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Nur die Liebe ist kalorienfrei Die Liebe prallt an Nele ab wie ein Flummi an einer Betonwand. Schuld daran ist ihr Gewicht – denkt Nele. Und meldet sich auf Sylt zu einer Fastenkur an. Die soll Körper und Seele angeblich auf Werkseinstellung resetten und dadurch ein vollkommen neues Lebensgefühl schaffen. Doch kann Verzicht wirklich Veränderung bewirken? Auf Sylt kommt alles anders als erwartet. Nele begreift: Perfekt aussehen muss man nur, wenn man sonst nichts kann. Ein turbulenter Smoothie aus Kalorien, Kulinarik, Chaos, Genuss und Leidenschaft...
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Sylt oder Sahne
CLAUDIA THESENFITZ, 1967 geboren, hat lange festangestellt als Chefreporterin bei Tempo und petra gearbeitet, bevor sie sich 2001 als freie Autorin und Journalistin selbstständig machte. Sie schreibt für alle großen Frauen-Zeitschriften und Magazine (emotion, Brigitte, petra, maxi, Für Sie, Cosmopolitan, Gala uvm.) und hat unter anderem die Autobiografien von und mit Nena (2005, Luebbe), Dieter Wedel (2008, Luebbe) und Uwe Ochsenknecht (2013, Luebbe) geschrieben.Von Claudia Thesenfitz sind in unserem Hause bereits erschienen: Sylt oder Selters · Meer Liebe auf Sylt · Sylt oder solo · Mit James auf Sylt
Natürlich hatte Nele zugenommen – das konnte sie nicht leugnen. Aber als der Fahrkarten-Kontrolleur auf der Rückfahrt von Berlin nach Hamburg einen Fahrgast anherrscht: »Machen Sie bitte Platz für die schwangere Dame!« ist das Maß voll. Es muss etwas passieren – und zwar dringend! Widerwillig meldet sich Nele zu einer Fastenkur an – in einem Fasten-Boot-Camp in einem neuen Resort auf Sylt. Fastenkuren sind gerade total im Trend, fast alle von Neles Kolleginnen oder Freundinnen machen eine – oder haben bereits eine gemacht. Trotz ihrer Angst nimmt sie all ihren Mut zusammen – und fährt los. Aber ist Dünnsein wirklich die Lösung?
Claudia Thesenfitz
Ein Glücksroman
Ullstein
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Wir bedanken uns für die Abdruckgenehmigung von:Dicke Mädchen haben schöne NamenText und Musik: H. Schöner, J.-P. Fröhlich,H. Krautmacher, P. WernerMit freundlicher Genehmigung © Vogelsang Musikverlag
Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch1. Auflage April 2020© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2020Umschlaggestaltung: Favoritbuero GbR, MünchenTitelabbildung: Landschaft © Drepicter / shutterstock;Segelschiff: © Olesya Kuznetsova / shutterstock;Möwen: © Roman Sigaev / shutterstock;Krabbe: © ekkapon / shutterstock;Blumen: © Maksym Bondarchuk / shutterstock;Cupcake: © Ruth Black / Shutterstock;Himmel: © Elenamiv / shutterstock;Frau springend: © Ana Silva / EyeEm / getty images;Frau tanzend: © Sean Justice / getty imagesE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.comAlle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-8437-2317-6
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Die Autorin / Das Buch
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Titelseite
Inhalt
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Für alle Genussmenschen
Durch die Leidenschaften lebt der Mensch,durch die Vernunft existiert er bloß.Nicolas Chamfort
Dicke Mädchen können besser singen,weil ihre Körper einfach besser klingen.Dicke Mädchen sind die idealen,selbst Rubens wollte keine andren malen.Kölner Karnevalslied
»Würden Sie der schwangeren Dame bitte Platz machen?«
Zunächst hoffte Nele noch, sich verhört zu haben. Aber als der Schaffner, der mit diesen Worten im knallvollen ICE Hamburg-Berlin gerade einen jungen Polohemdträger von seinem Sitzplatz verscheucht hatte, auffordernd in ihre Richtung nickte, wurde ihr klar, dass sie gemeint war. Sie, Nele Rickmers, 52 Jahre alt – und eindeutig NICHT schwanger!
