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Sybille hat gerade ihr Abitur abgelegt, als sich ihr die Chance eröffnet, Martin, den vermissten Sohn der Millionärsfamilie Strahlberg, zu suchen und dafür eine saftige Belohnung zu kassieren. Der Auftrag führt die taffe junge Frau nach Brasilien und beschert ihr eine ungebetene Mitbewohnerin im eigenen Körper: Sie sieht plötzlich in ihren Augen auch die ihrer ermordeten Zwillingsschwester, der Freundin Martins, die von Sybille verlangt, ihren Mörder zu entlarven. Als diese sich weigert, übernimmt die Verstorbene den Körper ihrer Schwester, um das Verbrechen selbst aufzuklären.
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Seitenzahl: 596
Inhaltsverzeichnis
Widmung 3
1 48
2 100
3 153
4 205
5 257
6 309
Impressum
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.
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© 2020 novum Verlag
ISBN Printausgabe: 978-3-903271-33-3
ISBN e-book: 978-3-903271-34-0
Lektorat: Bianca Brenner
Umschlagfoto: Sabine Hauswirth
Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum Verlag
www.novumverlag.com
Widmung
Gewidmet meiner großen Familie Kropfitsch, insbesondere meiner Frau Karin, meiner Tochter Elisabeth, meinen Söhnen Johannes und Stefan, meiner Enkelin Marie Isabel und den weiteren EnkelInnen und UrenkelInnen. Herzlich zugedacht weiters meinen Freunden Linda und Helmuth Amsüss, Huberta und Georg Tichy sowie Ilse und Heinz Paier.
An Stelle des in meinem ersten Roman genannten Hund „Lumpi” ist jetzt „Strolchi” in die Geschichte eingeflossen.
Sybille
Punkt 08:00 Uhr. Mathematik-Matura. Die Schüler sitzen auf ihren Plätzen. Ein Sessel bleibt leer.
„Wo ist Martin Strahlberg?“, fragt der Klassenvorstand. Stille. Er bittet einen Kollegen, ihn kurz zu vertreten, und ruft hastig die Mutter des Schülers an.
„Er müsste schon in der Schule sein oder demnächst eintreffen“, teilt ihm diese mit. Sie überlegt, was sie tun könnte, zieht dabei gleich ihre Schuhe an und eilt zum nahen Gymnasium.
„Haben Sie einen jungen Mann gesehen, so einen großen, recht eleganten, schwarzhaarigen mit Lederjacke …?“, fragt sie unterwegs die Leute. „Hoffentlich ist er schon in derKlasse“, denkt sie gleichzeitig und beginnt zu laufen. Aber schon am Schulportal deutet ihr der Mathematikprofessor, dass er noch immer nicht hier ist.
Sie ruft ihren Mann im Büro an.
„Ist bei einer Sitzung, will nicht gestört werden“, teilt ihr eine Sekretärin mit. „Sie holen ihn sofort ans Telefon, sonst – ich bin seine Frau!“ Widerwillig meldet sich ihr Ehemann und meint:
„Ruf die Polizei an oder geh besser gleich hin; typisch Martin, verdrückt sich vor Mathematik!“ Er nimmt sogleich wieder am Sitzungstisch Platz: „Verzeihung, meine Herren!“
Dem Polizeiinspektor ist die Mutter von Martin bekannt: „Gattin eines der reichsten Unternehmer der Stadt“, erklärt er leise seinem Kollegen. Er ist sich sogleich der Brisanz der Meldung über das Verschwinden des Millionärssohnes bewusst.
„Wir leiten alles in die Wege, ›gnä’ Frau‹, nur ruhig Blut. Personalien bitte – nicht Ihre, die von … Martin. So heißt er doch; ist noch nicht 18 Jahre alt? Werden sofort mit der Fahndung beginnen!“
Die Nerven der Frau, die seit der Meldung über das Verschwinden ihres Sohnes blank lagen, beginnen sich allmählich zu entspannen: „Man hilft mir, ich habe getan, was ich konnte, aber er, mein Mann, er muss sofort heimkommen!“ Der ›Chef des Hauses‹ lässt auf sich warten. Erst gegen Abend entsteigt er seinem Mercedes. Die Hausfrau wartet erbost auf den obersten Stufen der Villa: „Oskar, wie kannst du so ruhig sein; es ist ihm sicher etwas zugestoßen!“
„Aber nein, er fühlt sich mit seinen 17 Jahren eben noch nicht reif für die Matura.“ Beim Hineingehen in die geschmackvoll eingerichtete Villa ergänzt er seine Worte: „Wirst es sehen, er taucht zum Frühstück wieder auf.“
Die Frau des Hauses bleibt die ganze Nacht wach. Bei jedem Geräusch fährt sie hoch: „Das könnte er sein, er kommt zurück!“ Vergeblich. Am Morgen fordert sie von ihrem Ehemann:
„Wir müssen etwas tun, mehr tun als bisher; Martin wurde vielleicht entführt, man wird Lösegeld verlangen …“ Bei dem Wort ›Lösegeld‹ wird Oskar hellwach. „Glaubst du, Henriette, dass da doch etwas anderes dahintersteckt als seine Angst vor Mathematik?“
Er lässt sich mit dem befreundeten Polizeipräsidenten verbinden und erfährt von diesem, er sei schon gestern vom Verschwinden – „deines Martins“, sagt dieser – informiert worden. Die Polizei tue alles in ihrer Macht Stehende, man habe auch schon „dein Telefon im Büro überwacht, falls der Entführer Lösegeld verlangt.“
Tausend Gedanken sausen im Hirn des Millionärs herum: „Überwachung, Informationsbeschaffung ohne Warnung, was können die wohl sonst noch von mir herausgefunden haben?“ Er ist höchst beunruhigt, weniger wegen Martin …
Zu Hause herrscht eisige Luft: „Oskar, du hast es nicht ernst genommen“, beschwert sich die Frau bitter und die Haushälterin nickt schuldbewusst für ihren gnädigen Herrn.
Er ruft seinen ›Spezi‹ (so heißen in Wien bisweilen hochgestellte persönliche Freunde) nun auf dem privaten Handy an: „Bitte mich sofort zu verständigen, wenn es etwas Neues gibt! Auch in der Nacht!“
Aber Martin bleibt verschwunden, alle Mühen der – diesmal wirklich – überaus eifrigen Polizei fruchten nichts.
„Wir können nicht tatenlos zuschauen und warten, wir müssen selbst etwas tun!“, wiederholt Frau Henriette. Sie ruft den ihr bekannten Anwalt Dr. Adler an, dessen Kanzlei sich in der Nähe ihrer Villa befindet. Dieser kommt sogleich und verspricht, alles zu tun, um Martin ausfindig zu machen. Dann zeigt er auf die ihn begleitende junge Frau von ungefähr 18 Jahren: „Meine Tochter Sybille hat gerade ihr Abitur in der Schweiz gemacht. Bis zur Aufnahme ihres Studiums in Wien kann sie sich – zusätzlich zu unseren Erhebungen und jenen der Polizei – in ihren Ferien dem Fall mit besonderem Eifer widmen.“
Als er ihre misstrauischen Mienen wahrnimmt, fährt er fort: „Meine Tochter hat in ihren schulfreien Zeiten immer schon Erhebungen aller Art für meine Kanzlei durchgeführt und hat dabei großes Geschick bewiesen.“ („Er hat zwar recht,denkt Sybille,aber er soll nicht so dick auftragen!“).Ungeniert fährt ihr Vater fort: „Sie hat erst vor kurzem einen untergetauchten Gauner in Italien ausgeforscht und von der Polizei höchstes Lob geerntet…“
„Weit sind wir gekommen“, ärgern sich die Eheleute Strahlberg: „Seine – sichtlich erst halb erwachsene – Tochter hängt er uns an; vergleicht unseren Sohn mit einem Gauner, niemand nimmt die Sache ernst!“ Da sagt Sybille so leise, dass man sie umso lauter hören kann: „Ist einfach durchgebrannt, ihr braver Martin!“ („So, da habt ihr es, ihr eingebildeten Millionäre!“)
In der folgenden Stille spricht sie noch leiser als vordem: „Aber nicht wegen Mathematik, auch nicht euretwegen (obwohl ihm – denkt sie –die fürsorglich tuende ›Mutti‹ und der rührige ›Alte‹ wohl sehr auf die Nerven gegangen sein dürften), sondern um sich unabhängig von eurer Bevormundung selbst zu verwirklichen!“
„Mein einziges Kind!“ „Mein Nachfolger im Unternehmen …“ Die beiden Eheleute sind sich einig: „Martin muss gefunden und zurückgebracht werden, koste es, was es wolle …“
„Sie haben Recht, dies kostet Sie eine Menge Geld, wenn ich ihn finden sollte(Habe ganz schön Mut, so frech zu agieren, aber das Theater gefällt mir!)“!Frau und Mann schauen sich das ›junge Ding‹, das sie so ungeniert unterbrochen hat, näher an.
„Meine Tochter hat ihr Abitur im besten Schweizer Internat ›summa cum laude‹ bestanden“, triumphiert ihr Vater, Dr. Adler, als er sieht, dass die Eheleute (und die Haushälterin) von den Worten des ›jungen Dings‹ beeindruckt zu sein scheinen. Und provokant fügt er hinzu: „Wenn überhaupt, dann kann noch am ehestensie Ihren ›verlorenen Sohn‹ finden, weil sie als ungefähr gleich alt wohl am besten nachempfinden kann, was er gerade vorhat. („Huch, wie Papa sich die Worte ›verlorener Sohn‹ auf der Zunge zergehen lässt.“);bekanntlich erschöpfensich die polizeilichen Nachforschungen meist bloß in der Veröffentlichung von Fahndungsblättern, die niemand anschaut.
