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Tatort Föhr: Ein Serienmörder treibt sein Unwesen auf der beschaulichen Insel ...
Mitten in der Hochsaison wird auf der Insel Föhr die Leiche einer jungen Frau am Strand entdeckt. Kommissar Krumme und seine Kollegin Pat ermitteln diskret, um keine Panik aufkommen zu lassen. Doch schnell erhärtet sich der Verdacht, dass sie einem grausamen Serienkiller auf der Spur sind, der schon in anderen Teilen Deutschlands gemordet und nun den Weg auf die beschauliche Insel gefunden hat. Als die Presse davon Wind bekommt, gerät der Kommissar unter Druck. Wenig hilfreich scheint da zunächst das überraschende Auftauchen von Krummes Freund Harke, der zur Lösung des Falls auf seine ganz eigene, unkonventionelle Art beitragen möchte ...
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Seitenzahl: 342
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Mitten in der Hochsaison wird auf der Insel Föhr die Leiche einer jungen Frau am Strand entdeckt. Kommissar Krumme und seine Kollegin Pat ermitteln diskret, um keine Panik aufkommen zu lassen. Doch schnell erhärtet sich der Verdacht, dass sie einem grausamen Serienkiller auf der Spur sind, der schon in anderen Teilen Deutschlands gemordet und nun den Weg auf die beschauliche Insel gefunden hat. Als die Presse davon Wind bekommt, gerät der Kommissar unter Druck. Wenig hilfreich scheint da zunächst das überraschende Auftauchen von Krummes Freund Harke, der zur Lösung des Falls auf seine ganz eigene, unkonventionelle Art beitragen möchte …
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Hendrik Berg
Kalte See
Ein Nordsee-Krimi
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Umschlagmotiv: Arterra Picture Library/Alamy Stock Foto; FinePic®, München; Lubenow Sabine/ HUBER IMAGES
Redaktion: Heiko Arntz
em · Herstellung: kw
Gesamtherstellung: GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN 978-3-641-24401-9V005
www.goldmann-verlag.de
Düsseldorf, Winter 2015
Sollte es so enden? In einem einsamen Park, im Schatten eines gefrorenen Rhododendrons?
Sie spürte die eisige Kälte auf der Haut. Hörte das ferne Rauschen des Verkehrs auf der Rheinuferstraße. Sah den Widerschein der Großstadtlichter am schwarzen Nachthimmel.
Und fühlte seine Hände an ihrem Hals.
Mit aller Macht kämpfte Claudia um ihr Leben, versuchte verzweifelt, ihren Körper aus der quälenden Umklammerung des Mannes zu befreien. Sie strampelte mit den Beinen, stieß ihm ihre Knie in den Rücken. Sie schlug auf ihn ein, auf seine Arme, seinen Oberkörper, versuchte mit den Fingern an sein Gesicht zu gelangen, um ihm die Augen auszukratzen. Vergeblich.
Er saß mit seinem schweren Körper auf ihr, drückte sie auf den kalten Boden. Scharfe Steine bohrten sich in ihren Rücken, in ihren Kopf. Die Hände mit den dicken Lederhandschuhen blieben immer an ihrem Hals. Unerbittlich pressten sie das Leben aus ihr. Sie hörte sein leises Schnaufen, sah nur den Schatten seines Kopfs gegen den dunklen Himmel. Und die schwarz glänzenden Augen.
Sie stöhnte, ächzte, öffnete und schloss den Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen. Sie wollte schreien. Mit letzter Kraft nach Hilfe rufen. Verdammt, irgendjemand musste doch in der Nähe sein!
Doch kein Laut kam aus ihrem Mund. Der Druck auf ihre Kehle, er war viel zu stark.
Bilder aus Filmen leuchteten in ihrer Erinnerung auf. Röchelnde, verzweifelte, gedemütigte Frauen, aufgerissene Augen, erfüllt von Tränen und grenzenloser Panik.
Alles Fiktion! Kino. Andere Frauen. Aber hier ging es um sie! Das war wirklich, die Realität! Der Drang zu husten, das Verlangen nach nur einem Atemzug wurde schier unerträglich.
Nein, nein, nein! Ich will nicht sterben! Ich darf nicht sterben!
All die Chancen. Ihre Karriere, die doch gerade erst begonnen hatte. All die Lieben, die auf sie warteten. Das durfte nicht hier in dieser dunklen Ecke enden, zwischen matschigem Schnee und gefrorenem Laub. Sie hatte ein langes und glückliches Leben verdient.
Erneut versuchten ihre klammen, fast tauben Finger, seine Hände von ihrem Hals zu lösen. Aber mit jeder Sekunde schwand ihre Kraft ein Stückchen mehr.
Ihre Lunge begann, fürchterlich zu schmerzen. Heftige Stiche überall in ihrer Brust. Ihr Herz schlug wie verrückt, ein krampfender Muskel, verzweifelt in seiner Gier nach Sauerstoff.
Tränen liefen ihr über das Gesicht, Speichel tropfte aus ihren Mundwinkeln.
Es war zu spät. Sie würde sterben.
Lieber Gott, lass diese Qualen endlich zu Ende gehen! Bitte!
Ein leises Knirschen im Schnee, nicht weit von hier! Schritte! Nur ein Traum? Ein Trugbild ihres gequälten Verstands?
Nein, Claudia kehrte aus dem Abgrund ihres versinkenden Bewusstseins zurück ins Jetzt. Sah, wie auch er erstarrte, in die Dunkelheit lauschte, wartete. Aber seine Hände blieben an ihrem Hals, erbarmungslos, eine eiserne Klammer, die sie jede Sekunde weiter Richtung Tod trieb.
Doch jetzt Schritte!
Ihre letzte Chance!
Mit allerletzter Kraft versuchte sie, sich von ihm zu lösen. Sich unter ihm herauszudrehen. Sie stöhnte, so laut sie konnte, scharrte mit ihren Joggingschuhen auf dem frostigen Boden. Das musste der Unbekannte doch hören! In ihrer Vorstellung schritt ein Engel mit weißen Flügeln durch den Park und brachte die Welt zum Leuchten.
Hier bin ich! Warum siehst du mich nicht?
Doch die Schritte entfernten sich wieder, das Knirschen wurde leiser, war schließlich nicht mehr zu hören. Die fürchterliche Erkenntnis: Es würde keine Hilfe kommen. Sie war allein, verlassen von der Welt. Alleine mit dem Mann, der mal ein Kollege gewesen war. Vor ein paar Stunden hatte er noch geweint wie ein kleines Kind, um Mitleid gebettelt und sie dann als Schlampe beschimpft.