Sie war vor Entsetzen wie gelähmt. So weit war es nun also schon: Wegen ihres Bauchumfangs wurde sie für schwanger gehalten! Am liebsten wäre sie vor Scham im Boden versunken. Selten hatte sie sich in ihrem Leben gedemütigter gefühlt.
Wenn es irgendein Alarmsignal gab, auf das sie gewartet hatte, damit sie endlich ihr Leben änderte, dann war es jetzt ertönt: laut, rot und schrill!
Nele war immer schon zu dick. Nicht wirklich – aber gefühlt. Wenn sie Fotos von früher herauskramte, kam ihr ihr »Zu dick«-Gefühl lächerlich vor, denn auf den Bildern sah sie vollkommen normal aus. Gut proportioniert zwar, aber durchaus noch schlank.
Heute war ihr »Zu dick«-Gefühl jedoch ganz real: Sie wog 101,6 Kilo bei 176 cm Körpergröße. Das ergab einen BMI von 32,6 – und damit war sie eindeutig übergewichtig. »Fettleibig. Adipositas Grad I«, befand der gnadenlose Online-BMI-Rechner. So sah es aus.
Mit jedem Lebensjahr waren ein paar Pfunde dazugekommen – wie Jahresringe eines Baumes – und hatten ihren Umfang vergrößert. Und nun, mit 52 Jahren, hatte der Stamm, also ihr Körper, einen stattlichen Durchmesser erreicht.
Ihr Bauchumfang konnte durchaus mit den Bierwampen von Fernfahrern oder frustrierten Familienvätern mithalten – oder mit dem von schwangeren Frauen im siebten Monat …
Resigniert ließ Nele sich auf den frei gewordenen Platz plumpsen. Die alte Dame neben ihr lächelte ihr verständnisvoll zu. »Wann ist es denn so weit?« Nele hätte am liebsten laut aufgeheult.
Der Tag hatte schon vormittags albtraumartig begonnen, als ihr Chef, Alexander von Reutlingen, ein stets braun gebrannter, spindeldürrer Alster-Segler, der einer alteingesessenen Hamburger Kaufmannsfamilie entstammte, sie gebeten hatte, den Ausflug der beiden Schulpraktikantinnen in der Berliner Niederlassung der Immobilienfirma zu begleiten, in der sie seit über acht Jahren als Grafikerin arbeitete. Die Kollegin, deren Aufgabe dies eigentlich war, hatte sich krankgemeldet, und Herr von Reutlingen konnte niemand anderen entbehren. Na prima! Es war Juni, es war heiß – und Nele hasste Bahnfahren. Und Berlin.
Yasemin und Larissa, die beiden 16-jährigen Praktikantinnen mit Migrationsvordergrund, tänzelten in ihren gürtelbreiten Miniröcken schon aufgeregt im Flur herum, als Nele nach ihrem Blazer und ihrer Tasche griff, um mit den beiden zum Taxi zu eilen.
Auf der Hinfahrt hatte sie im ICE zum Glück ihre Ruhe, weil die beiden tief dekolletierten Grazien in der Sitzreihe vor ihr Platz genommen hatten und sich kichernd mit ihren iPhones beschäftigten. Nele verzehrte derweil genüsslich zwei knusprig mit Käse überbackene Croissants, die sie sich schnell bei Le Crobag geholt hatte, schlürfte einen Cappuccino und freute sich über die unerwartete, angenehm klimatisierte Pause.
