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Sommer am Meer, Surfen und die erste Liebe: Matilda, Emmy, Johanna und Merit leben auf der Insel. Sie sind die "Summer Girls" und treffen sich meist bei Matilda, deren Vater eine Surfschule betreibt. Es ist Ferienbeginn, zahlreiche Anmeldungen flattern der Surfschule ins Haus. Es ist der erste Sommer, in dem die Mädchen die Jungs im Auge haben, die sie vor wenigen Monaten noch rundweg blöd fanden ...
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© Carlsen Verlag, Hamburg 2016Umschlag: Chris Campe, unter Verwendung eines Fotos von fotolia © Photocreo BednarekSatz und E-Book-Umsetzung: Pinkuin Satz und Datentechnik, Berlin
ISBN 978-3-646-92875-4
Alle Bücher im Internet unterwww.carlsen.de
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„Hey, das wird ein Supersommer!“
Josy fiel Matilda um den Hals. Matilda streckte die Arme von sich. In der linken Hand flatterten ausgefüllte Anmeldebögen für die Surfkurse im Sunny Beach, in der rechten hielt sie drei leere Cola-Flaschen, die nun klimpernd gegeneinanderschlugen.
Einige der Gäste auf dem mit Lampions und Fackeln geschmückten Bossenhof sahen zu den beiden herüber und lächelten.
„Zieh nicht so ein Gesicht und sei mal happy, Matilda!“ Josy packte sie an den Schultern und schüttelte sie. Die Flaschen klirrten lauter.
Matilda grinste. Wenn Josy sich freute, erfuhr das in der nächsten Sekunde die ganze Welt. Ob die Welt das wollte oder nicht. Trotzdem trat Matilda einen Schritt aus der Gefahrenzone, bevor noch etwas zu Bruch ging.
„Sechs Wochen Ferien, das Wetter soll supergut bleiben! Und das Beste: Wir haben dieses Jahr die coolsten Gäste ever auf der Insel!“ Josy sah mit blitzenden Augen zu dem Tisch, von dem sie aufgesprungen war, um sich Matilda in den Weg zu werfen.
„Sehe ich auch so.“ Matilda hob die Arme, bevor Josy die nächste Knuddelattacke starten konnte. „Aber um alle Neuen kennenzulernen, brauche ich noch ein paar Tage. Bis dahin bin ich hier voll verplant.“ Sie ließ die Flaschen klackern und wedelte mit dem Papier in der anderen Hand. „Die Surfkurse sind diese Saison fast komplett ausgebucht. Der Wahnsinn. Deine Jungs wollten sich allerdings nicht anmelden.“ Sie nickte zu Josys Tisch hinüber.
„Die sind ja auch keine Wassersportler“, sagte Josy, als hätte Matilda das mit einem Blick erkennen müssen. „Das sind englische Fußballer. Wir haben uns gerade kennengelernt. Ganz zufällig. Die brauchen nur einen Sportplatz.“
„Ganz zufällig, nee, is’ klar. Und dich brauchen sie als Inselführerin, oder wie?“ Matilda grinste wieder.
Josy legte den Kopf schräg. „Kann schon sein. Einer ist dabei, der ist wirklich süß.“
„Den schaue ich mir später an“, versprach Matilda. „Ich muss jetzt weitermachen.“
Die Leute um sie herum hatten sich zwischen den Festbänken und der Bar versammelt, tanzten im chilligen Rhythmus der Musik und versprühten Urlaubslaune.
Tja. Sommer, Sonne, Inselleben. Klang nach jeder Menge Spaß.
War es aber nicht. Zumindest nicht immer. Und nicht für jeden. Die anderen machten hier Urlaub. Matilda und ihre Freundinnen wohnten hier.
Josy flitzte schon wieder zurück zu ihrem Platz. „Setz dich später noch zu uns, okay?“, rief sie über die Schulter.
„Eher nicht. Ich mache hier wahrscheinlich als Letzte das Licht aus. Lass uns morgen schreiben, um was auszumachen. Dann bequatschen wir alles.“
Josy hob den Daumen. „Ich bin bis halb sieben beim Strandkorbverleih eingeteilt. Aber danach geht’s.“ Sie quetschte sich zwischen zwei Fußballer, die sie mit großem Hallo begrüßten und sich hinter ihrem Rücken knufften und boxten, um so dicht wie möglich neben ihr sitzen zu können. Kein Wunder. Josy war eine echte Inselschönheit: groß, schlank und mit schwarzen Haaren, die sie an den Seiten ziemlich kurz und oben auf dem Kopf lang trug. Extrem cool.