Nun saß ein Teufel über ihr. Ein Dämon, der mit aller Macht ihren Tod wollte. Sein Körper drückte immer schwerer auf ihre Brust. Sie hörte seinen gleichmäßigen, angestrengten Atem, spürte seine Erektion auf ihrem Bauch.
Die brutale Konsequenz ihrer Lage trieb ihr die Tränen ins Gesicht. Ihre Augen schmerzten. Traten hervor, als wollten sie aus ihrem Kopf springen. Claudia konnte hören, wie die Adern in den Pupillen platzten.
Es ging zu Ende. Wie viel Zeit war vergangen, seit er sie zu Boden gerissen hatte? Minuten? Stunden? Tage? Die Zeit rauschte in einem endlosen Strom an ihr vorbei. Winter, Frühling, Sommer, Herbst und wieder Winter. Der strenge Blick ihres Vaters. Das Rauschen der Buchen vor ihrem Kinderzimmer. Ihr erster Kuss! Ihre Mutter, die weinte, genau wie sie.
Endlich der letzte Schritt. Claudia versank in einem verblassenden Nebel aus Vergangenheit und Gegenwart. Dann war alles vorbei.
Es hätte ein perfekter Morgen sein können. Die Sonne schien warm vom blauen Himmel. Die Luft duftete nach Blumen, frisch gebackenen Brötchen und dem Kaffee, der auf dem Frühstückstisch stand. Dazu wehte der Wind eine Prise Salz vom nahen Meer herüber.
Trotzdem hätte seine Stimmung nicht schlechter sein können. Missmutig beobachtete er, wie die Spatzen sich um Brotkrumen auf dem Boden der Terrasse stritten. Er zerpflückte sein Brötchen und warf ihnen weitere Krümel zu, um ihren Streit noch anzutreiben.
»Jetzt sei doch nicht sauer. Du wirst sehen, das wird ein ganz toller Tag«, sagte Marianne und wollte ihm Kaffee nachschenken. Aber Krumme hielt die Hand über die Tasse, er hatte genug. Überhaupt hatte er beschlossen, nicht zu gesellig zu sein. Wenn schon miese Laune, dann richtig.
Er bemerkte, wie Marianne bei seinem Anblick vorwurfsvoll den Kopf schüttelte, aber das war ihm egal.
»Mein Gott«, rief sie aus, »andere Menschen würden alles dafür geben, bei dem schönen Wetter eine Segeltour zu machen.«
»Es ist nicht das Segeln, was mich stört«, erklärte Krumme trotzig.
»Schon klar.« Marianne seufzte. »Aber du solltest dich da nicht so hineinsteigern. Bernd kann sehr nett sein.«
»Er ist ein Idiot.«
»Ist er nicht. Er ist ein erfolgreicher Geschäftsmann. Ist das etwa ein Verbrechen?«
»Nein, nur dass er ständig und ohne Unterbrechung darüber reden muss.«
»Was bleibt ihm denn anderes übrig, als sich selbst um die Konversation zu kümmern, wenn du nicht den Mund aufkriegst?«
»Soll ich etwa über seine bescheuerten Versicherungen reden?«
»Er ist Anlageberater.«
»Sag ich doch. Er verkauft Versicherungen.« Krumme nippte an seiner Kaffeetasse, obwohl sie längst leer war.
Marianne verdrehte die Augen. »Soll ich ihn anrufen und unseren Ausflug absagen?«
»Nein«, brummte er. »Ich weiß doch, wie du dich drauf freust.«
»Ja, das tue ich. Und Beate erst. Aber ich kann auch darauf verzichten. Wenn du so wenig Lust hast, dann …« Sie sah ihn an, aber er wich ihrem Blick aus. »Ich verstehe dich einfach nicht. Du warst es doch, der ihn auf die Idee mit der Segeltour gebracht hat.«
Er schwieg, starrte auf den Teller und klopfte mit einem Löffel gedankenverloren auf die Reste eines aufgeschlagenen Eis.
»Trotzdem ist er ein Idiot.« Krumme warf wieder Brotkrümel zu den Spatzen.
Marianne musterte ihn verärgert. Dann stand sie mit einem tiefen Seufzer auf und verschwand im Haus. Er atmete aus. Zuerst war die vierundfünfzigjährige Frau nur seine Vermieterin gewesen, seit einem Jahr waren sie beide ein Paar. Am Anfang war alles wunderbar gewesen. In letzter Zeit kam es aber des Öfteren vor, dass ihr Gespräch in einer Sackgasse landete und einer von beiden aufstand und den Raum verließ. Krumme wusste, dass meistens seine Sturheit der Grund war. Aber er war selbst schon siebenundfünfzig Jahre alt, da ließen sich alte Gewohnheiten nicht mehr so leicht ablegen.
Marianne hatte ja recht. Diese bescheuerte Segeltour war auf seinem Mist gewachsen. Er erinnerte sich an den Abend vor einer Woche. Das Treffen im Förderkreis der Stadtbibliothek. Eigentlich hatte Krumme gar nicht mitgewollt und wäre lieber zu Hause geblieben. Aber Marianne hatte ihm versprochen, anschließend gemeinsam zum Griechen zu gehen. Leider hatte dieser dämliche Bernd sich einfach mit zum Essen eingeladen, zusammen mit Beate, der leitenden Bibliothekarin. Schon während der Sitzung hatte er sich immer wieder aufgeplustert wie ein Pfau. Von neuen Projekten und Ausstellungen geplappert, die er mithilfe seiner prominenten Klienten organisieren wollte. Alle hatten ihm fasziniert gelauscht, auch Marianne. Nur Krumme hatte den Kopf geschüttelt. Als Kriminalkommissar konnte er Aufschneider und Lügner nur zu gut erkennen. Und dieser Mann mit dem beneidenswert vollen Haar und der sonnengebräunten Haut war einer.
Beim Griechen ging es dann weiter. Bernd erzählte von seinem Haus mit Pool hinter dem Deich bei Uelvesbüll auf Eiderstedt, das nach der Scheidung von seiner Frau viel zu groß für ihn allein war. Krumme hatte deutlich ein leises Seufzen von Beate hören können. Offensichtlich war sie Bernd regelrecht verfallen. Tatsächlich schenkte er ihr immer wieder ein charmantes Lächeln. Aber Krumme konnte er nichts vormachen, Ziel seiner Begierde war Marianne! Die beiden waren schon zusammen zur Schule gegangen. Immer nur gute Freunde gewesen, wie sie später behauptet hatte. Aber er hatte das Funkeln in Bernds Augen gesehen. Jetzt wollte er definitiv mehr, als nur ein guter Freund sein.
