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Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press,
Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition,
Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints
von
Alfred Bekker
© Roman by Author /
Die ausgedachten Personen
haben nichts mit tatsächlich lebenden Personen zu tun.
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Alles rund um Belletristik!
Der Fall aus der Ferne: Hamburg Krimi
von Alfred Bekker
Prolog
»Uwe, du brauchst ein Hobby«, sagte der Libanese zu mir.
»Wallah, ich sag dir, Uwe, du brauchst ein Hobby.«
»Geh mir weg mit einem Hobby«, gab ich zurück.
Wir befanden uns beide auf einem Jollenkreuzer und segelten
damit über die Außenalster. Ich kann segeln, seit ich zehn bin.
Damals noch in einem Optimisten. Aber mit einem Jollenkreuzer über
die Außenalster zu flitzen, das ist schon ein ganz eigenes
Vergnügen. Naja, wie das so ist: Irgendwann hat man einfach nicht
mehr genügend Zeit dafür. Denn eins ist Segeln ganz bestimmt: Ein
zeitaufwändiges Hobby.
Mein Name ist Uwe Jörgensen. Ich bin Kriminalhauptkommissar in
Hamburg und gehöre einer Spezialabteilung des BKA an, die sich vor
allem um das organisierte Verbrechen kümmert. Zusammen mit meinem
Kollegen Roy Müller bin ich in dieser Hinsicht seit Jahren aktiv.
Viel Freizeit bleibt da nicht. Das ist einfach so.
Ich befand mich an Bord eines Jollenkreuzers, der dem
Libanesen gehörte. Jeder nennt ihn einfach den Libanesen. Er ist
eine Kiezgröße und hat seine Finger in allen möglichen dubiosen
Geschäften. Aber ich habe ihm einmal das Leben gerettet, als ein
Killer der Russen-Mafia ihm den Garaus machen wollte. Ich konnte
ihn retten, indem ich dem Russenkiller einen Kopfschuss verpasste.
Das geschah in einem Strip-Club auf St. Pauli, der dem Libanesen
gehört. Seitdem ist er mir ziemlich dankbar. Wir treffen uns ab und
zu. Und er gibt mir hin und wieder ein paar Auskünfte, an die ich
nicht herankommen würde.
Ich bin nicht käuflich.
Und ich habe ihm offen gesagt, dass er sich nicht von mir bei
etwas erwischen lassen soll, das gegen das Gesetz verstößt. Dann
buchte ich ihn nämlich ein. Er weiß das und er richtet sich danach.
So kommen wir ganz gut miteinander aus.
Welcher Teufel mich letztlich geritten hatte, mich mit ihm auf
seinem Segelboot zu treffen, kann ich Ihnen auch nicht mehr sagen.
Ich weiß, wie das interpretiert werden kann.
Ist mir aber egal. Ich weiß weiß, was ich tue. Und vor allem
weiß ich auch, auf welcher Seite ich stehe.
Nämlich auf der des Gesetzes. Immer. Ohne Ausnahm. Da bin ich
echt konservativ. Ich bin einer, der an das Gute glaubt und daran,
dass die Schwachen jemanden brauchen, der das Gesetz für sie
durchsetzt.
Wie auch immer. Sonst hatte ich mich mit dem Libanesen
meistens in einem seiner Clubs getroffen. In der Oben Ohne Bar auf
der Reeperbahn zum Beispiel. Er hat auch noch eine Shisha-Bar, aber
dahin kriegt er mich nicht noch einmal. Da kann man ja kaum Luft
kriegen. Ich bin nämlich Nichtraucher, müssen Sie wissen und ich
kann es einfach auf den Tod nicht ausstehen, wenn irgendwas so vor
sich hin dampft. Ist egal, ob das Nikotin ist oder was anderes.
Dampf, Rauch, das sind alles nur marginale Unterschiede. Ich muss
davon kotzen und mag auch die Gerüche nicht.
»Walla, ich habe gesagt, du brauchst ein Hobby, Uwe«, sagte er
. »Jeder, der hart arbeitet, braucht ein Hobby, um sich etwas zu
entspannen. Und das brauchst du auch. Sonst brennst du eines Tages
aus.«
»Ich angle«, sagte ich.
»Wallah, das machst du nie!«
»Nein, das ist die Wahrheit.«
»Du angelst?«
»Ja.«
»Echt, jetzt?«
»Sicher.«
Er lachte, während er das Segel etwas anzog.
»Wo angelst du denn?«
»Im Hafen.«
»Und du würdest so einen Fisch, der da anbeißt, auch
tatsächlich essen?«
»Nun…«
»Wallah, bist du lebensmüde?«
»Es geht nicht darum, einen Fisch zu fangen.«
»Worum geht es dann?«
»Es geht darum, die Gedanken zu ordnen. Zur Ruhe zu kommen.
Klar zu sehen. Verstehst du, was ich meine«
»Aber..., das ist doch sinnlos?«
»Nein.«
»Ich würde wenigstens irgendwohin gehen, wo man auch was
fangen kann.«
»Ich sagte doch, dass es darum nicht geht.«
»Ist das überhaupt legal? Wallah, ist das legal, im Hafen zu
angeln?«
»Warum sollte das nicht legal sein. Ein Naturschutzgebiet ist
das ja nicht, so weit ich weiß.«
Der Libanese lachte. »Das mag ich an dir. Du bist witzig.«
»Ich mag es, den Schiffen zuzusehen. Das wirkt beruhigend auf
mich.«
»Ich dachte, Segeln könnte was für dich sein.«
»Es war was für mich. Früher. Aber ich hätte überhaupt keine
Zeit, mich um ein Boot zu kümmern. Und das muss man.-«
»Ja, ist wahr«, gab der Libanese zu.
»Sag mal, du wolltest doch nicht einfach nur segeln!«
»Wieso nicht?«, fragte der Libanese. Aber ich hatte das
Gefühl, das mehr dahintersteckte. Normalerweise war das so. Jemand
wie der Libanese verfolgte mit allem, was er tat, eine Absicht. Und
wenn er mich irgendwo treffen wollte, dann, damit ich etwas von ihm
erfuhr, von dem er wollte, dass ich es erfuhr. So war das zumindest
normalerweise.
»Komm schon, das kannst du mir nicht erzählen.«
»Du liest Gedanken, Uwe. Wallah, du kannst Gedanken
lesen.«
»Also, raus damit. Was gibt’s?«
»Wallah, ich wollte wirklich zuerstmal segeln.«
»Lassen wir das.«
»Keiner meiner Freunde hat Lust dazu. Ich schwör, ist
wahr!«
»Du bist arm dran!«
»Ich dachte, du bist der Richtige.«
»Und du hast gedacht: Der Jörgensen kann ein Hobby
brauchen.«
»So ist es. Hat auch noch einen Vorteil.«
»Wie meinst du das«
»Wallah, ist doch klar.«
»Für mich nicht so.«
»Also hier draußen auf dem Boot hört niemand mit. Sonst weißt
du nie, wer dich abhört.«
»Ich könnte verwanzt sein.«
»Nein, könntest du nicht.«
»Bist du sicher?«
»Du würdest am nächsten Tag Besuch bekommen und wir würden uns
nicht wiedersehen. Wäre doch bedauerlich, oder?«
»Ah, ja, ich verstehe….«
»Wallah, ich habe dich wirklich ursprünglich ohne
Hintergedanken hier her eingeladen.«
»Ursprünglich…«
»Aber dann habe ich etwas erfahren, was du auch wissen
solltest.«
»Was?«
»Weißt du, wer der Albaner ist?«
»Ich nehme an, jemand aus Albanien.«
»Wallah, bist du schwer von Begriff? Keine Ahnung, woher der
Typ kommt. Man nennt ihn den Albaner. Er trägt auch Namen, aber
keiner ist echt.«
»Was ist mit dem Albaner?«
»Wallah, das ist einer, den man anruft, wenn man mit jemandem
Ärger hat. Einer, der jemanden aus dem Weg räumt.«
»Ein Lohnkiller.«
»Hässliches Wort.«
»Aber zutreffend.«
»Wer hat den Albaner diesmal angerufen?«
»Das ist nicht der Punkt, Uwe.«
»Ach, nein?«
»Der Punkt ist, dass der Albaner deinetwegen angerufen wurde.
Du bist es, der jemanden stört. Wallah, da kommen sicher eine Menge
Leute in Frage, die jetzt viele Jahre in Santa Fu sitzen und
denken: Wer hat mir das eingebrockt? Ich könnte mit einem Maybach
durch die Gegend fahren und mein Geld zählen und stattdessen sitze
ich jetzt hier. Und einer von denen wird sich gedacht haben: Heute
rufe ich mal nicht meinen Anwalt an, sondern den Albaner. So
einfach ist das.«
»Verstehe«, murmelte ich.
»Das ist eine freundschaftliche Warnung, Uwe! Ich meine es gut
mit dir.«
»Vielen Dank.«
»Du hast mir das Leben gerettet. ich bin dir was
schuldig.«
»Von wem weißt du das mit dem Albaner?«
»Ich weiß es von jemandem, von dem ich weiß, dass es stimmen
muss. Mehr kann ich dir nicht sagen.«
»Hm.«
»Wallah - ich bin sonst der nächste, wegen dem der Albaner
angerufen wird? Ich kann dir das nicht sagen.«
»Also mit anderen Worten: Der Albaner wird jetzt irgendwann
irgendwo auf mich warten, um mich zu töten.«
»Wallah, besser nie ohne Kevlar-Weste aus dem Haus gehen. Nur
ein guter Rat von mir.«
Es geht nichts über gute Freunde, dachte ich.
*
»Wir wissen nicht, wer der Albaner ist«, sagte
Kriminaldirektor Bock, mein direkter Vorgesetzter zu mir.
»Das klingt nicht gut, Herr Bock«, bekannte ich.