„50.000 Euro im Voraus und ich beginne mit der Suche nach Ihrem ›Söhnlein‹“, sagt Sybille. Trotz des Ärgers über dieses freche Benehmen nickt der Hausherr: „Holen Sie das Geld morgen in meinem Büro ab, dann können Sie beginnen!“
„Nicht morgen, jetzt!“
„Wieso?“
„Weil hier der Angelpunkt der ›Flucht Martins‹ liegt! Ich brauche Informationen von allen Beteiligten. Gnädige Frau, wollen wir? Beschreiben Sie Ihren ›Liebling‹.“ Sybille drängt die anderen Personen aus dem Raum und setzt sich der Hausherrin gegenüber:
„Beginnen Sie!“ Während diese nach Worten sucht, überlegt Sybille: „Zu blöd, dass ich mich auf dieses Theater eingelassen habe; die beiden scheinen wirklich zu glauben, ich wäre willig und fähig, Martin zu finden.“
„Also, Martin ist ein …“ Die Frau bricht verdrossen ab: „So nicht!“ „Nur so, Gnädigste“, sagt Sybille. Ich muss mir ein genaues Bild von Martin machen, dann werde ich auch wissen, wohin er ›getürmt‹ ist.“ Das Wort ›getürmt‹ ärgert die Frau neuerdings:
„Ich will nicht, lassen wir das.“ „Jetzt wäre die Gelegenheit, auszusteigen, aber es ist zu interessant, um schon jetzt aufzuhören.“Sybille schnellt fast gegen ihre Intention mit der Frage heraus:
„War Martin ein hübsches Kind?“ Die Frau kann nicht anders, als darauf zu antworten: „Das hübscheste, klügste und bravste Kind, das man sich vorstellen kann!“
„Und in der Volksschule?“
„Alles Einser!“
„Freunde?“ Die Frau stutzt, dann sagt sie: „Wozu, er hat ja mich und Susi!“ Jetzt stutzt auch Sybille: „Susi?“
„Ja, sein Hund, seine Hündin“ verbessert sie sich.
„Fotos?“
„Unzählige, in allen Lebenslagen!“ Die Frau holt eine Anzahl von Fotoalben und reicht sie Sybille. Schnell blättert diese die Kinderbilder weiter, gelangt ins Bubenalter und schließlich zum ›Jüngling Martin‹. Sie ist überrascht:
„Er hat eigentlich gar nichts von einem ›Söhnchen‹ an sich, wie ich es mir zuvor gedacht habe! Diesen Burschen zu suchen könnte ich mir durchaus vorstellen: habe ja genug Zeit, um meine in der Schweiz begonnenen Studien nach den Ferien fortzusetzen.“
Sie prägt sich seine Gesichtszüge ein: Auffallend sind die klaren Augen, die blitzenden Zähne, das kühn wirkende Kinn, die fein gezeichnete Nase und die relativ dunklen, leicht gescheitelten Haare.
„Welche Farbe haben seine Augen?“, fragt sie. Die Frau reicht Sybille statt einer Antwort einige farbige Fotos, dann lacht sie: „Die Mädchen sind verrückt nach seinen blauen Augen, aber er ist sehr zurückhaltend.“
Sybille bedankt sich und bittet den ›Herrn des Hauses‹ zur Information. „Sie haben Glück, es ist Feierabend, da habe ich Zeit zur Beantwortung Ihrer Fragen.“ „Ist Martin auch so kurz angebunden wie Sie? „Ich werde dich schon noch Mores lehren! Sollst mich kennenlernen!“
„Ja, er leidet überhaupt keine Förmlichkeiten. Er lebt in seiner eigenen Welt, richtet kaum ein Wort an mich und ist frustriert, wenn ich von Geschäften spreche.“ „Wie ist seine Freundin?“
„Freundin? Er hat keine. Sie rannten ihm früher nach; seit dem Tod einer Schulkollegin vor etwa zwei Jahren reagiert er allergisch auf ›Weiber‹.“
„Hobbys?“
„Berge, Steine, Mineralien oder so ähnlich, und seine Musikinstrumente. Fragen Sie besser die Haushälterin Irma, die betreut seine Bude und räumt dort die Mineralien auf, darf aber die Geige nicht berühren.“ Dann blickt er sie ungnädig an und geht. Sybille denkt„Frechheit siegt!“und ruft ihm nach:
„Wenn ich weitermachen soll, brauche ich die 50.000 Euro Vorschuss, und zwar gleich!“ Er geht ungerührt weiter, wird von der Hausfrau mit einem Bündel Banknoten zurückgeschoben, das er dem jungen Ding widerwillig überreicht und sagt:
„Wahrscheinlich hinausgeworfenes Geld!“
Sybille schaut zum Fenster hinaus.„Ein schöner Garten“,denkt sie, hört die Haushälterin kommen, dreht sich nicht um und fragt nur, ohne die Stimme zu heben:
„Wie lange sind Sie schon im Haus?“
„Seit der Geburt von Martin.“
„Das ist wohl die ›echte Mutter‹ von diesem verwöhnten Boy“,schließt Sybille. „Soll das schönste, bravste, herrlichste Kind der Welt gewesen sein!“„Jetzt wird wohl die Wahrheit über Martin kommen“,denkt sie dabei.
„Sie brauchen nicht zu übertreiben, aber Martin ist wirklich ein feiner junger Mann!“ Die Haushälterin spricht betont hochdeutsch, nur ein leicht ironisierender Ton verrät die Wienerin.„Ist die Beste im Haus“,denkt Sybille, dreht sich zu ihr um und sagt mit gänzlich anderer, sympathischer Stimme:
„Bitte, Frau Irmi, erzählen Sie mir etwas über ihn, ich möchte ihn nach Hause zurückbringen.“ Sybille beginnt die Aufgabe Spaß zu machen: „Jetzt, wo ich schon Geld dafür habe, wird es sogar recht spannend werden.“
Durch den liebenswürdigen Tonfall der Worte scheint eine unsichtbare Wand zwischen den beiden weggefallen zu sein. Sie schauen sich nun freundlicher an. Irmi berichtet:
„Er war in der Villa viel allein; die ›Gnädige‹ genießt den Reichtum des ›gnä’ Herrn‹ in vollen Zügen. Luxuriöse Reisen, Aufenthalte in den teuersten Hotels – Sie wissen schon, der Bub ist nur im Weg. Er wird mit Geschenken überhäuft, die er nicht braucht …“ Die Frau leidet beim Erzählen sichtlich mit ›ihrem‹ Martin mit.
„Führen Sie mich bitte in sein Zimmer!“„Die Sache beginnt mich wirklich zu interessieren; wird wohl nicht schwer sein, den jungen ›Maturaschwänzer‹ zu finden. Die 50.000 kann ich gut gebrauchen.“
„Von wegen Zimmer“, antwortet Frau Irmi, „er hat eine ganze Etage für sich.“ Eine eigene Welt tut sich für Sybille auf; damit hat sie nicht gerechnet: Keine Computer, kein einziger Poster einer ›Schönen‹, nur ein einfaches Bett zwischen fein gegliederten Tischchen und Schränken. Darauf Mineralien und Gesteinsdrusen verschiedenster Art; manche davon offensichtlich wertvoll.
„Das schönste Stück fehlt seit zwei Jahren“, seufzt Irmi.
„Schon wieder ›zwei Jahre‹,denkt Sybille:„Das muss seine eigene Bewandtnis haben.“
„Was war vor zwei Jahren?“, fragt sie direkt heraus. Irmi putzt sich die Nase, antwortet nichts, sondern öffnet die nächste Türe: Fitnessgeräte stehen wie Mahnmale im Raum.
„Hat er die verwendet?“
„Und ob! Er hat seit zwei Jahren jeden Tag damit trainiert, um seine Muskelkraft zu erhöhen.“„Wie ich“,denkt Sybille.„Meine Kunst der Selbstverteidigung kann sich sehen lassen; habe den vierten Grad des Wing Tsun erreicht.“Sie sagt dies laut zu Irmi, um sie gesprächiger zu machen.Als sie aber darauf drängt, zu erfahren, was es um die ›zwei Jahre‹ an sich hat, weicht Irmi aus: „Fragen Sie die ›Gnädigste‹ oder den ›gnä‘ Herrn‹.
„Sinnlos“, tut Sybille ab.
„Oder fragen Sie in der Schule nach!“, sagt Irmi noch, dann geht sie wie in einem Theater ab. Sybille erkennt, dass im Hause der Strahlbergs derzeit nicht viel zu holen ist, verlässt das Haus, hängt sich bei ihrem vor der Villa wartenden Papa mit den Worten „Chef, da geht nichts mehr“ ein und verlässt mit ihm die Villa.
Das spurlose Verschwinden des Millionärssohnes erregt allgemein großes Aufsehen. Die Polizei tappt über seinen jetzigen Aufenthalt gänzlich im Dunkeln und von den Detekteien kommen nur Rechnungen über ausgelegte Gelder, aber keine Erfolgsmeldungen. Auch die ›ominösen zwei Jahre‹ lassen sich für Sybille zunächst nicht zuordnen, bis sie – scheinbar eine Zigarette rauchend und betont lässig – vor dem Gymnasium die herausströmenden Schüler und Schülerinnen befragt: „Wohin könnte sich eurer Ansicht nach der unsympathische Martin Strahlberg ›geflüchtet‹ haben?“ Die ›Bande‹ zuckt die Achseln, nur das Wort ›unsympathisch‹ will eines der Mädchen nicht auf Martin sitzen lassen:
„Er war zwar sehr zurückhaltend, aber – zumindest was mich betrifft – immer sehr freundlich.“ Sie erntet – überraschend für Sybille – schiefe Blicke von den Übrigen. Einer aus der Gruppe sagt plötzlich zu ihr:
„Nur weil Sie seiner ehemaligen Flamme ähnlich sehen, brauchen Sie sich nicht um diesen Schwächling zu kümmern!“ Grußlos hauen die Burschen und Mädchen ab. Sybille läuft dem Mädchen nach, das ihn zumindest ›sehr freundlich‹ gefunden hat:
„Bitte, bitte, lassen Sie mich nicht so erfolglos heimgehen! Ich muss Näheres über Martin in Erfahrung bringen, sonst werde ich ihn nie finden.“
„Sind Sie ihre Zwillingsschwester? Er hat diese doch fürchterlich im Stich gelassen!“ „Wer ›ihre‹ und ›diese‹?“ Sybille verliert das erste Mal ihre Selbstsicherheit.