Schließlich hatte Bernd über sein Hobby, das Segeln, gesprochen. Er besaß eine Segelyacht im Husumer Hafen und erzählte von seinem letzten Abenteuer, einer Segeltour nach Cuxhaven.
»Nächstes Jahr plane ich eine längere Tour bis nach England«, behauptete er.
Krumme konnte ein Gähnen nicht unterdrücken. Bernd bemerkte, wie Marianne aufmunternd seine Hand drückte.
»Segelst du auch, Theo?«, fragte er ihn. Bei der Förderkreissitzung hatten alle beschlossen, sich zu duzen. Wenn es nach Krumme gegangen wäre, wäre er gerne beim Sie und auf Abstand zu diesem Angeber geblieben.
»Ich bin in Berlin regelmäßig gesegelt«, verriet er und nippte an seinem Pils.
Das stimmte. Er hatte einen guten Freund auf dessen Schiff oft auf dem Wannsee begleitet, allerdings nur, um Taue zusammenzulegen und ab und zu eine Dosensuppe in der Bordküche aufzuwärmen. Als Leichtmatrose also.
»Sag bloß, du hast einen Segelschein?« Bernd lächelte überrascht und ließ dabei die Jacketkronen in seinem ebenmäßigen Gebiss leuchten.
Krumme räusperte sich, nickte und schaute so tief wie möglich auf den Grund seines Bierglases.
»Hochsee oder Binnen?«
Krumme zögerte. »Binnen«, murmelte er, in der Hoffnung, dass seine Lüge so weniger schlimm war.
»Toll! Das habe ich ja gar nicht gewusst!« Marianne schenkte ihm ein verliebtes Lächeln.
»Das ist ja wunderbar, dann müssen wir unbedingt mal einen Törn machen. Alle gemeinsam auf meinem Schiff.« Bernd zwinkerte Beate, der Bibliothekarin, zu, deren Augen sofort wie ein Signalfeuer strahlten.
»Ich weiß nicht. Mir fehlt die Übung. Ist ja schon ewig her«, brummte Krumme verlegen.
Aber es war zu spät. »Hier wird nicht gekniffen, mein lieber Freund«, hatte Bernd gesagt und dabei jovial seine Hand auf Krummes Arm gelegt. »Segeln ist wie Radfahren, das verlernt man nicht.«
Nun war es also so weit. Alle Versuche, sich vor dem Ausflug zu drücken, hatte Marianne freundlich abgelehnt. Sollte er ihr die Wahrheit sagen? Dass er mit Ach und Krach Backbord und Steuerbord unterscheiden konnte? Nein, ganz bestimmt nicht! Sie würde jede Achtung vor ihm verlieren – zu Recht, dachte Krumme, der sich für seine Lüge unendlich schämte.
Marianne kam zurück auf die Terrasse. Sie hatte sich einen weiß-blau gestreiften Pullover über die Schultern gehängt und schien wieder bessere Laune zu haben.
»So, Aufbruch, wir wollen doch nicht zu spät kommen, oder?«
Krumme verzog den Mund. Dass sie seinen Widerwillen nicht ernst nahm und ihn damit wie einen trotzigen Jungen behandelte, kränkte ihn ein bisschen. Aber na gut, er hatte sich als Kriminalkommissar schon oft der Gefahr gestellt, vor allem in seiner Zeit bei der Berliner Kripo. Da würde er auch so einen läppischen Ausflug auf einem dämlichen Segelboot in den Griff kriegen. Mit einem Seufzer stemmte er sich aus seinem Stuhl hoch. Im Haus griff er sich die Tasche mit den Snacks, die Marianne für ihren Ausflug vorbereitet hatte, eine Tupperdose mit Frikadellen und eine andere mit Tomaten.
In diesem Moment klingelte es an der Tür. Marianne war ohnehin schon beim Ausgang und öffnete. Vor ihnen stand eine junge, zartgebaute Frau in einem pinken Sommerkleid. Ihre Beine steckten in schnürsenkellosen Armeestiefeln.
»Anette?«, sagte Marianne. »Was machst du …«
»Gut, dass ihr da seid«, unterbrach die junge Frau sie. »Ihr müsst mir unbedingt helfen!«
Weiter kam sie nicht. Ein riesiger Fellberg drängelte sich an ihr vorbei und rannte auf Krumme zu.
»Watson!«, rief er und zuckte unwillkürlich zurück. Mittlerweile waren er und Anettes riesiger Hund, eine zottelige Mischung aus Bernhardiner, Labrador und Hirtenhund, dicke Freunde geworden. Vor einem Jahr hatte ihm der Hund in einer dramatischen Aktion sogar das Leben gerettet. Trotzdem, wenn das gewaltige Tier hechelnd auf ihn zulief, bekam Krumme immer noch einen Schreck. Nicht nur, weil er sich nicht an seine lange, pelzige Zunge auf seinem Gesicht gewöhnen konnte – was, wenn Watson ihn aus Versehen einfach verschluckte?
Aber heute drückte der Hund seine Schnauze nur selig gegen Krummes Hüfte. Es war verrückt, sein Leben lang hatte er nie eine Beziehung zu Hunden gehabt. Aber aus Gründen, die er nicht verstand, sah Watson in ihm seinen allerbesten Kumpel.
»Na, mein Lieber, das ist ja eine nette Überraschung«, sagte Krumme und klopfte dem glücklichen Hund auf die gewaltigen Flanken.
Anette und Marianne hatten Watsons Begrüßung gerührt beobachtet.
»Was ist denn los?«, erkundigte sich Marianne bei ihrer Nachbarin.
Anette strich sich hektisch über die kurzen Haare. Krumme mochte die junge Frau ganz gerne. Sie hatte ein Riesenherz und machte eine perfekte Friesentorte. Aber wenn sie die exaltierte Schauspielerin gab, konnte sie mit ihrer Überdrehtheit ziemlich nervig sein. »Ein Notfall. Ein Casting«, rief sie. »Der Chefdramaturg des Kieler Theaters will mich unbedingt kennenlernen. Und zwar heute.«
»Ein Casting? Am Sonntag?«, fragte Marianne.