Die Freude währte nicht lange: In der Berliner Schwesternfiliale angekommen, die sich auf hippe, innovative und klimaneutrale Objekte spezialisiert hatte und deshalb viele prominente Sänger und Schauspieler zu ihren Kunden zählte, schien Nele in einem Hungercamp gelandet zu sein: Eine Mitarbeiterin war jünger und schlanker als die andere. Sie sahen so ausgezehrt und verhungert aus, dass sogar die beiden dürren Teeniegirls plötzlich zu viel auf den Rippen zu haben schienen.
Nele kam sich in dieser Umgebung vor wie ein Walross unter Flamingos. Wie Reiner Calmund unter Balletttänzern. Wie ein Bernhardiner unter Chihuahuas – und dazu noch uralt. Ein Auslaufmodell, für das es keine Nachfrage mehr gab. Wenn die Berliner Kolleginnen sparsame, hochmoderne E-Autos waren, dann war sie eine amerikanische Cadillac-Super-Plus-Benzinschleuder mit viel zu hohem Verbrauch. Vermutlich war ihr CO2-Ausstoß tatsächlich höher als der dieser Skelette, überlegte sie beschämt.
Der Berliner Magertrupp hatte nicht das geringste Interesse an den beiden Praktikantinnen und zog die Führung deshalb widerwillig im Eiltempo durch. So hatten sie vor der Rückfahrt noch zwei Stunden Zeit, und Nele schlenderte mit den Teeniegrazien noch ein bisschen über den Ku’damm, wo sie die Schaufenster der Luxusboutiquen bestaunten.
Gucci, Prada, Chanel, Dolce & Gabbana – noch nie hatte Nele in einem dieser Gazellenshops eingekauft, in denen ausschließlich Klamotten in Embryogrößen zu hängen schienen. Auch die offiziellen Damenjeansgrößen der Markenhersteller (G-Star, Levis, Lee etc.) gingen nur bis 31. Ein Witz. Die hatten ihr schon mit 30 nicht gepasst. Sie würde nie eine Gazelle sein, auch wenn sie 20 Kilo abnahm. Dazu war ihr Körperbau einfach zu kräftig.
Ihren Körperumfang kaschierte Nele bevorzugt mit weiten, übergroßen schwarzen Blazern (Schwarz machte schließlich schlank) aus der Herrenabteilung – und selbst dort brauchte sie bereits Konfektionsgröße 52. Hemden, Kleider, weite T-Shirts, Elastik-Jeans und Westen komplettierten ihr Outfit. Sportliche Daunenwesten waren ihr neuester Kaschiertrick, denn die verhüllten zuverlässig ihren Bauch.
Was ihr Äußeres betraf, so mochte Nele es gerne unkompliziert: Als Make-up benutzte sie lediglich Wimperntusche und Kajal, und ihre halblangen braunen, immerhin noch gänzlich ungefärbten Haare trug sie meist zum Pferdeschwanz gebunden, weil das morgens am schnellsten ging.
Dankbar war sie auch für den aktuellen Stan-Smith-Sneakers- und Birkenstocksandalen-Trend, der ihr erlaubte, ihr Gewicht wahlweise in bequemen weißen Turnschuhen oder Gesundheitslatschen durch die Gegend zu tragen.
Als Yasemin und Larissa einen H & M-Store entdeckten, stürmten sie hinein, ohne sich nach Nele umzugucken. Sie hatte Mühe, den beiden zu folgen, die in Windeseile diverse Kleider von den Ständern rissen und damit zur Umkleidekabine hasteten. Während die beiden kreischend und kichernd Trägerkleidchen probierten, betrachtete Nele sich im Spiegel – was ein schwerer Fehler war: Von oben, also vom Blickwinkel ihres Kopfes aus, sah sie deutlich schlanker aus als der Moppel, der ihr nun aus dem Spiegel entgegenblickte. Als sie sich von der Seite ansah, wurde ihr übel. Sie sah aus, als hätte sie einen Gymnastikball verschluckt.
