Sylt im Getriebe - Claudia Thesenfitz - E-Book
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Sylt im Getriebe E-Book

Claudia Thesenfitz

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Beschreibung

Auf dem E-Bike der Sonne entgegen – ein herrlich komischer Syltroman Die Mittfünfzigerin Marina dümpelt in ihrem öden Eheleben vor sich hin, bis sie ein Hilferuf ihrer Cousine ereilt: Marina soll sie drei Monate in ihrem E-Bike-Verleih auf Sylt vertreten. Das Problem ist nur: Marina leidet an Panikattacken. Unvorstellbar für sie deshalb, an einem fremden Ort einen Betrieb zu managen. Doch tapfer stellt sie sich der Herausforderung – und ihr Mut wird belohnt: Eine Gruppe Frauen greift ihr unerwartet unter die Arme, ein attraktiver Schäfer verwirrt sie – und auch ihr Ehemann offenbart ein überraschendes Geheimnis. Und plötzlich schlägt ihr so geordnetes Leben Purzelbäume. »Ich mag die Glücksromane von Claudia Thesenfitz sehr, denn sie schafft es immer wieder, tiefsinnige Themen humorvoll zu verpacken und damit leicht zugänglich zu machen. Eine tolle Mischung die bestens unterhält.« Gisa Pauly »Claudia Thesenfitz gehört zu den wenigen Autorinnen, die dem erwarteten Handlungsstrang derart Feuer machen, dass Frau nicht vom Lesen ablassen kann.« Sylt1.TV

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Sylt im Getriebe

Claudia Thesenfitz

Sylt im Getriebe

Ein Glücksroman

Ullstein

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Inhalt

Das Buch

Titelseite

Impressum

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Epilog

Ich danke …

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

1

Widmung

Für alle Wechseljahresfrauen

1

Der Anruf von Sabine kam zur denkbar schlechtesten Zeit. Marina hatte gerade im Wartezimmer Platz genommen und zuckte über das unerwartete und – angesichts der Stille im Raum – ohrenbetäubend laute Klingeln ihres Handys erschrocken zusammen. Fahrig wühlte sie das lärmende Ding aus ihrer Handtasche und schaute kurz aufs Display.

Kann gerade nicht. Rufe dich in einer Stunde zurück, tippte sie hektisch eine WhatsApp-Message und stopfte das Handy zurück in die Tasche. Sie würde Sabine nach ihrer Sitzung zurückrufen – jetzt war das eindeutig zu viel für ihre angespannten Nerven. Der blasse junge Mann, der ihr gegenübersaß, schaute sie teilnahmslos an.

Marinas Blick schweifte durch den Raum: taubenblauer Teppich, ein Fenster zum Hinterhof, das Aussicht auf die abblätternde Farbe einer ehemals weißen Hauswand bot, eine durstige Zimmerpalme – und sehr viele Stühle. Es war zwar eine Gemeinschaftspraxis, dennoch zweifelte Marina, dass hier mal alle elf Stühle gleichzeitig besetzt wären.

»Piep, piep!« Aus den Tiefen ihrer Handtasche verkündete Marinas Handy, dass eine Textnachricht eingegangen war. Genervt kramte sie das iPhone erneut hervor, las die Nachricht und stellte es auf lautlos. Ruf bitte an, sobald du kannst!, hatte Sabine geschrieben. Es ist eilig!

Na prima! Jetzt war sie endgültig nervös. Und nervös war sie eigentlich schon mehr als genug, denn gleich würde die erste Therapiestunde ihres 56-jährigen Lebens beginnen. Hoffentlich war Sabine nichts passiert! Ob sie kurz rausgehen und sie zurückrufen sollte? Nein, wenn wirklich etwas Schlimmes passiert wäre, hätte sie ja nicht anrufen können, beruhigte sie sich. Sie musste sich jetzt auf sich selbst konzentrieren – Sabine würde warten müssen.

Marina drückte den Rücken durch, schloss die Augen, atmete tief ein und aus und versuchte, ihren Puls wieder unter Kontrolle zu bekommen. Dies war ihre erste »Sitzung«. Ihre Probestunde, ihr Infotermin, ihr »therapeutisches Erstgespräch«, wie man es nannte. Am Telefon hatte ihr Therapeut sehr nett geklungen. Freundliche Stimme, positive Energie. Die Terminkoordination lief so unspektakulär und sachlich ab, als hätte Marina einen Reparaturtermin für ihr Auto vereinbart.

