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Susis Freunde sind ein bisschen … anders. Nicht nur, dass sie alle höchst talentiert, stur und streitlustig sind – nein! – sie sind außerdem allesamt bereits tot. Denn Susi hat eine Maschine erfunden, mit der sie berühmte verstorbene Persönlichkeiten in die Gegenwart holen kann. Mit ihrer Hilfe meistert Susi schwierige Hausaufgaben, private Probleme und auch modische Fehlgriffe. Als jedoch der alljährliche Talentwettbewerb ansteht und Susi sich auch noch in ihren neuen Mitschüler Jack verguckt, zählt sie etwas zu sehr auf ihre himmlischen Berater. Und schon bricht das totale Chaos aus! Der Auftakt zu einer witzigen Mädchen-Reihe ab 11 Jahren, die nicht nur durch Alltagsthemen wie Freundschaft und erste Liebe, sondern auch durch besondere Charaktere wie Coco Chanel oder Sigmund Freud besticht und für beste Unterhaltung sorgt.
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Seitenzahl: 253
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Für meinen (lebendigen) Berater Nummer 1, meinen Dad
Susis Beraterteam
Coco Chanel wurde 1883 in Frankreich als Gabrielle Chasnel geboren. Sie war eine weltberühmte Modedesignerin und ist vor allem für das Parfüm Chanel Nº 5 und das »kleine Schwarze« bekannt. Ihr erfolgreiches Modeimperium besteht bis heute. Coco ist Susis allererste Beraterin und beste Freundin. Außerdem scheint sie ein ständiges Verlangen nach Donuts zu haben …
Abraham Lincoln wurde 1860 zum 16. Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika gewählt. Unter seiner Führung besiegten die Nordstaaten den Süden und die Sklaverei wurde endgültig abgeschafft. Aufgrund seiner Aufrichtigkeit wird er auch der »ehrliche Abe« genannt. Was wenige wissen: Er hatte einen sehr eigenwilligen Humor. In der heutigen Zeit wäre er bestimmt ein großer Rapper geworden.
Nikola Tesla ist 1856 auf die Welt gekommen und war Forscher und Physiker. Zu seinen Erfindungen zählen: das Wechselstromsystem, der Tesla-Transformator, die drahtlose Energieübertragung, Neonschilder, die Plasmalampe … Jedoch hat sein Konkurrent Thomas Edison die Lorbeeren für viele seiner Erfindungen eingeheimst. Deshalb entwickelt Tesla in Susis Kinderzimmer neue Projekte – und setzt dabei mehr als einmal ihren Kleiderschrank in Brand.
Der amerikanische Sänger Elvis Presley hat in den 50er-Jahren maßgeblich den Rock'n'Roll geprägt, was ihm den Spitznamen »King of Rock'n'Roll« einbrachte. Mit über einer Milliarde verkauften Platten ist er bis heute der erfolgreichste Solo-Künstler der Welt. Der erwachsene Elvis war ein richtiger Frauenschwarm, aber auch als Kind war er schon sehr charmant …
Jeanne d’Arc ist eine Nationalheldin und Schutzheilige Frankreichs. Als 17-Jährige führte sie die französischen Truppen während des Hundertjährigen Krieges im Jahre 1429 zum Sieg gegen England bei Orléans – weshalb sie auch als die Jungfrau von Orléans bezeichnet wird. Sie ist für ihren Kampfgeist bekannt, ihre wunderschöne Singstimme wird allerdings erst von Susi entdeckt.
Der Österreicher Sigmund Freud
Herzlich willkommen in Big Ditch!
Ihr werdet es vielleicht nicht glauben, aber alles, was ich euch gleich erzählen werde, entspricht zu 100% den Tatsachen. Mehr oder weniger. Eigentlich sind es, nach meinen Berechnungen, ja nur 86,4%, aber 100% klingt einfach besser. Wie auch immer, auf jeden Fall ist das hier eine wahre Geschichte – über mich, Susi Fishman, und meine total verrückte Chaostruppe.
Es war ein ganz gewöhnlicher Donnerstag, als mein Leben eine vollkommen außergewöhnliche Wendung nahm. Ich hatte Unterricht in amerikanischer Geschichte und tat das, was ich immer tat – ich hing meinen Gedanken über verstorbene Menschen nach.
Wie kommt es eigentlich, dass man nie etwas darüber erfährt, wie historische Persönlichkeiten zu ihrer Schulzeit waren?, fragte ich mich. Die meisten Geschichtsbücher überspringen diesen Abschnitt einfach und steigen erst dann ein, wenn sie bereits zum Vater der modernen Psychoanalyse geworden sind, die Mode erfunden oder die Sklaven befreit haben – zum Beispiel. Aber ich für meinen Teil wüsste gern, wie berühmte Leute in meinem Alter so gewesen waren.
Wenn sie, nur mal angenommen, auf meiner Schule wären? Würde Abe Lincoln, der sechzehnte Präsident der Vereinigten Staaten, der Star des Baseball-Teams sein? Würde Marilyn Monroe in der Pause mit den coolen Kids zusammensitzen? Würde Leonardo da Vinci zum Jahrgangssprecher gewählt werden? Oder würden sie Probleme haben dazuzugehören – so wie ich?