Anette nickte. »Wir sind zum Mittagessen verabredet. Ich kann es kaum fassen. Eine Riesenchance!« Vor Aufregung vergaß sie fast zu atmen. Sie zeigte zu Watson, der Krumme mit seiner Liebe gegen die Wand drückte. »Aber was soll ich mit dem Kleinen machen?«
Marianne schüttelte den Kopf. »Tut mir leid, Netti. Aber wir sind eigentlich schon weg.«
»Nein, bitte, tu mir das nicht an! Das wäre mein erstes Engagement seit einem halben Jahr.«
Krumme hatte den Eindruck, dass ihr gleich die Tränen kamen.
»Wenn’s nicht anders geht, ich könnte ja mit ihm hierbleiben«, erklärte er und bemühte sich, nicht zu hoffnungsvoll zu klingen.
Marianne zog die Augenbrauen zusammen und sah ihn vorwurfsvoll an. »Nein, auf keinen Fall. Eher bleibe ich hier, und du fährst alleine zu Bernd.«
»Wo wollt ihr denn hin?«, fragte Anette.
»Wir sind für eine Segeltour verabredet«, verriet Marianne.
»Aber dann ist das ja überhaupt kein Problem!« Anette strahlte über das ganze Gesicht. »Dann müsst ihr ihn unbedingt mitnehmen. Watson liebt Schiffe!«
Harke saß allein auf dem Deich auf einer Bank und betrachtete den Koog. Das flache Wasser, das in der Marsch stand, schimmerte wie ein riesiger Edelstein. Das lange Schilf wogte träge im warmen Sommerwind. Ein gewaltiger Schwarm Wildgänse erhob sich in der Ferne, aufgeregt schnatternd, flog vor dem Leuchtturm einen weiten Bogen über den blauen Himmel und kehrte dann wieder in den Koog zurück.
Mit regloser Miene sah der Mann in der blauen Latzhose zu einer Herde Schafe, die auf dem Deich graste. Er wandte seinen Blick einer Libelle zu, die zwischen den Schilfrohren aufgetaucht war. Er beobachtete, wie das Insekt über das spiegelglatte Wasser schwebte und schließlich auf dem Rasen landete.
Ohne die Miene zu verziehen, streckte Harke die Hand aus. Die Libelle erhob sich, flog auf ihn zu, so nah, dass er das Flirren der Flügel zu hören meinte. Dann setzte sie sich auf seine offene Handfläche. Für einen langen Moment sahen sich beide, der riesenhafte Mann und das Insekt, an, rührten sich nicht. Dann löste sich die Libelle wieder und verschwand im Schilf.
Endlich stand Harke auf. Er sah auf die Hände, ballte sie zu Fäusten und öffnete sie dann wieder, betrachtete sie wie Fremdkörper. Ein letzter Blick auf das Land, das sich vor seinen Augen ausbreitete. Dann blinzelte er kurz in die Sonne und machte sich auf den Weg.
Langsam marschierte er auf dem Sommerdeich landeinwärts, die Augen starr nach vorn auf den Weg gerichtet. Nach einer Weile folgte er dem Pfad hinunter vom Deich, ging durch ein Gatter und erreichte eine schmale, asphaltierte Straße. Schon bald gelangte er zu einem ersten Haus. Ein großer Hof. In der Einfahrt stand ein Trecker mit einem leeren Anhänger. Ein Hund bellte. Aus dem Stall konnte er das Wiehern eines Pferdes hören. Ohne aufzusehen, ging der Mann immer weiter, wie von einer fremden Macht gelenkt.
Bald hatte er den Ortskern des kleinen Dorfes erreicht. Nur eine Kreuzung mit einem moosbewachsenen Findling, ein Denkmal für die Gefallenen der beiden Weltkriege. Er wandte sich nach links, ging vorbei an einem kleinen Supermarkt und einem Blumenladen, folgte der Hauptstraße jetzt Richtung Ortsausgang.
Einen Postwagen, der in diesem Moment die Straße entlangrauschte und ihn beinahe erfasste, beachtete er kaum. Auch das wilde Hupen schien ihm egal zu sein. In seinen schweren Arbeitsschuhen stapfte er immer weiter, den Blick starr auf den Boden gerichtet.
Schließlich hatte er das Ortsausgangsschild erreicht. Aber noch war er nicht am Ziel.
Nach ein paar Hundert Metern und einer langen Kurve gelangte er zu einem frei stehenden Haus. Ein ehemaliger kleiner Hof, jetzt zu einem Wohnhaus umgebaut. Das Reetdach reichte fast bis auf den Boden. Vor den weißlackierten Fensterrahmen standen Blumenkästen. Statt einem Zaun begrenzte wie oft in Nordfriesland eine kleine Mauer aus Natursteinen das Grundstück.
Gegenüber dem Haus, auf der anderen Straßenseite, gab es einen Knick, eine Wallhecke, die die Straße zum Feld hin abgrenzte. An dieser Stelle wurde sie von mehreren Bäumen, darunter einer alten Eiche, unterbrochen, die, vom steten Westwind gebeugt, weit über die Straße reichte. Dort gab es eine einsame Bushaltestelle, an einer rostigen Stange hing ein vergilbter Fahrplan.
Harke hatte sein Ziel erreicht. Er atmete tief durch, ging zu dem großen Baum und strich über die Rinde. Dann setzte er sich auf einen großen Findling, der sich hier am Rande des Feldes befand. Die Hände auf den Knien abgestützt, sah er hinüber zu dem Haus.
Von hier aus konnte er bis hinein in den Garten blicken. An der Seite stand eine Holzhütte, daneben gab es einen kleinen Springbrunnen, der aber nicht eingeschaltet war. Die Mauer, der Garten, das ganze Haus – alles war mit viel Liebe gepflegt. Der Rasen war kurz geschnitten, das Reet auf dem Dach war frisch verlegt. Überall leuchteten Blumenbeete. Vor der Mauer reckten Sonnenblumen ihr Haupt in den Himmel. Es gab eine Schaukel und einen Tisch mit vier schweren Holzstühlen auf der Terrasse. Daneben glänzte ein teurer Gasgrill in der Sonne.
Plötzlich ein leises Klappern. Harke wandte den Kopf in Richtung des Dorfes. Eine junge Frau näherte sich auf ihrem Fahrrad. Sie trug ein leichtes Sommerkleid, das sich im warmen Wind an ihren schlanken Körper schmiegte.
Er rückte ein wenig zur Seite, damit er von der jungen Frau nicht gesehen wurde. Er beobachtete, wie sie die Gartenpforte öffnete und ihr Fahrrad auf das Grundstück schob. In einem kleinen Korb hatte sie einen Strauß Feldblumen mitgebracht.