»Frau Scholz?« Ein kleiner, glatzköpfiger Mann erschien im Türrahmen des Wartezimmers und nickte Marina freundlich zu. Sein gedrungener Körper steckte in schwarzen Karottenjeans und einem dunkelgrauen Rollkragenpullover.

Marina erhob sich und folgte ihm in sein »Behandlungszimmer«. Wieder der blaue Teppich, wieder eine vertrocknete Palme, zwei sesselartige Stühle und ein kleines Tischchen, auf dem Taschentücher lagen. »Ott, Guten Tag, freut mich sehr!« Herr Ott reichte ihr die Hand und wies sie an, sich zu setzen. Er selbst ließ sich auf dem ihr gegenüberstehenden Sessel nieder und notierte etwas auf seinem Klemmbrett.

»Ja, Frau Scholz, dann erzählen Sie doch am besten mal ein bisschen von sich«, eröffnete er die Stunde und lehnte sich zurück. »Ich muss mir ja zunächst ein Bild von Ihnen machen!« Er schob seine runde John-Lennon-Brille ein Stück auf der Nase hoch und lächelte ihr motivierend zu.

Marina zupfte an ihrer Bluse, lächelte auch und referierte ihren bisherigen Lebenslauf: behütete Kindheit, eine Schwester, Abitur, Hochzeit mit 24, zwei Kinder, Hausfrau-und-Mutter-Dasein. Die Kinder waren seit zwei Jahren aus dem Haus und Marina seitdem quasi »arbeitslos«. Sie hatte ihr Lehramtsstudium abgebrochen, als sie schwanger wurde, und noch nie fest angestellt gearbeitet. Rolf, ihr Mann, hatte in einer Autohauskette Karriere gemacht und kam stets erst sehr spät nach Hause.

Während Marina all dies erzählte, fühlte sie sich aus unerfindlichen Gründen bemüßigt, total strahlend, euphorisch, stark und optimistisch zu wirken. So als müsste sie ihr Gegenüber und sich selbst davon überzeugen, dass mit ihr eigentlich alles in Ordnung war. Nur eine kleine Sache am Vergaser. Ein Witz von Reparatur. Im Nu erledigt. Komisch … Warum tat sie das? Sie hatte schon einen Krampf in den Kiefermuskeln vom Dauergrinsen.

Herr Ott notierte immer wieder etwas auf seinem Klemmbrett, was Marina irritierte. Welche Problematik sie denn zu ihm geführt habe?, wollte er nun von ihr wissen.

Marina druckste herum und pulte an ihren Fingern. Es war ihr furchtbar unangenehm. »Ich habe zu viel Angst«, platzte es schließlich aus ihr heraus, und sie schaute ihn unsicher an.

Er nickte und machte sich eine weitere Notiz.

»Mehr, als gut ist – und vor allen Dingen mehr, als mir guttut«, fuhr Marina fort. »Ich leide unter plötzlichen Panikattacken! Wenn ich zum Beispiel in überfüllten Kaufhäusern oder Autobahnstaus stehe, kann es passieren, dass ich plötzlich unglaubliche Angst kriege. Angst, auf der Stelle verrückt zu werden. Oder Angst, dass mein Herz zu schnell schlägt und ich dann kollabiere. Furchtbare Angst! Angst, die mich zittern macht, von der ich Durchfall kriege und kalte Hände. Das ist lästig und ziemlich unpraktisch. Warum das so ist und woher das kommt, weiß ich auch nicht. Aber dass es keinen Spaß macht und ich diese ›Macke‹ deshalb so schnell wie möglich wieder loswerden will – das weiß ich ganz genau. Inzwischen habe ich nämlich schon Angst vor der Angst!«

Puh, nun war es raus. Erschöpft von ihrem Redefluss schaute sie Herrn Ott unsicher an. Er lächelte verständnisvoll und mitfühlend. Das war die neue Masche bei den Psychologen, hatte Marinas Schwester ihr erzählt. Nicht mehr streng sein – sondern positiv und herzlich. Warm. Menschlich. Damit der Patient sich nicht so allein fühlt. Marina fand das gerade sehr angenehm.