Dies sind die Fragen, über die ich nachdachte, als Freddy Sherman mich quer über den Gang hinweg höhnisch angrinste.
»Nettes Cape, Dracula«, sagte er mit seiner Näselstimme.
»Das ist ein Poncho«, verbesserte ich ihn höflich. »Ich habe auch gerade erst gelernt, dass es da einen Unterschied gibt. Ponchos sind rechteckig, Capes kreisförmig. Ponchos zieht man sich so über den Kopf … Siehst du?« Ich demonstrierte es ihm. »Und Capes …«
»Sieht für mich wie ein Vampirumhang aus«, unterbrach er mich. »Wir sind hier aber nicht in irgendeinem finsteren Gruselschloss, sondern in Big Ditch in Kansas, schnall das mal.«
Seufz. Wie konnte ich das vergessen? Schließlich lebe ich hier. In Big Ditch, Kansas – das früher einmal Plainville hieß. Big Ditch ist eine Kleinstadt, aber, ob ihr’s glaubt oder nicht, durchaus eine Touristenattraktion. Für alle, die den brennenden Wunsch verspüren, in ihrem Urlaub in ein riesiges Erdloch zu starren, ist Big Ditch das Ziel ihrer Träume.
Würde ich für die Touristen in Big Ditch eine Liste mit Verhaltensregeln erstellen wollen, sähe sie wohl ungefähr so aus:
Passen Sie am Big Ditch auf, wo Sie hintreten – das ist das riesige Loch, das ich bereits erwähnt habe. Es befindet sich mitten im Zentrum der Stadt. 1947 ist ein Meteorit hier eingeschlagen, was aber niemand gemeldet hat. Bis Wissenschaftler kamen, um den Krater zu untersuchen, war deshalb von dem Meteoriten nicht mehr viel zu finden. Die meisten Wissenschaftler glauben nicht, dass tatsächlich ein Meteoriteneinschlag stattgefunden hat. Fakt ist: Hat er aber.
Machen Sie einen großen Bogen um Touristenfallen wie Die Kraterkiste und Ditch Kitsch. Aber: Schauen Sie unbedingt bei Krater Kens Diner auf einen Meteoriten Burger vorbei. Lecker!
Begeben Sie sich schnurstracks zum Falling Star Museum für legendären Krimskrams. Das wird von meinen Eltern betrieben und ist supercool! Dort können Sie alles Mögliche finden, das früher einmal berühmten Leuten gehört hat. So was wie einen künstlichen Fingernagel von Lady Gaga oder Harry Houdinis Zahnbürste, Zac Efrons nicht aufgegessenen French Toast und Einsteins Unterhosen!
Und, das ALLERWICHTIGSTE: Kleiden Sie sich nicht ausgefallen, es sei denn, Sie wollen gerne gehänselt werden. Tragen Sie keine Vintage-Kostüme, Perlenketten und Wollponchos. Und, ganz gleich, was Sie tun, tragen Sie UNTER GAR KEINEN UMSTÄNDEN alles drei auf einmal. Anderenfalls stellen Sie sich auf dämliche Kommentare von Schwachköpfen wie Freddy Sherman ein.
All dies schoss mir durch den Kopf, während ich ihn, so gut ich konnte, ignorierte. Ich würde ganz bestimmt keine Stil-Tipps von einem Jungen entgegennehmen, der eine Jeans mit Chipsflecken trug und ein T-Shirt mit der Aufschrift »Ich bremse auch für Speck«. Ich hob das Kinn, rückte meinen Poncho zurecht und widmete meine Aufmerksamkeit MrSotos Vortrag über Abraham Lincoln.
Aber dann gab Madison, die vor mir saß, ihren Senf dazu. »Yeah, Loser!«, sagte sie abfällig, drehte sich um und funkelte mich böse an. Träge zwirbelte sie an einer ihrer langen blonden Haarsträhnen. »Halloween ist erst im Herbst.«
Rundherum fingen alle an zu lachen.
Autsch. Das saß. Nicht nur weil Madison DAS beliebteste Mädchen der Schule, sondern zufälligerweise auch noch meine Cousine ist.
Als wir klein waren, waren wir die allerbesten Freundinnen. Jetzt ist unser Nachname das Einzige, was wir noch gemeinsam haben. Wir sehen uns definitiv nicht ähnlich. Madison ist ein blondes Barbiepüppchen. Ich eher eine Art Hermine Granger. Und während ich die Bücherei, Naturwissenschaften und ausländische Indie-Filme liebe, steht Madison auf die Einkaufspassage, das Nagelstudio und alles, was rosa ist.
»Pink ist mein Markenzeichen«, erklärt sie jedem, der es hören will.
Ich könnte Madison erzählen, dass eine modebewusste Freundin mein Outfit ausgesucht hatte und dass es ohnehin vollkommen unerheblich war, was Madison dachte. Wie meine Freundin gerne sagte: »Denk immer daran, ma chère, in erster Linie musst du dir selbst gefallen.«
Aber es war zwecklos, das Madison zu erklären. Sie würde ja noch nicht mal glauben, dass ich überhaupt eine Freundin hatte. Also konzentrierte ich mich wieder auf MrSotos Vortrag. »Heute setzen wir unser Gespräch über Lincoln und den Bürgerkrieg fort«, sagte er.