„Die Schule, unser ganzes Viertel, alle Leute hier wissen es, er hat seine Freundin Sybille – übrigens, Sie schauen ihr wahnsinnig ähnlich – bei dem Unglück unter dem Felsen liegen lassen, obwohl es angeblich – ich glaube es aber nicht – ein Leichtes gewesen wäre, den über ihr liegenden Gesteinsbrocken hochzuheben und sie herauszuziehen. Er hat die ganze Nacht davor zugebracht. Als man ihn und Sybille am nächsten Morgen fand, hob einer der Schüler – auch das kommt mir unwahrscheinlich vor – den Stein spielend hoch; aber sie war bereits tot.“ Die Schülerin setzt – als sie die Zweifel von Sybille wahrnimmt – fort:
„Er war kein jämmerlicher Schwächling, kein ›Muttersöhnchen‹. Ich kam dazu, als man Sybilles Leiche wegbrachte und er wie ein gequälter Wolf hinterherging. Blutiges Fleisch hing von seinen Händen. Er sah schrecklich aus. Ich glaube, er hat lautlos geweint. Er war nicht einmal beim Begräbnis dabei.“
„War sie ein hübsches Mädchen?“, fragt Sybille „Nicht besonders, so halt wie Sie!“, erhält sie zur Antwort.
„Waren die beiden intim befreundet?“, setzt Sybille fort. „Und ob, er hat sie sehr gerne am Klavier begleitet und mit ihr Steine gesucht, Mineralien oder so ähnlich. Beide waren danach, aber auch nach einander, verrückt. Wahnsinn, wie Sie ihr ähnlich schauen!“
Für Sybille gerät ihre so heile Welt in Unordnung. Ihr Selbstbewusstsein bekommt durch den Wortwechsel: „War sie ein hübsches Mädchen?“ „Nicht besonders, so halt wie Sie“, einen argen Dämpfer. Sie bricht das Gespräch mit der Schülerin ab, steigt auf ihr Fahrrad und radelt höchst verärgert nach Hause.
Man muss wissen, dass Sybille ihrem Aussehen an sich keine besondere Bedeutung zugemessen hat; im Internat hat man darauf ohnehin nicht sonderlich Bedacht genommen. Die Ideale der Schule waren Sport und Kultur, geistige Freiheit und Ungebundenheit. Aber ›als nicht besonders hübsch‹ bezeichnet zu werden, verdrießt Sybille doch sehr.
In ihrer kleinen Wohnung am Wiener Graben hoch über einem Modegeschäft schaut sie in ihren Spiegel:
„Nicht besonders hübsch, so wie ich“,ätzt sie gegen sich selbst.„Die Figur ist okay“,sagt sie laut, obwohl sie davon – zufolge des kleinen Spiegels – nicht viel sieht.„Mein Haar, na ja, ich könnte einmal zum Friseur gehen; aber schön und dicht ist es allemal.“Sie gibt sich einen Ruck:„Blödsinn, ich bin, wie ich bin, und schau nicht mehr hin.
Von allen Personen, die ich bisher über Martin befragte, macht die Haushälterin Irmi den besten Eindruck; ich muss zumindest etwasvon ihrem Vertrauen gewinnen, denn sie weiß offensichtlich am meisten über diesen, diesen …“Sie atmet tief durch: „… diesen komischen Vogel.“Sybille gesteht sich ein, dass sie ›der Bursche‹ zu interessieren beginnt.
Sie verabredet sich mit der Mutter Martins und wartet im Empfangsraum der Villa Strahlberg auf die Begrüßung durch die ›gnä’ Frau‹. Aber es kommt Frau Irmi: „Frau Henriette ist beim Friseur, ich soll ihre Fragen beantworten.“
„Etwas Besseres könnte mir nicht passieren“,denkt Sybille. Gewollt nebenbei sagt sie: „Ich glaube einfach nicht, was die Leute über Martin reden. Wenn er ein Schwächling war, was bedeuten dann die Fitness-Geräte in seinen Zimmern?“
„Die hat er, wie ich Ihnen schon sagte“, – Irmi zuckt mit den Achseln – „vor zwei Jahren angeschafft; seither trainiert er verbissen. Man sieht ihm nicht an, dass er jetzt über jene Kraft verfügt, die er sich damals so gewünscht hatte.“
„Was war ›damals‹?“, fragt Sybille mit einer Stimme, die echte Anteilnahme erkennen lässt. Sie fügt gleich hinzu:
„Sie müssten es am besten wissen, dass er seine Freundin nie und nimmer in Stich gelassen hätte.“ Dann lacht sie ironisch: „Zumal sie mir“(›nicht besonders hübschen Person‹,denkt sie dabei verdrossen) ähnlich geschaut hat und mich niemand im Stich lässt, auch Sie – liebe Frau Irma – bitte, bitte nicht.“
„Sie schauen ihr so ähnlich wie ein Ei dem anderen!“, sagt Irmi, die Bitte geflissentlich überhörend. „Aber kommen Sie mit mir“, ergänzt sie und führt Sybille noch einmal in die Wohnräume Martins: „Hier müssten Sie einen Hinweis darauf, wo er zu finden ist, entdecken können. Ich lasse Sie allein!“
„Da bin ich nun – überlegt Sybille – aus Übermut und aus einem eher boshaften Anlass heraus im persönlichen Reich ›meines Martins‹.“Sie beginnt zu lachen:„So ein Trottel, gibt sich offensichtlich die Schuld am Tod der ›anderen Sybille‹ und reißt aus diesen prächtigen Räumen aus. Soll meine kleine Wohnung sehen!“
Dann beginnt sie die Zimmer zu durchforsten. Über einem weißen, mit Goldornamenten versehenen Bösendorfer-Flügel befindet sich in einer besonders eleganten Glasvitrine eine alte Geige. Sie nimmt sie auf und lacht:
„Habe im Internat auch Geige geübt und es im letzten Jahr schon so weit gebracht, dass ich im kommenden Semester sogar an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien weiterstudieren werde. Muss zwar erst die Aufnahmeprüfung bestehen, kenne mich aber schon recht gut bei Geigen aus. Dieses Instrument sieht auf den ersten Blick ziemlich heruntergekommen aus, hat jedoch eine wunderbare Ausstrahlung. Was steht drinnen? ›Giambattista Guadagnini fecit Mediolani 1751‹. O Gott meiner Väter, was für ein teures Instrument! Aber ist es eine echte Guadagnini? Werde es sogleich überprüfen.“
Die Saiten des Instrumentes sind alt, fast verrostet, doch Sybille stimmt sie rasch, greift mit voller Lust in sie hinein, angelt sich einen Bogen aus der Vitrine und intoniert die ›Carmen-Fantasie‹, die sie bei der Diplomprüfung im Schweizer Konservatorium gespielt hat.„Habe dieses Stück auch zur Abiturfeier im Internat vorgetragen; huch, diese Violine klingt viel besser als meine Geige.“
„Frau Irmi, spielt Martin die Geige?“ fragt Sybille die Violine wieder absetzend. Die Haushälterin, die auf das Geigenspiel Sybilles ins Zimmer zurückgekommen war, schüttelt den Kopf: „Das Kloster hat die Geige nach dem Tod der Schülerin Martin überlassen, weil er der einzige Mensch war, mit dem sie näheren Kontakt pflegte und die Geige das Einzige war, was Sybille besessen hatte. Er hat sie – sie sah Ihnen wirklich sehr ähnlich – hier oft am Klavier begleitet.“
„Was war in dieser Vitrine noch drinnen?“, fragt Sybille neugierig. „Eine außerordentlich schöne und wertvolle Edelsteindruse mit vielen großen Smaragden drauf.“ Mit einem bedeutungsvollen Blick fährt Irmi fort: „Sie haben das Stück in den Salzburger Bergen gemeinsam gefunden, aber seit dem Tod von Sybille“ – der Name sticht ›unserer‹ Sybille ins Herz – „ist es verschwunden.“ Dann schaut sie sich um, ob ja niemand in der Nähe ist, und flüstert: „Ich glaube, er hat das wunderbare Mineral heimlich in ihren Sarg gelegt.“
„Smaragde, wo kann man sie noch finden?“, fragt Sybille einer plötzlichen Eingebung folgend. „Weiß nicht, aber er hat genug Bücher darüber.“
Für Sybille beginnt eine stundenlange Suche nach Stellen in den mineralogischen Büchern Martins, die Smaragde zum Gegenstand haben. An der Spitze Kolumbien, dann Südafrika, Ceylon, Madagaskar, Indien und so weiter. Sybille sieht die Bücher durch. Es fällt ihr auf, dass solche über Fundstellen in Brasilien fehlen. Sie nimmt ihr iPhone zur Hand und ›googelt‹ nach dortigen Smaragdfundstellen. „Eine ganz neue in Carnaiba!“, entnimmt sie einer Homepage.
„Dahin, mein Lieber, bist du ausgerissen!“Die Erkenntnis trifftsie wie ein Schlag:„Du hast Bücher und Karten über Fundstellen in Pernambuco – Carnaiba liegt wahrscheinlich dort – mit dir genommen!“
Als die Hausfrau vom Friseurbesuch zurückkommt, findet sie ein noch frecheres ›junges Ding‹ vor als ehedem. „In ein paar Monaten habe ich den ›Ausreißer‹“, sagt Sybille der nach teurem Parfum duftenden Henriette. Dann lacht sie – als „empörend“ empfindet es die Hausfrau – und verlässt ihres Erfolges sicher das Haus.
Am Gartentor wedelt ihr ein Hund entgegen: „Das wird Susi sein“,denkt Sybille. Sie bückt sich hinunter und kost das schöne Tier. „Weißt du, ich suche dein Herrchen“, flüstert sie, als wäre dies ein Geheimnis nur zwischen Susi und ihr.
„Sie können sie haben“, sagt Henriette, die ihr nachgekommen ist und die Einwände der hinzukommenden Irmi mit einer verächtlichen Bewegung ihrer Hand übergeht.