»Ich fürchte, der Libanese hat recht: Sie sollten auf sich
aufpassen…«
»...und nicht ohne Kevlar-Weste aus dem Haus gehen.«
»Hat er das zu Ihnen gesagt?«
»Exakt das.«
»Ich kann leider nur sagen, dass ich in diesem Punkt mit ihm
übereinstimme. Natürlich werden wir alles in unserer Macht stehende
tun, um herauszufinden, wer der Albaner ist und wer ihn beauftragt
hat. Aber Sie wissen ja selbst, wie das ist…«
»Natürlich…«
»Wenn Sie beurlaubt werden wollen…«
»Nein!«
»Wir könnten Sie eine Weile aus dem Verkehr ziehen und damit
aus der Schusslinie nehmen.«
»Damit der Albaner dann geduldig abwartet und irgendwann in
aller Ruhe auf mich anlegt, wenn ich wieder da bin?«
»Naja…«
»Nein, Herr Bock, so kann man diese Sache leider nicht
regeln.«
»Ich wollte es Ihnen nur angeboten haben.«
»Natürlich.«
»Das BKA unterhält außerdem einige Wohnungen für konspirative
Zwecke, die unter anderem dazu benutzt werden, um gefährdete
Zeigen zu schützen…«
»Ich weiß«, sagte ich. »Ich möchte aber ganz normalen Dienst
machen.«
»Und Sie denken, das geht?«
»Ja.«
Herr Bock atmete tief durch. »Ich hoffe, Sie haben Recht! Es
gibt einen neuen Fall!« Herr Bock schaute auf die Uhr. »Ihr Kollege
Müller müsste eigentlich gleich hier eintreffen. Dann können wir
alles besprechen.«
*
»Hättest du gedacht, dass wir von Hamburg aus mal ganz
offiziell einen Mord aufklären müssen, der sich in Zürich ereignet
hat?«, meinte Roy, als wir an der Fischbrötchen-Bude in der Nähe
unseres Präsidiums standen und das machten, wozu wir oft genug viel
zu wenig Zeit fanden: Ein Krabbenbrötchen essen. »Ich meine, wir
sind hier in Hamburg und wir klären einen Mord auf, dessen Tatort
sich in einem anderen Land befindet!«
»Ja«, sagte ich.
»Wie weit ist es von hier nach Zürich?«
»Keine Ahnung.«
»Ungefähr 850 Kilometer«, mischte sich der Fischbrötchen-Mann
ein. »Ich will mich ja nicht ungefragt einmischen, aber Sie reden
so laut, dass ich zuhöre musste.«
»Schon klar«, sagte ich.
»Also wenn man gerade durch fährt«, sagte der
Fischbrötchen-Mann. »Sage ich zumindest. So Pi mal Daumen.«
»Könnte hinkommen«, meinte mein Kollege Roy Müller. »So Pi mal
sonstwas.«
»Ja und was haben Sie beide jetzt mit dieser Sache in Zürich
zu tun, wo Sie doch Kommissare hier in Hamburg sind?«, fragte der
Fischbrötchen-Mann, denn die Sache schien ihm keine Ruhe zu
lassen.
Ich sah ihn an.
»Neugierig, was?«
»Ich?«
»Wer sonst?«
»Ja, was soll ich da sagen? Sie nicht?«
»Doch. Berufsbedingt.«
»Na eben! Dann verstehen Sie mir doch wohl!«
»Nur darf ich darüber leider nicht mehr sagen«, sagte
ich.
»Wie?«
»Dienstgeheimnis!«
»Also nachdem Sie schon die eine Hälfte vom sogenannten
Dienstgeheimnis hinausgeplärrt haben, dass ich mir schon gar nicht
mehr auf mein Saucen-Rezept konzentrieren konnte, können Sie auch
noch die andere Hälfte erzählen«, meinte der Fischbrötchen-Mann.
»Finde ich jedenfalls.«
»Wir hatten ja keine Ahnung, dass Sie so gute Ohren haben«,
sagte Roy.
»Gute Ohren und gute Krabben«, sagte ich.
Aber das war alles später.
Vorher geschah auch noch was.
Ich werde Ihnen erzählen, wie es dazu kam, dass sich zwei
Kriminalkommissare aus Hamburg mit einem Mord in Zürich
beschäftigen mussten.
»Irgendwie habe ich jetzt das Gefühl, dass Sie mir nichts mehr
erzählen werden, Herr Jörgensen« sagte der Fischbrötchen-Mann
seufzend und sichtlich enttäuscht, nachdem Roy Müller und ich nun
schon ein paar Augenblicke konsequent geschwiegen hatten.
»Hm«, sagte ich.
»Seien jetzt nicht so gehemmt, nur weil Sie denken, dass ich
alles mithöre!«, meinte der Fischbrötchen-Mann. »Sonst schnacken
Sie doch auch völlig ungeniert!«
*
Ein paar Tage zuvor…
Heribert Nördlinger zog sich die Krawatte zurecht und blickte
auf die Uhr. Es würde kein Problem sein, pünktlich am Flughafen
Hamburg zu sein. Er ging auf Socken zum Computer und begann, ihn
hochzufahren.
»Das darf doch wohl nicht wahr sein! Ich dachte, wir müssen
gleich los!«, meldete sich eine weibliche Stimme in seinem Rücken.
Sie gehörte Jarmila Mohnheim, seiner Lebensgefährtin. Zusammen
bewohnten sie ein Loft im Hamburger Stadtteil Hafen City.
Nördlinger sah sie kurz an. Sie war bereits vollkommen fertig und
trug ein eng anliegendes Kleid, das in einem schrillen Farbgemisch
gehalten war. »Meinst du der Flieger nach Zürich wartet auf uns,
Heribert?«
»Wir kommen schon pünktlich. Ich möchte nur kurz sehen, wie
das Wetter in Zürich so ist.«
Nördlinger hatte eine Seite mit Webcams angewählt, die in
verschiedenen Städten in aller Welt installiert waren. In Zürich
gab es gleich drei. Eine zeigte den Platz vor dem Stephansdom, eine
das Rathaus und die dritte war in der Nähe des Donauufers
angebracht. Nördlinger wählte letztere aus. Per Mausklick konnte
man den Bildausschnitt schwenken.
Nördlingers Gesichtszüge gefroren plötzlich.
»Das gibt's doch nicht«, murmelte er.
»Was hast du denn da für perverses Zeug angeklickt!«, stieß
Jarmila Mohnheim hervor und trat näher. »Da wird ja jemand
umgebracht!«
1
Heribert Nördlinger zoomte einen bestimmten Bildausschnitt
heran. Zwei Männer waren zu sehen. Der eine Ende dreißig und
dunkelhaarig. Er trug einen Anzug. Der zweite war größer und
kräftiger. Er hatte rotes Haar und trug Jeans und Lederjacke.
Nördlinger hatte gesehen, wie die beiden sich auffällig heftig
gestikulierend gegenübergestanden hatten. Der Rothaarige hatte den
Anzugträger an der Schulter gefasst. Dieser schüttelte die Hand von
sich und wandte sich zum Gehen.
Mit einer blitzschnellen Bewegung nahm der Rothaarige dann
etwas aus seiner Jackentasche. Nördlinger hatte erst nicht sehen
können, was es war. So fein war dann die Auflösung der Webcam wohl
doch nicht.
Aber im nächsten Moment wurde klar, dass es sich um eine Art
Schlinge handeln musste.
Mit einer raschen, geübten Bewegung schlang sie der Rothaarige
um den Hals seines Opfers, das verzweifelt ersuchte, sich zu
wehren. Es dauerte nur einen Augenblick, dann sank der Anzugträger
zu Boden und blieb regungslos liegen. Der Rothaarige beugte sich
über ihn und schien sich zu vergewissern, dass das Opfer auch
wirklich tot war.
Dann begann er, die Taschen des regungslos daliegenden Mannes
zu durchwühlen. Er holte ein Klappmesser hervor und fing damit an,
die Etiketten aus der Kleidung heraus zu trennen.
Er ging dabei sehr ruhig vor.
»Meine Güte, wie ist das möglich? Das ist mitten in einer
großen Stadt!«, stieß Jarmila hervor, die noch immer kaum fassen
konnte, was sie da zu sehen bekam.
»Das ist eine ziemlich einsame Stelle am Ufer der
Limmat.«
»Limmat?«
»Das ist ein Abfluss des Zürichsees, der mitten durch die
Stadt fließt«, sagte Nördlinger. »So etwa gibt es in Hamburg auch.
Auf der einen Seite sind ein paar Lagerhallen, wo anscheinend nicht
mehr gearbeitet wird und von der anderen Seite schützen den Mörder
die Pfeiler einer Brücke.«
»Wieso bringt denn dort jemand eine Webcam an, Heribert?«
»Weil man eine prima Aussicht auf die Stadt Zürich hat, wenn
man die Kamera virtuell etwas schwenkt – und außerdem natürlich auf
den See und die Ausflugsschiffe, deren Kais ein Stück weiter
liegen.«
Quälend lange Augenblicke des Schweigens vergingen.
Der Mörder schleifte indessen sein Opfer zum Ufer und warf den
reglosen Körper in den Fluss Limmat. Dann blickte sich der
Rothaarige nach allein Seiten um.
»Heribert, wir müssen etwas tun!«
»Und was, wenn ich fragen darf? Was wir sehen geschieht
tausend Kilometer von uns entfernt in einem anderen Land...«
»Lass uns die Polizei anrufen.«
»Welche Polizei? Die in Zürich? Bis die am Ort des Geschehens
sind, ist der Kerl längst auf und davon. Und wenn ich 110 hier in
Hamburg wähle...« Nördlinger machte eine wegwerfende Handbewegung.
»Denen traue ich nicht mehr viel zu!«
Der Mörder war unterdessen aus dem Bildausschnitt
herausgegangen.
Nördlinger versuchte durch einen virtuellen Kameraschwenk
seinem Weg zu folgen, was aber unmöglich war. Für einen kurzen
Moment war der Mörder noch einmal im Erfassungsbereich der Webcam
zu sehen. Er hatte ein Handy am Ohr und gestikulierte fast genauso
heftig wie in seinem Gespräch mit dem Ermordeten.
Dann war er verschwunden.
Nördlinger ließ sich in den Drehsessel fallen, der vor dem
Computer stand.
»Jedenfalls weißt du jetzt, wie das Wetter in Zürich ist«,
sagte Jarmila.
2
Heribert Nördlinger ging auf und ab. Die für Hamburg enorm
große zweihundert Quadratmeter Wohnung, die Nördlinger in einem
Altbau bewohnte, bot genug Platz dafür. Nördlinger brauchte diesen
Platz.
Er war Galerist und Kunst bedeutete ihm in mehrfacher Hinsicht
alles. Beruflich und privat. Beruflich war er Galerist und privat
mit einer Künstlerin liiert. Vor einem Jahr war Jarmila Mohnheim
bei ihm eingezogen.
Die hohen Wände waren seitdem mit ihren großformatigen Bildern
vollgehängt, die ein fröhliches Durcheinander von Formen und Farben
darboten.