Ich liebe MrSoto, weil er mich an einen verrückten Professor erinnert. Er trägt eine Brille mit flaschenbodendicken Gläsern und orthopädische Schuhe. Er ist weitestgehend kahlköpfig, hat aber diesen Ring aus flauschigen grauen Haaren, die beim Gehen auf und ab wippen, was eine seltsam hypnotische Wirkung ausübt.
»Und so«, fuhr MrSoto fort und schritt im Raum auf und ab (auf und ab, auf und ab wippten seine Haare), »schrieb Präsident Lincoln die Rede von Gettysburg, die aus nicht mehr als 272Wörtern besteht. Er hat sie in aller Eile im Zug nach Gettysburg auf die Rückseite eines Briefumschlags gekritzelt.«
Ich hob die Hand, um etwas mitzuteilen, das ich erfahren hatte. Ich weiß vielleicht nicht das Geringste übers Beliebtsein, aber ich weiß EINE MENGE über Abraham Lincoln.
Ich hätte schwören können, dass MrSoto meine erhobene Hand bemerkte, doch dann huschte sein Blick zur anderen Seite des Raums. Das war in letzter Zeit schon öfter vorgekommen. Andererseits war es wegen seiner Brille schwierig festzustellen, wo genau er eigentlich hinschaute.
»Ähm, wo war ich stehen geblieben?«, fragte er. »Ach ja, die Rede von Gettysburg …«
Ich hob meine Hand höher. Und schwenkte sie.
MrSoto seufzte. »Ja, Susi?«
»Ich habe die Geschichte über den Briefumschlag auch gelesen, MrSoto«, sagte ich begeistert. »Aber vor Kurzem habe ich herausgefunden, dass sie bloß ein Mythos ist. In Wirklichkeit hat Abraham Lincoln sehr hart an der Rede gearbeitet. Die Geschichtsbücher haben eben auch nicht immer recht, oder?«
Jemand stöhnte. Okay, vielleicht auch mehrere Jemande.
Madison verdrehte die Augen.
MrSoto fuhr sich durch seine noch verbliebenen Haare.
»Was denn?«, fragte ich und schaute mich um. »Ich dachte, die wahre Geschichte würde euch interessieren.«
Bevor MrSoto darauf eine Antwort geben konnte, klopfte Direktor Driscoll leise an die Tür und betrat unser Klassenzimmer. Aus seinen angeklatschten Haaren, die immer zur offensichtlichsten Glatzenverdeckungsfrisur der Welt gekämmt waren, hatte sich eine kleine Strähne gelöst, die jetzt nervös sein Ohr umflatterte. Ihm folgte ein Junge, den ich noch nie gesehen hatte.
Beim Anblick des Jungen blieb mir die Luft weg.
Er sah vollkommen anders aus als die Jungs von hier. Zum einen trug er Skinny Jeans, definitiv eine Premiere in Big Ditch. Zum anderen hatte er, anstelle von Frühstücksaufschnitt, ein Bild von den Ramones auf seinem T-Shirt. Und seine braunen Haare standen so senkrecht in die Höhe, als würde er kopfüber von irgendwo herunterbaumeln.
»Darf ich um eure Aufmerksamkeit bitten?«, sagte Direktor Driscoll, nickend und seine Haarfahne schwenkend. »Ich möchte euch gerne euren neuen Klassenkameraden, Jack West, vorstellen. Er ist gerade erst aus Chicago hierher gezogen.«
Alle starrten den neuen Jungen an, als wäre er gerade erst vom Mars hierher gezogen.
»Also dann, Jack: Viel Glück!«, wünschte Direktor Driscoll und klopfte ihm auf den Rücken. Dann ging er aus dem Zimmer und überließ den Jungen seinem Schicksal. Jack sah uns alle an, ohne zu lächeln, aber seine blauen Augen funkelten, als wüsste er etwas, was wir nicht wussten.
Ich spürte, wie meine Wangen anfingen zu glühen, während ich ihn beobachtete.
Was vielleicht daran lag, dass der Neue, anders als wohl die meisten an seiner Stelle, nicht nervös wirkte. Er sah unbeeindruckt aus. Er sah … süß aus. (Nicht dass ich verrückt nach Jungs bin oder so. Fakt ist: Das bin ich nicht.)
»Willkommen in Big Ditch, Jack!«, sagte MrSoto. »Wie wär’s, wenn du uns ein bisschen von dir erzählst?«
»Klar«, erwiderte Jack. »Was würden Sie gerne wissen?«
»Tja«, meinte MrSoto. »Wie wäre es mit deinem Geburtsdatum, deiner Lieblingsfarbe und einer Sache, die dir bislang an Big Ditch gefällt?«
Bei der letzten Frage zuckte Jack leicht zusammen.
»Äh, gut. Vierzehnter November … Hauptsache kariert … und …« Er krauste die Nase und blickte an die Decke, als hoffte er, dass dort die nächste Antwort erscheinen würde. »Und, öh … Big Ditch ist echt … äh, flach? Bis auf den Krater natürlich, meine ich.«
Die Klasse kicherte. Aber mein Herz schlug schneller. Wer war dieser Junge?