Zahlreiche Hotels boten an den Sonntagen im Juli und August Begrüßungscocktails und Lounge-Musik an, allen voran das gigantische Seaside – aber die angesagte Willkommensparty stieg auf dem Bossenhof. Immer.
Viele Urlauber kamen Jahr für Jahr wieder. Manche der Stammgäste nickten Matilda zu, als sie in Richtung des reetgedeckten Haupthauses eilte. Dort befand sich das Büro des Bossenhofs.
Rechts und links rahmten zwei Anbauten den Hof ein. An normalen Tagen füllten die metallenen Kunstwerke den Innenhof, die Tante Maike mit einem Schweißgerät aus Schrott fabrizierte. Heute wies nur ein Tier mit Teelichtern in Gurkengläsern als Augen auf das Atelier in der Scheune hin. War das ein Seehund? Oder ein Wal? Tante Maike nahm sich als Künstlerin da alle Freiheiten. Manche ihrer Werke verstand nur sie selbst.
Normalerweise hielt Hofhund Sleeper vor der Scheune Wache. Bei den Partys verkrümelte er sich aber immer in eine ruhige Ecke, wo ihn niemand beim Dösen störte. Von wegen Wachhund.
Vom Meer her wehte eine salzige Brise über den Hof. Das Rauschen der Brandung mischte sich mit den entspannten Beats aus den Boxen.
Matilda blieb stehen und lauschte für einen Moment auf das ewige Rollen des Meeres an den Strand. Das war ihre Begleitmusik.
Ein Leben ohne das Rauschen der See? Niemals.
Sie beeilte sich, die Flaschen an der Bar abzuliefern. Dazu musste sie sich an den top gestylten Girlies vor der Theke vorbeizwängen. Matildas Cousin Jan, der Getränkedienst schob, zog die Mädels an wie ein toter Fisch die Möwen.
Mit den halblangen blonden Haaren und den azurblauen Augen sah Jan aber auch umwerfend gut aus. Er war groß, durchtrainiert und mit seinen 17 Jahren ein echter Surferboy. Seit einigen Wochen ließ er sich einen Vollbart wachsen. Der wirkte zwar noch etwas mickerig, trug aber absolut zu seiner Attraktivität bei.
Dass er nicht der hellste Leuchtturm an der Küste war – na und? Die Feriengirls hofften auf einen heißen Flirt, nicht auf Nachhilfe in Mathe oder Deutsch. Jan jedenfalls konnte sich die Mädchen aussuchen, die ihm gefielen, und das tat er auch regelmäßig.
„Machst du mir bitte sechs Fassbrausen und vier Energydrinks für Tisch zwölf?“, rief Matilda ihm zu. Jan winkte und nickte grinsend, bevor Matilda mit den Anmeldungen ins Haus lief.
Sechs neue Kursteilnehmer, alles Anfänger. Außer den Frischlingen hatten sich noch einige andere für den Fortgeschrittenenkurs angemeldet, und zwei Familien schickten ihre Kids zu den Minis. Also direkt zu ihr.
An der Innentür im Büro hing ein runder Spiegel, in den Matilda nun einen schnellen Kontrollblick warf. Am Morgen waren auf ihrer Stirn zwei Alarmpickel aufgeblüht. Einmal im Monat bekam sie die jedes Mal an genau dieser Stelle. Zum Verzweifeln. Sie hatte sie mit Pickelcreme betupft und eine leicht getönte Tagescreme aufgetragen, die auch ihre Sommersonnenpunkte überdeckte, wie Papa sie nannte. Früher hatte er die Sommersprossen gezählt, indem er jede einzelne mit der Fingerspitze berührt hatte. Beim letzten Mal, vor einem Jahr, waren es 24 gewesen.
An den Pickeltagen wünschte sich Matilda, sie hätte Ponyfransen wie Emmy. Dann könnte sie die nervigen Pusteln einfach darunter verstecken. Aber Matilda trug ihre langen hellblonden Haare mit Seitenscheitel und meistens im Zopf oder zu einem lockeren Knoten geschlungen. Tante Maike nannte ihre Haare „Pferdemähne“, weil sie so dicht und dick waren, aber von anderen bekam Matilda nur Komplimente dafür. Die blaugrünen Augen hatte sie von ihrem Vater geerbt. Sie veränderten ihre Farbe wie das Meer, je nach Matildas Stimmung. Heute waren sie dunkelgrün wie die See an den tiefsten Stellen.