Nur war sie damit bislang nicht besonders erfolgreich gewesen
- und das, obwohl sie nun einen der erfolgreichsten Galeristen der
Hamburger Kunstszene in mehrfacher Hinsicht an ihrer Seite hatte.
Sie hatte ihren Vornamen geändert und nannte sich nun Jarmila
anstatt einfach und schlicht Jana Mohnheim. Und außerdem benutzte
sie seit einiger Zeit vorwiegend Tierblut anstatt Ölfarbe und
anstatt eines Pinsels ihren eigenen Körper, mit dem sie sich auf
der Leinwand wälzte.
Das alles hatte ihr allerdings nur in den Boulevard-Medien
einige Aufmerksamkeit eingebracht. Ihrer Wertschätzung in der
Kunstszene waren diese Aktionen eher abträglich gewesen und der
Wert ihrer Bilder hatte sich nicht gesteigert. Die meisten erwiesen
sich schon auf Grund ihrer außerordentlich großen Formate als
unverkäuflich und so hingen sie nun im Dutzend in Nördlingers
Wohnung. Wenigstens waren hier die Räume hoch genug, um Gemälde,
die derartig aus dem Rahmen fielen, aufzuhängen.
In Zürich standen ihnen nun wichtige Gespräche mit Galeristen
aus Europa bevor und außerdem hatten sie einen Termin mit einem
Event-Manager aus Basel, der Jarmilas Karriere etwas auf die
Sprünge helfen sollte.
Dass sie wirklich die künstlerische Potenz hatte, um ganz groß
herauszukommen, daran glaubte nicht einmal Nördlinger.
Er musste es schließlich wissen.
Er hatte zahllose Künstler aufsteigen und fallen sehen. Von
den meisten sprach schon nach wenigen Jahren niemand mehr. Eine
kleiner Hype, damit hatte es sich für das Gros. Über längere Zeit
oben zu bleiben, das schafften nur die wenigsten. Und eigentlich
gab es keine Indizien dafür, dass ausgerechnet Jarmila dazugehören
sollte.
Bei einem anderem Künstler hätte Nördlinger vielleicht
argumentiert, dass sich der ganze Aufwand nicht lohnte.
Aber bei Jarmila galten andere Regeln. Sie war einfach
besserer Laune, wenn sie zumindest die Illusion hatte, dass es
aufwärts ging. Also machte Nördlinger auch diese Aktion mit.
Und davon abgesehen, war Zürich ohnehin immer eine Reise wert.
Aber jetzt hatte sich alles geändert.
Heribert Nördlinger griff zum Telefon.
»Wen rufst du an?«, fragte Jarmila.
»Das Büro.«
»Jetzt? Wieso das denn?«
»Wir werden unseren Flug etwas verschieben müssen.«
»Was?«
»Ja, du hast richtig gehört.«
*
Der Albaner ging zu dem Fischbrötchen-Mann an die Bude.
»Matjesbrötchen? Der Matjes ist frisch!«
»Nein, danke«, sagte der Albaner.
»Oder vielleicht ein Krabbenbrötchen.«
»Aber mit wenig Remoulade.«
»Wie Sie wollen!«
»Sagen Sie, kennen Sie zufällig einen Herrn Jörgensen?«
»Den Kommissar?«
»Ja.«
»Der kommt ab und zu hierher. Was wollen Sie denn von
ihm?«
»Wir sind gute Bekannte…«
»Soll ich ihn von Ihnen grüßen?«
»Nein, das ist nicht nötig.«
Der Albaner nahm einen Bissen von dem Krabbenbrötchen. Dann
warf er es in den Müll. »Ist mir zu fett«, sagte er.
Der Fischbrötchen-Mann war sprachlos.
Noch sprachloser war er, als er den Schein sah, den sein
Gegenüber ihm auf den Tresen legte.
3
Ich trug unter der Lederjacke eine schusssichere Weste.
Man macht schon einiges mit, nur damit man nichts abkriegt.
Angenehm ist das nicht, kann ich Ihnen sagen!
Und eine Zulage gibt es auch nicht dafür.
Über Headset war ich mit den anderen BKA-Kollegen
funktechnisch verbunden, die an diesem Einsatz beteiligt waren. Da
ich den Reißverschluss meiner Lederjacke geschlossen hatte, um die
Kevlar-Weste zu verbergen, steckte meine Dienstwaffe in der
Seitentasche und nicht im Holster. Meine Hand hatte sich um den
Griff der Pistole gelegt, sodass ich sie jederzeit herausreißen
konnte.
Zusammen mit meinem Kollegen Roy Müller ging ich die Straße
entlang, vorbei an einem Club, der sich »Bordsteinschwalbennest«
nannte.
Aber so verrucht, wie der Name vermuten ließ war das
»Bordsteinschwalbennest« nicht. Es war ein Nachtclub der
Luxusklasse, in dem viel Geld umgesetzt und wenig Gewinn gemacht
wurde. Aber das war nach unseren Ermittlungen auch gar nicht das,
was der Besitzer im Sinn hatte.
Das »Bordsteinschwalbennest« diente unseren Ermittlungen nach
der Geldwäsche. Dreckige Drogengelder sollten weiß gewaschen
werden. Der Besitzer hieß Dima Modesta und war keineswegs ein
unbeschriebenes Blatt.
Er galt als treuer Gefolgsmann der Russen-Mafia-Größe Vladi
Gruschenko und hatte sich in dessen Organisation vom Türsteher und
Schläger aufwärts hochgedient und war offenbar auf seine alten Tage
mit dem nicht gerade anstrengenden Job belohnt worden, einen Club
zu führen, der keine Gewinne, sondern nur Umsatz zu machen
brauchte.
Immer dasselbe Spiel.
Formal war Modesta der Besitzer – aber unser Kollegen hatten
ermitteln können, auf welchen verschlungenen Finanzpfaden Vladi
Gruschenko seinen Strohmann mit dem nötigen Kapital ausgestattet
hatte. Das alles lief über mehrere Scheinfirmen in Liechtenstein,
der Schweiz und auf den Cayman Islands.
Wir hatten genug gegen ihn gesammelt, um ihn festnehmen zu
können. Damit brach dann auch für Modestas Boss Vladi Gruschenko
ein wichtiges Stück aus dem Imperium heraus, das diese graue
Eminenz des organisierten Verbrechens aufgebaut hatte.
Roy und ich hatten den Eingang zum »Bordsteinschwalbennest«
passiert. Ich machte an einem Zeitschriftenladen Halt und sah mir
die Magazine im Drehständer an, den ich mit der Linken leicht
bewegte. Roy ging noch ein Stück weiter und blieb dann zwischen
zwei parkenden Fahrzeugen stehen. Er tat so, als wollte er über die
Straße gehen. Da die Straße stark befahren war, konnte er dort eine
ganze Weile bleiben, ohne dass es auffällig war und gleichzeitig
den Eingang des »Bordsteinschwalbennest« beobachten.
Es war später Vormittag. Da war der Nachtclub natürlich noch
nicht geöffnet. Es gab lediglich hin und wieder Lieferverkehr.
Wir wussten, dass Dima Modesta hier auftauchen würde. Er sah
dann nach dem Rechten und traf sich auch mit Geschäftspartnern.
Maximal eine halbe Stunde dauerten diese Aufenthalte.
Dima Modesta war ein sehr misstrauischer Mann.
Offenbar hatte er sich vorgenommen, nie wieder so einfach in
seiner Privatwohnung verhaftet zu werden, wie es im Zusammenhang
mit seiner letzten Verurteilung wegen schwerer Körperverletzung und
Nötigung der Fall gewesen war. Er besaß zwar ein Luxus-Apartment,
das auch von unseren Kollegen überwacht wurde – aber dort hielt er
sich so gut wie nie auf.
Statt dessen übernachtete er abwechselnd in mehreren, über den
gesamten Großraum Hamburg verteilten Wohnungen. Wohnungen, die
formal so genannten »Freundinnen« gehörten. In Wahrheit handelte es
sich dabei um Prostituierte, die für ihn anschafften. Leider
kannten wir die meisten Schlupflöcher nicht und so mussten wir ihn
vor dem »Bordsteinschwalbennest« abpassen.
Unser Kollege Kronburg meldete sich über Funk.
»Modestas kanariengelber Ferrari ist im Anmarsch«, sagte er.
»Er müsste gleich um die Ecke kommen.«
»Verstanden«, murmelte ich in das Mikro am Kragen hinein.
Es dauerte nur wenige Augenblicke, da bog der unübersehbare
kanariengelbe Ferrari von Dima Modesta um die Ecke. Schnelle Autos
waren eine Schwäche von Modesta.
Er parkte den Wagen am Straßenrand. Seine Leute sorgten –
manchmal auch mit ziemlich rabiaten Methoden – dafür, dass vor dem
»Bordsteinschwalbennest« immer ein Parkplatz frei war, wenn Modesta
ihn brauchte.
Selbst Lieferfahrzeuge mussten dann notfalls weichen.
Inzwischen war allerdings wohl bereits jedem Lieferanten des
»Bordsteinschwalbennest« eingeimpft worden, wo die »Verbotene Zone«
war.
Dima Modesta saß nicht allein im Ferrari.
Neben ihm auf dem Beifahrersitz befand sich eine
wasserstoffblonde Schönheit mit aufgespritzten Lippen. Die beiden
schienen einen ziemlich heftigen Wortwechsel zu haben, von dem wir
allerdings kein Wort verstehen konnten.
Dann stiegen beide aus.
Das war der Moment für unseren Zugriff.
Von der einen Seite näherten sich Roy und ich, von der anderen
unsere Kollegen Fred Düpree und Lukas Marxheimer.
Modesta kannte keinen von uns persönlich. Trotzdem schien er
einen sechsten Sinn für solche Situationen entwickelt zu haben. Er
blickte in Freds Richtung, ließ die Blondine in seinem Schlepptau
los und machte einen schnellen Schritt in Richtung des
»Bordsteinschwalbennest«-Eingangs.
»Bleiben Sie stehen! Kriminalpolizei!«, rief Roy Müller.
Wir rissen unsere Waffen heraus.
Dima Modesta ebenfalls. Er zog eine Automatik unter der Jacke
hervor und feuerte wild um sich. Unser Kollege Lukas Marxheimer
sank getroffen zu Boden.
Wir feuerten ebenfalls. Eine Kugel traf Modesta in die Brust,
riss seinen Blouson auf und offenbarte das graue Kevlar, dass er
darunter trug. Er taumelte durch die Wucht des Treffers gegen die
Wand. Er ballerte aber weiterhin um sich. Seine Schüsse waren
vollkommen ungezielt.