»Wann fing das an?«, fragte er.

»Vor etwa zwei Jahren. Seit die Kinder aus dem Haus sind.«

»Verstehe.«

Aus irgendeinem Grund brach bei Marina plötzlich der Damm, und sie offenbarte ihren Frust über ihre leer gelaufene Ehe und ihren aufgabenlosen Alltag, seit die Kinder ausgezogen waren. Sie erzählte von ihren Wechseljahres-Stimmungsschwankungen, -Hitzewallungen und -Schlafstörungen und berichtete über unerwünschte Gewichtszunahme, sinkendes Selbstbewusstsein und sinnlos vor dem Fernseher verbrachte Nachmittage. Über für Rolf gekochte Menüs, die ungegessen im Mülleimer verschwanden, weil er immer öfter erst nachts nach Hause kam. Und über stundenlanges Warten auf Anrufe der Kinder, die nicht erfolgten. Sie fühlte sich so nutzlos und überflüssig wie eine kaputte Glühbirne. Die hatte lange Zeit allen Licht und Wärme gespendet, war nun aber nur noch ein Fall für den Altglascontainer.

Herr Ott notierte sich einiges auf seinem Klemmbrett und lächelte sie zwischendurch immer wieder aufmunternd an. Manchmal sagte er: »Das war sicherlich sehr schwer für Sie …«, oder »mmmhm« oder »aha«. »Was stellen Sie sich als Ziel dieser Therapie vor?«, fragte er schließlich.

»Mich wieder völlig angstfrei bewegen zu können«, sagte Marina. »Mich nicht mehr in der ewig gleichen Was-wenn-Spirale von sich aneinanderreihenden Katastrophenszenarien zu verheddern, wenn ich etwas vorhabe. Ich möchte mich endlich wieder mutig in das Abenteuer Leben stürzen können …«

Während sie die Worte aussprach, kam ihr der letzte Satz so unerhört kitschig vor, als befände sie sich gerade in einem ihrer geliebten Rosamunde-Pilcher-Filme oder säße auf dem Traumschiff und ein unerhört gut aussehender Offizier in weißer Uniform streichelte ihr zuversichtlich lächelnd die Hand …

Sie saß aber nicht auf einem Schiff, sondern in einem ungemütlich beleuchteten, karg eingerichteten Zimmer in der Hamburger Innenstadt, mit dreckigem, ehemals blauem Teppich. Und ihr gegenüber saß auch nicht die Liebe ihres Lebens – sondern Herr Ott, ein mindestens fünfzigjähriger Psychologe mit schütterem Haarkranz. Aber zuversichtlich lächeln tat er auch, während er »Das sollte hinzukriegen sein« sagte, was Marina sehr erleichterte.

»Sie haben eine ganz normale Angststörung. Das ist gut und schnell zu behandeln!«

Marina nickte erfreut. Herrn Otts Worte klangen wie Musik in ihren Ohren. So wie: »Sie haben eine ganz normale Bronchitis, das ist völlig unproblematisch! Eine medizinische Bagatelle.«

»Für heute ist unsere Stunde beendet, aber in der nächsten Sitzung steigen wir sofort ein!«, sagte Herr Ott, erhob sich und reichte ihr die Hand.

Zuversichtlich ob der ihr bevorstehenden angstfreien Zeiten und stolz, es endlich angepackt zu haben, verabschiedete sie sich und sprang erleichtert die Treppen der vier Stockwerke herunter, die sie auf dem Hinweg in Zeitlupe hochgeschlichen war, um kein Herzklopfen zu bekommen.

2

In freudiger Erwartung einer angstfreien, wundervollen Zukunft lächelte Marina beschwingt vor sich hin, während sie die Colonnaden-Fußgängerzone entlangschlenderte und in die Schaufensterauslagen der Geschäfte schaute, die sie auf dem Hinweg vollkommen ignoriert hatte. Das Leben konnte so unbeschwert und schön sein … Und würde das olivgrüne Leinenhemd da ihr nicht hervorragend stehen? Gerade als sie die Tür der Boutique öffnen wollte, fiel ihr Sabine ein. Sie sollte sie doch zurückrufen!