Susi scheint sofort einverstanden zu sein. Sie lässt sich widerspruchslos ins Einkaufskörbchen von Sybilles Fahrrad laden. Mit den Worten „wir sind ein tolles Paar“ schwingt sich die neue Eigentümerin auf und hört noch, wie der ebenfalls in den Garten kommende Hausherr zu seiner Frau sagt: „Die beiden Gören passen trefflich zueinander; wir werden weder sie noch unser schönes Geld wiedersehen.“
Sybille hat es sich freilich zu leicht vorgestellt, ihre kleine Wohnung mit einem Hund zu teilen. Susi braucht Nahrung und Auslauf, sie verlangt nach Liebe und Abwechslung und bleibt nicht gern allein zu Hause. Am „Graben“ in Wien schauen die Leute sehr genau, ob das Frauchen das ›Gackerl auch ins Sackerl‹ tut und fachgerecht entsorgt. Als neues Frauchenübernimmt sie aber die Mühsal mit Susi gerne, richtet dem Hündchen ein passendes Körbchen ein und freut sich, dass es dieses sogleich als seine Liegestatt annimmt. Dann erst überlegt sie sich ihre derzeitige Situation:
„Martin muss seine Flucht schon seit langem geplant haben“,überlegt sie.„Er hat sie mit großer Raffinesse durchgeführt, sonst wäre er schon längst von der Internationalen Polizei aufgegriffen worden, sind doch die Zeitungen voll von Berichten über das Verschwinden des Millionärssohnes.“
Sie öffnet ihren Computer und sieht die E-Mails durch. Eine Nachricht von Mama ist dabei: „Wo steckst du, melde dich, oder besser: Komm heute zum Abendessen …“
„Ich komme“, antwortet Sybille und zeichnet mit ›deine nicht besonders hübsche Tochter‹.„Aber vorher wird geduscht!“
Während das warme Wasser wohlig über ihren Körper fließt, sagt sie laut und fröhlich: „Schlank bin ich jedenfalls, und braun auch, zumindest so wie diese blöde Schülerin oder die andere Sybille (ich war ja auch im besten Schweizer Internat). Mein Busen ist vielleicht etwas zu zart, zu klein“,fügt sie sarkastisch hinzu. „Die Haare lasse ich mir diesmal aber frei über die Schultern hängen; möchte die sehen, die schönere hat.“
Während sie sich abtrocknet, überlegt sie.„Martin wird mit dem Fahrrad ausgerissen sein, an irgendeine Grenze. Aber ob er schon in seinem ›gelobten Land‹ ist, steht in den Sternen. Ich kann mir also Zeit lassen.“
„Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist die Schönste im ganzen Land“,lacht sie ihr Spiegelbild an und zeigt sich die Zunge. Blitzende Zähne kommen zumVorschein.„Nicht schlecht“,urteilt sie sachverständig.„Und erst meine Nase, schön wie jene von Kleopatra im Asterix“,ergänzt sie.
Sie will sich gerade über ihre von allen Mädchen im Internat als smaragdgrün bezeichneten Augen freuen, als sie fürchterlich erschrickt: Sie sieht plötzlich hinter ihren Augen ein weiteres lebendiges Augenpaar.
„Seit dem ›Fall Martin‹ bin ich wohl total überzogen“spricht sie zu ihremSpiegelbild:„Meine Augen sind grün, aber diese da sind blau, also nicht von mir!“He DU da, verroll‘ DICH“,denkt sie böse, „was, DU hast höchste Erlaubnis, in mir zu sein, dass ich nicht lache; über meinen Körper verfüge ich, nur ich und sonst niemand!“
Sybille wendet sich verstört ab, dann aber abrupt wieder dem Spiegel zu:„Jetzt sind die fremden Augen weg, Gott sei Dank! Nur nicht mehr hineinschauen!“Rasch zieht sie sich an und eilt zu ihren Eltern, am Stephansdom vorbei auf den ebenfalls im ersten Bezirk Wiens liegenden Hohen Markt. Sie läutet stürmisch, fällt im wahrsten Sinn des Wortes zur Wohnungstür hinein und ruft. „Papa, Mama, schaut mir in die Augen, fällt euch etwas auf?“
„Herz, du hast wunderschöne, smaragdgrüne Augen, wir wissen es, aber wozu die Frage?“ Der Papa nimmt seine geliebte Tochter in die Arme: „Nimm die Sache mit dem Muttersöhnchen Martin nicht so ernst, bleib gelassen und pfeif auf einen Erfolg. Das Geld werden sie, wenn er zurück ist, ohnedies zurückverlangen.“ Mama fügt hinzu: „Hast erst dein Abitur gemacht, geh auf Urlaub, am besten mit uns, und genieße jetzt mit uns ein feines Abendessen.“
Der Schock des doppelten Augenpaares sitzt bei Sybille aber tief. Sie wagt es nicht, wieder in den Spiegel zu schauen, und fragt, was schon lange nicht mehr vorkam: „Kann ich die Nacht bei euch bleiben?“
„Wunderbar“ sagt Mama, „wir schauen ›Universum‹.“ Papa schlägt vor, dass sie sich das Champions-League-Spiel Real Madrid gegen FC Barcelona anschauen.
„Gott sei Dank, meine Familie funktioniert noch!“, denkt Sybille dankbar und verdrängt ein aufkommendes Angstgefühl:„Diese Augen, was soll das, ich spinne!“
Junge Menschen von der Art Sybilles schlafen trotz beunruhigender Erlebnisse rasch ein. Den Teddybären aus Kindestagen hält sie noch in der Früh in den Armen. Dann wirft sie sich schwungvoll ins Frühstück und in den Tag: „Gelacht, ich zeige meinem Spiegelbild die Zunge!“ Sie freut sich, dass das doppelte Augenpaar wohl nur Einbildung war. Sie erschrickt aber wieder:
„O Gott, Susi, ich hab ganz auf mein Hündchen vergessen!“Sie rennt mit den Worten „Bussi Papa, Mama“ aus der Wohnung. Unterwegs zu ihrer eigenen holt sie schon weit vorher ihre Schlüssel hervor und denkt dabei:„Ich weiß noch gar nicht, welche Rasse Susi ist“,als sie dahin belehrt wird, dass es sich um ein einige Jahre altes ›Parson-Jack-Russel-Terrier-Weibchen‹ handelt.
„Ich spinne schon wieder! Woher kommt mir diese Information?“Da springt ihrschon Susi schweifwedelnd entgegen.„Ich muss mit ihr gleich ›Gassi‹ gehen“sagt sie sich und weiß nicht recht, ob es ihre eigene Idee war.„Natürlich, das ist ja wirklich naheliegend!“
Aber sie wird das Gefühl nicht los, dass ihr die Gedanken mehr eingegeben wurden, als dass sie sie selber gedacht hätte. Doch sie verdrängt zunächst alle sie belastenden Erwägungen und führt Susi auf die Straße. Sie zeigt einer Frau die Zunge, weil diese penetrant kontrolliert, ob sie das Häuflein, das Susi an eine Mauerecke modelliert, auch wirklich einsammelt und entsorgt. Dann überlegt sie, ob sie den ›Fall Martin‹ weiter behandeln soll.
„Die Nachtrags-Aufnahmeprüfungen zur Fortsetzung meines Violine-Studiums an der Wiener Musikuniversität sind erst im Herbst, ich habe also Zeit, mich um den ›ominösen Fall Martin‹ zu kümmern. Da muss ich aber zunächst heraus- bekommen, was vor zwei Jahren passierte.“
Sie lässt sich einen Termin beim Mathematikprofessor und gleichzeitigen Klassenvorstand der Maturaklasse Martins geben: „Bitte sehr bald, denn die Sache des verschwundenen Millionärssohnes gestattet keinen Aufschub“, fügt sie ihrem Anruf mit dem Handy bei, als sie Ausflüchte merkt.
Dementsprechend reserviert wird sie von ihm empfangen. „Sie kennen Martin und haben Sybille gekannt!“, eröffnet sie das Gespräch.
„Und?“, fragt er dagegen.
„Ich bin beauftragt, ihn zu finden“, setzt sie fort, bekommt aber sogleich zur Antwort: „Das wird die Polizei wohl besser können, als …“ Sybille erkennt, dass sie so nicht weiterkommt und ändert ihre Strategie:
„Ich habe gehört, dass Sie ein fantastischer Pädagoge sind, ich hätte gerne bei Ihnen Mathematik gehabt; mein Professor in der Schweiz war so fürchterlich fad.“ „Ist nicht lange her, Ihre Matura“, sagt der Lehrer von oben herab, findet aber Sybille nun doch irgendwie sympathisch: „Also, was wüssten Sie gerne?“
„Was war – ist – Martin für ein Mensch?“
„Eine Niete, ein Söhnchen, ein …, ach was, ein Spinner.“
„Und wie äußerte sich dies?“
„Mathematik hochbegabt, aber uninteressiert; trotz vorzüglicher Schulleistung nur auf Mineralien, Musik und Eigenbrötelei aus; jede schulfreie Zeit mit dieser Sybille in den Bergen; haben wohl auch einiges gefunden; redete seit dem Unfall nur das Allernotwendigste, verachtete offensichtlich jedermann und ging Lehrern und Schülern, wo er konnte, aus dem Weg.“
„Und seine Freundin?“, fragt Sybille gespannt.