Aus seinem Versteck sah er zu, wie sie sich ihren Korb schnappte und sich dann noch einmal umschaute. Ihre langen blonden Haare hatte sie zu einem Zopf zusammengebunden. Aber auf der Fahrt hatten sich einzelne Strähnen gelöst, fielen ihr jetzt über die Stirn. Mit der Hand strich sie sie nach hinten, blickte zu einer Schafherde, die sich auf der anderen Seite der Gartenmauer bis an das Grundstück herangetraut hatte. Der Mann beobachtete, wie die junge Frau für einen Moment lang die Augen schloss, die klare Luft einsog und dem Rascheln der Bäume im Garten lauschte. Schließlich zog sie ihr Kleid glatt, strich sich noch einmal übers Haar.
Hinter der Eiche hatte Harke ihr die ganze Zeit zugeschaut. Zum ersten Mal trat jetzt ein Lächeln auf sein Gesicht.
Das plötzlich wieder gefror.
Eine andere, ältere Frau trat aus dem Haus. Etwas kleiner, aber die gleiche Nase und Haarfarbe wie das blonde Mädchen. Ihre Mutter, das wusste er.
»Hallo, Kim«, rief sie und umarmte ihre Tochter. Sie bewunderte den Blumenstrauß, strich ihr stolz über den Kopf. Er konnte nicht verstehen, worüber die beiden redeten. Aber selbst auf die Entfernung war die liebevolle Verbindung zwischen den beiden deutlich zu erkennen.
Kim ging in das Haus, während ihre Mutter kontrollierte, ob das Gartentor auch richtig geschlossen war.
Auf einmal hob sie irritiert den Kopf, schien aus den Augenwinkeln etwas bemerkt zu haben.
Ihr Blick ging hinüber auf die andere Straßenseite zu der alten Eiche, zu der Bushaltestelle, zum Findling. Und zu ihm.
Bernds Yacht lag an einem der hinteren Liegeplätze in einem kleinen Segelhafen, der sich direkt neben Husums Altstadt in einem kleinen Kanal befand. Bei Ebbe lagen die Boote auf dem Grund. Doch nun war Flut, und die Segelyachten schwammen schwankend im grauen Wasser. Während die Möwen sich über den blauen Himmel treiben ließen, war im Hafen das Knarren der Masten und das Singen der Takelagen zu hören.
Krumme atmete tief durch und blickte zu Watson, der neben ihm stand und zum Anleger hinunterguckte. Die Schnauze weit nach vorne gestreckt, schnüffelte er in der salzigen Luft. Krumme fragte sich, was gerade in seinem gewaltigen Kopf vor sich ging. Interessierte er sich für die Enten und Möwen, die träge im Wasser trieben? Oder witterte er Ungemach? Jedenfalls sah er recht unglücklich aus. Normalerweise sprang er aufgeregt herum, wenn er endlich, aus der Enge des Autos befreit, an die frische Luft konnte.
»Alles in Ordnung, Kumpel?«, fragte Krumme. Watson schaute ihn mit seinen großen Augen und weit heraushängender Zunge nur stumm an.
»Seid ihr so weit?«, erkundigte sich Marianne, die zusammen mit Beate die Schüsseln mit den Frikadellen und dem Kartoffelsalat trug. Sie hatten die Bibliothekarin in ihrem Auto abgeholt. Drei Erwachsene und der riesige Watson in einem Golf – Beate hatte ängstlich dreingeschaut, als sie vor ihrem kleinen Haus am Stadtrand vorgefahren waren. Während der kurzen Fahrt durch Husum hatte sie vorne neben Krumme gesessen. Ständig hatte sie zu dem Hund geschaut, der zwar mit Marianne auf der Rückbank saß, seinen großen Kopf aber wie immer auf Krummes Schulter abgelegt hatte.
Gemeinsam gingen sie über den Bootssteg. Nirgends war ein Mensch zu sehen. Nur aus der Kabine eines kleineren Motorboots konnte Krumme die Live-Übertragung eines Fußballspiels hören. Für Krumme klang es wie der Lockruf aus einer anderen, besseren Welt.
Bernds Boot lag am Ende des Hafens. Eine schmucke Zehn-Meter-Yacht mit einem Rumpf komplett aus Holz und einer großen Kabine im Bug und einer kleineren im Heck. Bernd war gerade damit beschäftigt, die Segel zu ordnen, als er seine Gäste kommen sah.
»Moin, meine Hübschen!«, rief er laut und sprang mit einem eleganten Schwung über die Reling auf den Steg. »Wie schön, dass ihr gekommen seid.« Er trug ein lässiges Jeanshemd, eine hellbraune Chinohose und weiße Segelschuhe über den braun gebrannten, nackten Füßen. Damit passte er perfekt zu Marianne, die sich für den Tag stilsicher wie immer ebenfalls für freundlich-helle Kleidung mit maritimem Touch entschieden hatte. Krumme hatte – aus Trotz – keinen Gedanken an sein Outfit verschwendet. Er trug ein verwaschenes, für die Hitze viel zu dunkles T-Shirt, eine kurze Sporthose, Turnschuhe aus seiner Zeit in der Berliner Polizeisportgruppe und dazu graue Socken. Genau die gleiche Farbe wie Beates Windjacke und Stoffhose. In Erwartung eines stürmischen Tages hatte die Bibliothekarin sich ein entsprechendes Kopftuch umgebunden.
Bernd schob die Ray-Ban-Sonnenbrille nach oben über die gegelten Haare und zeigte mit breitem Lächeln zu dem Schiff: »Willkommen auf der Yolanda.« Sein Blick fiel auf Watson, der sich mit gesenktem Kopf hinter Krumme zu verstecken versuchte. »Und wen habt ihr da noch mitgebracht?«, fragte er.
Krumme freute sich, als er die Unsicherheit in seinem Blick sah. »Das ist Watson«, erklärte er und klopfte dem Hund freundlich auf die Flanken. Marianne erzählte Bernd von Anettes Problem und warum sie heute auf ihren Liebling aufpassen mussten.
»Ganz schön groß, der Bursche«, bemerkte Bernd skeptisch.
»Zu groß?«, fragte Marianne.
Bernd schob die Unterlippe vor, musterte Watson und überlegte.
Krumme zuckte mit den Schultern. »Vielleicht ist es das Beste, ich bleibe hier und gehe mit ihm spazieren, während ihr auf Tour seid.«
»Kommt gar nicht infrage. Wenn, dann bleiben wir beide.« Marianne warf ihm einen bösen Blick zu.