Genervt setzte Marina sich auf eine der vielen Bänke, die mittig unter den blühenden Linden standen, kramte ihr Handy aus der Tasche und stellte den Klingelton wieder an. Sabine hatte schon zweimal erneut angerufen und drei Nachrichten geschickt. Marina tippte auf ihre Nummer.

»Na endlich!«, schrie Sabine vorwurfsvoll ins Telefon. »Ich dachte schon, du meldest dich GAR NICHT mehr!« Sie klang sehr aufgeregt. Ihre Stimme überschlug sich fast.

»Ist was passiert?«, erkundigte sich Marina besorgt.

»Ja! Ich muss zu Bea nach Barcelona!«

»Huch?«, rief Marina erstaunt. »Warum das denn?«

»Bea ist mit dem Kleinen restlos überfordert, schläft keine Nacht mehr, und das Geschäft geht den Bach runter!«

Bea war Sabines 28-jährige Tochter, die mit ihrem Mann in Barcelona kürzlich ein Architekturbüro eröffnet und vor zwei Monaten Leon, ihr erstes Kind, zur Welt gebracht hatte. Leider hatte Max, ihr Mann, kurz vor der Geburt sowohl Bea als auch die Firma zugunsten einer blutjungen Spanierin verlassen und war mit ihr nach Madrid durchgebrannt. Die Existenz retten, sich durch den Scheidungskrieg kämpfen und gleichzeitig 24/7 einen Neugeborenen betreuen – das war offenbar auch für die Powerfrau Bea nicht zu schaffen …

»Ich muss sie sofort unterstützen, sonst klappt die mir noch zusammen«, schloss Sabine. »Du musst mir helfen, Rini!«

»Wie denn?«, fragte Marina beklommen. Wollte Sabine etwa, dass sie mit nach Barcelona kam?

»Du musst mein Geschäft auf Sylt weiterführen!«, verlangte Sabine.

Marina hatte ihre Cousine damals sehr für deren Mut bewundert, mit fast 50 noch mal ganz neu anzufangen. Sabine war vor einem Jahr kurz entschlossen von Bremen nach Sylt gezogen, hatte in Keitum eine Geschäftsaufgabe übernommen, einen E-Bike-Verleih mit Rikscha-Service eröffnet – und dafür sogar Start-up-Gelder von der Wirtschaftsförderung Nordfriesland erhalten. Sie war schon seit über sechs Jahren Single und lebte auf Sylt allein mit ihrem geliebten Kater »Tiger« in einer kleinen Zwei-Zimmer-Wohnung über dem Verleih.

»Die Saison geht ja gerade erst los, und das Geschäft muss weitergehen. Ich kann sonst die Kredite nicht mehr bedienen, und dann bricht alles zusammen«, jammerte Sabine.

Marina wurde vor Entsetzen ganz blass. Sie konnte mit ihrer Angststörung ja noch nicht mal längere Strecken allein mit dem Auto fahren, ohne panisch zu werden. Und jetzt sollte sie ganz allein nach Sylt? Ihr sank das Blut in den Bauch. Ihr Magen krampfte sich zusammen. Die Angst kroch hoch.

»Aber Rolf …?«, stammelte sie ratlos.

»Schätzchen! Der kommt sehr gut ohne dich zurecht. Glaub mir!« Sabine klang erschreckend resolut. Was sollte das denn heißen? War ihr in Bezug auf ihren Mann irgendetwas entgangen? Wusste Sabine etwas über Rolf, das sie nicht wusste?

»Kannst du nicht jemanden einstellen?«, versuchte Marina noch mal, ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen.

»Kannst du vergessen!«, entgegnete Sabine. »Auf der Insel herrscht absoluter Personalmangel. Und abgesehen davon kann ich mir kein zusätzliches Gehalt leisten.«

»Äh …« Marina brach der Schweiß aus.

»Bitte, Rini!«, flehte ihre Cousine nun. »Ich weiß sonst echt nicht, was ich machen soll. Und du hast doch eh nichts zu tun …«

Was sollte das denn nun wieder heißen? Kurz schoss ein Zornesanfall in Marina hoch.

»Du bist die Einzige ohne Job und Verpflichtungen!«, ergänzte Sabine.