„Spielte sehr gut Geige, wollte Geigerin werden. Außerdem ging sie mit ihm durch dick und dünn Mineralien suchen, war aber sonst nur ein echtes Durchschnittskind, so ähnlich wie Sie!“ Sybille verdrießen die Worte; sie fühlt eine echte Partnerschaft im Ärger mit jemand anderem, wird sich dessen aber nicht bewusst, sondern pariert aus eigenem Antrieb:
„Er hat aber doch versucht, sie unter dem Felsbrocken herauszuholen! „Von wegen ›herausholen‹! Das Miststück – verzeihen Sie – hat bloß über seine eigenen Verletzungen an den Armen geheult. So haben ihn und Sybille drei Kameraden vorgefunden. Einer von den Burschen hat mit Leichtigkeit den Stein hochgehoben und sie herausgezogen. Sie war aber schon tot. Hätte er, Martin, das Weichei, das getan, wäre die Schülerin noch am Leben!“
Sybille fühlt eine starke innere Emotion, es ist ihr, als wollte sie sich übergeben, ihre Augen bohren sich wie Pfeile in den Mann; sie bringt aber nur hervor:
„Und wieso nehmen Sie an, dass es genau so war?“
„Haben die Burschen übereinstimmend berichtet und auch vor der Polizei unter Wahrheitspflicht so ausgesagt.“
Sybille hat genug.„Der Mann sagt das, was er weiß“,denkt sie.„Alles wirft ein ausgesprochen schlechtes Bild auf diesen Martin. Dennoch muss ich ihn finden. Ob er schon in Brasilien ist?Sie spürt in ihrem Inneren eine deutliche Ablehnung:„Noch nicht? Wo dann? Woher kommen mir so suggestive Gedanken?“
Mit diesen unausgegorenen Gedanken schwingt sie sich aufs Fahrrad, mit dem sie gekommen ist, und fährt von Döbling wieder in den ersten Bezirk der Stadt zu ihrer Wohnung am Graben zurück.„Wo dann?“,rumort es in ihrem Inneren immernoch, und schon wird sie von einer Polizistin aufgehalten: „Fahrradfahren am Graben ist verboten, 20 Euro, meine Dame!“
„Setze ich auf die Rechnung ›derer von Strahlberg‹“,denkt Sybille hämisch und lässt sich Zeit, die Szene – einige Neugierige schauen zu – so breit wie möglich auszukosten. Da fällt ihr ›Susi‹ ein.„Hundefutter, Gassi, Sackerl!“Nun hat sie es eilig, rennt die Stiegen hoch(„Brauch keinen Aufzug!“) und fängt Susi auf, die ihr in die offenen Arme springt.
„Mein süßes Mädchen, komm, wir gehen gemeinsam ›Gassi‹.“Es war höchste Zeit, denn Susi muss – kaum aus der Haustüre heraus – gleich ihr ›Geschäft‹ verrichten. Die Leute in der Nähe beobachten wiederum genau, ob Sybille den Hundekot wohl säuberlich einsammelt. Sie schaut sich um, wo sie das noch warme Sackerl ablegen könnte. Ein junger Mann zeigt ihr einen Abfalleimer und meint: „Meinen Hund führe ich dazu meist auf eine Wiese am Rand von Wien“, und ergänzt: „In Döbling.“
Sybille wird rot. Sie ärgert sich darüber:
„War eben erst mit dem Fahrrad dort, hätte Susi mitnehmen sollen.“ Sie wendet sich ab, damit man ihre Röte nicht wahrnehmen kann. „Ich muss morgen auch dorthin, Matura im Gymnasium“, sagt er.
Wie ein Blitz aus heiterem Himmel treffen diese Worte Sybille. Sie will gerade fragen: „In der Klasse eines gewissen Martin Strahlberg?“, da überlegt sie – typisch Sybille – dass sie sich im Falle der Bejahung aus einer vielleicht wertvollen Deckung begibt.
Sie überlegt ihre Möglichkeiten und sagt – mehr aus Höflichkeit, so sollte es scheinen: „Was haben Sie für einen Hund?“ „Auch einen solchen Terrier, aber einen Rüden, er ist viel größer als Ihre …“
„Susi“, sagt Sybille. Sie wendet sich scheinbar zum Gehen und hofft darauf, dass er sich anschließt.„Gewonnen“,denkt sie, als er sagt, er gehe noch ein bisschen mit ihr mit:
„Ich will mir ein Buch über Brasilien kaufen“, sagt er: „In der Nähe müsste ein Geschäft mit geografischem Lesematerial sein. „Freytag-Berndt“, weiß Sybille und überlegt, wie sie ihn – natürlich rein aus detektivischer Neugier – „dingfest“ machen könnte.
„Brauche selbst auch etwas aus dem Geschäft“, äußert sie daher und empfindet eine positive innere Anregung. Sie schaut sich den „Knaben“, wie sie ihn innerlich etwas abwertend nennt, näher an. „Nicht gerade unsympathisch“,findet sie,„etwas rotblond, zu viel Fleisch überall, aber sonst recht ordentlich.“
„Da hat es einen großen Skandal gegeben“, sagt sie leichthin und zieht Susi mit sich. Stolz, dazu aus erster Hand berichten zu können, plustert sich ›der Knabe‹ auf:
„Aus unserer Klasse, der Martin Strahlberg!“
„Soll der Sohn eines Millionärs sein, aber die Zeitungen übertreiben wohl“, setzt Sybille nach.
„Mitnichten, ein steinreiches Individuum, verschwindet einfach vor der Matura … tschüss und ward nicht mehr gesehen. Hatte wohl Grund dazu!“ Sybille scheint es, als würde es in ihrem Inneren rumoren; die abwertende Äußerung ärgert sie auch selber. Aber eingedenk ihres mentalen Vorbehaltes zeigt sie unbeeindruckt auf das Geschäft vor ihnen: „Freytag-Berndt.“
Sie gehen hinein. Der junge Mann ersteht ein Buch über Brasilien. „Weil ich in den Ferien dorthin fahren werde.“ Während er es bezahlt, fällt es zu Boden, eine Seite fliegt auf, als wäre sie aufgeblättert worden: „Carnaiba, die neue Edelsteinstadt des Staates Pernambuco.“
Sybille will wegschauen, es gelingt ihr nicht recht. Ihr Begleiter sieht ihre Verwirrung und meint fröhlich, aber ohne Anmache: „Sie könnten ja mitfahren.“ Sybille tut angetan und antwortet mit einem charmanten Lächeln: „Wir könnten bei Gelegenheit zumindest über Brasilien reden.“
Der junge Mann schlägt tapfer „Morgen Nachmittag, nach der letzten Maturarbeit“ vor und ergänzt: „Vor dem Stephansdom.“ Sybille nickt. Dann hebt sie ihre bezaubernde Susi hoch und geht Richtung Hoher Markt.„Papa und Mama werden sich freuen, wenn ich auftauche, und Susi braucht etwas Abwechslung“,entschuldigt sie ihr Bedürfnis nach einem beruhigenden menschlichen Kontakt.Papa ist dazu wie geschaffen …“
Er liest gerade die neuesten Nachrichten über den Entführungsfall. Es werde ein Verbrechen vermutet, „zumal der junge Mann viele Feinde gehabt haben soll“, sagt er ergänzend zu den ›drei Damen‹, denn er rechnet zu Mama und Sybille auch Susi dazu.
„Eine Zeitungsente“ sagt Sybille, „ich werde bald in Erfahrung bringen, was wirklich hinter der ganzen Sache steckt. Aber für heute möchte ich nur bei euch sein und mich als kleines Mädchen fühlen.“ Sie kuschelt sich auf dem Sofa im Wohnzimmer mit Susi in eine Ecke und weist alle Gedanken an einen ›gewissen Martin‹ weit von sich …
Schon von weitem sieht sie am nächsten Tag den rotblonden jungen Mann. Er trägt ein weiß-grün kariertes Hemd und eine braune Lederjacke; diese lässt er so weit offen, dass man die blau-schwarz gestreifte Krawatte gut sehen kann.„Schrecklich, da passt gar nichts zusammen“,denkt Sybille;„fesch“ sagt sieaber und reflektiert masochistisch auch über ihr eigenes Aussehen:„Bin ebenfalls nicht besonders hübsch.“
Er gibt sich als Kavalier, lädt sie in das ›Café Aida‹ am Stephansplatz ein und bestellt für beide je einen großen Espresso. „Verbrechen im Entführungsfall Strahlberg vermutet“, lautet die Überschrift der Zeitung, die Sybille – die gute Gelegenheit nützend – für ihn gut sichtbar platziert. „Könnte sein“, tut er wichtig, „hatte genug Feinde, der Martin.“
„Feinde in dem jungen Alter?“
„Ja, er war nicht nur sehr reich, sondern auch persönlich unnahbar. Außerdem hatte er unverdientes Glück bei den Mädchen. Das alles erzeugte schon allerhand Neid in seiner Umgebung. „Reden wir von etwas anderem“, unterbricht ihn Sybille, „mir geht Strahlberg auf die Nerven.“
„Kann es mir vorstellen, dass Sie – oder darf ich Du sagen – von einem Typen wie Martin nichts wissen wollen, obwohl Sie – du seiner ›Flamme‹ sehr ähnlich siehst!“
„Wieso soll er so ›unverdientes Glück‹ bei du meintest wohl einem Mädchen gehabt haben, da ich und wohl auch seine mir sehr ähnliche Flamme nicht besonders hübsch waren – Verzeihung – sind.“
Zur großen Überraschung Sybilles schaut sie der junge Mann errötend und nahezu scheu an: „Sie, du, nicht besonders hübsch, dass ich nicht lache, ihr beide seid außerordentlich schön – gewesen“, fügt er hinzu. „Aber sie – Sybille – hatte blaue Augen, aber Sie haben ja grüne. Wie heißen Sie – heißt du eigentlich?
In Sybille rumort es wie in einem Theater vor dem Hochgehen des Vorhanges. Noch nie hat ihr jemand gesagt, dass sie schön, außerordentlich schön ist. „Das stimmt sicherlich nicht, zumal man im Internat nie so etwas auch nur erwähnte und ich auf mein Äußeres nie besonderen Wert gelegt habe.“
Sie fixiert ihren ›Casanova‹, dreht gedanklich sofort um:
„Ich will über den blöden Martin was erfahren und nicht über mich noch blödere Kuh – von einem so“ – es kommen ihr beinahe mütterliche Gefühle – „harmlosen Jungen.“
„Wenn ich ›deiner Sybille‹ – mein Lieber – so ähnlich sehe, kannst du mir etwas von ihr erzählen?“, sagt sie, ihre Interessen wieder aufnehmend … Und er geht über vor lauter Wichtigkeit:
„Alle sind – waren – in sie verliebt; ich natürlich nicht, mir war sie zu“ – er überlegt, wie er es formulieren sollte – „zu abgehoben“, findet er schließlich den ihm richtig scheinenden Ausdruck.