Matilda legte die Bögen auf ihren Stapel auf dem Schreibtisch, wo ihr Vater sie später finden würde. Sie streckte die Finger nach den beiden anderen Stapeln aus – Emmys und Valeries –, zog sie aber wieder zurück.
Es hatte sich im Lauf der Zeit zu einem Wettbewerb zwischen den Cousinen entwickelt, wer an Abenden wie diesem die meisten Anmeldungen ablieferte. Matildas Vater und ihr Onkel hielten nicht wirklich viel davon, aber ausreden konnten sie es den Mädchen nicht.
Die Stapel sahen gleich hoch aus.
Wer mochte diesmal vorn liegen? Morgen würde sie es erfahren.
Matilda schwang herum, um wieder zur Party zu flitzen … und stieß fast gegen Valerie.
„Schau dir das an!“ Valerie wedelte mit ein paar Bögen über ihrem Kopf. Beim Grinsen zeigte sie ihre leicht vorstehenden Zähne, die ihr den Spitznamen Seepferd eingebracht hatten. „Alles süße Kiddies für dich!“ Sie schüttelte ihre kinnlangen dunkelblonden Haare, die sie mit viel Schaumfestiger aufzuplustern versuchte. Vergebens. Sie erinnerten auch heute nur an verwelkten Schnittlauch.
Valerie war 16 und damit zwei Jahre älter als Matilda, aber fies wie eine Strandkrabbe, die einem von hinten in die Fersen zwickte.
Ja, Matilda liebte die Arbeit mit den Minis, aber sie war auch selbst ein Ass auf dem Brett. In ihrer Freizeit schoss sie am liebsten über meterhohe Wellen dahin und genoss dabei den Wind in den Haaren. Sie hatte auf jeden Fall das Zeug dazu, auch die Fortgeschrittenen zu unterrichten. Leider traute ihr das innerhalb der Familie niemand zu.
Valerie wusste genau, wie sehr Matilda das nervte.
„Ja, krass, ich freu mich!“ Matilda lächelte zuckersüß. „Leg nur alle hin. Linker Haufen.“
„Netter Versuch.“ Valerie legte die Papiere auf den rechten, ihren eigenen Stapel und verzog bedauernd das Gesicht. „Tut mir sooo leid, dass du dieses Jahr wieder nur die Minis trainieren darfst. Aber bei uns Besseren ist das Level schon extrem hoch, weißt du?“
„Weiß ich. Deshalb ist ja auch jeder kleine Fehler blöd. Du zum Beispiel solltest beim nächsten spin out das Gewicht näher zum Mastfuß verlagern. Zieh das Heck mit dem hinteren Fuß ran, dann kommst du wieder auf Kurs und musst nicht dauernd absteigen.“
Mit diesem Kommentar ließ Matilda Valerie stehen und beeilte sich, nach draußen zu flüchten.
Über dem Hof lag mittlerweile ein purpurner Schimmer. Hinter den Dünen versank die Sonne im Meer. Dort herrschte bei diesem Licht eine magische Atmosphäre – vor allem in Matildas Glücksdüne, ihrem geheimen Ort abseits der Strandkörbe, der Promenade und des Sunny Beach. Dort konnte sie windgeschützt inmitten der Gräser liegen und mit den nackten Füßen im Sand spielen, während der Blick bis zum Horizont ging. Die Luft roch nach Salz, Fisch und Kräutern. Zu hören war nichts als das Meeresrauschen und das Kreischen der am Himmel schwebenden Möwen.
Aber alles zu seiner Zeit. Jetzt galt es, die Gäste bei Laune zu halten.
Matilda brachte die Getränkebestellungen an Tisch zwölf, lächelte allen zu und setzte sich zu Stammgästen oder Neulingen, um ein bisschen zu plaudern. Das erwartete ihr Vater von ihr, und sie machte es gern. Die Gäste sollten sich herzlich willkommen fühlen, bevor sie zurück in ihre Unterkünfte strömten – Ferienhäuser, Hotels, Pensionen und Jugendherbergen. Sie sollten den Bossenhof als den quirligen Mittelpunkt des Insellebens sehen und sich hier von Anfang an wohlfühlen.