»Ab wann soll das denn sein?«, versuchte Marina, Zeit zum Kreieren einer Ausrede zu schinden.

»Am besten gestern!«, seufzte Sabine. »Bea heult nur noch. Ich würde am liebsten sofort losfahren.«

»Und wie lange?«

»Das kann ich noch nicht abschätzen. Aber zwei bis drei Wochen bestimmt!«

»Ich überlege es mir!«

»Bitte, Rini! Du bist meine letzte Rettung!«, flehte Sabine erneut.

Natürlich konnte sie die Bitte ihrer Cousine nicht ablehnen. Und Sabine wusste ganz genau, dass es keine Ausreden gab. Aber wie sollte sie das schaffen? Noch nie war sie ohne Begleitung irgendwohin unterwegs gewesen – und nun sollte sie sich ganz allein in die Bahn setzen und an einem Ort, an dem sie noch nie war, einen Betrieb managen?

»Ich versuche es«, versprach Marina. »Aber ich müsste natürlich einiges organisieren.«

»Tu das! Ein paar Tage würde meine Nachbarin den Laden übernehmen. Aber spätestens Montag müsstest du hier sein, da ist ihr Urlaub zu Ende, und sie muss wieder arbeiten!«

»O. k.!« Marina beendete das Gespräch mit dem Versprechen, sich schnellstens wieder bei Sabine zu melden, und vereinbarte einen Nottermin bei Herrn Ott. Vielleicht konnte der ja eine Speed-Behandlung oder Blitzheilung initiieren …

3

Die Freude über ihren Therapiebeginn war restlos verflogen, als Marina wieder zu Hause ankam und die Einkäufe auspackte, die sie noch kurz im Supermarkt geholt hatte. Jetzt war sie gerade dabei gewesen, sich von ihren inneren Quälgeistern zu befreien – und schon hing eine neue düstere Wolke über ihr und verdunkelte den Horizont. Die Wolke hieß Sabine – bzw. Sylt. Was sollte sie bloß machen? Sie konnte ihrer Cousine unmöglich ihre Hilfe verwehren …

Um sich abzulenken, blätterte sie in der neuen Lust auf Genuss, in der es diesmal um kreative Spargelgerichte ging. Marina liebte die Zeitschrift, die stets an den Supermarktkassen angeboten wurde, auch wenn sie selten etwas daraus kochte. Rolf war nicht besonders offen für neue Rezepte. Er liebte traditionelle Hausmannskost und hasste kulinarische Experimente.

An dem überbackenen grünen Spargel mit Lachs, Kirschtomaten und Parmesan könnte sie sich heute durchaus trotzdem mal versuchen, befand sie, denn sie hatte alle Zutaten dafür im Haus. Das könnte Rolf mögen, und es wäre auch gut für ihrer beider Figur. Da sie und ihr Mann ein bisschen auf die Linie achten mussten, versuchte Marina neuerdings, weniger kohlehydratlastig und möglichst kalorienarm zu kochen. Routiniert begann sie, das Abendessen vorzubereiten. Obwohl sie – wie fast immer – nicht wusste, ob Rolf zum Essen zu Hause sein würde.

Sie wusch den Spargel und entfernte die harten Enden, halbierte die Tomaten und würzte den noch tiefgefrorenen Lachs. Wie beschrieben, drapierte sie die Zutaten auf einem Backblech und schob sie schließlich in den Ofen. Dann machte sie sich daran, die Kartoffeln zu schälen, öffnete einen trockenen Riesling, der angeblich wunderbar mit dem Spargel harmonieren sollte, und schenkte sich ein großzügiges Glas ein.

Sabines Bitte lag ihr wie Blei im Magen. Sie hatte überhaupt keinen Appetit.

Während das Essen garte, schaltete sie den Fernseher im Wohnzimmer ein, auf den man von der offenen Küche aus freien Blick hatte. Sie zappte sich vom Küchentresen aus durchs Programm und trank ein paar Schlucke von dem Wein, der ihr, wie immer, sofort zu Kopf stieg. Da im Fernsehen nichts Interessantes zu finden war, schaltete sie das Gerät wieder ab, nahm ihr Glas und öffnete die Terrassentür.