Sybille denkt:„Die Trauben waren dir wohl zu sauer“, sagt aber wie ein Kumpel: „Kann es mir vorstellen, das wird – wie heißt schon das ›Weichei‹?“ – „Martin“, wirft er ein – „das wird diesem wohl gefallen haben!“
„Ihm gegenüber war sie natürlich betont artig und fein“, fährt er fort, „seine atheistischen Ansichten haben sie sicherlich gereizt. Vielleicht wollte sie ihn aber auch bloß bekehren. Jedenfalls hat sie ihn mit ihrer Geige total verrückt gemacht.“
Sybille ändert ihre Taktik: „Schau, schau, vielleicht war er aber persönlich doch netter, als ihr junge Herren Mitschüler es euch eingestanden habt“, und droht schelmisch mit dem Zeigefinger. „Schon, fesch war er ja und gut in den Fächern auch, aber schon sehr hochnäsig.“
„War auch er in sie verliebt?“
„Hätte es nie gezeigt, war viel zu eitel! Aber ich glaube heimlich schon, weil er viel mit ihr musizierte und über Mineralien und edle Steine – rein wissenschaftlich, hat er sich ausgedrückt – gesprochen hat.“
„Wie ist es dir heute bei der Latein-Matura ergangen?“, lenkt Sybille vom Thema ab. „Ich werde es bei passender Gelegenheit schon wieder aufnehmen“, denkt sie, raffiniert den nächsten ›Angriff‹ planend.
„Na ja, Latein war nie meine Stärke, aber besser ist mir die Übersetzung immer noch geglückt als den ›drei Halunken‹, ich meine damit“ – er räuspert sich und schaut sich fast vorsichtig um – „die drei Mitschüler, die sich seinerzeit ebenfalls um Sybille gerissen haben.“
„Ich hab vor zwei Wochen mein Abitur in der Schweiz mit Auszeichnung gemacht“, weicht Sybille absichtlich den ›Halunken‹ aus. Instinktiv fühlt sie diese in einem Zusammenhang mit der Affäre Martin Strahlberg stehen. Sie spürt bei der Erwähnung der drei Mitschüler auch eine plötzlich auftretende Antipathie in sich aufsteigen. Wieder überdenkt sie die Situation:
„Eile hat die Nachsuche nach ›ihm‹ keine, zumal er sich erst – weiß Gott wo – niederlassen wird. Hingegen könnte ich dem Drama – dass es sich als ein solches herausstellen wird, scheint ihr immer klarerzu werden – mit Hilfe dieses ›Knaben‹ näherkommen.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragt sie ihn, ein charmantes Lächeln aufsetzend.(„Schrecklich“,denkt sie dabei,„wie anstrengend, ›soooo schön‹ zu tun!“)
„Matthias …“
„Wie der Evangelist Mattheus“, echot Sybille, die Nase leicht hochziehend, und lacht ihn an.
„Sie – du siehst wirklich gleich aus wie sie“, äußert Matthias und sagt leicht pikiert: „Ich heiße nicht ›Mattheus‹, sondern ›Matthias‹.„Eigentlich ein lieber Junge“denkt Sybille.„Ist fast gemein, was ich vorhabe.“
„Wenn du willst, könnten wir uns einen Film anschauen.“ „In der Tuchlauben spielen sie ›Die Tribute von Panem‹“, fällt er sofort darauf hinein: „Wenn ich das in der Schule erzähle, wo sie noch dazu so ausschaut wie sie …“denkt er dabei erfreut.
Wie wir Sybille kennen, hadert sie zwar mit sich wegen ihrer gemeinen Vorgangsweise, vermeint aber doch – nicht aus Erfolgssucht, sondern aus dem Gefühl heraus, einer großen Ungerechtigkeit auf die Spur zu kommen – dazu berechtigt zu sein: Sie schmiegt sich während des Filmes eng an ihn, spürt auch seine ›männlichen Erregungen‹(„O Gott, ich armes Schwein, ich verachte mich!“),legt es aber doch darauf an, ihn in sich verliebt zu machen.
Beim Heimgehen versucht er einen Kuss zu erhaschen: „Nicht so stürmisch, mein Lieber, du kennst ja nicht einmal meinen Namen!“ „Ich nenne dich einfach ›Sybille‹“, sagt er, „du schaust ja genauso aus!“
„Wehe, wenn du den anderen davon erzählst, dann hätte ich gleich die ganze Klasse am Hals, und das möchtest du sicher nicht! Aber der Name gefällt mir.“ Sie gibt ihm einen leichten Schubs, verabschiedet sich und sagt noch: „Also, Matthias, bis morgen, hol mich von meinem Fitness-Club in der Wipplingerstraße gegen 06:00 Uhr abends ab.
„Gleich zu Susi“,denkt Sybille beim Heimkommen und führt ihr Hündchen ›Gassi‹, verstaut das ›Gackerl‹ unter den kontrollierenden Blicken einiger Fußgänger in einem Abfalleimer (Zunge heraus – ätsch!)und läutet stürmisch am Hohen Markt die Eltern heraus.
„Kannst gleich einkaufen gehen, wenn du schon da bist“, sagt Mama, und Sybille fühlt sich glücklich wie in Kindheitstagen. Den forschenden Blicken Papas entgeht es nicht, dass sie schlanker geworden und etwas herausgeputzt ist. „Zu detektivischen Zwecken“, erklärt sie, seinen Fragen zuvorkommend. „Außerdem, ich bleibe heute Abend bei euch, es ist hier viel gemütlicher als bei mir am Graben.“
„Willst du wirklich den Ausreißer suchen?“, fragt Papa. „Jetzt kannst du noch ohne Gesichtsverlust das Geld zurückgeben und dich wieder nur auf das Violine-Studium konzentrieren.“
„Noch bevor das Semester an der Universität beginnt, habe ich den Burschen“, antwortet Sybille.„Ist einmal etwas anderes, Spannendes; die paar versäumten Übungswochen auf der Geige werde ich schon noch nachholen.“
In der Nacht überlegt sie ihre weitere Vorgangsweise: Sie erkennt, dass es hoch an der Zeit ist, in die Polizeiakten über den Unfall vor zwei Jahren Einblick zu nehmen.„Genau das“,sagt sie sich, empfiehlt sich ihrem Schutzengel („wie im Schweizer Internat“,denkt sie noch) und träumt den nächsten Aufgaben entgegen.
Aber es ist viel schwieriger, als Sybille dachte: Die Polizei ist nicht gewillt, der jungen Detektivin – so präsentiert sie sich zunächst zuversichtlich – Akteneinsicht zu gewähren.
„Fahre ich halt zum ›alten Herrn Strahlberg‹ in sein über Wien thronendes Büro. Mit seinen Verbindungen wird er mir schon die Steine aus dem Weg räumen.“
Er empfängt sie aber erst gar nicht. Vielmehr lässt er ihr ausrichten – die Sekretärin genießt es sichtlich, das ›junge Ding‹ abblitzen zu lassen –, dass er sehr beschäftigt und nicht gewillt sei, noch einmal mit ihr zu sprechen; er habe ihr alles gesagt, was zu sagen gewesen sei.
„Er hat aber vergessen, in das Protokoll über die Abhörung seines Telefons durch die Polizei hineinzuschauen. Sagen Sie ihm das, ›Fräulein‹“, flötet Sybille hochnäsig. „Was ist damit?“, kommt er – offensichtlich über Mikrofon mit dem Gespräch der beiden verbunden – aus dem Nebentrakt des Büros herausgeschossen.
„War nur so gesagt, aber da Sie nun mal hier sind: Ich kümmere mich um dieses Protokoll, wenn Sie mir die Wege ebnen, um in einige Akten Einblick nehmen zu können, die für die Auffindung Martins wichtig sind.“
Sie rechnet mit seinem ›Spezi‹ und liegt nicht falsch: Der Polizeiinspektor, bei dem die Mutter Martins wegen des Verschwindens ihres Sohnes Anzeige erstattet hat, kann sich plötzlich an den Fall ›vor zwei Jahren‹ erinnern. Sybille reizt es, diesen ›steifen Beamten‹ auszuholen.
„Ist kein so leichter Fall wie Matthias“,erkennt sie rasch. „Seinem betont seriösen Gehabe ist schwer beizukommen. Ist wahrscheinlich sehr eitel“,denkt sie und spricht ihn sogleich mit „Herr Bezirkskommandant, ich sehe, dass Sie hier alles perfekt im Griff haben!“ an.
„Man erfüllt nur seine Pflicht“, tut Bezirksinspektor Wagner lässig ab. „Ist aber schwer genug in der heutigen Zeit!“, fügt Sybille seine Gedanken visionär aufgreifend bei. Sie hat Erfolg, er geht aus sich heraus: „Da werde ich von ganz oben angeschissen, dass ich in der Sache Martin Strahlberg zu wenig kooperativ gewesen sei, obwohl ich … Aber seis drum, was wüssten Sie gerne?“
Im Hirn intelligenter Menschen spielt sich während eines Gespräches oft weit mehr ab, als sie zum Ausdruck bringen. So auch hier. Sybille überlegt, wie sie den Inspektor zu ihrem Verbündeten machen könnte.„Ob ich es mit meinem (angeblich) charmanten Lächeln schaffe, oder soll ich zur Bluse etwas mehr frische Luft hereinlassen?“Sie verwirft dies und versucht eine Taktik der „verbrannten Erde – ich werde sehen.“
„Es ist zum Heulen, ich soll herausfinden, wo der Martin steckt, hab aber keine Ahnung, wie. Ja, wenn ich Ihre Erfahrung hätte! Wo würden beispielsweise Sie mit der Suche beginnen?“ „Ich an Ihrer Stelle würde ins ›Krapfenwaldl-Bad‹ gehen, in der Sonne dösen und einen Kriminalroman lesen.“
„Hab ich dich“,denkt Sybille, beginnt die Tränen zurückzuhalten und ganz das heruntergemachte ›Häschen‹ zu spielen. Auch die Bluse setzt sie nun etwas mehr dem Luftzug aus. „So böse hab ich es nicht gemeint, aber wissen Sie überhaupt, wer Martin wirklich war?“
„Sie kannten ihn?“ Er beginnt – animiert durch das bescheidene Verhalten Sybilles – zu erzählen: Er habe ihn schon als Kind öfter gesehen. Ein lieber Bub sei er gewesen, bis der Unfall in Salzburg passierte. Er habe – auch aus eigenem Interesse, gibt der Inspektor zu – die Protokolle der dortigen Polizei gelesen, aber die ganze Sache überhaupt nicht verstehen können. „Die Sybille – übrigens, Sie schauen ihr wahnsinnig ähnlich“ wechselt er zu direkter Rede – „sie war eine Schönheit und außerdem ein Engel an Bescheidenheit.“
„Das Gegenteil von Martin!“, wirft Sybille ein. „Aber überhaupt nicht, er war trotz der Millionen seiner Eltern außerordentlich korrekt und freundlich.“ Mit allem hat Sybille gerechnet, nur nicht mit dieser Beschreibung. Sie empfindet eine unverständliche innere Genugtuung. „Obwohl dazu eigentlich kein Grundbesteht. Außerdem – jetzt wird die Sache nur komplizierter“, denkt sie,„statt einen ›Teufel‹ muss ich einen ›Engel‹ suchen!“
„Ich habe aber sehr viel Negatives über Martin gehört“, insistiert sie. „Neid, nichts als Neid, sie haben ihm die Millionen seiner Eltern und die Freundschaft mit der schönen Sybille missgönnt.“
„Wer ›sie‹?“ Der Inspektor räuspert sich: „Es geht mich ja nichts an, aber …“ Er nimmt einen neuen Anlauf: „Also Ihnen kann ich es ja sagen – zumal Sie Sybille so ähnlich sehen –, ich habe mich sehr darüber gewundert, wie sich drei Schulkollegen Martins benommen haben.“
„Drei Schulfreunde?“
„Kollegen, denn Freunde von Martin sind die nicht!“ Der Inspektor gerät sichtlich in Rage.