»Ruhe, bitte!«, befahl MrSoto. »Ich denke, wir machen jetzt besser mit dem Unterricht weiter.« Er wandte sich wieder an Jack und sagte: »Am nächsten Samstag findet der weltberühmte Big Ditch Talentwettbewerb statt. Ein Auftritt von dir wäre eine großartige Gelegenheit für die Menschen im Ort, dich kennenzulernen. Wie wär’s, wenn du dich anmeldest?«
MrSoto zeigte auf ein Schild an der Wand. Man merkte ganz deutlich, dass Madison und ihre Freundinnen es fabriziert hatten, denn alles war mit pinken Glitzerbuchstaben geschrieben.
HABT IHR TALENT???
DANN TRAGT EUCH JETZT EIN FÜR DEN34. JÄHRLICHEN BIG DITCH TALENTWETTBEWERB!!!
AM SAMSTAG, DEN 1. APRIL!!!
P.S.: Die oberkrasse total coole Playbackgruppe,
Triple Threat, erwartet euch!!! LOL!
Jack warf einen Blick auf das Anmeldeformular darunter und nickte höflich. Aber er sah so aus, als wäre er an einer Teilnahme am »weltberühmten« Big Ditch Talentwettbewerb ebenso interessiert wie ich an einem Beitritt zu Madisons Der Bachelor-Serienfanklub. (Will heißen: KEIN BISSCHEN.)
Jack setzte sich ganz vorne auf einen freien Platz.
»Da Jack neu in der Klasse ist, könnten wir ihm ja ein wenig helfen, indem wir ihn auf den aktuellen Stand bringen«, schlug MrSoto vor. »Möchte ihm irgendjemand erläutern, was wir bisher über Präsident Lincoln gelernt haben?«
Aus der ersten Reihe meldete sich Jenny Han, die Musterschülerin. »Er war der 16. Präsident der Vereinigten Staaten.«
»Stimmt«, sagte MrSoto.
Bart Louis kam als Nächster. »Er führte die USA durch den Bürgerkrieg und schaffte die Sklaverei ab.«
»Korrekt.«
Dann ergriff Freddy Sherman das Wort. »Er hat alle gewarnt, dass die Briten kommen.«
MrSoto ließ den Kopf hängen. »Mein lieber Junge, ich glaube, da verwechselst du Abraham Lincoln mit Paul Revere. Du bist ungefähr 100Jahre zu früh dran.«
»Okaaay.« Freddy zog zweifelnd die Augenbrauen hoch. »Dann muss Lincoln der Typ sein, der gesagt hat, er lügt nie.«
Daraufhin hob MrSoto ruckartig den Kopf. »Richtig, Freddy, das stimmt! Er wurde der ›ehrliche Abe‹ genannt.«
»Genau!«, erwiderte Freddy. »Weil er den Orangenbaum von seinem Vater umgehackt und die Wahrheit gesagt hat, stimmt’s?«
MrSoto schlug sich an die Stirn. »George Washington.« Seine Stimme war praktisch nur noch ein Flüstern. »Kirschbaum.«
»Oh, oh! Jetzt fällt’s mir wieder ein«, sagte Freddy. »Ich fass es nicht, dass ich da nicht schon früher drauf gekommen bin. Der Teddybär ist nach Lincoln benannt.«
Jack lächelte Freddy an. »Du denkst an Roosevelt, Kumpel.«
Freddy glotzte ihn verständnislos an.
Jack versuchte es noch einmal. »Du weißt schon, Amerikas 26. Präsident? Cowboy, Schriftsteller? Teddy Roosevelt?«
»Häh?«, machte Freddy.
Jack seufzte. »Ach, nichts.«
Ich konnte nicht anders, ich starrte ihn an, beeindruckt. Jack war nicht nur süß, er war auch noch schlau.
Freddy zuckte mit den Schultern, als MrSoto zur gegenüberliegenden Seite des Raums ging. »Möchte sonst noch jemand uns erzählen, was er oder sie über Abraham Lincoln weiß?«, fragte MrSoto.
Meine Hand war die einzige, die noch oben war.
MrSoto blickte zur Decke und stieß die Luft aus. »Susi Fishman?«
»Na ja«, sagte ich. »Er war ein großer Mann: Er war 1,94 m groß und 81,4kg schwer.«
MrSoto nickte. »Äußerst präzise, wie immer. Vielen Dank, Sus–«
»Abe Lincoln hat gerne Witze erzählt«, fuhr ich fort. »Man hat gesagt, er hätte einen großartigen Sinn für Humor gehabt. Natürlich waren das nicht alles nur gute Witze. Seine Lieblingswitze drehten sich um, äh, Blähungen? Wie zum Beispiel der hier ist echt super, von einem pupsenden Kongressabgeordneten, der …«
Die Klasse lachte, noch bevor ich zu Ende geredet hatte.
»Ih«, sagte Madison.