Sie bewohnten einen Bungalow am Rande der Stadt mit großem Garten. Früher, als die Kinder noch klein waren, hatte sie den Garten mit der großen Rasenfläche sehr genossen. Und für die Kinder war es herrlich gewesen. Jetzt machte er ihr nur noch Arbeit, und sie nutzte ihn kaum. Automatisch begann Marina, die Blumen zu gießen und die anderen Pflanzen zu wässern. Es war einer der ersten warmen Frühsommerabende. Der Flieder blühte, die Hummeln brummten, und die Vögel zwitscherten ihre Balzlieder. Die Luft war lau, und Marina beschloss, das Essen draußen zu servieren.

»Piep, piep!« Der Signalton ihres Handys plärrte in die Idylle. Marina ging wieder hinein, um die Nachricht zu checken. Hoffentlich war es nicht schon wieder Sabine!

Warte nicht mit dem Essen auf mich, Mäuschen. Es wird später, schrieb Rolf.

Schon wieder! Frustriert schenkte Marina sich Wein nach, stellte den Rasensprenger an und setzte sich draußen auf die Terrasse.

Als nach Simon auch noch Carla ausgezogen war, hatte sie Rolf gefragt, ob sie nicht in seiner Firma mitarbeiten könne, statt den ganzen Tag zu Hause zu sitzen. Aber davon hatte er nichts wissen wollen.

»Bei meinem Gehalt ist es nicht nötig, dass meine Frau arbeitet«, hatte er barsch jede weitere Diskussion darüber unterbunden. »Ich verdiene gut genug!«

Marina hatte sich daraufhin nach anderen Jobs umgesehen. Aber mit Anfang 50 und ohne jegliche Berufserfahrung waren ihre Chancen gleich null. Taxi fahren kam wegen ihrer Angststörung nicht infrage, und sich bei Aldi an die Kasse zu setzen hätte Rolf niemals geduldet.

Also verbrachte sie ihre Tage allein zu Hause und ließ schon von morgens an den Fernseher laufen, damit es in den unbelebten Räumen nicht so still war. Quizshows, Talkrunden und Streaming-Serien rieselten auf sie ein, während sie sich an diversen Beschäftigungsmöglichkeiten versuchte: Sie bemalte T-Shirts und Blusen mit Textilfarben und verschenkte sie an Nachbarinnen und Freundinnen, bis diese nur noch dankend ablehnten. Sie legte ein Hochbeet für Kräuter und Gemüse an, das allerdings regelmäßig von Rehen abgefressen wurde. Sie bestellte zahlreiche Kochbücher, perfektionierte ihr Wissen zudem mit Kochsendungen und zauberte komplizierte Menüs, die überwiegend im Mülleimer landeten, da Rolf selten vor 22 Uhr nach Hause kam und dann keinen Hunger mehr hatte.

Ihre neueste Passion war die 30-%-Ermäßigung an den Fleischtruhen von Aldi und REWE. Mit detektivischer Akribie hatte sie herausgefunden, wann genau das verpackte Fleisch reduziert wurde: Bei REWE war es abends kurz vor Kassenschluss – bei Aldi morgens direkt nach Ladenöffnung. In jedem Fall aber erst dann, wenn das Fleisch am nächsten Tag nur noch einen Tag MHD hatte.

Regelmäßig schleppte Marina dann vakuumierte Fleischberge zur Kasse und freute sich diebisch, wenn sie beim Kauf von sechs Filetsteaks 27 Euro gespart hatte und die Kassiererin anerkennend die Augenbrauen hochzog. Das Fleisch fror sie sofort in der großen Tiefkühltruhe ein, die im Keller stand, um es irgendwann für eines der Gerichte zu verwenden, die Rolf nicht essen würde …

Draußen war es mittlerweile kühl geworden. Marina füllte sich eine Portion des gratinierten Spargels mit Lachs auf einen Teller und setzte sich vor den Fernseher. Es lief Goodbye Germany auf RTL. Eine Frau hatte irgendwo in der afrikanischen Pampa ein Haus gekauft und versuchte verzweifelt, es zu renovieren. Eine andere hatte in einer sehr dreckigen, sehr lauten namibischen Großstadt ein Tonstudio eröffnet. Wie mutig diese Frauen waren! Gingen ganz allein ins Ausland! Und sie selbst war zu feige, um zumindest »Goodbye Hamburg« zu sagen und für kurze Zeit auf eine 120 Kilometer entfernte Insel zu wechseln?