„Aber Sie haben doch in der Sache ›vor zwei Jahren‹ nichts zu erheben gehabt, der Unfall passierte ja im Land Salzburg“, wendet Sybille ein. „Irrtum, mein Fräulein, ich musste die Schüler von der jetzigen ›8a‹ des Gymnasiums später noch einmal ›nachvernehmen‹, weil Ungereimtheiten auftraten.“
„Zwei Jahre, und Sie wissen noch alles?“
„Ich kann mich an jede Einzelheit erinnern, sogar an die schiefen Gesichter der drei, als ich sie beim Verhör dem Martin gegenüberstellte. Sie taten so mitleidig und waren ihm in Wirklichkeit so falsch gesinnt wie Schlangen.“
„Woraus schlossen Sie das?“
„Erfahrung, mein Fräulein, Erfahrung.“ Sybille zeigt ein bisschen Nachsicht, dass ihr Gesprächspartner sich halt doch nur wichtigmacht. Mehr hätte es nicht gebraucht:
„Ich weiß, mein Fräulein, sie brauchen mich nicht für senil zu halten. Alles, auch, dass sich die drei verabredet haben, genau gleich auszusagen. Sie haben sogar die gleichen Wendungen gebraucht! Mit ausgesucht mitleidigen Worten haben sie Martin beschuldigt, Sybille wegen ihrer geringen Herkunft verachtet und in der Not allein gelassen zu haben.“
„Welche Not?“
„Aus den Protokollen ging – nicht zuletzt wegen der Aussagen der drei Rotzbuben, das waren sie damals ja eigentlich noch – eindeutig hervor, dass man Sybille hätte retten können, wenn Martin nicht zu blöd, zu feige und zu schwach dazu gewesen wäre. Beim gemeinsamen Ausflug der Schulklasse in den Salzburger Bergen während der Schullandwochen haben sich – alles nach den Aussagen der drei Schulkollegen“, ergänzt der Inspektor – „Sybille und Martin heimlich davongemacht und auf eigene Faust Mineralien gesucht. Gegen Abend ist ein Gewitter aufgekommen. Die beiden haben in einer Höhle Zuflucht suchen wollen. Ein Steinschlag ist – so die Ergebnisse der Erhebungen – losgegangen. Sybille ist unter die Steine geraten. Martin ist nur leicht verletzt worden. Er hätte sie befreien können. Niemand habe es verstehen können, warum er einen höchstens mittelgroßen Stein nicht von ihr herunterwälzen konnte. Um fortzufahren …
Er soll bloß mit dem Handy um Hilfe gerufen haben. Vor der Höhle war aber kein Empfang. Er ist daher hochgestiegen, um einen solchen zu bekommen. Im Finstern hat er die Orientierung verloren und erst in der Früh zur Leiche von Sybille zurückgefunden.
Dann waren aber auch schon die Retter da. Ihre nächtliche Suche vorher ist erfolglos gewesen. Sie haben sich aber auch wirklich ›keinen Haxen ausgerissen‹, weil sie angenommen hatten, dass die beiden leicht unter einem Felsen Zuflucht (eine Liebelei wird unterstellt) gefunden hätten. Die drei Burschen sind nach ihren Aussagen noch vor dem Rettungskommando als Erste dort gewesen. Einer von ihnen habe mit Leichtigkeit den auf Sybille liegenden Stein weggewälzt.“
Im Polizei-Kommissariat wird es still wie in einer Kirche. Dem ›Herrn Inspektor‹ tropft der Schweiß von der Stirn. Sybille führt die Hände vor das Gesicht. In ihrem Inneren tobt ein Sturm der Gefühle. Sie erfasst, dass Martin in dieser Nacht unfassbar viel durchgemacht haben muss.
„Und was hat er – Martin – ausgesagt?“, fragt sie tonlos den in dieser schrecklichen Kürze fast zum Freund gewordenen Beamten.
„Nichts sonst, außer dass er versucht habe, um Hilfe zu telefonieren, wie ich schon sagte. Er hat dann kein Wort mehr gesprochen. Mutter, Vater, Haushälterin, seine beste Freundin, wie ich weiß, Lehrer, Polizisten, Richter haben ihn bestürmt, auszusagen; er hat immer nur den Kopf geschüttelt und verzweifelt eine Mineraldruse mit Smaragden in den Händen gehalten. So hat man sich den Vorfall nach den Aussagen der anderen Beteiligten mehr oder weniger zusammengereimt. Für ein Verfahren wegen unterlassener Hilfeleistung – ein solches haben die Eltern der drei Burschen gegen Martin angestrengt – hat es aber nicht ausgereicht.“
„Lieber Herr Inspektor“, beginnt Sybille nach längerer Pause: „Ich habe das Gefühl, dass Sie mit den Ergebnissen der Erhebungen in diesem Fall nicht ganz einverstanden sind.“
„Bin ich auch nicht. Was nämlich die Herrschaften nicht wissen: ich kannte Martin und Sybille – Verzeihung, Sie schauen ihr wirklich sehr ähnlich. „Auch so schön wie diese?“, unterbricht ihn Sybille und erlangt mit dieser Bemerkung wieder ihr Gleichgewicht.
Er: „Sie sind nur eine Spur älter. Aber im Ernst: Ich patrouilliere in Döbling seit bald 20 Jahren. Die Kinder Sybille und Martin habe ich oft im Park getroffen. Sie haben viel miteinander gespielt und Steine gesammelt. Einmal bin ich zufällig dazu gekommen, wie sie sich – wohl das erste Mal – geküsst haben.“
Stille …
„Niemals war es so, wie es im Protokoll steht. Martin wäre lieber gestorben, als dass er sie im Stich gelassen hätte!“ Sybille möchte am liebsten dem Mann um den Hals fallen. Sie spürt aus ihrem Inneren einen nahezu überwältigenden Hang dazu. Aber:
„Ich bin ein dummes Mädchen“,sagt sie sich;„es gehört zu meinem Suchauftrag, alle Indizien für den Aufenthalt von ›Maturaschwänzer Martin‹ zu sammeln, die 50.000 Euro in Aktionen umzusetzen und dann das Erfolgshonorar zu kassieren. Für persönliche Gefühle für oder gegen diesen Jüngling werde ich nicht bezahlt.“
Sie weiß zunächst nicht weiter, bedankt sich herzlich beim Inspektor und fährt mit dem Fahrrad zurück in die Wohnung am Graben. Dort holt sie Susi, legt ihr ein süßes rosa Halsband um und geht auf den Hohen Markt in die Wohnung zu Papa und Mama.
„Neuigkeit“, sagt Papa, „man hat Martin auf einem Schiff nach Südamerika gesehen. Er soll in der Küche eines kleineren Dampfersgearbeitet haben.“ „Immerhin, nach knapp zwei Wochen schon so weit, alle Achtung“, meint Sybille betont lässig. Aber Papa kennt sich aus:
„Herz, verliere dich nicht in dieser Geschichte. Der Alte hat eine Belohnung von einer Million Euro für jene Person ausgesetzt, die Martin wirklich findet. Mit dir rechnet keiner mehr. Nimm das Wing-Tsun-Training wieder auf, pflege deinen Tanzsport und beginn wieder mit dem täglichen Üben auf der Geige. Alle drei Disziplinen beherrscht du wie keine andere und ich bin mächtig stolz darauf, dass du das alles kannst. Wir haben ja auch viel Geld für deine Ausbildung im Schweizer Internat gezahlt und dich so viel vermissen müssen …“
Einen Moment lang fühlt Sybille große Lust, den Vorschlägen Papas zu folgen, die ›Affäre Martin‹ an den Nagel zu hängen und nur mehr ihren erfolgreicheren Leidenschaften zu obliegen.
„Werde auf der Suche nach Martin in Brasilien vielleicht mein Können in der Selbstverteidigung brauchen können, Tanzen wird aber wohl kaum eine Rolle spielen. Mein Geigenspiel werde ich aber fürs Erste wohl zurückfahren müssen. Jedenfalls werde ich – das bin ich meiner Selbstachtung schuldig – den Ausreißer finden!“
Sie kuschelt sich auf den Diwan, nimmt ihren ›Teddy‹ in die Arme und schläft auf der Stelle ein. Als sie am nächsten Tag in ihrem Bett aufwacht, lacht ihr Mama entgegen: „Haben dich in dein richtiges Bett gelegt und Susi Gassi geführt. Dein Hund wollte aber nichts essen, bis du munter bist.“
„Kein Problem, Susi, friss brav!Wir werden uns gemeinsam auf die Suche nach deinem Martin machen, er wird wohl schon in Brasilien sein“, sagt Sybille. Mama und Papa erschrecken:
„Jetzt schon, aufs Geratewohl? Du hast doch keine Ahnung, wo in diesem riesigen Land er sein könnte.“ Sybille antwortet nichts; sie denkt aber – ihrer Meinung nach ganz folgerichtig –, dass Martin im neu entdeckten Edelsteingebiet Brasiliens, in Carnaiba im Staat Pernambuco, nach Smaragden suchen wird.Sie kombiniert:
„Er und ›seine‹ Sybille waren versessen nach Smaragden, er hat ihr die gemeinsam in den Salzburger Bergen gefundene Smaragddruse in den Sarg gelegt, hat dies wohl heimlich getan, das Buch im Laden von Freytag-Berndt hat sich plötzlich auf der Seite ›Carnaiba‹ geöffnet – bin wohl abergläubisch“,gesteht sie sich ein. – „Außerdem: Mich reizt eine Edelsteinsuche schon immer.“Siefragt sich aber sogleich, woher sie plötzlich diese Neigung hat.