Eine Zeile aus dem Song »Dicke« von Marius Müller-Westernhagen fiel ihr ein:
Für Dicke gibt’s nichts anzuziehenDicke sind zu dick zum Fliehen
Sie hatten auf der Rückfahrt gerade den Bahnhof Potsdam passiert, als der freundlich gemeinte »Schwangeren«-Support des Schaffners ertönte, woraufhin Yasemin und Larissa in einen nicht enden wollenden Prustanfall ausbrachen. Das Erlebnis gab Nele endgültig den Rest. Es musste etwas geschehen – und zwar pronto.
Als sie gegen 19 Uhr wieder in ihrer kleinen Wohnung ankam, zog sie sich aus und stellte sich für eine gnadenlose Bestandsaufnahme vor den Spiegel: Sie hatte grüne Augen, einen sinnlichen Mund, eine kleine Nase und alles in allem eigentlich ein sehr hübsches Gesicht – aber dann: Ein bisschen tiefer nahm das Drama schon seinen Lauf in Gestalt eines Doppelkinns, das manchmal auch dreifach wurde, wenn sie unvorteilhaft lachte. Ihre Brüste waren zwar klein und noch relativ fest, doch darunter lauerten zwei Hüftringe am Bauch, ein ausufernder Kardashian-Hintern und dellige, wabbelige Oberschenkel, die aussahen, als wären sie lieblos und nicht besonders fest mit Schaumstoffflocken gefüllt worden. Beim Laufen scheuerten sie zudem neuerdings unangenehm aneinander.
Wegen der Hüftringe konnte sie bei der Intimrasur ihre Schamhaare nicht mehr sehen. Sie musste sich blind rasieren bzw. mit der einen Hand ihre Hüftringe anheben und mit der anderen versuchen, den Rasierer halbwegs sinnvoll einzusetzen. Es war schrecklich demütigend. Wann hatte wohl Reiner Calmund zum letzten Mal seinen Schniedel von oben gesehen?, fragte sie sich.
Bodyshaming war zwar verpönt, aber Body Positivity – also schmeichelnde Komplimente an sich selbst – machte auch keinen Sinn. »Ich finde euch wunderschön, liebe Stampfbeine!« – Wer sollte das denn glauben? Resigniert schlüpfte Nele wieder in Jogginghose und T-Shirt. Ihre Figur war ihr vollkommen entglitten. Sie sah aus wie ein Exponat von Niki de Saint Phalle, wie das Michelin-Männchen – oder Barbapapa. Sie hatte jegliche Kontur verloren. Um wieder in Form zu kommen, müsste sie zehn Kilo abnehmen, besser 20.
Nele beschloss, ihr Leben wieder in die Hand zu nehmen und ihren Körper endlich aus der Fettfalle zu befreien. Es nützte nichts: Sie musste den Stier bei den Hörnern packen, wenn sie nicht irgendwann mit 180 Kilo bei »The Biggest Loser« landen wollte.
Die Pfunde navigierten Neles Leben – ein außergewöhnlich monotones, »… und täglich grüßt das Murmeltier«-artiges Leben:
Seit über 20 Jahren lebte sie in einer Zweizimmerwohnung in der Hamburger Mansteinstraße, einer wunderschönen Wohnstraße mit vielen stuckverzierten, weiß getünchten Altbauten und hohen Kastanienbäumen. Ihre Wohnung lag im fünften Stock und hatte einen kleinen Balkon zum Hinterhof.
Jeden Morgen stand sie um sieben Uhr auf, duschte, frühstückte und fuhr mit der U-Bahn zur Arbeit in das schicke Immobilienbüro in der Innenstadt.
Mittags drückte sie sich meistens vor dem Kantinenessen mit den überwiegend schlanken Kolleginnen. Normales Gesprächsgeplänkel fiel ihr schwer. Sie wollte sowieso nichts über sich erzählen (was auch?) und auch nichts über das ach so tolle und aufregende Leben der anderen erfahren.