»Nein, bitte nicht, Mary. Es ist alles vorbereitet. Wir könnten sofort in See stechen.«
Mary – so nannte Bernd Marianne schon seit ihrer Schulzeit. Krumme hasste das. Er war immer bei ihrem vollen Namen geblieben. Maria hätte sich angeboten. Aber so hieß bereits seine Exfrau, da wollte Krumme nichts durcheinanderbringen.
Zu seiner Überraschung ging Bernd vor Watson in die Hocke. »Na, mein Großer, was hältst du von einer Seefahrt?«
»Netti meinte, er würde Schiffe lieben«, verriet Marianne. Aber Krumme konnte sehen, dass sie jetzt genauso wenig davon überzeugt war wie er.
Doch sie hatten sich getäuscht. Als Bernd ihm einen freundlichen Klaps auf die Seite gab, stakste der Hund nach vorne – und sprang kurzerhand auf die Yolanda. Unsicher schaute er sich auf dem schwankenden Schiff um und verschwand dann blitzschnell in der Kabine.
Bernd klatschte zufrieden in die Hände. »Na bitte, Problem gelöst. Wir können los.«
Krumme und Marianne tauschten einen überraschten Blick. Während sie mit den Schultern zuckte und sich vom galanten Bernd auf sein Schiff helfen ließ, blickte Krumme zu Watson, dessen große Augen er durch die schmalen Fenster der Yacht erkennen konnte. Verräter, dachte er und seufzte.
Kurz darauf waren auch der Kartoffelsalat und die Frikadellen verstaut. Die Damen setzten sich die Sonnenbrillen auf und machten es sich auf der Bank unter einem kleinen Sonnendach bequem. Bernd startete den Dieselmotor und gab Krumme das Kommando »Leinen los«. Langsam tuckerte die Yolanda hinaus aus dem Husumer Hafen und erreichte schon bald den Heverstrom, der an der Halbinsel Eiderstedt entlang hinaus auf das offene Meer führte.
Krumme sah mit ungutem Gefühl, wie die Wellen immer höher wurden. Mit Grauen erinnerte er sich, wie er auf seiner ersten Tour auf der Nordsee prompt seekrank geworden war, damals auf der Adler Express, der Fähre zu den Halligen. Jetzt war er auf einem schwankenden Segelschiff. Er beschloss, nur an seine Touren auf dem Wannsee zu denken, da war ihm niemals schlecht geworden.
»Ich glaub, heute frischt es noch auf«, verkündete Bernd zu allem Überfluss. Krumme nickte, blickte nervös zum endlos hoch in den Himmel aufragenden Hauptmast, der sich im immer stürmischeren Wind auf dem schwankenden Schiff ebenfalls bedrohlich zur Seite senkte. Kein Grund zur Sorge für den Kapitän. Eine Hand am Steuerrad plauderte Bernd entspannt mit den Damen und warf vor allem Marianne ständig begehrliche Blicke zu.
Endlich hatten sie ihr Segelrevier erreicht. Bernd hob den Blick. »Westwind«, konstatierte er. »Bootsmann, wir werden vor dem Wind kreuzen müssen«, informierte er Krumme mit einem Zwinkern. Marianne und Beate lächelten und prosteten ihm mit zwei vollen Sektgläsern zu. Krumme zog die Mundwinkel ebenfalls nach oben, hatte aber auf Alkohol verzichtet. Heute blieb er lieber nüchtern.
Bernd hielt die rechte Hand schützend über die Augen. »Wir müssen an Höhe gewinnen. Was meinst du?«
Krumme hatte keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Aber Bernd war hier der Profisegler. Er nickte zustimmend, aber Bernd hatte seine Zweifel bemerkt.
»Alles klar, Theo?«
Er nickte erneut. »Bin gleich wieder da.« Krumme drängte sich an den Damen vorbei und verschwand in der Kajüte. Die war schon von einem großen Fellberg besetzt, der leise wimmernd mit dem Schwanken des Schiffs kämpfte. Erfreut über seinen Besuch, stupste Watson ihm seine feuchte Schnauze gegen das Gesicht. Krumme schob ihn zur Seite.
»Selbst schuld, Kumpel. Warum musstest du auch in den blöden Kahn springen?«, flüsterte er. »Wir hätten so einen schönen Spaziergang machen können.« Krumme setzte sich auf die Bank und zog eine zerknitterte Broschüre aus der Hosentasche. Segeln für Anfänger. Kapitel 5: Die Wende. Nur ein kurzer Blick zur Erinnerung, schließlich hatte er das Scheißding letzte Nacht mehrmals durchgelesen!
Im nächsten Moment eilte er wieder zurück an Deck.
»Alles in Ordnung, Theo?«, erkundigte sich Marianne besorgt, als er sich den engen Aufgang hinaufzwängte.
»Sag bloß, mein Bootsmann ist seekrank?«, fragte Bernd. Krumme schüttelte den Kopf. »Na schön«, sagte Bernd und rieb sich die Hände. »Klar zum Wenden?«
Krumme nickte. Aber Bernd war nicht zufrieden und sah ihn eindringlich an.
»Ist klar«, brummte er ordnungsgemäß und ging in Position.
Bernd wandte sich lächelnd an Marianne und Beate. »So ist das beim Segeln. Kommunikation ist das Allerwichtigste.«
»Ree!«, rief er im nächsten Moment und riss das Steuerrad rum und warf sich auf die andere Seite des Boots. Für eine Sekunde war Krumme wie versteinert. »Ree! Nun mach schon!«, wiederholte Bernd.
Endlich reagierte Krumme und begann zu kurbeln. Zuerst in die falsche Richtung. Die Yolanda legte sich bedenklich zur Seite, kaltes Wasser spritzte über die Bordkante und ließ die Damen aufschreien. Er bemerkte seinen Fehler und kurbelte andersherum. Das Großsegel schwang mit lautem Flattern auf die andere Seite. Das Boot schwankte zurück, stabilisierte sich und glitt wieder ruhiger durch die graublauen Fluten. Krumme atmete aus. Von einem Moment zum anderen war er völlig durchgeschwitzt. Marianne musterte ihn besorgt.
»Na bitte«, meldete sich Bernd, »für das erste Mal gar nicht schlecht.«
»Ist eben alles schon ein bisschen her«, entschuldigte sich Krumme mit knallrotem Kopf.