»Oje«, stotterte MrSoto und wurde rot. »Das ist möglicherweise etwas zu viel an Information.«
»Das ist aber eine Tatsache. Schlagen Sie’s nach«, erwiderte ich. »Und außerdem hebt … äh, ich meine, hob Abe gerne Notizen und Briefe in seinem Zylinder auf. Manchmal, wenn er den Hut abnahm, fielen sie alle auf den Boden.«
»Okay, Susi«, sagte MrSoto. »Du weißt offenbar eine Menge über –«
»Oh, und als er jung war«, sprach ich weiter, »war Abe ein unglaublicher Ringkämpfer! In zwölf Jahren hat er nur einen einzigen Kampf verloren.«
Madison schnaubte. »Abe? Was ist er, dein unsichtbarer Kumpel?«
Alle brachen wieder in Gelächter aus. Meine Wangen brannten und ich schaute auf mein Pult herunter.
»Susi ist so ein Freak«, flüsterte Paris Summers, eine von Madisons besten Freundinnen.
Ich sah gerade noch rechtzeitig hoch, um mitzukriegen, wie Jack quer durch den Raum zu mir herüberstarrte.
Na toll, dachte ich. Der Neue ist noch keine Stunde auf der Schule und weiß schon, dass ich ein Loser bin.
Ich wartete einen Augenblick, bevor ich abermals verstohlen zu ihm hinübersah. Er musterte mich immer noch. Aber nicht unfreundlich, sondern eher so, als hätte irgendetwas seine Neugier geweckt. Bevor ich der Sache auf den Grund gehen konnte, klingelte es: RIIIIIIIIINNNNNNG!
Geschichte hatten wir in der letzten Stunde, und das hieß, dass die Schule jetzt a-u-s war. AUS! Ich konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen.
»Nicht vergessen!«, rief MrSoto über das Getrampel der Schüler hinweg. »Test über den Bürgerkrieg am Montag!«
Ich schnappte mir meine Bücher und stand gerade auf, um zu gehen, als Paris und Madisons andere BFF, Bella, zu ihr herüberstürzten.
»Hi, Madison«, trillerten sie im Chor. Genau wie Madison trugen sie von Kopf bis Fuß Pink. Ich schätze, die meisten Kids würden sagen, dass zu Madisons Clique die hübschesten Mädchen der Schule gehören. Paris hat eine wunderschöne dunkle Haut und schwarzes, welliges Haar. Bella ist ein hellhäutiger Typ mit kastanienbraunen Locken und grünen Augen. Ein Jammer, dass ihre Persönlichkeiten nicht ebenso attraktiv sind.
»Hallo, Leute«, sagte Madison und steckte ihre Bücher in ihren Rucksack. »Alles klar für unsere Talentwettbewerbsprobe heute? Sollen wir sagen, Treffen bei mir, um 15:30Uhr? Versuch, nicht wieder zu spät zu kommen, so wie gestern, Bella.«
»Aber«, quiekte Bella, »ich war doch bloß ein paar Minuten zu spät.«
Paris rempelte sie an und warf Bella einen Blick zu, der sie zum Schweigen brachte. Dann wandte sie sich mit einem aufgesetzten Lächeln an Madison.
»Geht klar«, erwiderte Paris. »Wir werden pünktlich sein.«
Da ich gerne mehr erfahren wollte, trödelte ich herum und tat so, als suchte ich etwas in meinem Rucksack.
»Wir werden so was von abgefahren krass gut sein«, sagte Bella. »Unsere Bootylicious-Nummer ist einfach unschlagbar! Selbst Beyoncé würde für uns voten.«
»Das versteht sich ja wohl von selbst, Bella«, sagte Paris.
»Na, logisch werden wir super sein«, sagte Madison. »Wir sind immer super! Deshalb haben wir ja auch jedes Mal gewonnen, seit wir mitmachen!«
Drei Jahre hintereinander, um genau zu sein. Madisons Gruppe nennt sich Triple Threat, und ihre Playback-Nummer von Bootylicious ist rund um Big Ditch der Stoff, aus dem Legenden sind. Und es stimmt schon, Madison und ihre Truppe sind wirklich gut im Tanzen. Aber echt jetzt, drei Jahre?
Ich schätze mal, es ist nicht gerade ein Nachteil, dass Madisons Vater die einzige Anwaltskanzlei der Stadt gehört. Er hat Freunde und Klienten an allen Ecken und Enden, auch in der Talentwettbewerbsjury.
Manchmal überlegte ich, was ich wohl aufführen würde, sollte ich jemals in der Talentshow auftreten. Meine Talente sind nicht gerade der Bringer. Was würde ich machen? Auf der Bühne einen Oktopus sezieren? Einen Roboter bauen? Das Raum-Zeit-Kontinuum demonstrieren?
»Pff«, machte ich, während ich mir das schnarchende Publikum vorstellte.
Das war der Moment, in dem Madisons Clique mich bemerkte.
»Wie war das, Susi?«, fragte Madison abfällig.
»Oh, habe ich das gerade laut gesagt?« Ich zog den Reißverschluss an meinem Rucksack zu und nahm zwei Bücher, die nicht mehr hineingepasst hatten. Ich stand auf. »Sorry, Leute. Kann ich mal kurz durch?«
Niemand rührte sich.