Stattdessen schlenderte sie durch die glanzvollen Shoppingmalls der Innenstadt und schaute sich Kleider an, die sie sich nicht leisten konnte – die ihr aber tröstlicherweise auch niemals passen würden. Die kleinen Spaziergänge endeten regelmäßig in irgendwelchen Coffeeshops oder Imbissen, wo sie einen viel zu fetten und kohlenhydratreichen Lunch zu sich nahm.
Gegen 17 Uhr fuhr sie nach Hause, ging einkaufen, kochte oder nahm sich aus einem Restaurant etwas mit und aß in der Küche oder auf dem Balkon zu Abend. Ab und an traf sie sich auch mit einer Freundin, aber diese Dates waren seltener geworden – weil das Fernsehprogramm immer wichtiger geworden war.
Die TV-Zeitung bestimmte ihre Abende: Jeden zweiten Donnerstag, wenn eine neue Ausgabe von TV14 erschien, ging sie beim Abendessen Seite für Seite akribisch durch und kreuzte die Sendungen an, die sie sehen wollte. Meist waren es drei oder vier Kreuze pro Abend.
Da sie das Onlinedating schnell wieder aufgegeben hatte, weil sogar ihre dünneren und jüngeren Freundinnen dabei nur Freaks trafen, fläzte sie sich nach dem Essen vor ihren großen Flachbildfernseher auf ihre »Versuchung« (ihre verlockend gemütliche IKEA-Lounge-Landschaft) und ließ das Programm auf sich niederflimmern, während ihre Katze Mausi-Maus auf ihrem Bauch schnurrte.
Ihr Leben fand nur noch virtuell statt – und nicht mehr analog. Ihre Freunde und Bekannten waren Serienstars und Kochshowmoderatoren – ihre Katze Mausi-Maus und ihre Basilikumpflanze Helga, die erstaunlicherweise schon sieben Wochen an ihrem Küchenfenster überlebt hatte, obwohl Supermarkt-Basilikumtöpfe doch meist schon nach ein paar Tagen eingingen.
Gegen Mitternacht, wenn ihre Augen vom Netflix-Amazon-Prime- oder Mediatheken-Dauergestreame langsam quadratisch wurden, ging sie zu Bett und schlief einsam und gelangweilt ein. Es war nicht zu leugnen: Sie führte das Leben einer Rentnerin – und das mit Anfang 50!
Die Liebe prallte an Nele ab wie ein Flummi an einer Betonwand. Immer wieder, immer weiter, immer deutlicher.
Sie war einsam. Verdammt einsam sogar. Aber das würde sie niemals zugeben. Nicht vor ihren Freunden – und erst recht nicht vor ihren Eltern oder Geschwistern. Stattdessen behauptete sie stets, unglaublich gern allein, also ein Single aus Überzeugung zu sein. Eine infame Lüge. Nichts war weniger wahr.
Die Liebe wollte partout nicht zünden, der Funke nicht überspringen. Und Nele hatte die Ursache dafür ausgemacht: Es war ihr Gewicht! Ihr Körperumfang war schuld daran, dass die Liebe vor ihr zurückschnellte wie ein Crashtest-Dummy. Seit die Zahl auf der Waage dreistellig geworden war, glaubte sie nicht mehr, dass irgendjemand sie liebenswert, erotisch oder sexy finden könnte.
»Fasten ist der beste natürliche Resetknopf, den man drücken kann!«
Dieser verheißungsvolle Slogan sprang Nele von der Website des Hotels »Seemöwe« entgegen, das in Hörnum auf Sylt Fastenwandern nach Buchinger anbot. Durch die Kombination von täglichen vierstündigen Spaziergängen und einer einzig aus Gemüsesäften bestehenden Ernährung versprach das optimistisch strahlende Ernährungsteam des Hotels den »Aufbruch in ein neues Lebensgefühl!«.
»Hier können Sie sich neu erfinden und Ihren Körper auf Werkseinstellung zurücksetzen«, waren sich die Seemöwler sicher und präsentierten zum Beweis Fotos von lauter dünnen Menschen mit glücklichen Gesichtern, die braun gebrannt, gut gelaunt und entspannt am Strand entlangmarschierten. Nur die öde Funktionskleidung, die alle trugen, störte das Bild.