Stolpernd rettete er sich dann durch die Tür des
»Bordsteinschwalbennest«.
Fred Düpree kümmerte sich um unseren niedergeschossenen
Kollegen Lukas Marxheimer und verständigte bereits den
Rettungsdienst. Die Kugel hatte ihn am Hals erwischt, wo ihn auch
die Kevlar-Weste nicht schützte. Eine Blutlache breitete sich auf
dem Pflaster des Bürgersteigs aus.
Roy und ich setzten nach, um Modesta gefangen zu nehmen.
Die Blondine mit den aufgespritzten Lippen stand wie
angewurzelt da.
Dann dröhnte das Geräusch einer gewaltigen Explosion uns in
den Ohren.
Die Fenster des »Bordsteinschwalbennest« barsten nach außen.
Glassplitter flogen wie Geschosse durch die Luft. Wir warfen uns zu
Boden und ich riss die Blondine mit mir auf das Pflaster. Ihr
Aufschrei ging im Detonationslärm unter. Eine Welle aus Druck und
Hitze brandete über uns hinweg und ließ auch noch die Scheiben des
Ferrari und einiger anderer parkender Fahrzeuge zerplatzen.
4
Heribert Nördlinger betrat das Dienstzimmer von Max Herter,
einem Innendienstler aus der Fahndungsabteilung.
»Bitte setzen Sie sich, Herr Nördlinger«, sagte Herter und
deutete auf den freien Sessel.
»Danke.«
»Die Kollegin, die Sie an mich verwiesen hat, sagte, Sie
hätten im Internet einen Mord beobachtet.«
Nördlinger nicke. »Richtig. Allerdings nicht hier, sondern in
der Schweiz, genauer gesagt in Zürich.« Er lächelte.
»Dann erzählen Sie mal!«
Nördlinger holte einen sorgfältig gefalteten Computerausdruck
aus der Innentasche seines Jacketts und legte das Blatt auf den
Tisch, nachdem er es ausgebreitet und mit der Hand glatt gestrichen
hatte.
»Ich hatte leider kein Fotopapier mehr, sonst wäre der
Ausdruck noch besser geworden. Aber ich habe die Daten auf eine CD
gebrannt, die ich Ihnen überlassen kann.«
»Da wäre sehr nett.«
Er griff in die andere Innentasche, holte den Datenträger
hervor und legte ihn neben das Blatt.
Herter nahm sich zunächst den Ausdruck.
»Das ist ein Screenshot.«
»Scheint, als hätten Sie genau im richtigen Augenblick auf den
Knopf gedrückt«, sagte Max Herter.
»Das Gesicht des Täters ist gut zu sehen«, bestätigte
Nördlinger. »Und was er tut auch.«
»Die ganze Videosequenz haben Sie nicht zufällig
gespeichert?«
»Nein, nur den Screenshot. Das ganze stammt von einer
Wettercam, die man virtuell schwenken kann. Es ist reiner Zufall,
dass ich gerade den passenden Ausschnitt erwischt habe.«
»Und wo ist das Ganze passiert?«
»Am Limmatufer. Die genaue Position der Webcam können Sie auf
der Homepage ersehen, über die man an die Wettercams herankommt.
Die Netzadresse steht auf der Rückseite des Ausdrucks.«
»Wie lange ist das her?«
»Eine Stunde.« Er zuckte mit den Achseln. »Tut mir leid, aber
ich musste erst ein paar Dinge regeln. Eigentlich waren meine
Lebensgefährtin und ich auf dem Sprung nach Zürich. Deswegen wolle
ich ja auch wissen, wie dort das Wetter ist.«
»Verstehe«, nickte Max.
»Nein, Sie verstehen gar nichts. Ich musste unseren Flug
umbuchen und ein paar ziemlich wichtigen Leuten sagen, dass ich
erst morgen früh in Zürich sein werde.« Nördlinger hatte jetzt
einen hochroten Kopf. Er lehnte sich zurück und strich sein Haar
nach hinten. »Aber ich wollte nicht einfach los fliegen, ohne dass
hier gemeldet zu haben.«
»Sie sind ein vorbildlicher Staatsbürger, Herr
Nördlinger.«
»Danke. Nur wird sich der Staat dafür kaum bedanken und mir
höchstens noch mehr von meinem sauer verdienten Geld durch seine
Steuern abknöpfen.«
»Trotzdem, Sie waren sehr aufmerksam. Und wir würden uns
manchmal wünschen, dass mehr Menschen so reagierten. Wo ist
eigentlich Ihre Lebensgefährtin?«
»Die ist mit den Nerven ziemlich am Ende und wollte nicht
mitkommen.«
»Es wäre gut, wenn sie noch vor Ihrem Flug nach Zürich hier
vorbei schauen und auch noch eine Aussage machen könnte. Manchmal
gibt es ja Details, die der eine übersieht, aber an die sich der
andere noch gut erinnert.«
»In Ordnung.«
»Und nun schildern Sie mir bitte die gesamte Szene, die Sie
gesehen haben. Möglichst von Anfang bis zum Schluss. Jedes Detail
kann eventuell wichtig sein.«
»In Ordnung.«
»Sind Sie damit einverstanden, dass ich eine Audioaufzeichnung
Ihrer Aussage anfertige? Wir vermeiden dadurch womöglich unnötige
Rückfragen an Sie...«
»Meinetwegen.«
»Und ich nehme an, dass Sie auch nichts dagegen haben, wenn
wir diese Aufzeichnung möglicherweise an die Schweizer Behörden
weiterleiten?«
»Nein. Ich hoffe nur, dass sich der ganze Aufwand lohnt und
dieser Killer hinter Schloss und Riegel kommt!«
Nördlinger schilderte wie der Mann im Anzug mit einer Schlinge
erwürgt und anschließend in den Fluss geworfen wurde. »Dieser
Rothaarige hat die Taschen durchsucht und die Etiketten in der
Kleidung entfernt. Deutet das nicht auf einen Profi hin?«
»Ja, das ist gut möglich«, gab Max Herter zu. »Aber für solche
Spekulationen ist es im gegenwärtigen Stadium der Ermittlungen wohl
noch zu früh.«
Nördlinger beugte sich etwas nach vorn und hob die
Augenbrauen. »Was geschieht jetzt?«
»Wir werden die Schweizer Behörden informieren und Ihnen alle
Daten zur Verfügung stellen. Viel mehr wird man von hier aus nicht
machen können. Ach ja, außerdem werden die Bilddaten Ihres
Screenshots abgespeichert und mit unserem Datenverbundsystem
verglichen. Erstens, um herauszufinden, ob der Täter vielleicht
schon mal straffällig geworden ist...«
»...was ja wohl ein ziemlich unwahrscheinlicher Zufall wäre!«,
meinte Nördlinger.
»Sagen Sie das nicht. Die Globalisierung gilt auch für das
organisierte Verbrechen. Leider, denn die polizeilichen Befugnisse
enden immer noch an Ländergrenzen und so ist uns die andere Seite
stets ein Stück voraus. Außerdem könnte es ja auch sein, dass der
Täter später mal in der EU herumreisen möchte oder hier durch eine
Straftat auffällt, die dazu führt, dass er erkennungsdienstlich
behandelt wird.«
Nördlinger telefonierte wenig später mit seiner
Lebensgefährtin, die wenig Lust zu haben schien, vor dem BKA eine
Aussage zu machen. Aber Nördlinger konnte sie schließlich
überzeugen. »Sie ist gleich hier«, meinte er.
»In der Zwischenzeit werde ich mal die Website anwählen, deren
Adresse Sie mir gegeben haben...«
Max Herters Finger glitten über die Tastatur seines Rechners.
Es dauerte nicht lange und er hatte die Wettercam gefunden, auf der
Nördlinger den Mord gesehen hatte. Herter bedeutete dem Galeristen,
auf die andere Seite des Schreibtischs zu kommen.
»Da sind Sie richtig«, bestätigte er.
»Stellen Sie mir doch bitte den Bildausschnitt so ein, wie bei
ihrem Screenshot gewesen ist, Herr Nördlinger.«
»Kein Problem!«, versprach Nördlinger.
5
Schon wenige Minuten nach der Explosion verstopften Dutzende
von Einsatzfahrzeugen die Straße und die Kollegen der Schutzpolizei
waren damit beschäftigt, den Verkehr umzuleiten. Fahrzeuge der
Feuerwehr waren ebenso eingetroffen wie Rettungswagen.
Für unseren Kollegen Lukas Marxheimer kam leider jede Hilfe zu
spät.
Er war tot.
Lukas Marxheimer war frisch von der Polizeihochschule gekommen
und erst seit gut vier Wochen in unserem Präsidium im Einsatz.
Ins Innere des »Bordsteinschwalbennest« durften bislang weder
wir noch die inzwischen angerückten Kollegen der Ermittlungsgruppe
Erkennungsdienst des BKA, kurz EED. So nannte sich der zentrale
und für alle Hamburger Polizeieinheiten zuständigen
Erkennungsdienst.
Aber zunächst mal hatten die Männer der Feuerwehr Vorrang. Es
konnte auch nicht ausgeschlossen werden, dass sich giftige Dämpfe
gebildet hatten und so lange wir kein grünes Licht der Feuerwehr
bekamen, würde keiner unserer Kollegen einen Fuß in das Gebäude
setzen.
Dass es in den Räumlichkeiten des »Bordsteinschwalbennest«
wohl keinerlei Überlebende gab, hatte man uns bereits über Funk
durchgegeben. Inzwischen war man dabei, die Bewohner der oberen
Stockwerke zu evakuieren.
Ich wandte mich an die Blondine, mit der Dima Modesta
vorgefahren war. Sie lehnte gegen die Motorhaube des Ferrari, der
so von Einsatzfahrzeugen eingekeilt war, dass man ihn ohnehin nicht
hätte wegfahren können.
»Uwe Jörgensen, Kriminalpolizei«, stellte ich mich vor. »Die
ist mein Kollege Roy Müller.«
Sie sah mich vorwurfsvoll an und kaute nervös auf irgendetwas
herum.
»Was ist mit Dima?«, fragte sie.
»Sie sollten sich keine Hoffnungen machen. Im Inneren des
Clubs lebt niemand mehr.«
»Ich will dort hinein!«
»Das können Sie nicht! Es besteht Vergiftungs- und
Einsturzgefahr!«
Sie schluckte. Ihr Make-up war schon ziemlich verlaufen.