Marina versuchte, ihre Kinder zu erreichen. Ihre Tochter war hörbar genervt, als sie anrief: »Mami, ist gerade schlecht. Ich melde mich die Tage bei dir, o. k.?«

Ihr Sohn ging gar nicht erst ran. Sie kam sich vor wie eine lästige Schmeißfliege. Eine Stalkerin. Es war demütigend. Zermürbt trank sie die Weinflasche aus.

Es war bereits fast 23 Uhr, als sie den Fernseher ausschaltete. Rolf war noch nicht da, und auf seinem Handy erreichte sie nur die Mailbox. Was hielt sie eigentlich noch hier? Wäre es nicht an der Zeit, auch mal »Goodbye Rolf« zu sagen? Vom Alkohol sediert und plötzlichem Kampfeswillen geflutet, beschloss sie, Sabines Bitte zu erfüllen, und ging ins Schlafzimmer, um ihre Koffer zu packen.

Sie schmiss wahllos in den Koffer, was ihr zwischen die Finger kam. Auf Sylt war das Wetter so wechselhaft, dass man praktisch Kleidung für alle vier Jahreszeiten mitnehmen musste. Auf jeden Fall wäre es besser, zu viel als zu wenig einzupacken. Aber ob ihr die alten Jeans noch passen würden? Kurz entschlossen probierte sie sie an und bekam den Knopf mit Mühe und Not zu. Skeptisch drehte sie sich vor dem großen Schlafzimmerspiegel, der ihnen in der Glanzzeit ihrer Ehe mal rare erotische Momente beschert hatte. Nun schlief Rolf schon lange in Simons ehemaligem Kinderzimmer, um sie nicht zu wecken, wenn er spät nach Hause kam.

Die Jeans spannten über ihrem Hintern, und ihre Hüftringe quollen über den Bund. Sie hatte deutlich zugenommen in den letzten Monaten. Kein Wunder, wenn sie immer nur Chips und Schokolade aß, während sie vor dem Fernseher saß. »Verdickung der weiblichen Körpermitte«, hatte ihr Gynäkologe ihren Rettungsring neulich betitelt.

Skeptisch betrachtete Marina ihr Spiegelbild von oben bis unten für eine gnadenlose Bestandsaufnahme: Keine Frage, der Lack war ab! Die vergangenen fünfeinhalb Jahrzehnte hatten nicht nur für Krähenfüße, Hängebusen und frei liegende Zahnhälse gesorgt – auch ihre graustichige Kurzhaarfrisur könnte mal wieder eine Farbauffrischung vertragen und war eher praktisch als in irgendeiner Form out-of-bed-erotisch.

Meistens trug sie weite Blusen in gedeckten Farben, Hosen mit Gummizug, Funktionsjacken, bequeme Schuhe und selten Make-up. Ihre Figur-kaschierenden Klamotten machten sie eher zum Neutrum denn zur Femme fatale.

Dabei hatte sie eigentlich ein hübsches Gesicht, große Augen, eine zierliche Nase und wenig Falten! Man sagte, im Alter würden Frauen entweder zur Kuh oder Ziege, also rundlich, aber glatt – oder schlank, aber faltig. Sie war eindeutig eine Kuh.

Fakt war: Sie könnte zweifellos mehr aus sich machen! Aber wozu? Und für wen? Rolf schaute sie so leidenschaftslos an wie ein Küchengerät (wenn er sie überhaupt mal anschaute) – und für sich selbst waren ihr das Geschminke und auf hohen Absätzen Gestöckele viel zu anstrengend.

Zaghaft probierte sie ein paar Hüftschwünge. Sie hatte mal sehr gut tanzen können. Sollte sie ihr Hüftgold nicht mal wieder zur erotischen Schwungmasse machen? War sie mit ihren 56 Jahren für Männer tatsächlich schon unsichtbar? Würde sie jemals wieder Sex haben? Wollte sie das überhaupt? Erschöpft schloss sie die Koffer und ging unter die Dusche.