Fasten war der aktuelle »heiße Scheiß« und plötzlich genauso angesagt wie Carsharing, Clean Cuisine, CO2-Reduktion, Crowdfarming, Flugscham, Fair Trade, Die Grünen, Mikroplastikverbote, Trump-Bashing und biologische oder vegane Ernährung. Die ganze Welt kasteite und reduzierte sich, verzichtete und hielt Maß, so schien es. Und fastete dazu noch wahlweise in Intervallen wie Eckart von Hirschhausen – oder radikal mit diversen anderen Programmen. Das Internet quoll über von Angeboten, Websites und Erfahrungsberichten. Erstaunlich viele Menschen fasteten regelmäßig, es gab eine richtige Fastencommunity, entdeckte Nele verblüfft. Viele hatten eigene Methoden entwickelt, wie zum Beispiel nicht auf Kaffee zu verzichten, dafür aber auf Glaubersalz und die Einläufe.
Der »Ernährungskompass« von Bas Kast führte seit Monaten die Bestsellerliste an, denn: Heute aß man nicht mehr, man »ernährte« sich – und das möglichst bewusst! Als Nele Kind war, sollte sie noch den Teller leer essen. Es gab Leber und Nierchen, und kein Mensch achtete auf Kalorien, Schwermetalle oder Antibiotika.
Laktoseintoleranz, Glutenunverträglichkeit – Essen war zum kulinarischen Minenfeld geworden: Zucker, Weizen, rotes Fleisch, industriell verarbeitete Lebensmittel, Salz – alle möglichen Nahrungsmittel waren plötzlich gefährlich und damit hochexplosiv.
Es gab kaum noch etwas, das man unbeschwert zu sich nehmen konnte, es sei denn, es war vegan, regional, saisonal, klimaneutral– und natürlich streng biologisch. Bei dieser Art von Ernährung wurde man automatisch dünn, und das war auch Absicht, denn dünn sein war die neue Rolex. Das aktuelle Statussymbol der Reichen, Erfolgreichen und Schönen. War man dünn, so bewies man dadurch, dass man sein Leben im Griff hatte. Seinen Gelüsten nicht nachgab, den Schweinehund bezwungen hatte. Kurz: Stark war! Psychisch und physisch.
Wer es von sich aus nicht schaffte oder Opfer von Mc-Donald’s, Cola und Industriefood geworden war, meldete sich bei Kalorien-Kill-Shows wie »Rosins Fettkampf – lecker schlank mit Frank«, »Extrem schwer – mein Weg in ein neues Leben« oder »The Biggest Loser« an. Im Fernsehen bekam ständig irgendwo jemand »sein Fett weg«.
Fasten war hip – seit einer Stunde googelte Nele sich bereits durch das unendliche Angebot der zahlreichen Ratgeber-Websites. Innere Reinigung war offenbar ein menschliches Urbedürfnis. In allen Religionen, ob Buddhismus, Islam, Juden- oder Christentum, wurde seit Jahrtausenden gefastet. Und überall wurde vom »Fastenhoch« geschwärmt, einem geradezu orgiastischen Hochgefühl und glücksrauschartigen Zustand, der sich angeblich nach drei bis vier Hungertagen einstellte. »Der wahre Kern kommt heraus. Der innere Ruhepunkt wird entdeckt, eben die innere Heimat«, wurde Heilfastenprofi Otto Buchinger zitiert.
Verschiedene wissenschaftliche Untersuchungen hatten ergeben, dass sich während einer Fastenperiode rund fünf Prozent geschädigte Körperzellen abbauten und dadurch Platz für neues Zellmaterial schufen. Das Hautbild, speziell Cellulite, wurde durch die Entwässerung des Bindegewebes angeblich deutlich verbessert. »Fasten ist der Königsweg der Tiefenreinigung", behauptete Detox-Expertin Margot Hellmiß.