»Sie sind Jennifer Petersen, nicht wahr?« Es war keine Frage,
sondern eine Feststellung. Sie blickte mich überrascht an. Ihre
Augen wurde schmal und hatten jetzt etwas katzenartiges an
sich.
»Sie...«
»Wir haben Dima Modesta schon seit längerem im Visier und
dabei sind wir auch auf Sie gestoßen.«
»Jetzt werden Sie mir wahrscheinlich wieder diverse
Gerichtsurteile vorhalten...«
»Zwangsprostitution, Scheckbetrug, Drogen...«, mischte sich
Roy ein.
»Na großartig! Es wäre ja auch zu schön gewesen, mit Bullen
zusammenzutreffen, die einem keinen Ärger machen.« Sie deutete in
Richtung des »Bordsteinschwalbennest« und setzte hinzu: »Wer für
dieses Verbrechen verantwortlich ist, interessiert Sie
wahrscheinlich auch einen Dreck! Vermutlich denken Sie: Klasse, es
trifft ja den Richtigen! Aber wenn Sie geglaubt haben, über Dima
Bescheid zu wissen, dann kann ich Ihnen nur sagen: Sie wissen gar
nichts! Er war ein großartiger Mann und hat es ganz bestimmt nicht
verdient, von einer Sprengladung zerrissen zu werden.«
»Da bin ich ganz Ihrer Meinung«, versicherte ich. »Und auch
wenn Dima Modesta unseren Ermittlungen nach ein Gangster war, so
gibt das tatsächlich niemandem das Recht, ihn zu töten. Wir werden
seine Mörder mit derselben Intensität suchen wie jede anderen
Straftäter.«
Jennifer Petersen lachte heiser. »Das glaube Sie doch selbst
nicht«, meinte sie. »Träumen Sie schön weiter, Herr
Jörgensen...«
»Vielleicht können Sie uns etwas helfen, indem Sie uns ein
paar Fragen beantworten.«
»Bitte! Es kommt sowieso nichts dabei heraus. Das weiß ich
jetzt schon. Am Ende bin ich es nur, die den Ärger
bekommt...«
»Dass Sie Ihr Geld als Prostituierte verdienen und
wahrscheinlich weder Steuern noch Krankenversicherung zahlen,
interessiert uns nicht weiter«, sagte Roy.
»Unterstellungen!«
»Wie auch immer!«
»Miese, miese Unterstellungen!«
»Dafür sind andere zuständig. Uns geht es um denjenigen, der
hinter dem Mord an Ihrem Lebensgefährten steckt und außerdem ja
auch noch einen unserer Kollegen auf dem Gewissen hat.«
»Habe ich mir schon gedacht, dass Ihr gesteigertes Interesse
in Wahrheit daher kommt...« Sie machte eine wegwerfende
Handbewegung. Dann fingerte sie in ihrer Handtasche herum, bis sie
einen Blister mit Pillen gefunden hatte. Sie nahm zwei davon. »Ist
nur etwas gegen meine Kopfschmerzen«, behauptete sie. »Nichts
Illegales.«
»Haben Sie eine Ahnung, wer Dima Modesta das angetan haben
könnte?«, fragte ich.
»Nicht die Geringste«, behauptete sie.
»Wo hat er heute Nacht geschlafen?«
»Das wissen Sie nicht?« Sie lachte erneut auf, diesmal
schriller. Aber in diesem Lachen klang auch ihr ganzer Schmerz mit.
Irgendwie schien sie tatsächlich etwas für Modesta empfunden zu
haben. Wie genau die Beziehung zwischen den Beiden nun eigentlich
aufzufassen war, davon hatte ich noch kein rechtes Bild. Aber das
würde sich noch ergeben. »Jedenfalls nicht bei mir. Er hat mich auf
dem Weg zum »Bordsteinschwalbennest« von Zuhause abgeholt.«
»Können Sie uns nicht irgendeinen Ansatzpunkt liefern? Wurde
Herr Modesta bedroht? Hatte er vielleicht Streit mit seinem
Boss?«
»Mit seinem Boss? Wer soll das gewesen sein? Dima war sein
eigener Boss.«
»Ich spreche von Vladi Gruschenko.«
Ihr Gesicht veränderte sich. Für einen kurzen Moment hatte sie
ihre Züge nicht unter Kontrolle. Ihr Lächeln wirkte gezwungen und
erinnerte an eine Maske.
»Ich habe keine Ahnung, von wem Sie sprechen, Herr
Jörgensen.«
»Und ich nehme an, diesen Namen haben Sie auch noch nie
gehört?«
»Nie! Beim Leben meiner Mutter.«
»Ein großes Wort.«
»Ist wahr! Ich schwör!«
6
Vladi Gruschenko war ein breitschultriger, großer und ziemlich
beleibter Mann mit schwarzem, nach hinten gekämmtem Haar und einem
dunklen Vollbart. Seine Stimme war so durchdringend, dass man hätte
glauben können, dass sie einem Bühnenschauspieler oder Opernsänger
gehört hätte und tatsächlich hatte Gruschenko an einem
Konservatorium Gesang und Klavier studiert, dann allerdings dieses
Studium abgebrochen, als sein Vater gestorben war und er dessen
Geschäfte hatte übernehmen müssen.
Aber dass er kein zweiter Caruso war, wusste er auch selbst.
Sein Talent entsprach gutem Mittelmaß, nicht mehr. Immerhin hatte
er es zu einer Plattenaufnahme mit den Hamburger Philharmonikern
gebracht. Allerdings war die Verdi-Arie, die er aufgenommen hatte,
später wegen Überlänge nicht mit auf die Platte gekommen.
Künstlerpech nannte man so etwas wohl.
Erst als die Platte später als CD wieder veröffentlicht worden
war, war dieses Lied als Bonus-Track enthalten gewesen.
Aber das war zu einem Zeitpunkt gewesen, als Vladi Gruschenko
seine Karriere als Musiker längst aufgegeben hatte. Es hatte ihm
damals nicht mehr viel bedeutet, denn es war für ihn eher eine
schmerzhafte Erinnerung an die aufgegebenen Träume seiner Jugend.
Dass der Track seinerzeit nicht mit auf die Platte gepresst
worden war, das sah er bis zum heutigen Tag als die schlimmste
Niederlage und Demütigung an, die er hatte hinnehmen müssen.
Schlimmer sogar als die vier Wochen Untersuchungshaft, die er
vor ein paar Jahren mal über sich hatte ergehen lassen müssen, weil
ein in seinen Augen übereifriger Staatsanwalt ihn unbedingt mit
einem Auftragsmord in Verbindung bringen wollte.
Gruschenko war glimpflich aus der Sache herausgekommen.
Ein paar Zeugen waren mit Geld oder Schlägen günstig gestimmt
worden, sodass es nicht einmal zu einem Hauptverfahren gekommen
war.
Vladi Gruschenko steckte sich eine dicke Zigarre in den Mund
ließ sie aufglimmen. Mochte dieser Genuss inzwischen auch fast
überall sonst in Hamburg schon fast einem Kapitalverbrechen
gleichkommen – in seinen eigenen vier Wänden konnte Vladi
Gruschenko diesem Laster ungehemmt frönen. Er mochte
Havannas.
Echte Havannas aus Kuba natürlich, nicht irgendwelche
Nachgemachten und nicht mal halb so schmackhaften Imitate.
Gemessenen Schrittes trat Vladi Gruschenko auf den Dachgarten
seines Penthouses. Man hatte von hier aus einen hervorragenden
Rundumblick.
Gruschenko besaß mehrere Dutzend Immobilien. Einen Teil seiner
Drogengelder hatte er darin angelegt. Die Hälfte dieser Anwesen
hatte er gut und teuer vermietet – die andere Hälfte nutzte er
selbst. Darunter auch eine Finca auf Mallorca, wo er den Winter
verbrachte und ein Haus auf Sylt für den Sommer.
Aber als Zentrum seines Lebens sah er immer noch diese Wohnung
an. In diesem Stadtteil war er aufgewachsen, hier hatte sich sein
Vater nach oben geboxt und ihm eine Organisation hinterlassen, die
er dann noch einmal um ein Vielfaches vergrößert hatte.
Vladi Gruschenko sog die klare kühle Luft ein und trat bis zur
Balustrade. Dann blickte er hinab. Irgendwo hörte man ein paar
Sirenen - Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienst und ein paar Spaßvögel
die einfach nur so gerne Krach machten. In der Stadt war eben immer
was los..
Das alles mischte sich mit dem Lärm des Verkehrs und einem
Gewirr von Stimmen. Der immerwährende Chor jener großen Hafenstadt,
die man nicht umsonst das Tor zur Welt nannte und die ihn groß
gemacht hatte und als deren Teil er sich fühlte.
»Vladi?«
Eine sanft klingende Frauenstimme drang erst ganz allmählich
in sein Bewusstsein. Erst als sie seinen Namen noch einmal etwas
eindringlicher wiederholte, drehte sich Vladi Gruschenko mit einem
Ruck herum.
»Violetta«, murmelte er.
Seine Frau hatte dunkle Augen und ebenso dunkles Haar, auch
wenn die Schwärze von letztem inzwischen nicht mehr natürlichen
Ursprungs war. Kinder waren ihnen nicht vergönnt gewesen. Es gab
eben Dinge, die man sich selbst für das astronomische
Gruschenko-Vermögen nicht kaufen konnte.
Violetta trat auf ihn zu. Sie hielt ein Telefon in der
Hand.
»Der Anruf aus Zürich«, sagte sie.
»Ah ja. Danke.«
Er nahm den Apparat ans Ohr.
»Ist das Problem gelöst?«, fragte er.
7
Nachdem Roy und ich unsere Arbeit am Tatort erledigt hatten,
waren wir in unseren Ermittlungen noch kein Stück weiter. Zusammen
mit den Kollegen hatten wir Dutzende von Anwohnern aus der
Nachbarschaft befragt, ob sie etwas Verdächtiges gesehen hatten.
Die Toten waren inzwischen in der Gerichtsmedizin und die
Erkennungsdienstler versuchten herauszufinden, welche Art von
Sprengstoff verwendet worden war.
Uns blieb jetzt nur eins – die so genannten Freundinnen von
Dima Modesta abzuklappern. Wir kannten etwa Hälfte von ihnen.
Jennifer Petersen blieb jedenfalls bei ihrer Aussage, nicht zu
wissen, wo Modesta die letzte Nacht verbracht hatte.