Es fällt ihr ein, dass es wieder an der Zeit wäre, zum Fitnesstraining in das ›Holmes Place‹ nahe ihrer Wohnung in der Wipplingerstraße zu gehen.„Schön, im ersten Bezirk Wiens zu wohnen, alles liegt so nahe!“,denkt sie. Sie erinnert sich dabei, dass sie sich ›alldorten‹ mit dem ›Knaben‹ Matthias verabredet hat. Und tatsächlich, er steht schon vor dem Portal und hält ihr Blumen entgegen. Die Zeit scheint zwischen den beiden stillzustehen. Sybille erwägt seinen Einbau in ihre Erhebungen, er überlegt, ob er ihr anbieten dürfe, mit ihr zu turnen.
„Aber ja, passende Trikots kannst du ausleihen und zahlen brauchst du auch nichts, weil ich dich als Gast einlade.“„Bin neugierig, wie er sich sportlich machen wird.“Sybille sagt es freundlich und spinnt derweilen ihre Gedanken weiter …
Er zeigt aber überraschenderweise gar keine so schlechte Figur. Das Trikot sitzt zwar ein bisschen zu fest, aber die aus den Augen springende Begeisterung macht das Manko wett.
„Zunächst Radl fahren“, ordnet sie an und legt auf dem Fitnessgerät ein höllisches Tempo vor. „Jetzt treten und mit den Armen antauchen“, folgt ihre weitere Anweisung. Sie schaut ihm dabei fröhlich über die Schulter zu; sein Atem geht schon verdächtig schnell, er lässt sich aber nichts anmerken. „Auf zum Rudergerät“, erlöst sie ihn scheinbar, in Wirklichkeit schlägt sie so rasche Ruder, dass er nur mit Mühe mitmachen kann. Die Erlösung naht durch die Mitteilung des Hauses über Lautsprecher, dass ein Trikot fehle.
„Meines“, ruft Matthias, „ich habe es aber bezahlt, bezahlen lassen.“ Dabei schaut er Sybille fragend an. Sie schüttelt den Kopf, er geht ab, um sich zu entschuldigen. Sybille ist sich völlig im Klaren, dass dieser naive Matthias ausgezeichnet in ihre Pläne passt:„Er ist vertrauensselig, leistungswillig, nicht zu gescheit, aber auch nicht dumm, und sein Aussehen – na ja, so wichtig ist das nicht. Werde sehen, wie er auf Lob reagiert.“
„Toll, was du für eine Kondition hast!“, tut sie freundlich, als er mit rotem Kopf zurückkommt. „Hatte in Turnen eine Eins“, erklärt er stolz.
„Gehen wir zu den Kraftgeräten“, schlägt Sybille vor und muss zugeben, dass er über ansehnliche Muskeln verfügt. „Sieht man dir gar nicht an“, bemerkt sie anerkennend. Matthias darauf: „Hätte dein Martin so viel Kraft besessen, wäre Sybille noch am Leben!“
In Sybille rumort es: „Woher weißt du das, du warst doch nicht dabei!“ „Aber die drei Mitschüler haben es allen gesagt.“ „Und du glaubst das, ohne zu hinterfragen!?“ „So eingutgläubiger Bursche“,denkt Sybille. „Ich werde dich lehren, die Dinge so unreflektiert zu sehen!“
„Komm mit mir auf die Matte! Schlag mich!“ Matthias bleibt der Mund offen. „Wieso?“ „Damit du lernst, wie falsch andere Menschen sein können und wie vertrauensselig du selber bist!“
„Lächerlich, ich werde doch nicht eine so liebe Person, wie du es bist, verletzen!“ „Wird dir auch nicht gelingen“, lacht Sybille und spürt ihre durchtrainierte Kämpfernatur in allen Fasern ihres Körpers. Matthias schüttelt den Kopf: „Nimmermehr, ich habe dich viel zu gerne (am liebsten hätte er gesagt: ›viel zu lieb‹), als dass ich meine Hand gegen dich erhebe!“
„Wart, Kleiner, du wirst schon noch!“Sie greift ihm blitzschnell an die Hoden. Er erschrickt gewaltig, fasst ihre Hand und stößt sie zurück. Aber Sybille übernimmt seine plötzliche Bewegungsenergie und lässt ihn damit auf die Matte plumpsen.
„Das finde ich nicht lustig“, sagt Matthias, erhebt sich langsam und fragt:
„Wie hast du das gemacht?“
„Ich habe deine Naivität ausgenutzt.“
„Das schaffst du nicht noch einmal!“
„O doch, greif mich an!“ Die Augen von Matthias beginnen verräterisch zu glänzen: „Warte nur, ›Kleines‹, du sollst den ›guten Hias‹ kennenlernen!“ Er unterläuft Sybille, fasst sie an ihrem Unterleib, gerät aber – seiner Meinung nach zufällig – mit dem Kopf zwischen ihre ihn wie Zwingen packenden Oberschenkel. Sie macht einen Salto rückwärts und Matthias prallt wieder auf die Matte. Nun lachen die umstehenden Turner nicht mehr verstohlen, wie beim ersten Mal, sondern lauthals. Sybille:
„Wer von euch will auch einmal?“ Plötzliche Ruhe. Einer, ein Großer, stellt sich vor sie hin: „Freches Häschen!“
„Nein, ich lass es nicht zu!“ Matthias stellt sich vor Sybille, bekommt aber von dem Mann einen gewaltigen Stoß und findet sich zwischen einigen Fitnessgeräten wieder. Aber auch der ›Große‹ lernt fliegen. Die ganze Wucht seines Angriffes lenkt Sybille auf ihn selbst um, und auch er landet neben Matthias mitten im ›Bravo‹ der Zuschauer. „›Wing Tsun‹, 4. Höherer Grad“, sagt Sybille und hilft den beiden Männern beim Aufstehen.
„Zeit für eine Pause“, regt sie – nachdem alle wieder ruhiger geworden sind – an. „Trinken wir einen Kaffee miteinander!“ Sie streift das über ihrem Hemd angezogene schwarze T-Shirt ab(„Hättest daraus ersehen können, dass ich einen höheren Grad in ›Wing Tsun‹ habe“) und drängt Matthias ins hauseigene Café.
Während dieser die Karte studiert, überlegt Sybille ihre weitere Vorgangsweise:„Wäre doch durchaus gescheit, nicht allein nach Brasilien zu fahren. Er ist ein tapferer, bescheidener Junge. Seine Intelligenz ist schwer abschätzbar, seine Kraft ist aber nicht so ohne. Ich müsste ihn nur in mich verliebt machen, wahrscheinlich ein Leichtes. Ich habe aber noch keine Ahnung, ob es bei ihm familiär ausgeht. Also zunächst diese Frage klären!“
„Hast dich entschieden, was du bestellen willst? Ich nehme das Gleiche!“, sagt Sybille. „Aber du weißt noch nicht, was ich bestellen werde.“ „O doch, einen Cappuccino, habe es doch gemerkt, dass dein Blick am Nachbartisch, wo ein solcher serviert wurde, hängen blieb.“
„Meine verstorbene Mutter hätte es auch gleich gemerkt“, sagt er bewundernd. „Vater nicht?“, fragt Sybille. „Kenne ihn nicht, ist vor Jahren nach Südamerika oder irgendwohin abgehauen.“ „Bist also bei den Großeltern aufgewachsen?“ „Nein, im katholischen Konvikt.“
„Habe es ohnedies angenommen, dass er eine arme Kirchenmaus ist. Fällt mir schwer, ihn hineinzulegen. Ob er fromm ist? Wie komme ich dahinter?“Sybille überlegt eine passende Frage, da kommt er ihr zuvor:
„Bist du auch katholisch?“ „Ein bisschen“ tut Sybille ab. Es fällt ihr als Jüdin schwer, über die geistlichen Schwestern in ihrem Schweizer Internat, die sie katholisch erzogen haben, zu berichten. „Ich schon“, sagt Matthias, „deshalb werde ich auch in den Urwald nach Brasilien fahren und in der Mission arbeiten.“
„Da habe ich den Salat!“,sagt sich Sybille verdrossen,„es wäre so glattgegangen, ich hätte ihn gut brauchen können.“Sie schlürft den Kaffee und schaut ihn einmal genauer an:
„Er wäre gar nicht so übel, wenn er abnehmen und sich rasieren würde, wenn die Sommersprossen nicht wären, wenn er die Zähne besser putzen würde, wenn er eine gescheite Frisur hätte, wenn er nicht abgetragene Schuhe …“
Froh, von seinen nächsten Zielen sprechen zu können, erläutert er: „Ich werde mich einem Missionar anschließen und mich dabei selbst erproben, und wenn ich erkennen sollte, dass ich für einen geistlichen Beruf tauge, werde ich …“ Er denkt, dass dieses Gespräch Sybille wohl langweilt und bricht es ab. In Wirklichkeit ist sie voll Ohr und überlegt, wie stark seine ›geistlichen Vorsätze‹ wohl sein könnten.
„Aber du“ – sagt er überraschend – „was wirst du jetzt nach deinem eben erst abgelegten Abitur machen?“ Es vergehen nur Sekunden, Sybille arbeitet geistig aber in dieser Zeit alle Möglichkeiten durch, mit denen sie die Suche nach Martin intensivieren könnte:„Matthias wäre eigentlich sehr geeignet, mir dabei zu helfen. Seine geistlichen Ziele stünden zwar im Wege, wären aber mit weiblicher List wohl zu umgehen. Dafür bräuchte es aber noch einige Initiativen.