein, nein … Er steht auf einer … Fähre.«

»Gute Idee.«

Wie nett, Niri war auf seiner Seite.

Mathilda nicht. »Was für eine Fähre?«

»Na ja, keine Ahnung …« Er schaute sich um, zeigte dann auf das in der Sonne leuchtende Schiff auf der anderen Seite des Heverstroms. »Vielleicht die Fähre von Nordstrand nach Pellworm.«

Mathilda nickte. »Okay … Weiter!«

»Er steht auf dem Sonnendeck, schaut in das dunkelblaue Wasser …« Er zögerte, kratzte sich an seiner großen Nase und überlegte.

»Und?«

Verdammt. Max hatte gerade sein Abi gemacht, ganz gut sogar, mit einem Schnitt von 2,1. Doch in Deutsch war er immer mies gewesen. Buchbesprechungen, das hatte er nie gekonnt. Und sich selber Geschichten ausdenken schon gar nicht. Aber genau darauf standen Mädchen.

»Er kuckt also ins Wasser … die Sonne scheint … das Wasser reflektiert grell das Licht«, redete er weiter, während er gleichzeitig verzweifelt nach einer Idee suchte.

»Wie gut, dass er die Brille hat«, merkte Niri freundlich an.

»Genau, diese Brille hier. Aber auf einmal hört er etwas hinter sich. Er dreht sich um, sieht, dass dort ein Dieb gerade einer Oma eine Tasche klauen will.«

»Eine Oma? Du meinst, einer älteren Dame?«

Wieso konnte Mathilda nicht ihre Klappe halten? Er hatte es bei ihr doch auch getan.

»Einer älteren Dame, genau. Er springt dazwischen, versucht, das zu verhindern. Kämpft mit dem Dieb. Der verpasst ihm einen Faustschlag gegen den Kopf. Deshalb ist das eine Glas kaputt, seht ihr?« Kaum zu glauben, aber die Sache kam tatsächlich ins Laufen! »Sie kämpfen also. Richtig hart. Brutal. Schließlich reißt er dem Dieb die Tasche weg, aber so ein Pech, dabei fällt die Brille ins Wasser, und weg ist sie.«

Er schwieg, lächelte erschöpft. Ein Glück, er hatte doch noch die Kurve bekommen.

»Sehr gut«, sagte Niri, aber Max hatte trotz ihres freundlichen Lächelns nicht den Eindruck, dass sie wirklich begeistert war. Egal, kein Meisterwerk, doch er hatte etwas zu ihrem Spiel beigetragen, nur das zählte.

»Und was ist mit der Tasche?«, wollte Mathilda wissen.

»Die hat der Mann der alten Frau natürlich zurückgegeben.«

»Und der Dieb, was ist mit dem?«, fragte jetzt Niri.

»Na … der konnte entkommen.«

»Auf einer Fähre?«, staunte Mathilda. »Da kann der doch nirgends hin.«

»Dann hat er sich eben irgendwo versteckt.«

Niri nickte nachdenklich. »Aber du hast gesagt, die haben richtig hart gekämpft?«

»Ja?« Was sollten denn diese vielen Fragen?

»Dann hatte der doch bestimmt ein blaues Auge? Und ist total aufgefallen.«

»Du hast recht, Niri.« Mathilda nickte. »Und das auf einer Fähre, wo lauter Familien mit Kindern sind.«

»Und alte Damen«, ergänzte Niri.

»Warum hat er überhaupt versucht, die Tasche zu klauen?«, fragte Mathilda. »Auf einem kleinen Schiff ist das eine ziemlich dumme Idee.«

Jetzt hatte Max aber genug. »Ich sollte die Geschichte von der Brille erzählen. Das habe ich getan! Das mit der Tasche wäre eine ganz andere Geschichte, verdammt!«

Niri und Mathilda zuckten zurück, scheinbar erschrocken von seinem Temperamentsausbruch. Dann begannen beide, über das ganze Gesicht zu grinsen.

Nun war es klar. Die beiden hatten sich einen Spaß mit ihm gemacht. Max sah sie mit gequälter Miene an. »Sehr witzig, ich lach mich tot.«

Lachend legte Mathilda den Arm auf Niris Schulter. »He, nicht böse sein, Max! War doch nur Spaß!«

Auch Niri grinste immer noch. »Ich fand deine Geschichte super, Max, ehrlich!«

Zeit, um weiterzugehen. Sie schnappten sich ihre Eimer und spazierten zurück Richtung Leuchtturm. Mathilda und Niri gut gelaunt vorneweg. Max stapfte immer noch eingeschnappt hinterher. Er mochte es gar nicht, wenn jemand Witze über ihn machte. Und Mädchen schon gar nicht.

7

»Mann, war das ein Sturm! Hast du schon mal so was erlebt?«, fragte Dietmar, während er seine Isomatte auf dem Boden des Kursraums ausrollte. Sein rheinischer Freund suchte wie immer seine Nähe.

»Ja, war schon heftig«, brummte Krumme, der, von Dietmar bedrängt, Schwierigkeiten hatte, Platz für seine Tasche und seine Matte zu finden.

»Heftig? Janine und ich haben kein Auge zugekriegt, so hat der Regen auf unseren Balkon geprasselt. Und sieh jetzt mal aus dem Fenster! Blauer Himmel, weit und breit nicht eine Wolke.«

»Ja, verrückt«, erwiderte Krumme und schob Dietmars Matte mit der Fußspitze diskret ein Stück von sich fort. »Aber so ist das hier im Norden. Man kommt kaum mit dem Umziehen nach, so schnell wie das Wetter oft wechselt.«

Dietmar nickte mit großem Ernst. »Hat mit Ebbe und Flut zu tun, richtig? Der Wasserstand ändert sich ja auch immer, oder nicht?«

Krumme zwang sich zu einem zustimmenden Lächeln, hatte aber keine Lust, den Rheinländer über die Geheimnisse des nordfriesischen Klimas aufzuklären. Außerdem war er in Gedanken schon bei der bevorstehenden Yogastunde. Dieses Mal wollte er sich nicht blamieren.