»Gut, dann hüpfe ich eben über diesen Stuhl hier.«
Ich wollte über den Stuhl neben mir springen, aber sowie meine Füße den Bodenkontakt verloren, rutschte der Stuhl nach vorne weg. Fast, als hätte ihm jemand einen Stoß versetzt. Ich stolperte und knallte kopfüber nach vorne.
Der Fall fühlte sich an, als würde er in Zeitlupe ablaufen. Meine Hände schossen vor, um mich abzufangen. Meine Bücher fielen mir aus den Armen und schlitterten über die Fliesen. »AHHHH!«, schrie ich, bevor ich mit einem dumpfen Knall auf dem Boden landete.
Hinter mir brachen Madison und ihre Freundinnen in Gelächter aus.
»Was sollte das denn werden?«, fragte Madison. »Kleiner Flug mit deinem Cape? Es ist kein Vogel, es ist kein Flugzeug, es ist Superdoofi!«
Ich drehte mühsam den Kopf, um sie anzusehen, und rieb mir die Schulter. »Zum letzten Mal«, knurrte ich, »das … ist … ein … Poncho!«
Sie beachteten mich gar nicht und gackerten. Paris drehte sich zu Madison. »Der war gut! Du bist echt der Kracher, Madison.«
Dann sprachen sie weiter über ihren Auftritt, als läge ich nicht neben ihnen, flach auf dem Fußboden.
Ich spürte, wie mich die Kraft verließ. Meine Wange war an den kalten, staubigen Boden gepresst. Mein linkes Bein hing immer noch im Stuhl fest. Für einen kurzen Moment überlegte ich, bis in alle Ewigkeit dort liegen zu bleiben, oder wenigstens so lange, bis Madison und Co. den Raum verlassen hätten. Aber nein. Ich hatte auch meinen Stolz. Ich stand auf und klopfte mir den Staub von den Klamotten.
»Wer hat den Stuhl geschubst?«, wollte ich wissen. Ich sah Madison in die Augen und wollte sie dazu bringen, sich an die Zeit zu erinnern, als wir noch klein gewesen waren und einander gemocht hatten. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie beinahe so aus, als täte es ihr leid.
Aber dann grinste sie spöttisch. »Weiß ich nicht. Vielleicht dein Busenfreund … Abe Lincoln.«
Madisons rosa Rudel gackerte hämisch.
»Aha«, sagte ich und drehte mich um. Also ehrlich, das ergab doch noch nicht einmal irgendeinen Sinn. Wahrscheinlich geschah es mir recht, weil ich von Madison erwartet hatte, sich wie ein menschliches Wesen aufzuführen. Ich hob mein Buch auf und sah mich nach dem anderen um. Als ich es entdeckte, japste ich nach Luft.
Ohhhhhhhhhhh, Mist.
Direkt an der Tür stand Jack West mit meinem Buch in der Hand. Ich fragte mich, wie viel er wohl mitbekommen hatte. Von allen Menschen dieser Welt, warum musste ausgerechnet er mitansehen, wie ich mich zum Affen machte!
Aber als unsere Blicke sich trafen, verzog sich sein Gesicht zu einem breiten, wunderschönen Lächeln. Ich konnte nicht anders: Ich schmolz irgendwie dahin.
»Ist das deins?«, fragte er und hielt mir das Buch hin. »Es kam gerade in den Flur geflogen.«
»Mmm hmm.« Ich merkte, wie ich rot anlief.
»Hübscher Poncho«, sagte er.
Überrascht riss ich die Augen auf. Noch nie hatte mir in der Schule jemand ein Kompliment gemacht. Vielleicht meint er das ja sarkastisch.
Aber nein. Er sah durchaus aufrichtig aus. »Du weißt, was das ist?«, fragte ich und breitete die Arme aus, sodass mein Poncho aussah wie ein auf dem Kopf stehendes Dreieck.
»Klar«, antwortete er und reichte mir mein Buch. »Sehr retro-cool.«
Mein Herz flatterte in meiner Brust. »Danke.«
Ehe ich es richtig begriff, gingen wir zusammen durch die Tür und den überfüllten Flur hinunter. Für gewöhnlich ging ich alleine. Ich wartete dann, bis der Flur sich leerte, damit sich das statistische Risiko, einen »Tritt-mich«-Zettel auf den Rücken gepappt zu bekommen, verringerte. Den Weg gemeinsam mit Jack West zurückzulegen, war unendlich viel besser.
»Es ist auch cool, wie du dir die ganzen Fakten über Lincoln gemerkt hast«, meinte er. »Du hast wirklich Ahnung.«
»Das findest du cool?« Ich kam ins Schleudern. Dann setzte ich hinzu: »Ich meine, äh, ja. Das ist es wohl.«
»Ich hinke wahrscheinlich etwas hinterher, nach diesem Wechsel mitten im Schuljahr«, sagte er und nagte an seiner Unterlippe. »Ich mache mir irgendwie Sorgen wegen dieses Tests am Montag.«
»Ehrlich? Du scheinst mir nicht der Typ zu sein, der sich über Tests den Kopf zerbricht. Oder über sonst was.«
Jacks Blick streifte meinen Poncho. »Du aber auch nicht.«
Wow! Der ist wirklich nicht aus Big Ditch, dachte ich.