Während wir am Tatort gewesen waren, hatten unsere Kollegen
Jürgen Carnavaro und Oliver Medina das Apartment untersucht, das
Dima Modestas offizieller Wohnsitz war, ohne, dass er sich dort in
letzter Zeit länger aufgehalten hatte.
Dieses Apartment hatte schon Tagelang unter Beobachtung
gestanden und Dima Modesta musste das wohl geahnt haben.
Der war ja nicht von Dummsdorf.
Jedenfalls meldete sich Jürgen Carnavaro per Handy bei uns und
berichtete, dass im Apartment buchstäblich nichts zu finden gewesen
sei.
»Das war so glatt geleckt wie ein Hotelzimmer«, berichtete er.
»Keine persönlichen Sachen. Vielleicht gibt es noch nicht mal
Fingerabdrücke des Besitzers darin. Der Telefonanschluss ist
definitiv seit seiner Freischaltung erst einmal benutzt
worden.«
»Wahrscheinlich der Begrüßungsanruf des Telefonanbieters«,
meinte ich eine Spur zu gallig. Es wurmte mich einfach, dass unsere
Karten, in diesem Fall ein Stück weiter zu kommen, einfach so
schlecht standen.
Wir wussten, dass es einen kriminellen Zusammenhang zwischen
Dima Modesta und Vladi Gruschenko gab. Aber das war auch schon so
ziemlich alles. Kündigte sich da ein Gangsterkrieg an? Wollte
jemand Gruschenkos Organisation zerstören oder ihn unter Druck
setzen, wobei Modesta dann nicht mehr als ein Bauernopfer war, das
dem Betreffenden deutlich machen sollte, dass der Unbekannte es
ernst meinte?
Fragen über Fragen gingen mir im Kopf herum, aber im
Augenblick schien es auf all diese ungeklärten Fragen nicht den
Hauch einer wirklich befriedigenden Lösung zu geben.
Wir statteten Kerstin Dörnemeyer in ihrer Wohnung einen Besuch
ab.
»Wer ist da?«, fragte uns eine barsche Frauenstimme über die
Sprechanlage an ihrer Wohnungstür. Ein Kameraauge verfolgte jede
unserer Bewegungen.
»Kriminalpolizei! Machen Sie bitte die Tür auf!«, forderte ich
und hielt meinen Dienstausweis in die Kamera.
Kerstin öffnete.
Sie sah Jennifer Petersen erschreckend ähnlich. Sie waren
beide blond und kurvenreich. Dima Modesta schien einen ganz
bestimmten Frauentyp zu bevorzugen.
Kerstin Dörnemeyer trug Jeans und T-Shirt und war barfuß. Die
Fußnägel sahen aus wie frisch lackiert und im Augenblick waren
gerade ihre Hände offenbar mit der Nagelpflege dran.
»BKA, Kriminalhauptkommissar Uwe Jörgensen«, stellte ich mich
vor. »Mein Kollege Roy Müller und ich haben ein paar Fragen an
Sie.«
»Hier geschieht nichts Ungesetzliches!«, versicherte sie.
»Zumindest werden Sie das wohl kaum nachweisen können.«
»Es geht nicht um Sie, sondern um Dima Modesta«, sagte
ich.
»Ich kann Ihnen zu Dima auch nicht viel mehr sagen, als Sie
ohnehin schon wissen«, erwiderte sie. »Und im Übrigen sind wir auch
nur flüchtig bekannt.«
»Ja, sicher... Vielleicht können wir hereinkommen und die
Sache in Ruhe besprechen. Herr Modesta ist einem
Sprengstoff-Attentat zum Opfer gefallen und wir dachten, dass Sie
uns vielleicht ein paar Angaben machen können, die uns
weiterbringen.«
Kerstin Dörnemeyer wurde bleich.
Ihr Kinnladen fiel herunter und ihre Augen wurden groß, als
sie erst mich und dann Roy anstarrte. Sie schluckte.
Entweder war sie eine sehr gute Schauspielerin oder es hatte
ihr wirklich etwas an Modesta gelegen.
»Kommen Sie herein«, sagte sie.
Wir folgten ihrer Einladung.
»Wann haben Sie Herr Modesta zuletzt gesehen?«, fragte der
Kollege Roy Müller.
»Gestern Abend.«
»Aber er hat nicht hier übernachtet.«
»Sie lassen mich beobachten?«
»Frau Dörnemeyer, Dima Modesta stand kurz vor einer Verhaftung
wegen Geldwäsche. Natürlich haben wir versucht, alle bekannten
Anlaufstellen zu überwachen. Leider ist das bei ihm nicht so
einfach.«
»Hören Sie...«
»Nein, hören Sie mir erst zu. Modestas Geschäfte haben keine
Bedeutung mehr. Sie können ihn nicht hereinreißen und was Ihren
Broterwerb angeht, das interessiert uns auch nicht und wir werden
auch nicht überprüfen, ob Modesta vielleicht die Miete für diese
Wohnung gezahlt hat... Aber Sie müssen uns helfen.«
»Ich muss gar nichts«, murmelte sie.
Ich hörte der Unterhaltung zwischen meinem Kollegen Roy Müller
und Kerstin Dörnemeyer zu und sah mich ein bisschen im Raum um.
Ich suchte nach irgendetwas, das von Modesta stammen oder einen
Hinweis auf ihn geben konnte. Einen Durchsuchungsbefehl hatten wir
nicht und den würden wir auch nicht bekommen. Die Durchsuchung der
Wohnung eines Mordopfers war Routine, aber genau da war der Haken.
Modesta hatte in seiner eigenen Wohnung so gut wie nie
gelebt.
Aber ich fand nichts. Durch die halboffene Tür des Bades
konnte ich auf die Ablage des Waschbeckens sehen. Kein
Rasierwasser, nichts, was darauf hätte hinweisen können, dass
Modesta mal hier gewesen war.
»Ich würde Ihnen ja gerne helfen«, behauptete Kerstin.
»Dann nennen Sie uns alle Adressen von Modestas
Schlupflöchern«, forderte Roy.
»Kennen Sie die nicht alle längst?«
»Machen Sie keine Mätzchen. Ich dachte, Sie wollen auch, dass
der oder die Mörder gefasst werden...«
Jetzt mischte ich mich ein. »Sie hätten auch mit drauf gehen
können«, erklärte ich. »Und bis zur Stunde ist die genaue Zahl der
Opfer noch nicht einmal bekannt, weil wir nicht genau wissen, wie
viele und welche Personen sich zum Zeitpunkt der Explosion im
»Bordsteinschwalbennest« aufgehalten haben«, sagte ich.
»Ich? Wieso ich?«
Ich schilderte ihr die Szene kurz vor der Detonation und wie
wir versucht hatten, Modesta festzunehmen. »Er ging mit Jennifer
Petersen im Schlepptau auf den Eingang zu. Es war purer Zufall,
dass sie nicht auch in den Club gegangen ist. Und an einem anderen
Tag hätten Sie das sein können. Das ist doch richtig, oder?«
»Wir haben über Geschäftliches nie geredet«, sagte sie.
»Und Sie haben auch nie etwas mitbekommen?«, hakte ich
nach.
»Nur, dass Dima in letzter Zeit ziemlich nervös und angespannt
war. Ja, ich gebe ja zu, dass er selbst für seine Verhältnisse in
letzter Zeit schon richtig übertrieben paranoid war. Er ging einmal
am Tag zum »Bordsteinschwalbennest«, um da den Betrieb zu
kontrollieren, aber ansonsten hatte er sich total
zurückgezogen.«
»Wie konnten Sie ihn erreichen?«
»Über ein Prepaid-Handy.«
»Die Nummer bitte.«
Sie nannte sie uns und Roy schrieb sie auf. Ich ging indessen
ein paar Schritte vor und erreichte die Tür zum Schlafzimmer. Sie
stand einen Spalt weit offen.
Durch einen kleinen Stoß sorgte ich dafür, dass sie sich
weiter öffnete und der Blick auf ein Wasserbett frei wurde. Daneben
lag eine Sporttasche auf dem Boden.
»Ist das Ihre Tasche, Frau Dörnemeyer ?«, fragte ich.
»Ja, sie gehört mir. Was soll das außerdem?«
»Dann sind Ihre Initialen neuerdings DM? Seltsam...«
Sie drängelte sich an mir vorbei und stellte sich mir in den
Weg. »Sie haben kein Recht, hier eine Durchsuchung
durchzuführen.«
»Ich habe nicht vor, Ihre Sachen zu durchsuchen – aber den
Inhalt einer Tasche, die offensichtlich Dima Modesta gehört, darf
ich mir sehr wohl ansehen...« Ich schob Kerstin Dörnemeyer zur
Seite und hob die Tasche auf.
Sie war ziemlich schwer. Ich legte sie auf das Wasserbett, das
daraufhin heftig schaukelte. Die Tasche war ein edles Stück, das
Dima Modesta sich mit seinen aufgestickten Initialen hatte
verzieren lassen. Sie waren im Stil eines Graffiti-Takes gestaltet.
Eigentlich hätte Modesta ahnen können, dass so eine Tasche direkt
auf ihn deuten würde. Er war vielleicht in großer Eile gewesen, als
er sie hier, in der Wohnung von Kerstin Dörnemeyer zurückgelassen
hatte.
Ich zog den Reißverschluss auf und spreizte die Tasche
auseinander.
Zum Vorschein kamen mehrere Waffen. Eine Automatik, eine
Beretta, ein 38er Smith & Wesson-Revolver, eine zierliche 22er
und eine handliche Maschinenpistole vom Typ Uzi.
Ich fasste natürlich keine der Waffen an.
Um die würde sich unser Labor kümmern. Stattdessen wandte ich
mich an Kerstin Dörnemeyer . »Wie wär's, wenn Sie uns das hier mal
etwas näher erklären, Frau Dörnemeyer ? Ich wette, es gibt für
keine dieser Waffen einen Waffenschein.«
»Dima hat mich gebeten, die Tasche hier aufzubewahren! Ich
hatte keine Ahnung, was sich darin befand!«, behauptete sie.
Ein Waffen-Depot in Kerstin Dörnemeyers Wohnung - das machte
durchaus Sinn. Mir kam der Gedanke, dass Dima Modesta vielleicht
auch noch andere Dinge schön gleichmäßig auf seine Schlupflöcher
verteilt hatte, um das Gesamtrisiko zu minimieren. Belastende
Geschäftsunterlagen zum Beispiel.
In diesem Augenblick klingelte es an der Tür.
»Erwarteten Sie Besuch?«, fragte Roy Müller.