Für ein paar Minuten schob Matilda sich auch zu Josy auf die Bank. Immerhin saßen hier mit Josy und Merit nicht nur ihre Freundinnen, sondern mit den Fußballern auch mögliche Kunden für einen Schnupperkurs.
Die meisten der Jungs hingen an Josys Lippen. Heute hatte sie sich besonders aufgestylt, aber auch ohne Schmuck war sie ein Hingucker. Sie besaß einen Riesenvorrat an Ohrsteckern in Silber-, Blau- und Grüntönen, aus denen sie mit traumwandlerischer Sicherheit immer die zum Outfit passenden auswählte. An diesem Abend waren es silberne Dreiecke, die im Licht der Lampions funkelten. Josy hieß eigentlich Johanna, aber so nannte sie kein Mensch. Sie hatte es vermutlich selbst schon vergessen.
Gegen eine wie Josy hatte Merit Mühe, die Blicke der Jungs auf sich zu ziehen. Merit war auch hübsch, klar! Ihr goldblonder Zopf, die hellbraunen Augen – aber neben der strahlenden Josy verblasste jede und wurde meist übersehen wie eine Sprotte neben einem schillernden Tropenfisch.
Seltsam. Im letzten Jahr hatten Matilda und ihre Freundinnen nur danach geschaut, ob nette Mädchen unter den Touristen waren, mit denen man abhängen konnte.
In diesem Jahr war das anders.
Während Matilda den Jungs erzählte, wo sie die besten Sportplätze fanden und in welchem Café sie die coolsten Leute treffen würden, musterte sie jeden Einzelnen. Es schadete ja nicht, zu schauen, welcher ihr gefallen würde.
Der Star der Gruppe war offenbar Sprücheklopfer Vincent. Josy klimperte ihn von der Seite an, Merit betrachtete ihn verträumt. Er sah zugegebenermaßen auch am besten aus mit seinem schmalen gebräunten Gesicht, den hellblonden schulterlangen Haaren und den ebenmäßigen Zähnen. Ob er tatsächlich ein interessanter Typ war, konnte man nach dem ersten Treffen aber unmöglich sagen. Manchmal entdeckte man erst auf den zweiten Blick etwas Wunderschönes an einem Jungen, oder er brachte einen überraschend mit einem tollen Humor zum Lachen.
Aber Matilda war sowieso raus, wenn es um Beziehungen mit hübschen Touristen ging. Wenn sie überhaupt mal einen Freund haben sollte, musste der auf der Insel leben. Das hatte sie sich fest vorgenommen. Etwas anderes ging gar nicht. Never ever. Das brachte nur Probleme.
Blöd nur, dass sie alle Jungs auf der Insel kannte, die in etwa in ihrem Alter waren. Da war keiner dabei, der bei ihr ein Kribbeln verursachte.
Vielleicht änderte sich das eines Tages?
Oder sie blieb Single. Wie Tante Maike.
Matilda biss sich auf die Unterlippe.
Nein, nicht wie Tante Maike. Kein guter Plan.
Trotzdem: Sich bloß nicht in jemanden verlieben, der immer weg war. Mit dem man dann nur telefonierte oder chattete oder Nachrichten tauschte. Dass das nicht funktionierte, sah man an ihren Eltern.
Matilda suchte den blonden Haarschopf ihres Vaters im Getümmel vor der Bar, entdeckte ihn aber nirgends.
Sie lächelte noch einmal in die Runde und wünschte einen wunderbaren Abend. Sie sah Vincents bedauernden Blick und zuckte mit schiefem Lächeln in seine Richtung die Schultern. Seine Trauer verflog in Windeseile, denn kaum hatte sich Matilda umgedreht, hörte sie ihn schon wieder mit Josy über einen Gag grölen. Die anderen stimmten ein. Ja, ja, die englischen Fußballer ließen sich nicht so leicht entmutigen – die würden in ihren Ferien mitnehmen, was sie kriegen konnten. Matilda würde nicht dazugehören.
Sie schlenderte zum nächsten Tisch. Eine Familie mit drei jüngeren Kindern hatte dort Platz genommen. Das älteste Mädchen, Jenny, sollte ab Montag bei den Minis Windsurfen lernen.