»Klar.« Bernd klopfte ihm gönnerhaft auf die Schulter. »Ist eben doch was anderes hier auf dem Meer. Und dann mit so einem großen Schiff. In Berlin bist du sicher nur mit kleinen Jollen unterwegs gewesen, oder?«
Das stimmte, aber das hätte Krumme ihm nie verraten. Mit trotziger Miene schaute er hinaus auf die See. Er war wütend, auf Bernd, der anfing, von dramatischen Situationen auf einer Tour nach Dänemark zu erzählen, die er natürlich alle bravourös gemeistert hatte. Auf Marianne, die mit Rücksicht auf Beate vergessen hatte, Rücksicht auf ihn zu nehmen, und diese blöde Tour nicht abgesagt hatte. Und warum musste sie jetzt auch noch über Bernds blöde Witze lachen? Aber am wütendsten war er auf sich selbst, weil er hier so eine erbärmliche Figur abgab.
Wieso konnte dieser Kerl nicht endlich mit seinem Gequatsche aufhören? Krumme sah Mariannes leuchtende Augen, als Bernd auch mit Beate, aber vor allem mit ihr flirtete, und stand auf.
»Wo willst du hin?«, fragte Bernd.
»Nur ein bisschen gucken«, brummte er.
»Aber guck nicht so lange. Ich brauche meinen Bootsmann hier bei mir. Der Wind kann immer wieder drehen.«
Krumme nickte, kletterte nach vorne und stellte sich neben den Mast. Im hellen Licht blinzelte er in die Ferne, wo die Spitze von Eiderstedt und die Pfahlbauten vor St.-Peter-Ording kaum noch zu sehen waren. Der einsame Mann und das Meer. Alles könnte so schön sein, das Wetter war ein Traum, das Meer funkelte in der strahlenden Sonne. Und die Yolanda war wirklich ein tolles Schiff. Wie viel musste dieser Blödmann verdienen, dass er sich so ein Schmuckstück leisten konnte?
Ein leises Winseln riss ihn aus seinen Gedanken. Watson. Durch die offene Deckenklappe konnte er hinunter in die Kajüte sehen, wo der Hund immer noch auf dem Boden kauerte und seinen Kopf ängstlich unter ein altes Handtuch geschoben hatte.
Krumme ging in die Hocke und blickte nach unten in die Luke. »Ganz ruhig, mein Junge. Du musst keine Angst haben, wir haben hier alles im Griff …«
»Theo!« Bernds aufgeregte Stimme ließ ihn herumfahren. »Pass auf!«
Überrascht schaute er auf, als ein heftiger Schlag ihn am Kopf traf. Eine Urgewalt stieß ihn vom Deck hinaus in das Meer. Plötzlich eiskaltes Wasser überall um ihn herum.
Dann verlor er das Bewusstsein und versank im schwarzen Nichts.
Cadzand, Sommer 2017
Eigentlich müsste Cadzand zu Belgien gehören. Der kleine Badeort liegt im äußersten Südwesten der Niederlande in der Region Zeeuws Vlaanderen, die wiederum zur südlichen Provinz Zeeland gehört, direkt an der Grenze zu Belgien. Auf der niederländischen Seite befand sich in Cadzand eine weitläufige Dünenlandschaft mit einem breiten Strand. Ein paar Schritte durch einen eiskalten Priel, der weiter unten ins Meer mündete, schon war man auf der belgischen Seite im Natur- und Vogelschutzgebiet Het Zwin.
Sascha liebte das kleine Cadzand vor allem für den breiten Strand, der trotz der jedes Jahr zahlreicheren Touristen am Meer immer noch reichlich Platz für die verschiedensten Wassersportarten bot. Er selbst war begeisterter Kitesurfer und reiste mit seiner Freundin Grete sooft es ging hierher an die Küste. Von Köln aus, wo die beiden BWL und Sport studierten und in einer schmucken Dachwohnung lebten, war Cadzand die schnellste Möglichkeit, ans Meer zu kommen. Drei Stunden Fahrt, einmal quer durch Belgien, schon konnten sie mit Board und Segel in die Wellen starten.
Heute war wieder ein wunderbar sonniger Tag gewesen. Sascha hatte praktisch von morgens bis abends auf dem Brett gestanden. Er konnte die Arme kaum noch heben, die Beine brannten, aber selten hatte er sich so glücklich und entspannt gefühlt wie an diesem Abend.
Das lag auch an der Überraschung, die er für Grete geplant hatte.
Sie kannten sich jetzt genau ein Jahr. Sascha wollte das mit ein paar Mojitos und leckeren Lachshäppchen in den Dünen feiern. Gerade hatte er eine Kühltasche aus ihrem mintgrünen VW-Bully geholt, den sie auf einem Parkplatz hinter den Dünen geparkt hatten. Es versprach ein wunderbar lauer Abend und eine klare Nacht zu werden. Ein romantisches Picknick unter dem leuchtenden Sternenhimmel – Sascha war bereits ganz hippelig vor Vorfreude.
Als er zurück zum Strand ging, leuchteten die Wolken am Himmel wie die Flammen eines gewaltigen Lagerfeuers. Oben auf der Düne blieb er stehen, stellte die schwere Kühltasche ab und schaute sich um. Offensichtlich waren er und Grete nicht die Einzigen, die an diesem Sommerabend noch am Strand bleiben wollten. Überall saßen Familien und Gruppen von jungen Leuten zusammen. Es herrschte Ebbe, das Wasser hatte sich mehrere Hundert Meter weit zurückgezogen und glitzerte am Horizont im warmen Licht der untergehenden Sonne. Auf dem hellen, von zahllosen kleinen Prielen durchzogenen Meeresgrund waren überall Spaziergänger und Kinder zu sehen.
Er stapfte durch den Sand hinunter an den Strand und wandte sich dann nach links, an der großen Düne vorbei, die mit einer Art Steilwand das Panorama beherrschte. Hier lagerten immer noch viele Kitesurfer neben ihren Boards. Die jungen Männer und Frauen hatten ihre Neoprenanzüge gegen Bermudashorts und T-Shirts getauscht, tranken Bier aus Flaschen, lachten oder betrachteten stumm den prachtvollen Sonnenuntergang.