»Hey!«, sagte er und drehte sich zu mir. »Ich habe eine Idee. Vielleicht kannst du mir ja beim Lernen helfen? Nur wenn du Zeit hast, natürlich.«
»Ich?«, fragte ich ungläubig.
»Ja, du«, bestätigte er. »Ich will mich nicht aufdrängen oder so. Du hast wahrscheinlich eine Menge zu tun. Aber falls nicht, würdest du, öhm, wärst du gerne mein Lernpartner?«
Wäre ich!?! Dreht sich die Erde mit 107.000Kilometern pro Stunde um die Sonne? Entstehen Sterne aus kalten Wasserstoffmolekülwolken, die aufgrund der eigenen Schwerkraft kollabieren?
»JA!«, rief ich.
»Super«, sagte er, während er mir die Ausgangstür aufhielt. »Wie wär’s mit morgen nach der Schule?«
Ich nickte. »Perfekt.«
Schweigend gingen wir die Schultreppe hinunter, während schreiende Kids an uns vorbeistürmten. Ich versuchte, eine geistreiche Bemerkung aus dem Hut zu zaubern, aber alles, was mir einfiel, war: »Hey, Leute, ich habe einen Lernpartner!« Und: »Mannomann, mein neuer Lernpartner hat ein total umwerfendes Lächeln!« Zwei Dinge, die man besser nicht laut aussprach.
»Also dann«, meinte Jack, als wir schließlich auf dem Bürgersteig standen.
»Also dann«, wiederholte ich.
Er zeigte nach links, in Richtung Innenstadt. »Ich muss hier lang.«
»Und ich da«, erwiderte ich und deutete in die entgegengesetzte Richtung.
Er schob die Daumen unter seine Rucksackriemen und machte mit dem Kinn eine Abschiedsgeste. »Bis dann!«
»Auf Wiedersehen, Jack«, sagte ich.
Sobald ich mich umdrehte, legte sich ein breites, dämliches Grinsen auf mein Gesicht. War das eben wirklich passiert?
Ich schwebte praktisch nach Hause. Obwohl ich es wissenschaftlich nicht beweisen kann, schien die Sonne heller, dufteten die Blumen süßer und war das Gras auf meinem Heimweg von der Schule grüner als sonst.
Jetzt geht’s aufwärts, Susi, dachte ich, als ich durch meine von Bäumen gesäumte Straße ging.
Selbst unser Haus – ein alter gelber viktorianischer Kasten mit durchhängender Veranda und windschiefen Fensterläden – sah ein klein bisschen weniger einsturzgefährdet aus.
Meine Mom winkte mir vom Bürgersteig vor dem Haus aus zu. Sie wartete auf den Schulbus meines kleinen Bruders. Mikey geht erst in die erste Klasse, ist aber bereits ein richtiges Früchtchen. Sein Busfahrer nennt ihn ein »Sicherheitsrisiko«.
»Hi, Susi Q!«, sagte sie, als ich bei ihr ankam. »Wie war die Schule?«
»Galaktisch!«, erwiderte ich.
Mom sah überrascht aus. »Galaktisch, hm?«
»Du siehst übrigens entzückend aus«, setzte ich hinzu.
Sie blickte an sich herunter – Jeans, weiße Sneaker und ein verwaschenes T-Shirt mit der Aufschrift »BIG DITCH! GUT GENUG FÜR EINEN METEORITEN, GUT GENUG FÜR DICH!«. Wie gewöhnlich trug sie ihre Brille und ihr braunes Haar war zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden.
»Soso.« Sie zuckte mit den Schultern. »Da hat aber jemand gute Laune heute. Was ist los? Hast du eine Erfindung gemacht? Oder eine welterschütternde Entdeckung?«
»Das könnte man sagen«, entgegnete ich, während ich die Verandastufen hochging. »Wir haben einen neuen Jungen in der Klasse. Und der ist … anders.«
Und er ist mein Lernpartner. Und vielleicht sogar mehr. Vielleicht … ein Freund.
Ich öffnete die Haustür und rannte die Treppe hinauf zu meinem Zimmer, wobei ich immer zwei Stufen auf einmal nahm. Oh yeah! Von jetzt an meinte das Schicksal es endlich mal gut mit Susi Fishman. Das fühlte ich.
Aber mein Glücksgefühl zerplatzte, sowie ich bei meiner Zimmertür anlangte. Dahinter schrien mehrere Stimmen gegen ohrenbetäubend laute Musik an.
Ein wohlbekannter, computergenerierter Song spielte in Endlosschleife. BIEP-BIEP, BOOP-BOOP, DING! BIEP-BIEP, BOOP-BOOP, DING! BIEP-BIEP, BOOP-BOOP, DING!
»WARUM MÜSSEN SIE UNBEDINGT DIESEN GOTTLOSEN RADAU ABSPIELEN?«, brüllte ein Mann.
Oh-oh. Das war nicht gut. Ganz und gar nicht gut.