Ein paar Schritte entfernt unterhielt sich Valerie mit einem Typen, den sie offenbar für einen der Kurse gewinnen wollte. Wobei unterhalten bedeutete, dass das Seepferd blubberte und zwischendurch wieherte, während der Typ mit in den Jeanstaschen vergrabenen Händen zuhörte. Dabei schmunzelte er immer wieder, allerdings eher gequält. Zwei Grübchen bildeten sich in seinen Wangen, wenn er die Mundwinkel hochzog.
Er überragte Valerie um einen halben Kopf, war aber vermutlich einige Monate jünger als sie. Damit passte er nicht in Valeries Beuteschema. Sie stand eher auf Ältere.
Aber gut, eine Ausnahme war verständlich bei jemandem mit Schmunzelgrübchen und Augen in der Farbe von …
Mist!
Musste er ausgerechnet jetzt hersehen, während Matilda ihn von oben bis unten musterte?! Und warum konnte man sich nicht in einen Wattwurm verwandeln und in den Boden bohren, wenn es nötig war?
Matilda wirbelte herum. Ihr Gesicht brannte, als hätte sie eine Runde mit einer Feuerqualle gekuschelt. Sie zupfte an ihrer kurzen Strickjacke nach einer unsichtbaren Fluse, obwohl an ihrem Outfit – kurzes schwingendes Sommerkleid im blaugrünen Ethno-Design, himmelblaue Strickjacke und weiße Sneakers – alles tadellos war. Zu den Partys auf dem Bossenhof wählte Matilda gern etwas schickere Klamotten. Ihre Gesichtsfarbe biss sich in diesem Augenblick vermutlich krass mit dem Blaugrün des Leinenstoffs.
„Hallo“, sagte sie etwas zu hastig und setzte sich zu der fünfköpfigen Familie. Ihr Herzstolpern überspielte sie mit einem besonders freundlichen Grinsen, das Jenny als Aufforderung verstand, näher zu rücken und sie über das Windsurfen auszufragen: „Kann ich am Montag gleich mit dir raus aufs Meer? Was ist, wenn ich runterfalle? Surfen wir auch, wenn es keinen Wind gibt? Geht das überhaupt?“
Ja, über das Surfen zu reden war gut. Es fühlte sich vertraut an. Vertrauter jedenfalls als diese Blicke eines Typen mit bernsteinfarbenen Augen, die sie in ihrem Rücken zu spüren glaubte.
Matilda bemühte sich, Jenny weiter anzulächeln, während sie antwortete. „Das besprechen wir alles am Montagmorgen mit den anderen. Mach dir keinen Kopf, das sind Anfänger wie du. Bisher haben in meinem Kurs die meisten das Surfen auf die Reihe gekriegt. Du packst das.“
Über Jennys Gesicht ging ein Leuchten. Cool, wenn die Kids so begeistert waren. Aber das waren sie eigentlich immer. Sie hatten ja richtigen Urlaub.
Matilda verabschiedete sich von Jennys Familie und lugte so unauffällig wie möglich über die Schulter, um … Doppelmist!
Der Typ schaute in aller Seelenruhe in ihre Richtung. Im Gegensatz zu ihr schien es ihm keine Spur peinlich zu sein, dabei ertappt zu werden. Er strahlte sie an und schlenderte zu ihr herüber.
Hilfe, SOS!
Matilda straffte die Schultern.
Immer schön lächeln! Kurze Böe von steuerbord, jetzt war alles wieder auf Kurs.
Hinter dem Typ mischte sich Valerie unter die Gruppe top gestylter Mädchen an Jans Theke. Mit ihnen lachte sie weniger, warf auch die Haare nicht mehr ständig zurück, aber für einen Kurs gewinnen wollte Matildas Cousine die Girls schon, das konnte man sehen.
„Hi, ich bin Lasse.“ Lasse überragte Matilda ein ganzes Stück, so dass sie den Kopf heben musste. Sein Gesicht war schmal, die Augen wirkten dadurch besonders groß. Für einen Jungen hatte er ziemlich lange Wimpern. Die hellbraunen Wuschellocken fielen ihm in die Stirn, als sei er gerade erst aus dem Bett gestiegen. Er trug ein moosgrünes Sweatshirt, das seinen eckigen Körper betonte, darauf prangte ein Logo mit einem kleinen Sportflugzeug.