Drei bis sechs Kilo pro Woche nahm man außerdem angeblich bei dieser Art der Askese-Ekstase ab, aber schon beim Studieren der diversen Erfahrungsberichte wurde Nele hungrig. Einschränkungen und Verbote hatten bei ihr bislang stets zur Folge gehabt, genau DAS gerade (!) zu machen, was untersagt war. In diesem Fall also essen.
Um ihrer Motivation, die gerade merklich bröckelte, einen ultimativen Tritt in den Arsch zu geben, startete sie einen telefonischen Rundruf unter ihren Schwestern: »Sag mal bitte ganz ehrlich jetzt: Findest du mich zu dick?«, fragte sie ihre drei Jahre jüngere Schwester Merle, die aussah wie ein Model und seit 14 Jahren glücklich verheiratet war.
»Hm«, druckste die herum. »Der Magertrend ist natürlich Quatsch, aber ein bisschen abnehmen könntest du schon.«
Nele schluckte, was Merle natürlich genau registrierte.
»Ich glaube einfach, mit ein paar Kilos weniger sähest du viel besser aus, Süße«, beschwichtigte sie.
Ihre fünf Jahre jüngere Schwester Rike sagte dasselbe, und sogar ihr Chef, Alexander von Reutlingen, war erstaunlicherweise sofort bereit gewesen, ihr Urlaub zu geben, als Nele ihm am nächsten Morgen ihr Vorhaben gestand.
»Das finde ich wirklich toll, Frau Rickmers«, lobte er begeistert. »Sie werden sehen, es lohnt sich!« Aufmunternd klopfte er mit seiner sehnigen Hand auf ihre Schulter, wodurch sein Ehering schmerzhaft an ihr Schlüsselbein schlug. »Sie werden danach ein vollkommen neues Körpergefühl haben! Ich faste auch einmal im Jahr.«
Er strahlte sie solidarisch an.
»Ich hätte da auch einen Supertipp für Sie«, strahlte er. »Ich habe vor zwei Jahren die Berliner Brüder Jessen beraten, die einen Familienbetrieb in Hörnum auf Sylt geerbt haben und ein paar Erbstreitigkeiten mit der restlichen Verwandtschaft bewältigen mussten. Die Jungs haben das Hotel in ein wirklich großartiges, sehr innovatives Wellnesszentrum umgewandelt – alles vorbildlich nachhaltig und ökologisch. Ich war letztes Jahr selbst mal da, wirklich zwei sehr ambitionierte Kerle …«, schwelgte er. »›Seemöwe‹ heißt das Start-up – googeln Sie einfach mal!«
Er zwinkerte ihr zu, worüber Nele etwas erschrak, denn das hatte er bislang noch nie gemacht.
»Und viel Erfolg!« Über die Schulter den Daumen hochstreckend, verließ er den Raum.
Nun denn, dann gab es jetzt ja wohl kein Zurück mehr. Nele war durch Herrn von Reutlingens Ritterschlag offenbar unwiderruflich ein Teil der Körperbewusstseins-Community geworden, des fitten Teils der Bevölkerung.
Widerwillig meldete sie sich abends im Hotel »Seemöwe« an, dem viel gelobten Fasten-Bootcamp in idyllischer Lage am Rande der Hörnumer Düne, denn eigentlich fand sie es total pervers, viel Geld dafür zu bezahlen, zwei Wochen lang nichts zu essen zu bekommen.
Die »Seemöwe« war ein weißes dreistöckiges Gebäude, das in dritter Generation von zwei Berliner Zwillingsbrüdern übernommen worden war. Mit ihren langen Bärten und Hipster-Dutts sahen sie aus wie Tom und Bill Kaulitz. (Wegen ihrer Jedi-Ritter-Behaarung allerdings gerade eher wie Tom.)