»SACRE BLEU!«, kreischte eine Frau. »WENN SIE NICHT SOFORT DIESE MUSIK AUSSTELLEN, WERFE ICH IHNEN MEINEN SCHUH AN IHRE RIESENRÜBE!«
Ein paar Sekunden verstrichen, und dann … PENG! …knallte etwas an die Wand.
»ES REISCHT!«, schmetterte eine andere Frau. »ISCH ’OLE MEIN SCHWERT!«
Oh nein! Ich griff nach dem Türknauf. Jetzt hieß es schnell sein, bevor Mom etwas hörte.
Denn, seht ihr, seit ein paar Monaten hüte ich ein Geheimnis in meinem Zimmer. Ein großes Geheimnis! Ein gigantisches Riesengeheimnis, das die Welt aus den Angeln heben könnte. Falls irgendwer dahinterkäme, wer da in meinem Zimmer herumschrie, wäre das eine Katastrophe!!!
Außerdem würde ich Stubenarrest bekommen, und wie ätzend wäre das denn!
Ich durfte keine Sekunde länger warten. Auf das Schlimmste gefasst, öffnete ich die Tür …
Die toten Leute in meinem Zimmer
Mitten in meinem Zimmer stand der berühmteste Psychologe der Welt, Sigmund Freud, und brüllte gegen die markerschütternde Musik an: »AAH! ICH KANN MICH SELBST NICHT DENKEN HÖREN!«
Als ich mich umsah, klappte mir die Kinnlade herunter. Es sah aus, als wäre ein Tornado durch mein Zimmer gefegt. Der Boden war mit meinen Kleidern und Schuhen, einem umgekippten Nähkästchen, aufgeschlagenen Büchern, Notizheften und zerbrochenen Reagenzgläsern übersät, dazwischen kullerten Garnrollen herum.
Jemand hatte mein Thomas-Edison-Poster von der Wand gerissen und zerfetzt. Und meine Poster von Albert Einstein und Marie Curie waren jetzt mit Ausdrucken von Nikola Teslas Kopf überklebt, unter den die Worte »Wissenschaftler Nr.1« gekritzelt waren.
Einer meiner Vorhänge war zu einem Banner umfunktioniert worden, das von Frankreichs Kriegsheldin und Schutzheiligen, Jeanne d’Arc, hin und her geschwenkt wurde.
»’ÖREN SIE AUF DIE STELLE MIT DIESE KRACH AUF! ODER ISCH WERDE SIE IM NAMEN FRANKREICHS DEN KRIEG ERKLÄREN!«, tobte sie.
Freud und ich schnappten nach Luft. Jeanne gab nur dann Kriegserklärungen ab, wenn sie fuchsteufelswütend war. Glücklicherweise hatte sie ihre Drohungen noch niemals in die Tat umgesetzt.
Jeannes Ärger richtete sich gegen einen ungewöhnlich großen Mann mit einem Zylinder, der am anderen Ende des Zimmers an meinem Schreibtisch saß. Er hatte die Augen geschlossen und war blind und taub für das Chaos um ihn herum. Amerikas sechzehnter Präsident, Abraham Lincoln, wippte mit dem Kopf im Takt zu einer Melodie, die er wieder und wieder auf meinem Laptop abspielte.
BIEP-BIEP, BOOP-BOOP, DING!
Wer hätte ahnen können, dass Abe Lincoln eine derartige Leidenschaft für moderne Musik an den Tag legen würde?
Mein Bett, das rechts von mir stand, war vollständig unter einem Berg von Kleidungsstücken in den unterschiedlichsten Stadien der Fertigstellung begraben. Obendrauf stand die legendäre Modeschöpferin, Coco Chanel. An einem ihrer Füße fehlte ein Schuh.
»SCHLUSS JETZT, MONSIEUR LINCOLN!«, befahl sie und riss sich den verbliebenen Schuh vom Fuß.
Am anderen Ende des Zimmers durchwühlte Jeanne meine Kommode und knallte dabei die Schubladen auf und zu. »ISCH WERDE SIE ZUM KAMPF FORDERN, GROSSER MANN!«, verkündete sie. »Sowie isch mein Schwert finde! Wo ist die Ding bloß?«
Zum Glück hatte ich aus genau diesem Grund ihr Schwert erst kürzlich auf dem Dachboden versteckt.
Coco hob ihren Schuh und zielte damit auf Abe.
»Coco, nicht!«, sagte ich entsetzt.
Aber es war zu spät. Coco gab Stoff. Ihr schwarzer Pumps flog schnurstracks auf Abes Kopf zu.
Er traf seinen Hut, riss ihn herunter und – PENG! – krachte in meine Wand, wo er den zahllosen, bereits vorhandenen Löchern ein weiteres hinzufügte. Ein bisschen Putz rieselte herunter.
»Schon wieder die Schuh?«, fragte Jeanne.
Freud schüttelte den Kopf. »Wir müssen wirklich an ihrer Aggressionskontrolle arbeiten.«
»Zut alors!«, murmelte Coco. »Dieser Schuh war einer von meinen Lieblingsentwürfen. Jetzt habe ich nur noch elf Paar übrig. Wenn Monsieur Lincoln so weitermacht, werde ich sie noch alle ruinieren.«
Von meiner Wand ganz zu schweigen, dachte ich.