„Hi, ich bin Matilda Bossen.“
„Hab mir schon gedacht, dass du zu den Offiziellen gehörst. Du läufst ja seit Stunden mit Getränken und Formularen über den Hof. Dumm nur, dass ich noch nichts zu trinken bekommen habe.“
He, sollte das eine Beschwerde werden? Matilda hob das Kinn. „Sorry, hole ich gleich nach. Bei dem Trubel kann es schon mal passieren, dass ich jemanden übersehe. Was soll ich dir bringen?“ Ihr Ton war um mehrere Nuancen frostiger geworden.
Sie räusperte sich. Was war los mit ihr? Wieso fiel es ihr so schwer zu lächeln? Gerade hatte sie noch mit der Inselsonne um die Wette gestrahlt.
Lasse hob beide Arme. „Äh, nein, so war das nicht gemeint! Ich wollte nur sagen, dass es nett gewesen wäre, wenn ich mich schon früher mit dir hätte unterhalten können. Aber du bist ja voll beschäftigt.“
Nett gefunden hätte er es, mit ihr zu reden? Wie sollte sie das jetzt verstehen? Versuchte der Typ, mit ihr zu flirten?
Am besten tat sie, als hätte sie das gar nicht bemerkt. Im Smalltalk war sie Weltmeisterin.
„Für uns sind die Samstage und Sonntage immer superhektisch. Bettenwechsel, die neuen Gäste begrüßen. Gerade zu Beginn der Ferien ist die Insel praktisch ausgebucht. Du bleibst wahrscheinlich zwei Wochen wie die meisten, oder?“ Matilda legte den Kopf schräg. „Ich habe gesehen, dass Valerie dich für einen Kurs begeistern wollte. Und? Hatte sie Erfolg?“
Lasse lachte auf. Angenehm tief.
„Alles falsch“, sagte er. „Ich bleibe nicht zwei Wochen, sondern die ganzen Ferien über. Meine Eltern haben hier ihren Zweitwohnsitz. Wir kommen schon ewig her.“
Wie bitte? Er war Stammgast? Warum kannte Matilda ihn dann nicht?
Lasse sah offenbar an ihrer Miene, was sie dachte. Er hob die Schultern. „Windsurfen war bisher nicht mein Ding. Eigentlich wollte ich gar nicht mit. Ich hatte schon was mit Freunden geplant. Wir wollten mit Interrail an die französische Atlantikküste.“
„Wirklich?“
Nahe Bordeaux sollte es tolle Surf-Spots geben! Dort gewesen war Matilda noch nie. Mehr als eine Woche Italien an Ostern war für sie und ihren Vater nicht drin. Die Sommerferien blieben dem Sunny Beach vorbehalten.
Aber auch, wenn Lasse nicht wegen der Brandung nach Frankreich gewollt hatte – ohne Eltern mit Freunden unterwegs zu sein, klang extrem cool.
„Warum bist du abgesprungen?“, fragte Matilda.
„Tja, mein Paps hat mir erlaubt, Kopilot in seinem Flieger zu sein. Wir sind mit seiner Cessna von Frankfurt aus hergeflogen. Da wohnen wir. Ein paar Inselrundflüge wollen wir auch starten. Das lasse ich mir nicht entgehen. Da mache ich gern noch ein letztes Mal Urlaub mit den Eltern.“
Matilda wies mit dem Kinn auf sein Shirt. „Jetzt checke ich das. Kopilot. Du interessierst dich fürs Fliegen?“
„Kann man so sagen, ja.“ Lasse hielt ihrem Blick stand. Seine Augen schimmerten tatsächlich wie Bernstein und schienen je nach Lichteinfall die Farbe zu verändern. „Na ja, zumindest sitze ich neben meinem Dad und überwache die Anzeigen. Diese kleinen Maschinen kommen auch ohne zweiten Piloten aus.“ Er zwinkerte Matilda zu. „Auf jeden Fall ein großartiges Gefühl, über den Dingen zu schweben. Von oben hat man alles im Blick. Das fühlt sich an wie … Freiheit. Klingt blöd, ich weiß.“
Matilda schüttelte den Kopf und nickte gleich darauf nachdenklich. „Überhaupt nicht.“ Wie gut sie ihn verstehen konnte. Ihm schien das Fliegen genauso viel zu bedeuten wie ihr das Windsurfen.