Sie warben damit, ihr Gemüse auf gepachteten Ackerflächen bei Berlin, Morsum und im Hotelgarten selbst anzubauen. Vor zwei Jahren hatten sie das ehrwürdige, aber sehr heruntergekommene Hotel übernommen und aufwendig saniert, wie eine Vorher/Nachher-Bildstrecke eindrucksvoll bewies. Nun dominierten schadstofffreie und regenwaldschonende Hölzer und Baustoffe sowie eine minimalistische Möblierung das Interieur. Yoga-, Fasten- und Achtsamkeitsseminare bildeten das Wellnessangebot.
Die Bewertungen auf Trivago, Google und booking.com waren durchweg hervorragend, deshalb füllte Nele hoffnungsvoll das Anmeldeformular für die 14-tägige Fastenkur aus, die in drei Wochen beginnen sollte und für die es dank einer Absage noch genau einen Platz gab. Schicksal oder Pech? Nele wertete es als Vorsehung und klickte auf »senden«.
Das grün schimmernde Meer, das Nele schon als Kind so geliebt hatte, leckte am Rumpf der Syltfähre, mit der Nele drei Wochen später auf die Insel reiste. Es war ein schöner klarer Sommertag Anfang Juli. Der Himmel hatte sich das knallblaueste Knallblau aus der RAL-Skala angezogen, vor dem die weißen Möwen, die kreischend die Fähre umkreisten, scharf kontrastierten.
Mit ihrem Vater war sie früher oft auf der Ostsee gesegelt. Das klare Wasser, das Gefühl von totaler Freiheit und die sich entfernenden oder näher kommenden Küstenstriche – all das hatte sich Nele tief eingeprägt. Sie liebte es, per Schiff zu reisen und sich an der Unendlichkeit des Horizonts zu begeistern.
Der Hafen von Havneby auf der dänischen Insel Rømø wurde immer kleiner, während das Schiff mit rauchenden Schornsteinen auf die offene Nordsee tuckerte. Schaute man vom obersten Deck nach rechts, erkannte man bereits die Umrisse von Sylt. Genussvoll biss Nele in das Matjesbrötchen, das sie sich gerade am Bordkiosk geholt hatte, um sich noch etwas kalorische Rücklage anzufressen, bevor die Hungerphase begann.
Frühmorgens hatte sie Hilde und Mausi-Maus schweren Herzens bei Merle vorbeigebracht, in der Hoffnung, deren verzogene Kinder würden die Katze nicht allzu sehr quälen. Merle versprach, Hilde weiterhin mit Wasser auf der Untertasse (bloß nicht von oben auf die Erde ihres Töpfchens) zu versorgen und ihr ein halbschattiges Plätzchen auf der Fensterbank freizuräumen. Liebevoll streichelte Nele zum Abschied eines ihrer grünen, köstlich duftenden Blätter und zwang Merle, ihr zu versprechen, keines davon abzurupfen.
Um neun Uhr war sie anschließend mit der Bahn von Hamburg ins dänische Skærbæk gereist und hatte von dort den Bus zum Hafen der Insel Rømø genommen, von dem die Syltfähre ablegte. Nur etwas mehr als drei Stunden hatte die Fahrt gedauert, und Nele stellte auf dem letzten Fahrtabschnitt erstaunt fest, wie sehr Nationalitäten die Optik eines Landstriches beeinflussten. Ab der dänischen Grenze war die Landschaft zwar immer noch die gleiche – aber plötzlich sah alles anders aus: Statt der typischen norddeutschen Rotklinkerhäuser prägten hier Holzhütten das architektonische Bild, die Verkehrsführung war fremd, die Straßen- und Ortsschilder mit einer ganz anderen Gestaltung erschienen genauso ungewohnt wie die dänischen Schriftzeichen auf den Restaurant- und Ladenschildern. Und alles wirkte irgendwie lässiger und lockerer als in Deutschland. Weniger verkrampft, beamtet und überkorrekt. Der sprichwörtliche dänische Freigeist – er sprang Nele sogar durchs Zugfenster an.