Aber Kerstin Dörnemeyer schien ehrlich überrascht zu sein. Sie
schüttelte den Kopf.
»Nein, eigentlich nicht.«
»Öffnen Sie ruhig«, sagte ich.
8
In der Tür von Kerstin Dörnemeyers Wohnung stand ein Mann mit
hellblonden, fast weißen Haaren und sehr blasser Haut. Seine Augen
wirkten angestrengt, der Blick machte einen unruhigen
Eindruck.
Der Mann war sehr dürr, aber der gute Dreiteiler, den er trug,
hatte trotzdem eine nahezu perfekte Passform und war vermutlich
maßgeschneidert.
»Frau Dörnemeyer ?«
»Ja?«
»Wie ich sehe haben Sie Besuch...«
»Zwei Beamte der Kripo.«
»Dann komme ich ja gerade noch rechtzeitig.«
Kerstin Dörnemeyer schien ihn zu kennen. Der Mann im grauen
Dreiteiler trat ein und hielt uns seine Visitenkarte entgegen.
»Hüssein Gümüs von Gümüs, Töppwall & Associates. Ich vertrete
die Interessen von Frau Dörnemeyer. Ich hoffe, Sie haben noch keine
Aussage gemacht, mit der Sie sich selbst belasten könnten.«
»Frau Dörnemeyer wird lediglich als Zeugin vernommen«,
erwiderte ich etwas erstaunt und nahm die Visitenkarte an mich. Der
Name Gümüs kam mir bekannt vor und zwei Sekunden später fiel mir
auch ein, in welchem Zusammenhang ich ihn zuletzt gelesen
hatte.
Die Anwaltskanzlei Gümüs, Töppwall & Associates hatte
Vladi Gruschenko in all seinen Prozessen sehr erfolgreich
vertreten. Und wann immer irgendjemand, der in Gruschenkos Sold
stand, unter Anklage stand, tauchte ein Mitarbeiter dieser Kanzlei
auf, um für juristische Unterstützung zu sorgen.
»Darf ich die schriftliche Bestätigung darüber sehen, dass
Frau Dörnemeyer sich tatsächlich von Ihnen anwaltlich vertreten
lässt?«, fragte ich.
Gümüs griff in seine Jackettinnentasche und gab Kerstin
Dörnemeyer ein zusammengefaltetes Dokument und einen von blitzendem
Chrom überzogenen Edelkugelschreiber.
»Unterschreiben Sie Frau Dörnemeyer, dann hat alles seine
Ordnung und diese Polizisten werden Sie nicht länger
belästigen.«
Kerstin schien im ersten Augenblick etwas unschlüssig zu sein,
was sie tun sollte. Dann ging sie zum Wohnzimmertisch, legte das
Dokument darauf und unterschrieb, ohne sich die Zeilen überhaupt
durchzulesen. Anschließend gab sie es Gümüs zurück.
Auf dessen Gesicht zeigte sich ein triumphierendes Lächeln.
»Wir hätten da noch ein paar Fragen zu den Waffen, die hier
gefunden wurden«, sagte ich.
»Das Gespräch ist beendet«, bestimmte Gümüs. »Frau Dörnemeyer
wird keinerlei weitere Aussagen machen. Und falls Sie keinen Grund
haben, Frau Dörnemeyer zu verhaften, sehen Sie bitte zu, dass Sie
die Privaträume meiner Mandantin verlassen, in der Sie sich
vermutlich unter Berufung auf Ihre Autorität als Polizisten
illegalen Zutritt verschafft haben.«
»Ihre Mandantin hat uns hereingebeten!«, protestierte der
Kollege Roy Müller.
Der Anwalt lächelte kühl. Sein schmallippiger Mund bildete
einen geraden Strich.
»Die Abteilung für interne Ermittlungen und die
Staatsanwaltschaft werden diese Frage sicherlich eingehend
prüfen...«, versprach er und lächelte dabei zynisch.
9
Wir nahmen die Waffen natürlich mit und mussten uns von Gümüs
eine ellenlange und wortgewaltige juristische Belehrung darüber
anhören, gegen welche Paragraphen wir angeblich verstoßen hatten
und welche dienstlichen und juristischen Konsequenzen für uns damit
verbunden sein würden.
Das Meiste davon war schlicht und ergreifend heiße Luft und
sollte nur dazu dienen, uns einzuschüchtern.
Allerdings hatten Gümüs Ausführungen leider auch einen wahren
Kern. Wir konnten tatsächlich im Augenblick wenig ausrichten, um
Kerstin Dörnemeyers Willen zur Kooperation irgendwie günstig zu
beeinflussen.
Wir klapperten noch ein paar weitere Adressen von Modestas
Freundinnen ab, soweit sie uns bekannt waren. Allerdings stießen
wir auf eine Mauer des Schweigens. Niemand war bereit, mit uns
zusammen zu arbeiten.
»Die haben Angst«, sagte Roy, als wir uns schließlich auf dem
Weg zum Präsidium befanden.
»Fragt sich nur vor wem«, gab ich zurück.
»Im Prinzip gibt es da nur zwei Möglichkeiten«, glaubte Roy.
»Entweder die geschäftliche Konkurrenz wollte den ehrgeizigen
Modesta aus dem Weg räumen oder der hatte Ärger mit seinem Gönner
und Förderer Vladi Gruschenko bekommen.«
»Ich glaube nicht, dass die Konkurrenz es gewagt hätte,
Modesta aus dem Weg zu räumen und dann auch noch den ganzen Club in
die Luft zu jagen!«, erwiderte ich.
»Und wieso nicht?«
»Weil jeder, der so etwas tut, doch wissen muss, dass der sich
dann mit Gruschenko persönlich anlegt.«
»Und wenn Gruschenko seine schützende Hand weggenommen hat –
aus Gründen, die wir nicht kennen?«
»Dann bleibt immer noch zerstörte Club. Das
»Bordsteinschwalbennest« muss für Gruschenko doch enorm wichtig
gewesen sein. Selbst wenn dort nur halb so viel Geld gewaschen
wurden, wie die Ermittlungen unseres Kollegen Nick inzwischen
ergeben haben...«
Roy seufzte. Er unterdrückte ein Gähnen und nickte dann
leicht, während ich den Sportwagen an einer Ampel halten musste.
»Dann hältst du es für wahrscheinlicher, dass der große Vladi
Gruschenko sein Eigentum selbst zerstört? Uwe, das ist nicht dein
Ernst...«
»Was hältst du davon: Gruschenko musste befürchten, dass Dima
Modesta gegenüber der Justiz auspackt, sobald er verhaftet würde
und musste ihn vorher aus dem Weg räumen. Die Verwüstung des
»Bordsteinschwalbennest« war dabei zweitrangig.«
»Ein Kollateralschaden sozusagen.«
»Hässliches Wort, Roy. Aber ich fürchte, Gruschenko sieht das
so, genauso wie den Tod einiger völlig Unbeteiligter.«
Roy schwieg eine Weile, ehe er schließlich feststellte: »Dann
muss Gruschenko gewusst haben, dass Modestas Verhaftung
bevorsteht.«
»Wäre das denn das erste Mal, Roy?«
»Nein, leider nicht.«
Wir erreichten schließlich das Präsidium .
Das Waffenarsenal, das wir in Kerstin Dörnemeyers Wohnung
sichergestellt hatten, führten wir unseren Erkennungsdienstlern und
Ballistikern zu.
Dann gingen wir in das Dienstzimmer, das wir uns teilten. Ich
zog mir einen Kaffee, Roy wollte nicht. Mir knurrte der Magen, ich
hatte seit dem Morgen nichts mehr gegessen. Aber noch mehr
Bauchschmerzen machte mir der Fall, an dem wir gerade arbeiteten.
Ich wollte mich bei unserem für Betriebswirtschaft zuständigen
Kollegen Nick Orthoff danach erkundigen, ob seine Ermittlungen in
Sachen verdeckter Geldströme inzwischen irgendwelche neuen
Erkenntnisse gebracht hatten. Aber es stellte sich heraus, dass
unser Kollege bereits nach Hause gegangen war.
»Das sollten wir auch tun, Uwe«, lautete Roys Fazit, als ich
wenig später mit meinem dampfenden Kaffee wieder in unserem
Dienstzimmer auftauchte.
»Ich weiß nicht, aber irgendwie habe ich das dumpfe Gefühl,
dass wir derzeit noch ziemlich im Nebel herumstochern«, meinte ich.
»Um Leuten wie Vladi Gruschenko an den weißen Kragen zu können
braucht man Zeit, Uwe, Zeit und Geduld. Das Problem ist doch ganz
einfach – wir haben einfach noch nicht genügend juristische
Munition gegen ihn gesammelt. Und bevor das nicht der Fall ist,
haben wir keine Chance gegen ihn.«
»Trotzdem – er muss sehr nervös sein«, glaubte ich.
Roy hob die Augenbrauen.
»Woraus willst du das bitte schön schließen?«
»Na, hätte er Kerstin Dörnemeyer sonst gleich mit einem seiner
Star-Anwälte bändigen müssen?«
10
Vladi Gruschenko erschien mit seinem Gefolge im Restaurant
»Michele«. Das Lokal lag nur drei Blocks von Gruschenkos Residenz
entfernt. Außerdem hielt Gruschenko einen Anteil von 51 Prozent an
den Kapitaleinlagen des Unternehmens, von dem es in Hamburg noch
drei Filialen unter demselben Namen gab. Gehobene italienische
Gastronomie in gediegenem Ambiente konnte der Gast hier genießen.
Und davon abgesehen fühlte sich Gruschenko hier sicher.
Gruschenkos Gesprächspartner war Hüssein Gümüs von Gümüs,
Töppwall & Associates. Gruschenko hatte den blassgesichtigen
Mann eine halbe Stunde warten lassen. Für Gruschenkos Verhältnisse
war diese relativ geringe Verspätung schon fast so etwas wie ein
Gunsterweis.
Gruschenko setzte sich.
Dann machte er seinen Leibwächtern ein Zeichen, woraufhin die
sich zurückzogen. Sie postierten sich mehr oder weniger unauffällig
an verschiedenen, strategisch wichtigen Punkten innerhalb des
Lokals. Unter anderem am Eingang und an der Bar, von der aus man
den gesamten Raum überblicken konnte.
»Nun, wie stehen die Aktien, Herr Gümüs?«, fragte Gruschenko,
während ihm der Kellner wortlos den Rotwein hinstellte. Es war
immer dieselbe Sorte. Man kannte Gruschenko hier und der beleibte
Mann hasste es, wenn man ihn jedes Mal aufs neue fragte, was er
wünschte. Das Personal des »Michele« war genauestens instruiert,
wie es mit diesem speziellen Gast umzugehen hatte.