„Ob ich einen Surfkurs belege, wollte ich mir noch durch den Kopf gehen lassen“, fuhr er fort. „Habe ich denn überhaupt eine Chance, das zu lernen? Muss man damit nicht viel früher anfangen?“
Matilda lachte. „Klar kriegst du das noch hin!“
„Und du bist eine der Kursleiterinnen?“
Matilda hob den Zeigefinger und wackelte damit, während sie ihn angrinste. „Ich betreue nur die Kids. Mach dir keine Hoffnungen.“
„Also die Anfänger“, stellte er fest.
„Genau, die Kleinen eben. Für dich wäre wahrscheinlich Jan zuständig. Der kümmert sich unter anderem um die größeren Einsteiger. Oder auch Valerie, wenn du schnell lernst. Die hast du ja bereits kennengelernt.“
„Allerdings.“ Er verzog den Mund.
Matilda verbiss sich ein Grinsen. Es gehörte sich nicht, mit den Gästen über die eigene Familie zu lästern, aber was Lasse von ihrer Cousine hielt, war ihm deutlich anzusehen.
„Du, ich muss wieder.“ Matilda hob bedauernd die Arme.
„Ich hoffe, wir sehen uns?“, rief Lasse, als sie ihm schon den Rücken zuwandte.
Sie blickte über die Schulter. „Wenn du sechs Wochen auf der Insel bist, wird sich das wohl nicht vermeiden lassen.“
Es fühlte sich ein bisschen nach Flucht an, als sie an den nächsten Tisch trat und die Bestellungen aufnahm. Als das erledigt war, drehte sie sich nach Lasse um, bekam aber nur noch mit, wie er die Party verließ, ohne ein weiteres Wort mit jemandem zu wechseln. Nanu?
War der letzte Satz zu hart gewesen? Wahrscheinlich. Matilda seufzte.
„Jetzt chill mal.“ Emmy grinste von zwei Tischen weiter zu Matilda herüber.
Emmy, die eigentlich beim Bedienen helfen sollte, sich aber lieber mit ihrem Schulfreund Daniel verkroch, um kichernd die Köpfe zusammenzustecken.
Von ihrem Gesicht sah man wie so oft nur die Hälfte. Die andere war mit einer schwarz und weiß gefärbten Haarsträhne bedeckt. Sie trug ein schwarzes Shirt, um ihren Hals baumelten mehrere Gliederketten, vermutlich aus einem Baumarkt vom Festland, und bestimmt hatte sie auch die schwarze Jeans mit mehr Löchern als Stoff an.
Mit der hellen Gesichtshaut und den natürlich rot schimmernden Lippen sah Emmy fast ein bisschen gruselig aus. Strange auf jeden Fall.
Aber wie hieß es? Don’t judge a book by its cover – beurteile ein Buch nicht nach seinem Einband. Das galt genauso für Menschen.
Matilda grinste zurück und zeigte mit dem Finger auf sie. „Sieh du mal lieber zu, dass du noch ein paar Anmeldungen ablieferst. Ich liege vorn, schätze ich.“
Emmy hob anerkennend den Daumen.
Im Gegensatz zu Valerie war Emmy ein echter Goldschatz. Matilda und sie waren fast im gleichen Alter. Obwohl Emmys und Matildas Interessen meilenweit auseinanderlagen, waren sie nicht nur Cousinen, sondern auch Freundinnen.
Als jüngstes der drei Bossen-Mädchen hatte Emmy einige Freiheiten, die ihr keiner wirklich übel nahm. Dass sie manchmal ein bisschen verpeilt war, verzieh man ihr auch. Dafür blitzte ihr hellwacher Verstand immer dann auf, wenn es wirklich wichtig war. Für den Stress, der sich durch ihre Schusseligkeit ergab, hatte sie Daniel, der ihr ständig Bücher und Taschen hinterhertrug.
Kurz, Emmy war einfach zu süß, als dass man ihr wegen irgendetwas hätte böse sein können.
Weniger süß klang wahrscheinlich das, was sie mit Daniel hinter vorgehaltener Hand tuschelte. Bestimmt lästerten die beiden über die Tussis um Jan ab. Da traf es wenigstens nicht die Falschen.
Jetzt aber stand Daniel auf, strich sich die dichten rotbraunen Haare aus der Stirn und verabschiedete sich von Emmy. Die beiden waren fast gleich groß. Er holte sein Bike, das er am Nachmittag an die Wand der Scheune gelehnt hatte, und verschwand auf dem Pfad, der zum Dorf führte.
Na, viel Glück!, dachte Matilda.