Sascha streckte den Hals und suchte nach Grete. Normalerweise war es sehr einfach, sie zu finden. Er musste nur nach der größten Gruppe Ausschau halten – meistens stand Grete in der Mitte. Sascha war stolz auf seine hübsche und intelligente Freundin. Wenn sie ihre langen schwarzen Haare zu einem Zopf nach hinten band und mit ihrem Board und in ihrem engen Neoprenanzug über den Strand spazierte, gab es niemanden, der nicht seinen Kopf nach ihr verdrehte. Dabei war sie durchaus keine typische Strandschönheit. Ihre Nase war etwas zu groß, was ihrem Profil etwas Herbes gab. Ihre Beine und Schultern waren durch das viele Kite- und Wellensurfen für Modelmaße viel zu kräftig. Aber Grete war das egal, sie fühlte sich wohl in ihrem Körper und in ihrem Leben. Genau dieses Selbstvertrauen, das sie mit jedem Schritt ausstrahlte, verbunden mit ihrer unkomplizierten Herzlichkeit, faszinierte Männer wie Frauen. Auch als Sportlerin war sie hilfsbereit und freundlich zu anderen, fordernd und ehrgeizig, wenn es sie selbst betraf. Wenn viele Surfer eingeschüchtert von der stürmischen See lieber abbrachen, sprang sie erst recht auf ihr Board und warf sich ohne Angst in die Wellen.
Sascha wusste, dass seine Freundin etwas Besonderes war. Er liebte sie wie am ersten Tag – eigentlich sogar jeden Tag ein bisschen mehr. Entsprechend ungeduldig suchte er den Strand ab. Wo steckte sie nur? Er hatte ihr doch gesagt, dass sie hier, am Ende des Bohlenwegs, auf ihn warten sollte.
»Wisst ihr, wo Grete ist?«, fragte er ein paar Surfer aus München, mit denen sie heute gemeinsam auf dem Wasser gewesen waren. Aber niemand hatte sie gesehen. Auch ein Ehepaar aus Dortmund hatte keine Ahnung. Grete hatte vorhin noch mit ihren kleinen Kindern im Sand gespielt. Doch seitdem hatten sie sie nicht mehr gesehen.
Schließlich fragte er Dennis, einen niederländischen Segellehrer. Sie hatten gestern gemeinsam gegrillt. Obwohl seine eigene Freundin Meike ebenfalls dabei gewesen war, hatte der blendend aussehende Mann mit Grete ziemlich unverhohlen geflirtet, aber das war jetzt auch egal.
»Ja, ich habe sie gesehen. Ist aber eine Weile her. Sie ist Richtung Campingplatz gegangen.« Er zeigte mit der Hand landeinwärts. »Aber sie war nicht alleine.«
Sascha horchte auf. »So? Wer war denn bei ihr?«
Dennis zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Ich dachte, du wärst das gewesen. Aber da habe ich mich wohl getäuscht. Gibt’s irgendein Problem?«
»Nein, Quatsch«, sagte Sascha, obwohl er spürte, wie sich ein unangenehmes Gefühl im Bauch ausbreitete. Wieso war sie einfach gegangen? Er hatte ihr doch gesagt, sie sollte genau hier am Strand auf ihn warten!
»Soll ich dir suchen helfen?«, erkundigte sich Dennis, der ihm offensichtlich ansah, dass er immer nervöser wurde.
»Ach was, nicht nötig. Bestimmt ist sie nur schon mal vorgegangen.«
Sascha nahm die Kühltasche in die Hand und machte sich auf den Weg zum Campingplatz. Er führte ihn am Priel landeinwärts direkt an der belgischen Grenze entlang. Auf der anderen Seite erhoben sich die Dünen. Eigentlich war es aus Naturschutzgründen verboten, sie zu betreten, trotzdem konnte er in der einsetzenden Dämmerung einige kleine Lichter erkennen.
Ob Grete an einem der Lagerfeuer saß?
Mittlerweile war es hier auf der Schattenseite der Dünen fast ganz dunkel. Mehrfach rief er ihren Namen, erhielt aber keine Antwort.
Irgendwas stimmt hier nicht!
War sie wirklich zum Campingplatz gegangen? Warum sollte sie das tun? Ohne ihn? Konnte es sein, dass sie doch zurück zum Auto gelaufen war? Hatte er zu lange gebraucht? War sie ungeduldig geworden?
Und was war das für ein Mann, der sie begleitet hatte?
Sascha entschied sich, einen Bogen durch die Dünen zu machen, eine – verbotene – Abkürzung zum Parkplatz, die sie in den letzten Tagen häufig genommen hatten.
Mit kurzen schweren Schritten stapfte er durch den Sand, die Düne hinauf und rief immer wieder Gretes Namen. Ein Entenpärchen verließ aufgeschreckt sein Versteck hinter einem Bündel Seegras, aber sonst blieb alles still.
Langsam bekam er es mit der Angst zu tun. Dazu zog die Kühltasche an seinem Arm, als wäre sie mit Blei gefüllt. Er ächzte und fluchte, als er über sich am Himmel eine Möwe lachen hörte.
»Grete!«, schrie er in die Dünen. »Wo bist du?«
Nichts. Stille. Nur ein leises Murmeln und das noch entferntere Rauschen des Meeres waren zu hören. Er stellte die Tasche ab und stemmte die Hände erschöpft in die Seite. Oben am Himmel funkelten die ersten Sterne.
Verdammt! Das war alles ganz anders geplant.
Plötzlich ein Rascheln. Ganz in der Nähe. Ein gedämpftes Stöhnen. Sascha erstarrte, spürte, wie eine eiskalte Brise über seinen verschwitzten Rücken strich. Das waren bestimmt keine Enten.
»Grete?«, rief er, seine Stimme war auf einmal nur ein heiseres Krächzen.
Wieder das Rascheln, etwas schlug auf den Boden. Mit einem Ruck wandte er sich um. Die Geräusche kamen von der anderen Seite der Düne. Er ließ die Kühltasche stehen, wo sie war, und kämpfte sich die Düne hinauf, fiel hin, krabbelte schließlich auf allen vieren nach oben.
»Grete? Was ist …?« Sein Atem stockte, als er sie sah. Grete. Mit dem Rücken auf dem Boden. Auf ihr ein Mann, die Hände an ihrem Hals. Mit letzter Kraft versuchte sie, sich zu befreien, aber vergeblich.
Natürlich hatte der Mann ihn gehört. Wie ein Raubtier wandte er ihm den Kopf zu. Gegen den immer noch vom Abendrot erleuchteten Himmel konnte Sascha sein Gesicht nicht erkennen. Es war offensichtlich keiner von den jungen Surfern. Aber weiter konnte Sascha schon nicht mehr denken. Mit einem lauten, wütenden Aufschrei sprang er nach vorn, warf sich gegen den Kerl, der Grete, seiner Grete, etwas antun wollte. Mit einem lauten Stöhnen fiel der Fremde in den Sand. Genau wie Sascha. Brüllend vor Wut rappelte er sich auf, ging erneut auf den Unbekannten los, um ihm den Hals umzudrehen und den Kopf abzureißen.