Das Einzige, was sich bei jedem von Gruschenkos Besuchen
änderte war die Uhrzeit. Er kam nie zwei Mal hintereinander zur
selben Zeit in das Lokal, obwohl er es fast jeden Tag besuchte, um
die eine oder andere Besprechung abzuhalten. Normalerweise liebte
Gruschenko die Regelmäßigkeit. Er bekam immer das gleiche Menü, den
gleichen Wein, die gleiche Nachspeise.
Dass er zu so unterschiedlichen Tageszeiten hier auftauchte,
hatte allein Sicherheitsgründe.
»Kerstin Dörnemeyer hat Geld verlangt«, sagte Gümüs.
»Wie viel?«
»Hunderttausend.«
»Die Dame überschätzt sich wohl etwas.«
»Würde ich auch sagen – zumal sie uns nicht substanziell
schaden könnte.«
»Was haben Sie ihr gesagt?«
»Dass ich Ihnen ihre Forderung ausrichten würde, ich ihr aber
nichts versprechen könnte.«
»Sagen Sie ihr zu.« Gruschenko seufzte und nippte an seinem
Weinglas. »Sie mag unverschämt sein, aber sie hat offenbar einen
guten Instinkt für den richtigen Moment. Wir haben im Augenblick so
viel Ärger, dass es besser ist, hunderttausend Dollar an Kerstin
Dörnemeyer zu bezahlen und damit zumindest an einer Front Ruhe zu
haben.«
»Wie Sie meinen, Herr Gruschenko. Aber da ist noch etwas, das
Sie wissen sollten.«
Gruschenko hob die Augenbrauen. »So?«
»Kerstin Dörnemeyer hat in ihrer Wohnung ein kleines privates
Waffenarsenal für Dima Modesta aufbewahrt.«
»Könnten wir dadurch in irgendetwas hineingezogen
werden?«
Gümüs zuckte die Achseln. »Das BKA war schon dort, als ich bei
Kerstin eintraf und um ein Haar hätten die Bullen sie so in die
Mangel genommen, dass sie bereitwillig geplaudert hätte, zumal sie
wohl ziemlich schockiert von dem war, was sich im
»Bordsteinschwalbennest« abgespielt hat.«
»Das meine ich nicht. Wenn Kerstin hunderttausend bekommt,
wird sie dicht halten, da bin ich mir sicher. Nein, ich spreche von
diesen Waffen? Je nachdem, wann und wobei die schon benutzt
wurden...«
»Herr Gruschenko, ich habe wirklich keine Ahnung.«
Vladi Gruschenko atmete tief durch und nahm noch einen
weiteren Schluck Wein. »Dann werden wir wohl abwarten müssen, ob da
noch irgendwelche Leichen im Keller liegen....«
»Ich fürchte ja, Sir. Und dann ist da noch etwas.«
Gruschenko zog die Augenbrauen zusammen, sodass eine deutlich
sichtbare Furche in der Mitte seiner Stirn entstand.
»Heute bringen Sie mir die schlechten Nachrichten
Scheibchenweise, was?«
»Ich habe einen Anruf bekommen. Die Sache mit Zürich ist noch
nicht ausgestanden.«
Gruschenko lehnte sich zurück. »Okay, reden Sie, Gümüs!«
11
Am nächsten Morgen wurden wir ins Büro unseres Chefs zu einer
Besprechung gerufen. Außer uns waren auch noch die Kollegen
Carnavaro und Medina sowie unsere Innendienstler Max Herter und
Nick Orthoff anwesend.
Mandy versorgte uns mit ihrem berühmten Kaffee, während
Kriminaldirektor Bock noch ein Telefongespräch führte.
Nachdem er aufgelegt und Mandy den Raum verlassen hatte,
wandte er sich uns zu. Sein Gesicht wirkte ernst.
»Ich habe gerade noch einmal mit den Kollegen des
Erkennungsdienstes gesprochen. Inzwischen steht fest, welche
Sprengstoffsorte verwendet wurde. Ich erspare Ihnen die chemischen
Einzelheiten, dazu bekommen wir in Kürze ein ausführliches Dossier.
Aber interessant ist, dass wir ein paar Tage vorher den Hinweis
eines Informanten bekamen, wonach sich jemand eine erhebliche Menge
dieses Sprengstoffs auf dem schwarzen Markt besorgt haben soll.
Eine Menge, die im Übrigen nach Angaben unserer
Sprengstoffspezialisten durchaus ausgereicht hätte, um das
»Bordsteinschwalbennest« in die Luft zu sprengen.«
»Ist der Informant zuverlässig?«, fragte ich.
»Das ist er«, bestätigte Kriminaldirektor Bock und nickte in
Richtung von Jürgen Carnavaro. Der blonde Italoamerikaner war nach
unserem Chef die Nummer Zwei in unserem Präsidium. »Jürgen arbeitet
seit Jahren immer wieder mal mit ihm zusammen.«
»Bis jetzt hatten wir nur gute Erfahrungen diese Quelle. Ich
werde so schnell wie möglich ein Treffen vereinbaren, um Näheres zu
erfahren.«
»Vielleicht kommen wir in unseren Ermittlungen dann ja endlich
ein Stück weiter«, meinte Kriminaldirektor Bock. »Im Übrigen hat
sich noch etwas anderes ergeben, was den ganzen Komplex
Modesta/Gruschenko vielleicht in einem neuen Licht erscheinen
lässt. Max...«
»Ja, Chef?«
»Sie haben das Wort.«
Unser Kollege Max Herter erhob sich und aktivierte sein Laptop
und den dazu gehörenden Beamer. Er projizierte ein Bild an die
Wand, das aus einem schlechten Spielfilm hätte stammen können. Ein
rothaarige Mann in dunkler Lederjacke erdrosselte einen Mann im
konservativen Dreiteiler.
»Dies ist der Screenshot einer Wettercam, den ein gewisser
Heribert Nördlinger aus Hamburg aufgenommen hat, als er sich via
Internet über das Wetter in Zürich informieren wollte. Nördlinger
hat beobachtet, wie der Rothaarige das Opfer getötet und in den
Fluss geworfen hat. Zuvor wurden der Leiche alle identifizierenden
Attribute abgenommen. Natürlich sind die Schweizer Behörden sofort
informiert worden, aber weder ist die Leiche inzwischen aufgetaucht
noch gibt es einen Hinweis auf den Täter. Allerdings ist es unserer
Abteilung inzwischen gelungen, das Opfer zu identifizieren.«
Max Herter zeigte uns nun eine andere Aufnahme.
Der Mann im Anzug war darauf schätzungsweise ein Jahrzehnt
jünger. Die Aufnahme war bei einer Verhaftung gemacht worden. »Es
handelt sich um Jochen Dehlmann aus Stade. Unseren Erkenntnissen
nach hat er in großem Stil Drogengelder gewaschen und über
Liechtenstein und die Cayman Islands umgelenkt. Es gab mehrere
Prozesse gegen ihn. Als es schließlich wirklich brenzlig für ihn
wurde, tauchte er unter und entzog sich der Justiz. Er ist seitdem
nicht mehr aufgetaucht.«
»Der springende Punkt ist, dass es einen Zusammenhang mit
Vladi Gruschenko gibt«, erklärte Kriminaldirektor Bock nun.
Jürgen Carnavaro hob die Augenbrauen. »Dann war Jochen
Dehlmann gewissermaßen ein Kollege von Dima Modesta.«
»Richtig«, stimmte Max Herter zu. »Und dass gleich zwei
Geldwäscher, die beide höchstwahrscheinlich für Vladi Gruschenko
tätig sind beziehungsweise waren, innerhalb so kurzer Zeit ermordet
werden, das kann meiner Ansicht nach kein Zufall sein.«
Kriminaldirektor Bock wandte sich an Roy und mich. »Jürgen und
Olli haben mit dem Informanten in Sachen Sprengstoff eine Weile zu
tun. Ich möchte daher, dass Sie beide nach Stade fahren und eine
gewisse Roswitha Dehlmann aufsuchen.«
»Wer ist das? Seine Frau?«, fragte Roy.
Kriminaldirektor Bock schüttelte den Kopf. »Nein, seine
Schwester und so weit Max ermitteln konnte die einzige lebende
Angehörige von Jochen Dehlmann.«
12
Jemandem die Botschaft überbringen zu müssen, dass ein
geliebter Angehöriger tot ist, gehört zu den Pflichten eines
Polizisten, die psychisch die größte Belastung erzeugen. Man
überlegt sich ein paar nette Worte, versucht zu trösten so gut es
geht, aber am Schluss hat man doch immer das Gefühl, es nicht
richtig gemacht zu haben. Ich kenne jedenfalls keinen Kollegen –
weder bei der Kripo noch bei der Schutzpolizei – der von sich
behaupten würde, darin Routine zu haben.
Wir fuhren also nach Norden Richtung Stade und schon die
Tatsache, dass unsere Fahrt zunächst ziemlich schweigsam war,
zeigte, was los war. Ich kannte Roy gut genug, um zu wissen, dass
er genauso darüber brütete, wie man Roswitha Dehlmann die Wahrheit
beibringen konnte.
Mochte ihr Bruder auch ein Gangster gewesen sein, so gab es
für uns doch keinerlei Hinweise, dass sie irgendetwas mit dessen
Geschäften zu tun gehabt hatte.
Wir erreichten schließlich Stade.
Roswitha Dehlmanns Adresse lag in einem gutbürgerlichen
Viertel mit breiten Alleen und großzügig angelegten Bungalows auf
Grundstücken, die für Hamburger Verhältnisse schon fast
unvorstellbar groß gewesen wären.
In einem dieser Bungalows wohnte Roswitha Dehlmann.
Wir parkten den Sportwagen an der Straße und stiegen aus.
Roy klingelte an der Tür. Ein Hund bellte daraufhin. Es
öffnete niemand. Roy versuchte es noch einmal und nun meldete sich
über die Sprechanlage eine weibliche Stimme.
»Was wollen Sie?«
»Roy Müller, Kripo. Mein Kollege Jörgensen und ich müssen Sie
dringend sprechen. Es geht um Ihren Bruder Jochen.«
Es machte »Knack« und dann war erstmal eine volle Minute lang
gar nichts mehr zu hören. Der Hund beruhigte sich anscheinend
etwas.