Fahrradfahren war auf der Insel an manchen Tagen spaßig, an anderen die Hölle. Je nachdem, aus welcher Richtung der Wind wehte. Deshalb besorgten sich die meisten Jugendlichen einen Roller, sobald sie alt genug dafür waren. Aber darauf musste Daniel noch etwas warten.
Allmählich verließen auch die anderen Gäste die Party. Viele waren erst am Morgen oder Mittag angereist und freuten sich vermutlich darauf, die Koffer auszupacken und sich in ihren Unterkünften gemütlich einzurichten.
Auch Matilda hatte genug für heute. Sie begann, an den bereits leeren Tischen die Gläser und Flaschen einzusammeln; eine eintönige Arbeit, ideal, um die Gedanken kreisen zu lassen.
Hatte sie etwas Falsches zu Lasse gesagt, oder warum hatte er gleich nach ihrem Gespräch das Weite gesucht? Sie war doch so freundlich zu ihm gewesen wie zu jedem anderen Gast auch, oder? Warum also der überstürzte Aufbruch?
Ach, was kümmerte sie das?! Sie sollte ihn sich aus dem Kopf schlagen. Er war nett, okay. Seine Augen würden sie vermutlich in der Nacht verfolgen, und es würde kein Albtraum werden. Trotzdem – mit einem wie Lasse durfte sie sich nicht einlassen.
Die Insel war Matildas Zuhause, ihre Welt. Sie kannte jeden Flecken, wachte mit dem Meeresrauschen im Ohr auf und schlief am Abend damit ein. Ein Flirt mit einem Inselmädchen war für einen wie Lasse aufregend, klar. Das toppte das Urlaubsfeeling. Aber das war definitiv nicht ihr Ding! Das kapierte dieser Lasse besser schnell. Sie musste ihm nur konsequent die kalte Schulter zeigen, dann erledigte sich das von allein.
Bye-bye, Lasse.
„Was ist los mit dir, Matilda?“ Eine steile Falte stand zwischen Nils Bossens Brauen.
Die Musik war inzwischen abgestellt, hinter den Dünen brandeten die Wellen an den Strand. Ein leichter Wind ließ die Gräser rascheln. Im Innenhof spendeten die Lampions Licht. Es roch nach verschüttetem Bier und Krabbenbrötchen.
Alle Gäste hatten sich verabschiedet. Jan war mit einer Traube von Mädels abgerauscht, um in einem der Clubs auf der Insel Party zu machen. Der würde erst wieder zum Frühstück auflaufen. Emmy wischte die Tische ab, nachdem Valerie ihr Eimer und Lappen in die Hand gedrückt hatte und mit Leidensmiene in ihrem Zimmer verschwunden war.
Tja, das Seepferd demonstrierte gern, dass es seiner Meinung nach mehr schuftete als alle anderen zusammen. Das war natürlich Unsinn. Auf dem Bossenhof und im Sunny Beach packten alle mit an. Aber Valerie sah das anders.
Wehte daher der Wind? Hatte Valerie sich wieder einmal über Matilda beschwert?
Matilda verschränkte die Arme und schob kämpferisch das Kinn vor. „Wenn du meinst, ich müsste freundlicher zu Valerie sein, spar dir den Atem“, fuhr sie ihren Vater an. „Das wird in diesem Leben nichts mehr.“
Nils grinste. Manchmal bemühte er sich um einen strengen Ton ihr gegenüber, aber lange hielt er das selten durch. Diesmal jedoch wurde er wieder ernst. „Es geht nicht um Valerie, sondern um die Gäste. Ich habe dich heute beobachtet und fand dich ziemlich launisch. Das macht keinen guten Eindruck, Matilda.“
Matilda zog die Mundwinkel herab. „Ich launisch, hallo? Ich finde, ich habe einen großartigen Job gemacht. Schau dir die Anmeldungen an, die ich eingesammelt habe.“
Ihr Vater machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, um die geht es erst recht nicht. Und ich finde es auch echt nicht toll, dass ihr die Partys für eure Werbetour nutzt. Ob ihr die Leute hier anquatscht oder ob sie am nächsten Tag selbst zur Surfschule schlendern, das macht doch keinen Unterschied.“
„Finde ich schon. Am Ankunftstag will keiner was verpassen. Wenn wir ihnen klarmachen, dass ein Kurs bei uns dringend zu einem gelungenen Urlaub gehört, dann haben wir sie sofort am Haken.“